9. Kapitel - Gegenwart

12. Dezember 1998

Die Behälter waren riesig und silberfarben und sahen wirklich wie sorgsam polierte Treibstofftanks aus, wie sie so auf ihren spindeldürren Metallbeinen standen, eingewoben in ein ganzes Nest von Ver- und Entsorgungsleitungen, Kabeln und Drähten und Computeranschlüssen. Die dünne Schicht aus Goldstaub, die jede Korrision verhindern sollte, ließ sie sehr geheimnisvoll wirken, ein Eindruck, der von den blinkenden Kontrolleuchten am Ende der sechs zylinderförmigen Stahlsärge noch verstärkt wurde.

Charity war ziemlich mulmig zumute. Der Anblick machte ihr angst, und allein der Gedanke, sich in eines dieser Dinger zu legen und lebendig begraben zu lassen, ließ sie schaudern. Man musste schon ziemlich verrückt sein, um sich töten zu lassen, nur um am Leben zu bleiben.

»Das kommt ganz darauf an, wie sehr man am Leben hängt, nicht wahr?«

Charity fuhr erschrocken zusammen, drehte sich herum und blickte direkt in Stones Gesicht. Mit einem deutlichen Gefühl der Verlegenheit begriff sie, dass sie ihren letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte.

»Wenn man das da ...« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tanks. »... Leben nennen will«, antwortete sie. »Ich verstehe etwas anderes darunter.«

Stone machte eine vage Handbewegung. »Wenn Sie recht hätten, hätte man sich das Geld für diesen Bunker sparen können, finden Sie nicht?«

»Möglich«, antwortete Charity verwirrt. Erst dann fiel ihr der erste Gedanke wieder ein, der ihr bei Stones Anblick gekommen war. »Was tun Sie hier unten, Lieutenant?«

Stone lächelte. »Was tun Sie hier, Captain?« sagte er. »Soweit ich weiß, ist das Betreten dieser Räume streng verboten - selbst für Leute mit einem Class-A Ausweis.«

»Und wie kommen Sie dann hierher?«

»Oh, ich bin so eine Art Mädchen für alles, wissen Sie?« erwiderte Stone lächelnd. »Das bringt eine Menge Arbeit mit sich, aber auch das eine oder andere Privileg. Wie zum Beispiel völlige Bewegungsfreiheit. Becker sucht Sie.«

Den Nachsatz, der die eigentliche Antwort auf ihre Frage war, hätte sie um ein Haar überhört. »Wieso?«

Stone zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich soll Sie zu ihm bringen, das ist alles.« Er machte eine einladende Geste, aber er trat nicht zur Seite, als Charity auf ihn zuging.

»Gestatten Sie mir eine persönliche Frage, Captain?«

Charity sah ihn einen Moment lang nachdenklich an. Sie war nicht sicher, ob sie irgendeinen persönlichen Kontakt mit Stone wünschte. Nicht jetzt, und vielleicht überhaupt nie wieder.

Freundschaften hatten so wenig Sinn, wenn der Weltuntergang vor der Tür stand. Trotzdem nickte sie.

»Sie... Sie waren doch draußen«, begann Stone. Charity nickte abermals. Die Frage war reichlich überflüssig. »Ich wollte Sie schon vorhin fragen, aber wir... nun ja, der Augenblick erschien mir nicht besonders günstig.«

Er wich ihrem Blick aus. Charity fühlte, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen.

»Wir erfahren hier unten nicht viel«, fuhr er fort. »Becker hat so etwas wie eine Nachrichtensperre verhängt, aber ich glaube, in Wirklichkeit weiß er selbst nichts Genaues. Sie... Sie haben von Bomben gesprochen.«

Charity schwieg. Sie war allein mit Becker in dem kleinen Büro gewesen, aber auch die Wände von SS Nulleins schienen Ohren zu haben. Und schlechte Nachrichten sprachen sich schnell herum, daran hatte nicht einmal die Invasion der Außerirdischen etwas geändert.

»Ich stamme aus Missouri, wissen Sie«, sagte Stone. »Meine Familie lebt dort, und ich ...«

»Sie wollen wissen, ob auch dort Bomben gefallen sind«, sagte Charity, als Stone endgültig nicht weitersprach.

Er nickte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Niemand weiß das, Lieutenant. Ich weiß nicht einmal, wer diese verdammten Bomben geworfen hat. Ich habe ein paar Explosionen gesehen, aber sie waren sehr weit weg.« Und sie würde es ihm nicht einmal sagen, wenn sie es genau gewusst hätte.

Verdammt, sie alle hatten wahrscheinlich nur noch ein paar Tage zu leben - wer war sie, ihm auch noch die letzte Hoffnung zu nehmen?

In Wahrheit hatte sie eine ganze Menge mehr gesehen als nur ein paar Bomben: Die Welt im Norden war in einer Orgie aus Feuer und unerträglich grellem Licht untergegangen.

Selbst sie hatte es kaum überlebt, obwohl sie mehr als hundert Meilen entfernt gewesen war.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie noch einmal.

»Sie sagen das nicht nur, um mich zu trösten?« fragte Stone.

Charity lachte, und sie tat es ganz bewusst hart und abfällig.

»Wofür halten Sie mich, Lieutenant?« fragte sie. »Für Ihren Beichtvater? Ich weiß nicht, was dort los ist, zum Teufel Ich habe das halbe Land durchquert, aber ich weiß so wenig wie sie. Es gibt keine Sechs-Uhr-Nachrichten mehr, wissen Sie? Nicht einmal ein verdammtes Telefon. Vielleicht haben sie den halben Planeten zusammengebombt.«

Ihr bewusst verletzender Ton ließ Stone zusammenzucken. Sein Blick flackerte noch immer, aber er hatte sich jetzt wieder in der Gewalt. Der Zusammenbruch, den sie halbwegs erwartet hatte, kam nicht. Nach einer Weile trat er von der Tür zurück.

Aber kurz, bevor sie den Raum verließ, sah sie Stone noch einmal an, und sie bemerkte, dass sein Blick starr auf das halbe Dutzend schimmernder Kälteschlaf-Tanks gerichtet war.

Sie nahm sich vor, Becker bei Gelegenheit zu fragen, ob er sicher war, keinen Fehler zu begehen, indem er diesem halben Kind so großes Vertrauen schenkte.

Dann betraten sie die Liftkabine und fuhren wieder nach oben.

Als sie den halben Weg hinter sich hatten, begannen überall in der Station die Alarmsirenen zu heulen.

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