10. Kapitel - Vergangenheit


4. Dezember 1998

Es hatte mehr als zweihundert Jahre gedauert, diese Stadt zu bauen. Der Zusammenbruch erfolgte in einer einzigen Nacht.

Der Weg zurück nach Manhattan war ein Alptraum gewesen, an den sie sich nur noch bruchstückhaft erinnerte. Irgendwo auf halber Strecke hatte sie aufgehört, all die Schrecken und all das Unvorstellbare in sich aufnehmen zu wollen, das sie sahen. Sie hatte schon an jenem aller ersten Morgen begriffen, dass die Welt sich nun endgültig verändert hatte und dass New York nie wieder das werden würde, was es einmal gewesen war.

Die Straßen waren mit liegengebliebenen Fahrzeugen verstopft gewesen. An zahllosen Stellen waren Brände ausgebrochen, und überall wurde gekämpft. Sie waren am Ende ihrer Kräfte gewesen, als sie gegen Mittag das Apartmenthaus im Herzen Manhattans erreicht hatten. Auf dem Weg dorthin hatten sie alles gesehen, was zum Szenario einer sterbenden Millionenstadt gehörte: Panik, Tod und Angst, Plünderer und Menschen, die gegeneinander kämpften, nur keine Außerirdischen. Es waren die Bewohner New Yorks selbst, die ihre eigene Stadt zerstörten.

Sie verscheuchte den Gedanken, stand auf und goss sich mit zitternden Händen einen Martini ein. Ihre Hände zitterten jetzt oft, und sie ertappte sich immer häufiger dabei, mehr Alkohol zu trinken, als ihr gut tat. Sie musste aufpassen. Es war drei Tage her, dass ein halbes Kind in der Uniform der Nationalgarde vor der Tür ihres Apartments aufgetaucht war und sie und Mike hierher gebracht hatte, an einen der vier oder fünf Orte in New York, in denen das Leben wenigstens noch einen Anschein von Normalität hatte: die Keller der BANK OF AMERICA, ein ganzes Labyrinth von Stahlkammern und Gängen, winzigen Büros und nur unwesentlich größeren Schlaf- und Aufenthaltsräumen. Die kaum zwei mal drei Schritte messende Kammer, die man ihr und Mike allein zugewiesen hatte, stellte einen unbeschreiblichen Luxus dar.

Sie blickte auf das Zifferblatt der mechanischen Uhr, die an der Wand gegenüber der Tür hing, stellte fest, dass sie noch eine gute halbe Stunde Zeit hatte, bis zu Beckers routinemäßigem Anruf, und machte sich trotzdem auf den Weg.

Draußen würde es laut und hektisch zugehen, aber hier drinnen hatte sie das Gefühl, zu ersticken; trotz der Klimaanlage, deren Summen so tat, als hätte es den Weltuntergang dreißig Meter über ihren Köpfen gar nicht gegeben.

Sie zog ihre Uniformjacke an, verließ die Kammer und machte sich auf den Weg zu dem zur Kommandozentrale umgewandelten Datensicherungsraum der Bank.

Die Gänge waren nicht ganz so überfüllt, wie sie angenommen hatte. In den letzten drei Tagen hatte sich die Lage hier unten ein wenig beruhigt, was allerdings nicht etwa hieß, dass es wirklich ruhig gewesen wäre. Immerhin war aus dem völligen Tohuwabohu der ersten vierundzwanzig Stunden eine Art geordnetes Chaos geworden, in das Colonel Stanley tatsächlich so etwas wie ein System gebracht hatte; ein System zwar, das nur er allein und sonst niemand verstand, das aber funktionierte.

Soweit in dieser Stadt überhaupt noch etwas funktionierte, dachte sie bitter.

Wieder drohten sie die Erinnerungen an den entsetzlichen Marsch durch New York zu übermannen, und wieder gelang es ihr nur mit Mühe, sie zu verscheuchen.

Es waren nicht nur die Angriffe der Fremden - jene erste Gruppe, der sie begegnet waren, war nicht die einzige geblieben -, sondern der totale Zusammenbruch einer riesigen Stadt. New York hatte sich in ein Gebirge aus Stein verwandelt. Es gab keine Wasserversorgung mehr, keinen Strom. Kein Telefon und keine Ärzte, keine Taxis und keine Feuerwehr, kein...

New York starb einen gnadenlosen Tod.

Gestern - war es gestern, als Mike und sie draußen gewesen waren? Sie wusste es kaum noch. Man verlor rasend schnell jedes Zeitgefühl, in dieser unterirdischen Welt aus Neonlicht und weiß gestrichenem Beton. Gestern oder wann auch immer hatten sie das Bankgebäude verlassen, um sich draußen umzusehen, und hatten ein Geräusch gehört, das fast wie eine wunderbare Musik geklungen hatte: das Brummen eines Automotors. Augenblicke später war ein uralter Militärlaster vor dem Bankgebäude vorgefahren. Jemand hatte die zerstörte Zündspule herausgenommen und durch etwas Selbstgebasteltes ersetzt, dessen Anblick jeden Ingenieur in den Wahnsinn getrieben hätte, aber jedenfalls funktionierte.

Stanley und die anderen waren fast in einen Freudentaumel ausgebrochen, aber Charity hatte der Anblick eher deprimiert. Das alles war von ihrer High-Tech-Welt übriggeblieben.

Sie erreichte die Kommandozentrale, zeigte dem Posten vor den Eingang ihren Dienstausweis und trat geduckt an der tonnenschweren Panzertür vorbei. Noch vor einer Woche hätte ihr Dienstausweis ihr diesen Weg nicht geöffnet. Nur ein paar Schritte von ihr entfernt, gleich hinter der angrenzenden Wand, lag der Tresorraum der Bank, ein chromblitzendes Gewölbe, in dem genug Geld aufgestapelt war, um diese ganze Stadt zu kaufen. Nur, dass es jetzt nichts mehr wert war. Andersen und ein paar andere Bankleute, die manchmal noch hier herunterkamen und nervös die Soldaten beobachteten, die an ihren unersetzlichen Computern herumspielten, wollten das noch nicht wahrhaben, obwohl es auch der einfachste Soldat bereits wusste.

Trotzdem war sie für die Paranoia dieser Bankmenschen und ihrer Vorgesetzten sehr dankbar, denn schließlich war sie dafür verantwortlich, dass es dieses Gewölbe überhaupt gab, ein Kellergeschoss der Bank, das nicht nur bombensicher, sondern auch gegen jede nur denkbare Form elektromagnetischer Strahlung gehärtet war - und das alles nur, dachte Charity spöttisch, um auch nach dem großen Knall noch die genauen Kontostände der Einleger dieser Bank zu kennen!

Es war absurd. Manchmal fragte sie sich, ob sie einer Rasse von unheilbar Geisteskranken angehörte.

Noch absurder allerdings war, dass es in dieser ganzen Stadt drei Banken und ein Krankenhaus gab, dessen Computeranlagen auf diese Weise geschützt waren - keine einzige militärische Anlage, geschweige denn die Telefonzentralen oder auch nur ein einziges verdammtes Funkgerät! Die Militärs kannten die Gefahr eines NEMP seit fünfzig Jahren, aber niemand in dieser Stadt hatte etwas dagegen unternommen, ganz einfach, weil es zu teuer gewesen wäre.

Sie sah sich nach Mike um, entdeckte ihn nirgends und winkte statt dessen Stanley zu, der über einen Kartentisch gebeugt dastand und Zahlen auf den Rand eines Blattes kritzelte. Eilig durchquerte sie den Raum, beugte sich neugierig über seine Schulter und sah, dass es eine Straßenkarte New Yorks war. Große Gebiete waren schraffiert, andere mit roten oder grünen Kreuzen versehen. Sie fragte nicht, was diese Markierungen bedeuteten.

»Sie sind früh«, sagte Stanley, ohne von seiner Karte aufzublicken. In seiner Stimme schwang eine leise Spur von Missbilligung mit. Es war nichts Persönliches; ganz im Gegenteil.

Charity spürte, dass Stanley sie mochte, und auch sie empfand eine gewisse Sympathie für ihn. Aber Stanley hätte den Platz, den Mike und sie beanspruchten, bitter nötig gehabt. In einer Stadt, deren funktionierende Teile auf knapp dreihundert Quadratmeter zusammengeschrumpft waren, machte jeder uneingeladene Besucher Unannehmlichkeiten.

»Wie sieht es aus?« fragte sie, eigentlich nicht aus wirklichem Interesse, sondern vielmehr, um überhaupt etwas zu sagen.

Zu ihrer Überraschung sah er jetzt doch von seiner Karte auf.

»Hier?« fragte er. »Oder im Rest der Welt.«

»Ist das ein Unterschied?«

»Und ob«, antwortete Stanley ernsthaft. Sorgsam faltete er seine Straßenkarte zusammen und deutete Charity, näher heranzutreten.

Darunter kam eine Weltkarte im DIN-A-2-Format zutage. Jemand hatte mit roter Tusche große Teile Nordamerikas, Europas und Asiens übermalt; auch auf dem Rest der Welt prangten rote Flecken.

»Die roten Stellen sind Gebiete, die sie besetzt haben«, sagte er.

»Jedenfalls die, von denen wir wissen, dass sie da sind. Aber wahrscheinlich sind es sehr viel mehr. Ist schwer geworden, an Neuigkeiten zu kommen, wissen Sie?«

Charity erschrak ein wenig. Vor zwei Tagen, als er ihr diese Karte das erste Mal gezeigt hatte, waren die roten Flecke weniger zahlreich gewesen und sehr viel kleiner. Es war nicht die Tatsache ihres Vormarsches an sich, sondern die Schnelligkeit, mit der er sich entwickelte. Wenn es so weiterging, dachte Charity bedrückt, hatten sie die ganze Erde in vier Wochen erobert.

»Und hier?« fragte sie.

»New York?« Stanley lächelte. »Sehr viel besser, wie in den meisten großen Städten. Ich schätze, dass sie an etwa fünfzig Stellen aufgetaucht sind. Aber wir werden mit ihnen fertig.«

Seine Worte ließen Charity schaudern. Ihr Gesichtsausdruck schien ihre Gefühle sehr deutlich zu verraten, denn Stanley lächelte plötzlich und versuchte, seinerseits ein beruhigendes Gesicht zu ziehen. »Nur keine Sorge«, sagte er. »Wir werden mit ihnen fertig. Wenn es sein muss, können wir uns monatelang halten. Vielleicht Jahre.«

Charity blickte auf die Weltkarte. Die roten Flecken darauf behaupteten das Gegenteil.

»Das ist etwas anderes«, sagte Stanley, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Verwechseln Sie eine Stadt wie New York nicht mit dem offenen Land. Dort sind sie unseren Jungs wahrscheinlich haushoch überlegen, vor allem jetzt, wo sie uns praktisch entwaffnet haben. Aber hier ...« Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »New York ist so etwas wie eine Bergfestung, wissen Sie? Wir haben zwar keine reguläre Armee hier, aber die Nationalgarde allein bringt leicht hunderttausend Mann auf die Beine. Und jeder gute Amerikaner«, fügte er hinzu, nun allerdings eindeutig spöttisch, »hat schließlich sein Gewehr im Schrank, nicht?«

»Es waren bisher nur wenige«, sagte Charity vorsichtig. »Eine Art Vorhut.«

Stanley nickte. »Sicher. Lassen Sie sie ruhig kommen, Captain Laird. Wir werden auch ohne Raumschiffe und Laserkanonen mit ihnen fertig, mein Wort darauf. Diese Ungeheuer werden sich einer Million guter altmodischer Gewehrläufe gegenübersehen, wenn sie wirklich so dumm sind, diese Stadt erobern zu wollen.«

Charity widersprach nicht. Sie wusste, wie wenig Sinn es hatte, mit Stanley über dieses Thema streiten zu wollen. Sie hatte es versucht, gleich am ersten Tag, aber es war zwecklos - und vermutlich hatte Stanley sogar recht. Es war völlig unmöglich, eine Stadt wie New York erobern zu wollen. Aber vielleicht wollten sie das gar nicht. Die Angriffe der letzten Tage waren wahrscheinlich nur Nadelstiche gewesen, die keinem anderen Zweck dienten, als ihre Stärke zu testen. In Wahrheit hatten sie es gar nicht nötig, New York zu erobern. Sie brauchten nur abzuwarten, bis alles von selbst zusammenbrach.

Stanley wollte weitersprechen, aber in diesem Moment erwachte das Funkgerät pfeifend zum Leben. Stanley sah auf, runzelte überrascht die Stirn und trat nach einem Blick auf die Uhr hinter den Mann, der das Gerät bediente. Charity folgte ihm. Es war zu früh für Beckers Routineruf.

Fast gebannt sah sie zu, wie der Soldat behutsam an den klobigen Armaturen des uralten Röhrengerätes arbeitete, um den Sender scharf einzustellen. Der Apparat stammte nicht nur scheinbar, sondern im wortwörtlichen Sinne aus einem Museum, ebenso wie das knappe Dutzend anderer Funkgeräte, das jetzt New Yorks einzige Verbindung zur Außenwelt darstellte.

»Becker?« fragte Stanley nervös.

Der Mann an den Kontrollen nickte und reichte Stanley die Kopfhörer.

»Für Sie, Sir«, sagte er. »SS Nulleins. Commander Becker persönlich.«

Stanleys Gesichtsausdruck wurde noch um einige Nuancen düsterer, während er sich die Kopfhörer überstülpte und auf dem Stuhl Platz nahm, den der Soldat für ihn räumte. Er meldete sich, antwortete ein paarmal mit Ja oder Nein auf Fragen, die Becker am anderen Ende der Leitung stellte, und stand nach ein paar Augenblicken wieder auf. Sein Blick flackerte.

»Er will Sie sprechen, Captain Laird«, sagte er.

Charity blickte ihn einen Moment fast perplex an, dann stülpte sie sich die schweren Kopfhörer über - sie waren so altmodisch und unpraktisch wie das Gerät, zu dem sie gehörten. Der Techniker, der das Gerät normalerweise bediente, tippte er ihr auf die Schulter.

»Drücken Sie die rote Taste, wenn Sie sprechen wollen, Captain«, sagte er.

Charity nickte dankbar und meldete sich. Als sie die Taste wieder losließ, füllten sich die Kopfhörer mit Rauschen und einer Unzahl piepsender und pfeifender Störgeräusche. Sie hatte Mühe, Beckers Stimme zu verstehen.

»Captain Laird«, begann Becker. Trotz der miserablen Übertragungsqualität glaubte Charity, einen gehetzten Ton in seiner Stimme zu vernehmen. »Hören Sie zu, Captain. Stellen Sie keine Fragen, sondern hören Sie einfach nur zu. Wenn Sie antworten müssen, tun Sie es mit Ja oder Nein - verstanden?«

Charity drückte die rote Taste am Funkgerät und sagte: »Aber selbstverständlich, Commander.«

»Wo sind Wollthorpe und Niles?« fragte Becker. »Bei Ihnen?«

»Nein«, antwortete Charity. »Mike... Lieutenant Wollthorpe befindet sich hier bei mir, wo Niles ist ... weiß ich nicht.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit.

Sie wusste ziemlich genau, wo Niles sich im Moment aufhielt - am anderen Ende der Stadt nämlich, bei seiner Familie. Falls sie noch lebten.

Becker fluchte. »Okay - versuchen Sie ihn aufzutreiben. Und dann kommen Sie hierher. Alle drei, oder nur Wollthorpe und Sie, wenn Sie ihn nicht finden.«

»Was ist passiert?« fragte Charity.

»Plan Omega läuft an«, antwortete Becker. Er atmete hörbar ein. »Termin ist der 13. Dezember. Schaffen Sie das?«

Der 13.? dachte sie schockiert. Das waren nur noch acht Tage - normalerweise genug, um achtmal nach Timbuktu und zurück zu fliegen, aber in einer Welt ohne Helijets verdammt wenig, um eine Entfernung von fast zweitausend Meilen zu bewältigen.

Trotzdem sagte sie: »Ja.« Becker würde früh genug merken, wenn sie es nicht schafften. Er wusste so gut wie Sie, was er von ihnen verlangte.

»Was ist passiert?« fragte sie noch einmal. »Warum ...«

»Verdammt, Sie sollen den Mund halten!« schrie Becker. »Ich versuche Sie und die beiden anderen da rauszuholen, begreifen Sie das nicht? Sie sind dabei, sich um ihren Hals zu reden, Kindchen.«

Und dich um deine Freiflugkarte zum Mars, fügte Charity in Gedanken böse hinzu. Einer der Plätze auf der CONQUEROR war für Becker reserviert. Aber das sprach sie dann doch lieber nicht laut aus.

»Wie meinen Sie das?« fragte sie vorsichtig, wobei sie sich bemühte, ein möglichst unbefangenes Gesicht zu machen. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass nicht nur Stanley sie anstarrte, sondern die gesamte Besatzung des Kommandoraumes.

»Es wird ernst«, antwortete Becker. »Drüben in Europa scheinen ein paar Bomben gefallen zu sein. Niemand weiß etwas Genaues, aber wir haben einige sehr starke Erschütterungen registriert.«

Und ihr macht die Rettungsboote fertig, dachte Charity. Deshalb drängte Becker so darauf, sie und die anderen in die Station zu bringen - schließlich war sie der Steuermann. Sie fragte sich nur, wohin sie es lenken sollte.

»Aber das ist nicht alles«, fuhr Becker fort. »Sie haben Tokio ausgelöscht, und... ...ein paar weitere. Wir verlieren ungefähr alle zehn Minuten den Funkkontakt mit einer anderen Stadt. Ich weiß nicht, was da vorgeht, Laird, aber es sieht so aus, als wenn sie jetzt wirklich Ernst machen. Und ich bin sicher, dass New York ganz oben auf ihrer Liste steht. Deshalb will ich, dass Sie von dort verschwinden - klar?«

»Verstanden, Sir«, antwortete Charity. Ein schlechter Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. So viel zum Thema Widerstand, dachte sie.

»Geben Sie mir noch einmal Stanley«, verlangte Becker.

Charity stand auf, nahm die Kopfhörer ab und reichte sie Stanley.

Sie schwieg, während Stanley gebannt auf Beckers Stimme lauschte und nur ein paarmal mit einem halblauten Ja antwortete, und sie versuchte zumindest, die Blicke zu ignorieren, die sie aus zwei Dutzend angstvoll geweiteter Augenpaare trafen.

Diese Männer und Frauen würden ihr ihre Gefühle einfach ansehen, so deutlich, als stünden sie mit flammenden Lettern auf ihrer Stirn geschrieben.

Was sollte sie ihnen sagen, wenn sie sie fragten, was passiert war?

Dass sie wahrscheinlich nur noch ein paar Stunden zu leben hatten?

Stanley beendete das Gespräch und stand auf. Sein Gesicht war leichenblass, als er sie ansah. »Ich habe den Befehl bekommen, Sie so schnell wie möglich aus der Stadt herauszubringen, Captain«, sagte er. »Was ist passiert?«

Becker hatte es ihm nicht gesagt, dachte Charity. Sie kam sich wie eine Verräterin vor.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie ausweichend. »Er weiß selbst nichts Genaues. Es sieht so aus, als wären in Europa ein paar Bomben gefallen.«

Sie versuchte zu lächeln, spürte aber selbst, dass sie nur eine Grimasse zog.

»Bomben?«

»Ihre Leute sind nicht die einzigen Bastler, wie es aussieht«, antwortete sie lahm. »Vielleicht habe ich mich getäuscht, und unsere Freunde vom Mars wohl auch. Wir sind nicht ganz so hilflos, wie sie meinten.« Es war ein ziemlich plumper Versuch, die Spannung zu lösen, und er schlug auch fehl. Sowohl Stanley als auch alle anderen hier mussten einfach merken, dass jedes einzelne Wort gelogen war.

Aber Stanley widersprach nicht mehr, sondern starrte nur einen Moment lang an ihr vorbei. Dann hob er die Hand und deutete zur Decke.

»Okay, ich habe meine Befehle«, sagte er mühsam. »Holen Sie Ihre Sachen, Captain. Ich bringe Sie hier heraus.«

»Und wie?«

Stanley lächelte matt. »Können Sie reiten?«

Sie konnte, aber eine Stunde später wünschte sie sich beinahe, Stanleys Frage mit Nein beantwortet zu haben. Ihr Rücken schmerzte unerträglich, und sie spürte jeden einzelnen Hufschlag des Pferdes auf dem Asphalt wie einen Tritt ins Kreuz. Sie hatten Manhattan fast von einem Ende zum anderen durchquert, und es war wie ein Spießrutenlauf durch die Hölle gewesen. Zweimal waren sie angegriffen worden, und beide Male nicht etwa von außerirdischen Ungeheuern, sondern von verzweifelten Menschen, die es auf ihre Pferde abgesehen hatten.

Sie hatten nicht den Weg zur Brücke eingeschlagen, wie Charity erwartet hatte, sondern waren fast in entgegengesetzter Richtung geritten, und vor fünf Minuten hatten sie eine Stacheldrahtsperre passiert, die einen ganzen Häuserzug umgab.

Seit sie die Barriere hinter sich hatten, hatte Charity nur noch Soldaten gesehen.

Ein für alle Zeiten abgeschalteter Panzer blockierte die Straße.

Ein beeindruckender Anblick, dachte Charity spöttisch. Die Außerirdischen würden sich totlachen, wenn sie ihn sahen. Immerhin stellte er das Nonplusultra irdischer Waffentechnik dar, ein Ungetüm von schier unvorstellbarer Vernichtungskapazität. Vorsichtig umkreisten sie den toten Giganten, schlängelten sich durch eine weitere Stacheldrahtsperre und näherten sich einem langgestreckten Lagerhaus, vor dem eine ganze Hundertschaft Soldaten Lager bezogen hatte. Stanley, der jetzt ein Stück voraus ritt, wechselte ein paar Worte mit einem Offizier, deutete auf die Halle und dann auf sie und Mike und beendete das Gespräch schließlich mit einer befehlenden Geste. Er sah nicht besonders gut gelaunt aus, als Charity ihr Pferd neben ihn lenkte und ihn fragend ansah.

»Probleme?«

»Nein«, log Stanley. »Kommen Sie. Es ist nicht mehr weit.«

Aber er ritt nicht weiter, sondern schwang sich mit einer zornigen Bewegung aus dem Sattel und wartete, bis Charity und Mike seinem Beispiel gefolgt waren.

Der stechende Schmerz in Charitys Rücken erwachte zu neuer Wut, als sie vom Pferd stieg und den ersten Schritt machte; trotzdem war sie erleichtert, wieder auf ihren eigenen Füßen zu stehen. Als Stanley sie gefragt hatte, ob sie reiten konnte, hatte sie angenommen, dass er ihr auch ein Reitpferd geben würde; keinen kreuzlahmen Gaul, den seine Leute wahrscheinlich aus dem Schlachthaus geholt hatten...

Sie warf dem Pferd einen feindseligen Blick zu, löste ihren Rucksack vom Sattelgurt und beeilte sich, Stanley zu folgen.

Sie betraten die Halle.

Zuerst sah Charity gar nichts. Ihre Augen hatten sich an zwei Stunden Sonnenlicht gewöhnt und brauchten Sekunden, um sich auf die Dämmerung hier drinnen umzustellen. Es gab Licht - ein Dutzend grellweißer Inseln aus Helligkeit, die von großen Karbidscheinwerfern in die Schwärze gestanzt wurden -, aber der krasse Kontrast zwischen künstlicher Nacht und ebenso künstlicher Helligkeit schien die Schwärze eher noch zu betonen.

Dann begannen sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen, und wenn das, was sie im aller ersten Moment glaubte, der Wahrheit entsprach, dachte sie, dann hatte Stanley verdammt recht, die Hälfte seiner kleinen Armee hier aufzubieten...

Der Hubschrauber war mindestens zwanzig Jahre alt. Die Pilotenkanzel war eine zerkratzte runde Plexiglaskugel, in der gerade Platz für zwei Passagiere war, von der spindeldürren Konstruktion des Schwanzes blätterten mindestens fünf verschiedene Lackschichten herunter, und der Motor sah aus, als hätten Stanleys Leute ihn aus einem Vorläufer der Arche Noah ausgebaut.

»Großer Gott, sagen Sie bloß, das Ding fliegt noch?« sagte Mike fassungslos.

Stanley warf ihm einen ganz und gar undeutbaren Blick zu, antwortete aber nicht, sondern hob befehlend die Hand.

»Croyd!«

Ein kleiner, kahlköpfiger Mann in einem weißen Kittel voller Öl- und Schmutzflecken löste sich aus der Dunkelheit und kam auf ihn zu. Seine Überraschung, als er Charity und Mike erkannte, war nicht zu übersehen.

Aber er verbiss sich jede Bemerkung und sah nur Stanley fragend an.

»Colonel?«

Stanley deutete auf den Hubschrauber. »Wie seit sind Sie, Croyd?« fragte er knapp. »Fliegt er?«

Croyd nickte ganz automatisch, dann zuckte er mit den Schultern.

»Theoretisch, ja«, antwortete er. »Der Motor läuft. Aber ob das Ding überhaupt noch jemals fliegt, kann niemand sagen. Wir haben noch keinen Probeflug gemacht, wenn Sie das meinen.«

»Er wird funktionieren müssen«, antwortete Stanley barsch. Er deutete auf Charity. »Sie kennen Captain Laird?«

»Wer kennt sie nicht?« antwortete Croyd. Er lächelte flüchtig. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Er wurde übergangslos ernst. »Sie wollen wirklich mit diesem Ding fliegen?«

»Wenn wir es weiter als zehn Zentimeter in die Luft bekommen, ja«, antwortete Charity lächelnd.

»Das werden Sie«, antwortete Croyd überzeugt. »Diese alten Vögel waren robuste kleine Maschinchen, die so schnell nichts umwirft. Aber es ist zu früh.« Er wandte sich wieder an Stanley.

»Kommen Sie morgen wieder, Colonel. Oder besser in zwei Tagen. Der Hubschrauber muss doch ...«

Stanley schnitt ihm mit einer zornigen Geste das Wort ab. »Wir haben weder bis morgen Zeit noch bis übermorgen, Croyd«, sagte er heftig. »Fliegt er, oder fliegt er nicht?«

Croyd schwieg einen Moment, eher verblüfft als erschrocken, oder gar eingeschüchtert.

»Theoretisch, ja«, wiederholte er. »Aber ...«

»Dann ist es ja gut«, sagte Stanley. »Alles andere wird sich zeigen. Weisen Sie Captain Laird in die Instrumente ein.«

Croyd starrte ihn aus aufgerissenen Augen an, aber Stanley gab ihm keine Gelegenheit mehr, zu widersprechen, sondern fuhr auf dem Absatz herum und verschwand mit schnellen Schritten im Hintergrund der Halle. Croyd blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Was hat er?«

Charity zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. Ein wenig war sie selbst überrascht, wie glatt ihr die Lüge von den Lippen kam.

»Vielleicht ist er böse, dass wir ihm sein Spielzeug wegnehmen«, sagte Mike.

Croyd sah jetzt doch ein wenig erschrocken aus. »Aber Sie bringen es doch zurück, oder?«

»Selbstverständlich - falls wir nicht damit vom Himmel fallen.«

Mike klaubte seinen Rucksack vom Boden auf und schlenderte auf den Hubschrauber zu.

Croyd blieb stehen, um sich eine filterlose Zigarette anzuzünden.

Er stieß eine blaue Rauchwolke in Mikes Richtung und lächelte übertrieben schadenfroh.

»Ich bin nicht besonders scharf darauf, den Testpiloten zu spielen. Können Sie mit einer solchen Maschine umgehen?«

Mike nickte. »Natürlich«, sagte er beleidigt.

»So natürlich ist das gar nicht«, antwortete Croyd, während sie sich dem Hubschrauber näherten. »Ich weiß, dass Sie ein Raumschiff fliegen können, aber das da ist etwas anderes, glauben Sie mir. Sie haben keinerlei Hilfsmittel. Keine Computer, die jeden ihrer Fehler ausbügeln. Nicht einmal einen Höhenmesser. Wenigstens keinen«, fügte er hinzu, »der funktioniert. Eine Maschine wie diese zu fliegen, erfordert eine Menge Fingerspitzengefühl.«

Sie hatten den Helikopter erreicht. Croyd öffnete die Kanzeltür, trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung. Mike zögerte unmerklich, aber dann gab er sich einen sichtlichen Ruck, warf sein und Charitys Gepäck in den schmalen Stauraum hinter den Sitzen und kletterte umständlich in die Maschine hinein. Charity hörte ihn seufzen. »Mein Gott, das Ding stammt ja noch aus der Steinzeit.«

Croyd nickte ungerührt. »Seien Sie froh, dass das so ist, Lieutenant. Wenn er zehn Jahre jünger wäre, hätten wir ihn kaum hingekriegt.«

»Haben Sie sich deshalb dieses Wrack ausgesucht?« fragte Charity.

Wenn Croyd die Bezeichnung Wrack störte, so ließ er sich nichts anmerken. Er nickte.

»Zum Teil«, gestand er. »Eine Maschine jüngeren Datums wäre mir persönlich auch lieber gewesen, glauben Sie mir. Aber es hätte keinen Sinn gehabt. Wir brauchten Wochen, um eines dieser vollelektronischen Spielzeuge wieder hinzukriegen - falls wir es überhaupt schaffen. Das hier ...« Er schlug mit der flachen Hand gegen die Pilotenkanzel, und der ganze HeliCopter begann leicht zu zittern. »...ist so etwas wie ein Dinosaurier, wissen Sie? Ein einfacher, robuster Motor und so gut wie keine Elektronik.« Er deutete auf den Motor, der hinter und über der Pilotenkanzel angebracht war. »Das Schätzchen da oben hat uns ein bisschen Kopfzerbrechen bereitet, aber jetzt läuft es wieder.«

»Woher haben Sie die Ersatzteile?« fragte Charity.

»Ersatzteile?«

»Zündspule, Kerzen, Verteiler ...« Sie machte eine Handbewegung, um anzudeuten, dass sie die Aufzählung noch weiterführen konnte, es aber nicht für nötig hielt.

»Es gibt keine«, sagte Croyd lakonisch. »Alles selbstgebaut. Gute amerikanische Handarbeit.« Er lächelte flüchtig. »Falls Sie landen sollten, passen Sie auf, dass der Motor nicht ausgeht. Es gibt keinen Anlasser.«

»Oh«, sagte Charity.

Croyd grinste, streckte übertrieben galant den Arm aus und half ihr, zu Mike in die Kabine zu klettern. Anschließend zog er sich schnaubend selbst auf die Kufen des HeliCopters hinauf und beugte sich vor, um Mike die Instrumente zu erklären; ein Unterfangen, das mit einigen wenigen Worten erledigt war, denn die allermeisten Anzeiger funktionierten nicht mehr.

»Das da ist die Tankanzeige«, sagte er abschließend. »Sie geht nicht. Wenn die Kiste anfängt zu rütteln, schalten Sie an diesem Hebel auf Reserve. Anschließend haben Sie noch ungefähr zehn Minuten Zeit, die nächste Tankstelle zu finden.«

»Wie groß ist die Reichweite?« fragte Mike. Croyd zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Der Tank fasst hundert Gallonen - also vielleicht zweihundert Meilen. Kaum mehr. Diese alten Motoren haben einen gesegneten Appetit.«

Zweihundert Meilen, dachte Charity betroffen. Das bedeutete, dass sie acht- bis zehnmal nachtanken mussten, ehe sie SS Nulleins erreichten. Sie wusste, dass sie es nicht schaffen würden. Nicht mit diesem Wrack.

»Aber um Ihren Treibstoffvorrat brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, fuhr Croyd aufgeräumt fort. »Der Vogel ist vollgetankt. Es reicht, wenn sie ein Stück aufs Meer hinausfliegen und ein paar Runden drehen. Wir wollen nicht wissen, ob das Ding kunstflugtauglich ist, sondern nur, ob es fliegt.«

Mike sah verwirrt auf, aber Charity warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu, und er schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge gelegen hatte.

Vielleicht war es besser, wenn er nicht wusste, dass sie nicht wiederkommen würden.

Stanley kam zurück, und Croyd beendete seine Erklärung in aller Hast und sprang wieder zu Boden, um den Colonel Platz zu machen.

Charity sah, wie er um den Hubschrauber herumging und geschickt am Heck hinaufkletterte, um sich am Motor zu schaffen zu machen.

In der rechten Hand hielt er ein gut anderthalb Meter langes Seil. Es dauerte einen Moment, bis sich Charity an seine Worte erinnerte, den fehlenden Anlasser betreffend. Er und seine Kollegen musste eine Art Schwungrad gebastelt haben, um ihn wie die Maschine eines Motorbootes anzuwerfen.

»Sind Sie so weit?« fragte Stanley. Er sprach sehr leise, wohl damit Croyd und die anderen Mechaniker seine Worte nicht hörten.

Charity nickte.

»Ich... hoffe, Sie kommen durch«, sagte Stanley leise. Es klang traurig, aber Charity spürte, dass es ehrlich gemeint war. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihm in irgendeiner Weise Trost zuzusprechen. Und sei es nur, um sich auf diese Weise selbst einzureden, dass sie ihn und all die anderen hier nicht einfach im Stich ließen. Aber sie nickte nur dankbar.

»Fliegen Sie so lange wie möglich an der Küste entlang«, sagte Stanley. »Soviel ich weiß, konzentrieren sie sich im Moment eher auf das Landesinnere. Und falls Sie auftanken müssen, tun Sie es auf irgendeinem Highway, möglichst weit weg von der nächsten Stadt. Es gibt wahrscheinlich fünfzig Millionen Menschen in diesem Land, die sie ohne zu zögern umbringen würden, um einen Platz in dieser Maschine zu kriegen.«

»Ich weiß«, sagte Charity. »Wir... wir passen schon auf, Colonel.«

»Sie werden es nicht schaffen«, fuhr Stanley fort. Er sprach schnell, fast tonlos, in der Art eines Mannes, der hastig einen auswendig gelernten Text herunterrasselte, um ja nichts zu vergessen. »Nicht mit diesem Schrotthaufen. Wenn Sie runter müssen, versuchen Sie irgendeinen Wagen wieder flott zumachen. Einen alten Ford vielleicht oder einen Dodge oder Volkswagen. Die Dinger bestehen praktisch nur aus Blech, kaum Elektronik.«

Charity wollte antworten, aber Stanley hörte nicht mehr hin. Mit einem Satz sprang er von der Kufe der Maschine herab, warf die Tür zu und hob befehlend den Arm. Über Charitys und Mikes Köpfen erwachte der altmodische Benzinmotor des Helikopters stotternd und spuckend zum Leben. Einen Moment lang lief er unruhig und drohte wieder auszugehen, aber dann gab Mike vorsichtig Gas, und sein Lauf wurde gleichmäßiger. Über dem zerschrammten Plexiglas der Kuppel begannen sich die vier Rotorblätter ganz langsam zu drehen.

Die großen Rolltore der Halle wurden geöffnet. Grelles Sonnenlicht flutete in die Halle und ließ Charity blinzeln. Mike hob schützend die Hand vor die Augen, griff mit der anderen in die Brusttasche seines Hemdes und zog eine Sonnenbrille hervor.

Auf einen weiteren Wink Stanleys hin befestigten einige Soldaten zwei Drahtseile an den Kufen des Hubschraubers und zogen die kleine Maschine ins Freie. Charity musste sich alle Mühe geben, um möglichst gelassen auszusehen, während sie darauf warteten, starten zu können. Die Männer wichen respektvoll vor den pfeifenden Rotoren zurück und bildeten einen weiten Kreis um die Maschine.

Wieder hatte sie das Gefühl, all diese Männer im Stich zu lassen.

Ein bisschen kam sie sich fast vor, als wäre sie schuld an dem, was ihnen passieren würde.

»Ist irgend etwas?« fragte Mike. Ihm war nicht entgangen, wie ruhig sie plötzlich geworden war und wie verkrampft sie auf ihrem Sitz hockte.

Charity schüttelte den Kopf und sah demonstrativ in eine andere Richtung. Zwei Minuten später hoben sie ab.

Sie hatten Glück, in zweifacher Hinsicht. Croyd und seine Männer schienen wirklich so etwas wie ein kleines Wunder vollbracht zu haben, denn der Hubschrauber flog ganz ausgezeichnet, und der Tag war beinahe windstill, so dass Mike sich ganz darauf konzentrieren konnte, sich an diesen seltsamen Vogel zu gewöhnen.

Sie folgten Croyds Rat und flogen in geringer Höhe, aber sehr schnell, aufs offene Meer hinaus, schlugen dann einen Bogen und näherten sich wieder der Küste.

Die verwaiste Plastikwelt von Coney Island huschte unter ihnen hinweg, dann jagte der Schatten des Helikopters über die ersten Häuser der Vororte hinweg.

Drüben in Manhattan hatte die Stadt einen chaotischen Anblick geboten, aber hier wirkte sie ... tot. Sie hatte damit gerechnet, dass das Motorengeräusch der Maschine die Menschen auf die Straße locken würde, aber sie sah niemanden.

Wenn hier überhaupt noch jemand lebte, dann verkrochen sie sich in ihren Häusern. Fast gegen ihren Willen musste sie wieder an das Haus voller Toter denken, das sie entdeckt hatten. Vielleicht war es dort unten dasselbe, dachte sie schaudernd. Vielleicht waren es Häuser voller Leichen, über die sie hinwegflogen.

Mike beugte sich ein wenig im Pilotensitz vor, blickte nach unten und korrigierte den Kurs des Hubschraubers dann ein wenig. Sie flogen jetzt fast parallel zur Küste, und kaum noch höher als dreißig Meter. Trotzdem regte sich unter ihnen nichts.

»Niles?« fragte sie.

Mike nickte. »Wenn ich das Haus finde«, sagte er. »Sieht alles ein bisschen anders aus, von hier oben.«

Gut zehn Minuten lang flogen sie nach Süden. Sie sahen jetzt doch gelegentlich Menschen - hier und da einen Radfahrer oder ein paar Leute, die der Lärm der Rotoren aus den Häusern gelockt hatte.

Schließlich erreichten sie die Straße, in der Niles' Haus lag.

Selbst aus einer Höhe von weniger als dreißig Metern deutete hier nichts auf die Katastrophe hin, die den Lebensnerv New Yorks durchschnitten hatte - eine normale Straße voller kleiner, geschmackvoller Einfamilienhäuser, die sich hinter liebevoll gepflegten Vorgärten aneinander reihten.

Mike lenkte den Helikopter im Tiefflug über das Haus hinweg, in dem Niles mit seiner Familie wohnte, kam in einer weit geschwungenen Kurve zurück und setzte auf dem kurzgeschnittenen Rasen vor dem Haus auf, so dicht, dass die Rotoren fast das Vordach berührt hätten. »Beeil dich«, sagte er knapp.

Charity löste ihren Sicherheitsgurt und wollte die Tür öffnen, aber Mike hielt sie am Arm zurück. »Nimm das Ding mit«, sagte er und machte eine Kopfbewegung auf die Maschinenpistole, die zwischen ihren Sitzen lag.

Einen Moment lang war Charity fast versucht, es zu tun. Dann schüttelte sie den Kopf, stieß die Tür auf und sprang aus der Kanzel, ehe Mike sie abermals zurückhalten konnte. Geduckt lief sie auf das Haus zu, wobei sie sich aufmerksam nach beiden Seiten hin umsah.

Hinter den Fenstern des Nachbarhauses erschien ein Schatten; etwas blinkte. Aber niemand kam auf die Straße heraus.

Hinter ihr heulte der Motor des Helikopters auf, und für einen Moment warf sie der künstliche Sturmwind der Rotoren fast um, als Mike die Maschine wieder startete und zehn Meter über der Straße in der Luft anhielt. Offensichtlich nahm er Stanleys Warnung sehr ernst.

Die Tür wurde geöffnet, als sie noch zwei Meter vom Haus entfernt war, und Niles trat heraus. Er trug eine einfache, schwarze Cordhose und eines der grell bunten Hemden, die er so liebte. Unter seinem Gürtel steckte eine Pistole. Und er wirkte kein bisschen überrascht, als er Charity sah.

Sekundenlang blickte er sie schweigend an, dann hob er den Kopf und sah zu dem Helikopter hinauf. »Wo habt ihr denn das Museumsstück aufgetrieben?« fragte er. Seine Stimme klang sehr müde. Charity sah einen Schatten hinter ihm im Haus und ein Paar dunkler Augen, die sie fast angstvoll musterten. Sie registrierte mit einem völlig unbegründeten Gefühl des Schreckens, dass es die Augen eines Kindes sein mussten. Eine M16 mit aufgeschraubtem Zielfernrohr lehnte an der Wand. Mit aller Gewalt musste sie sich dazu zwingen, Niles wieder anzublicken.

»Es fliegt, oder?« sagte sie.

Niles lachte humorlos. »Ja«, sagte er. »Es geht wieder aufwärts, wie?«

»Wir... haben den Rückruf bekommen«, sagte sie zögernd. »Vor zwei Stunden, Niles. Von Becker persönlich.«

»SS Nulleins?« Niles deutete wieder auf den Hubschrauber. »Mit dem Ding?«

»So weit wir kommen«, antwortete Charity achselzuckend.

Verdammt, was war nur mit ihr los? Plötzlich fiel es ihr schwer, weiterzusprechen.

»Wir alle drei, Niles«, sagte sie.

Niles verzog die Lippen, aber sie wusste nicht einmal, ob es ein Lächeln sein sollte. »Ist da drinnen Platz für drei Passagiere?«

Charity schüttelte wortlos den Kopf, und auch Niles schwieg fast eine Minute lang. »Dann wünsche ich euch viel Glück«, sagte er schließlich.

»Du... kommst nicht mit?«

Niles lächelte jetzt wirklich. »Nein, Captain. Auch nicht, wenn Sie es mir befehlen.«

»Du weißt, was das bedeutet?« fragte sie sehr leise.

Niles nickte abermals. Sein Gesicht war wie eine Maske aus Stein.

Nach einer Weile drehte sie sich einfach herum und gab Mike ein Zeichen, den Helikopter zu landen, damit sie wieder einsteigen konnte. Als der Helikopter eine halbe Minute später wieder startete, beugte sie sich noch einmal im Sitz vor und blickte in die Tiefe.

Niles stand zusammen mit einer dunkelhäutigen Frau und einem vielleicht zehnjährigen Mädchen hinter dem Haus. Die Frau winkte ihnen zu. In den Armen des Kindes lag eine Maschinenpistole, aber es hielt sie nicht wie eine Waffe, sondern so, wie ein Kind eine Puppe hielt, in beiden Armen und fest gegen die Brust gepresst.

Charity vergaß dieses Bild nie wieder.

Sie waren hundert Meilen von New York entfernt, als die Stadt unterging, und trotz der großen Entfernung konnten sie es sehen. Der Tag war sehr klar, und sie flogen jetzt sehr hoch, so dass die Türme Manhattans noch immer als verschwommene Silhouette vor dem Horizont zu erkennen waren. Als es geschah, wendete Mike den Hubschrauber und hielt ihn reglos in der Luft, so dass sie das schreckliche Schauspiel in allen Einzelheiten verfolgen konnten.

Es war eine Art Nebel, der aus dem Nichts kam und sich wie eine halbdurchsichtige riesige Kuppel über New York stülpte; die Faust eines Giganten, die sich lautlos um die Millionenstadt schloss und alles Leben darin auslöschte. Die steinernen Giganten Manhattans stürzten nicht, es gab keinen Rauch, keine Flammen, auch keine schreckliche Explosion, die die Stadt vom Angesicht der Erde fegte.

Sie dachte an das reglos daliegende Haus, das Niles und der Soldat vor fünf Tagen entdeckt hatten, und plötzlich wusste sie, dass es dieselbe fürchterliche Macht war, die jetzt nach der ganzen Stadt griff und alles Leben darin auslöschte - schnell und gnadenlos und gründlich.

Die Glocke aus grauem Nichts blieb nur für wenige Minuten über der Stadt, ehe sie sich aufzulösen begann, sehr langsam und ungleichmäßig, als wäre die Macht, die sie bisher in ihrer Form gehalten hatte, urplötzlich erloschen und gäbe sie nun dem Wind preis. In der Kuppel aus waberndem Nebel entstanden große, wirbelnde Risse... schließlich war es nur noch ein dünner Schleier, aus dem die Wolkenkratzer Manhattans emporwuchsen wie abgestorbene Bäume aus einem nebelverhangenen Motor.

Mike wendete schweigend den Hubschrauber und brachte die Maschine wieder auf Kurs. Keiner von ihnen sprach ein einziges Wort, bis sie das erste Mal zwischenlanden mussten.

Загрузка...