KAPITEL SIEBEN

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IN DEM

FAT CHARLIE

SEHR

WEIT

GEHT

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DIE BEAMTIN der Einwanderungsbehörde sah Fat Charlies amerikanischen Pass mit zusammengekniffenen Augen an, als sei sie enttäuscht, dass er kein Ausländer war, dem sie einfach die Einreise verweigern konnte. Schließlich winkte sie ihn seufzend durch.

Er fragte sich, wie er, wenn er den Zoll hinter sich gelassen hatte, weiter vorgehen würde. Wahrscheinlich wohl ein Auto mieten. Und was essen.

Er verließ das Laufband, schritt durch die Sicherheitsschleuse hinaus in die große Einkaufshalle des Flughafens von Orlando und nahm, nicht annähernd so verwundert, wie er hätte sein sollen, zur Kenntnis, dass Mrs. Higgler dort stand und, den riesigen Kaffeebecher immer fest im Griff, die Gesichter der Ankommenden studierte. Sie erblickten einander mehr oder weniger gleichzeitig, und sie kam auf ihn zu.

»Haste Hunger?«, fragte sie. Er nickte.

»Na«, sagte sie, »hoffentlich magste Truthahn.«


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FAT CHARLIE fragte sich, ob Mrs. Higglers kastanienbrauner Kombi noch dasselbe Auto war, das sie seiner Erinnerung nach gefahren hatte, als er noch ein Junge war. Er vermutete es. Irgendwann musste der Wagen mal neu gewesen sein, das erschien logisch. Schließlich ist alles irgendwann mal neu. Die Ledersitze waren rissig und bröselten, das Armaturenbrett war ein staubiges Holzfurnier.

Eine braune Papiereinkaufstüte lag zwischen ihnen auf dem Sitz.

In Mrs. Higglers altem Auto gab es keinen Tassenhalter, daher klemmte sie sich ihren Jumbokaffeebecher beim Fahren zwischen die Schenkel. Auch schien das Auto vor der Erfindung der Klimaanlage gebaut worden zu sein, und so fuhr sie mit heruntergelassenen Fenstern. Fat Charlie hatte nichts dagegen. Nach der feuchten Kälte in England war ihm die floridianische Hitze hochwillkommen. Mrs. Higgler steuerte nach Norden, zur Mautstraße. Sie redete beim Fahren. Sie sprach über den letzten Wirbelsturm, erzählte, dass sie mit ihrem Neffen Benjamin Sea-World und Walt Disney World besucht habe und dass keiner dieser Vergnügungsparks mehr das sei, was er mal gewesen, dann sprach sie über Bauvorschriften, den Benzinpreis, gab ihm en detail wieder, was sie zum Arzt gesagt hatte auf dessen Vorschlag hin, sich ein neues Hüftgelenk einsetzen zu lassen, ließ sich darüber aus, warum die Touristen immer die Alligatoren fütterten und warum Neuankömmlinge sich Häuser am Strand bauten und sich dann immer wunderten, wenn der Strand oder das Haus verschwand oder die Alligatoren ihre Hunde fraßen. Fat Charlie ließ alles an sich abperlen. Es war nur Konversation.

Mrs. Higgler bremste und zog das Ticket für die Mautstraße. Sie hörte auf zu reden. Sie schien nachzudenken.

»So«, sagte sie. »Du hast also deinen Bruder kennengelernt.«

»Wissen Sie«, sagte Fat Charlie, »Sie hätten mich warnen können.«

»Ich hab dir gesagt, dass er ein Gott ist.«

»Sie haben allerdings nicht erwähnt, dass er die größte Nervensäge der Welt ist.«

Mrs. Higgler rümpfte die Nase. Sie nahm einen Schluck Kaffee aus ihrem Becher.

»Können wir vielleicht irgendwo anhalten und einen Happen essen?«, fragte Fat Charlie. »Im Flugzeug gab es nur Cornflakes und Bananen. Und die Milch ist ihnen ausgegangen, bevor meine Reihe dran war. Sie haben sich entschuldigt und uns als Ersatz Essensgutscheine mitgegeben.«

Mrs. Higgler schüttelte den Kopf.

»Ich hätte den Gutschein benutzen können, um mir im Flughafen einen Hamburger zu holen.«

»Hab’s dir schon mal gesagt«, sagte Mrs. Higgler.

»Louella Dunwiddy hat für dich ‘n Truthahn in’n Ofen getan. Was glaubst du, wie sie das findet, wenn du hinkommst und hast keinen Appetit mehr, weil du dir schon bei McDonald’s den Bauch vollgeschlagen hast. Eh?«

»Aber ich bin am Verhungern. Und es sind noch über zwei Stunden, bis wir da sind.«

»Nein«, sagte sie entschieden. »Nicht, wenn ich fahre.« Und mit diesen Worten trat sie aufs Gaspedal. Immer wieder, während der kastanienbraune Kombi über den Freeway rumpelte, kniff Fat Charlie die Augen zu und stemmte gleichzeitig seinen eigenen linken Fuß auf ein imaginäres Bremspedal. Es war anstrengende Arbeit.

In bedeutend weniger als zwei Stunden erreichten sie das Ende der Mautstrecke und bogen auf einen regionalen Highway. Sie fuhren Richtung Stadt. Sie fuhren an Barnes & Noble und Office Depot vorbei. Sie ließen die Millionärsvillen mit den Sicherheitstoren hinter sich. Sie kamen durch ältere Wohnstraßen, die in Fat Charlies Kindheit, wie er sich zu erinnern meinte, viel besser gepflegt gewesen waren. Sie passierten den westindischen Imbiss und das Restaurant mit der jamaikanischen Flagge im Fenster und den handgeschriebenen Tafeln, die den Ochsenschwanz, die Reisspezialitäten, das hausgemachte Ingwerbier und das Curryhuhn anpriesen.

Fat Charlie lief das Wasser im Mund zusammen; sein Magen gab vernehmlich Laut.

Schlingern und kräftiges Ruckeln. Jetzt wurden die Häuser älter, und diesmal war alles vertraut.

Die rosa Plastikflamingos posierten noch immer in Mrs. Dunwiddys Vorgarten, wenngleich die Sonne sie im Lauf der Jahre so ausgebleicht hatte, dass sie nunmehr fast weiß waren. Es gab auch eine verspiegelte Rosenkugel, und als Fat Charlie sie entdeckte, ergriff ihn, nur für einen kurzen Moment, eine Angst wie noch nie zuvor.

»Wie schlimm ist es denn, mit Spider?«, fragte Mrs. Higgler, als sie auf Mrs. Dunwiddys Haustür zugingen.

»Ich will’s mal so ausdrücken«, sagte Fat Charlie. »Ich glaube, dass er mit meiner Verlobten schläft. Was mehr ist, als ich von mir sagen kann.«

»Ah«, sagte Mrs. Higgler. »Tch.« Und sie drückte auf den Klingelknopf.


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ES WAR EIN BISSCHEN WIE BEI MACBETH, dachte Fat Charlie eine Stunde später. Beziehungsweise, wenn die Hexen in Macbeth vier kleine alte Damen gewesen wären, und wenn sie, anstatt in irgendwelchen Kesseln herumzurühren und ihren Sprechgesang anzustimmen, Macbeth ins Haus gebeten und ihm Truthahn mit Reis und Erbsen von der Süßkartoffelpastete und dem pikanten Kohl gar nicht zu reden angeboten hätten, serviert auf weißen Porzellantellern auf einem rot und weiß gemusterten Plastiktischtuch, und ihn dann aufgefordert hätten, sich nur tüchtig zu bedienen und auch noch ein zweites und drittes Mal nachzunehmen, und wenn dann die Hexen, nachdem Macbeth erklärt hatte, dass er, fürwahr, bis zum Platzen vollgestopft sei und, bei seiner Ehre, nichts mehr herunterbringe, ihm ihren ganz speziellen Inselreispudding und ein großes Stück von Mrs. Bustamontes berühmtem Ananasstrudel aufgedrängt hätten, ja, dann wäre es sogar haargenau wie in Macbeth gewesen.

»Also«, sagte Mrs. Dunwiddy, indem sie sich einen Krümel Ananasstrudel aus dem Mundwinkel klaubte, »wie ich höre, ist dein Bruder dich besuchen gekommen.«

»Ja. Ich habe mit einer Spinne gesprochen. Bin also wohl selber schuld. Ich hätte nie erwartet, dass irgendwas passieren würde.«

Ein vierstimmiges tss und tsk und tch erklang rund um den Tisch. Mrs. Higgler, Mrs. Dunwiddy, Mrs. Bustamonte und Mrs. Noles schnalzten mit den Zungen und schüttelten die Köpfe. »Er hat ja immer gesagt, dass du ein bisschen blöd bist«, sagte Mrs. Noles. »Dein Vater, meine ich. Ich hab ihm das nie geglaubt.«

»Na ja, woher sollte ich das auch wissen?«, protestierte Fat Charlie. »Es war ja nicht so, dass meine Eltern zu mir gesagt hätten: ›Ach übrigens, mein Sohn, du hast noch einen Bruder, von dem du nichts weißt. Lade ihn ein, zu dir zu kommen, dann wird er dafür sorgen, dass die Polizei gegen dich ermittelt, er wird mit deiner Verlobten schlafen, er wird nicht nur bei dir einziehen, sondern ein ganzes Extrahaus mit in dein Gästezimmer bringen. Und er wird dich einer Gehirnwäsche unterziehen, damit du die ganze Nacht ins Kino gehst und vergeblich versuchst, nach Hause zu kommen und …‹« Er brach ab. Wegen der Art, wie sie ihn ansahen.

Ein Seufzen zog sich rund um den Tisch. Von Mrs. Higgler ging es aus, wurde von Mrs. Noles aufgenommen, von Mrs. Bustamonte und von Mrs. Dunwiddy. Es war ausgesprochen beunruhigend und geradezu unheimlich, aber dann musste Mrs. Bustamonte rülpsen und verdarb die Wirkung.

»Also, was willst du?«, fragte Mrs. Dunwiddy. »Sag uns, was du willst.«

Fat Charlie saß in Mrs. Dunwiddys kleinem Esszimmer und überlegte, was er wollte. Draußen ging das Tageslicht in eine sanfte Dämmerung über.

»Er macht mir das Leben zur Qual«, sagte Fat Charlie.

»Sorgen Sie dafür, dass er weggeht. Er soll einfach nur verschwinden. Können Sie das tun?«

Die drei jüngeren Frauen sagten nichts. Sie sahen einfach nur Mrs. Dunwiddy an.

»Richtig vertreiben können wir ihn nicht«, sagte Mrs. Dunwiddy. »Das haben wir schon …«, und sie unterbrach sich und sagte: »Na ja, in der Beziehung haben wir alles getan, was wir können, nicht wahr.«

Zu Fat Charlies Ehre sei gesagt, dass er nicht, wie er es tief im Innern vielleicht gewollt hätte, in Tränen ausbrach, laut zu heulen begann oder in sich zusammenfiel wie ein misslungenes Souffle. Er nickte einfach nur. »Na dann«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich Ihnen all diese Umstände gemacht habe. Danke fürs Essen.«

»Wir können ihn nicht vertreiben.« Mrs. Dunwiddys alte braune Augen schimmerten fast schwarz hinter ihren kieselsteindicken Brillengläsern. »Aber wir können dich zu jemandem schicken, der es kann.«


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ES WAR FRÜH AM ABEND IN FLORIDA. Was bedeutet, in London war’s tiefe Nacht. In Rosies breitern Bett, in dem Fat Charlie nie gelegen hatte, begann Spider zu zittern.

Rosie schmiegte sich an ihn, Haut an Haut. »Charles«, sagte sie. »Alles in Ordnung?« Sie konnte die Gänsehaut auf seinem Arm fühlen.

»Ja, mir geht’s gut«, sagte Spider. »Hatte nur plötzlich so ein schauriges Gefühl.«

»Jemand ist über dein Grab gelaufen.« Da zog er sie an sich und küsste sie.

Und Daisy saß in dem kleinen Gemeinschaftsraum des Hauses in Hendon, in einem leuchtend grünen Nachthemd und flauschigen, knallrosa Pantoffeln. Kopfschüttelnd hockte sie vor dem Computer, klickte immer wieder die Maustaste.

»Brauchst du noch lange?«, fragte Carol. »Weißt du, es gibt da eine ganze Computerabteilung, die für so was zuständig ist. Du hast damit nichts zu tun.«

Daisy gab ein Geräusch von sich. Es war kein Ja-Geräusch und auch kein Nein-Geräusch. Es war mehr ein Geräusch von der Sorte: »Ich weiß, da hat gerade jemand etwas zu mir gesagt, und wenn ich irgendein Geräusch mache, dann geht er vielleicht weg«.

Carol kannte dieses Geräusch schon.

»Ey, leck mich fett«, sagte sie, »nun krieg mal deinen Hintern hoch. Ich möchte meinen Blog machen.«

Daisy verarbeitete die Mitteilung. Zwei Wörter waren haften geblieben. »Du sagst mir ins Gesicht, dass ich einen fetten Hintern habe?«

»Nein«, sagte Carol, »ich sag dir ins Gesicht, dass es schon ziemlich spät ist, und ich will an meinen Blog gehen.

Ich werd ihn ein Supermodel vögeln lassen, im Klo eines ungenannten Londoner Nachtclubs.«

Daisy seufzte. »Na schön«, sagte sie. »Ich hab nur das Gefühl, dass da irgendwas faul ist.«

»Woran ist was faul?«

»Veruntreuung. Glaube ich. Okay, ich hab mich ausgeloggt. Du hast freie Bahn. Du weißt aber, dass du Ärger kriegen kannst, wenn du dich für ein Mitglied der königlichen Familie ausgibst.«

»Komm, hau ab.«

Carol bloggte als ein Mitglied der britischen Königsfamilie, mit den Eigenschaften: jung, männlich, außer Rand und Band. In der Presse wurde ernsthaft darüber diskutiert, ob das Ganze echt war oder nicht, wobei viele darauf verwiesen, dass manches von dem, was der Blogger schrieb, nur einem wirklichen Mitglied der königlichen Familie bekannt sein könne – oder aber Lesern der Regenbogenpresse.

Daisy gab den Computer frei, konnte jedoch nicht aufhören, über die finanziellen Angelegenheiten der Grahame-Coats-Agentur nachzudenken.

Währenddessen lag Grahame Coats in seinem Bett, in einem großen, aber durchaus nicht protzigen Haus in Purley, und er schlief tief und fest. Gäbe es irgendeine Gerechtigkeit auf der Welt, er hätte sich stöhnend und schwitzend, von Albträumen geplagt, hin und her wälzen müssen, indes die Furien seines Gewissens ihn ohne Erbarmen geißelten. Doch wie schmerzlich berührt es mich, mitteilen zu müssen, dass Grahame Coats schlief wie ein wohlgenährtes, nach Milch duftendes Baby; und träumen tat er überhaupt nicht.

Irgendwo in Grahame Coats’ Haus schlug eine Standuhr, leise und höflich, zwölf Mal. In London war es Mitternacht. In Florida war es sieben Uhr abends.

Es war die Geisterstunde, hier wie dort.


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MRS. DUNWIDDY zog die rot-weiss karierte Wachstisch. decke ab und legte sie weg.

Sie sagte: »Wer hat die schwarzen Kerzen?«

Miss Noles sagte: »Ich habe die Kerzen.« Sie hatte eine Einkaufstüte zu Füßen stehen, in der sie jetzt ein wenig kramte, um schließlich vier Kerzen zum Vorschein zu bringen. Sie waren weitgehend schwarz. Eine war hoch und unverziert. Die anderen drei, in Schwarz und Gelb, hatten die Form von Cartoonpinguinen, denen der Docht aus dem Kopf wuchs. »Das war alles, was sie hatten«, sagte sie entschuldigend. »Und ich bin in drei Geschäften gewesen, bevor ich überhaupt was gefunden hab.«

Mrs. Dunwiddy sagte nichts, aber sie schüttelte den Kopf. Sie verteilte die vier Kerzen auf die vier Ecken des Tisches, wobei der einzige Nichtpinguin den Platz am Kopfende des Tisches bekam, wo sie selber saß. Jede Kerze stand auf einem Plastikteller. Mrs. Dunwiddy nahm eine große Packung mit koscherem Salz zur Hand, öffnete die Streukappe und häufte Salzkristalle auf den Tisch. Anschließend nahm sie den Haufen genau unter die Lupe, schob mit ihrem verhutzelten Zeigefinger daran herum, bildete Hügel und Kreise.

Miss Noles kam mit einer großen Glasschüssel aus der Küche zurück, die sie in die Mitte des Tisches stellte. Sie schraubte den Verschluss von einer Flasche Sherry und goss eine großzügig bemessene Menge in die Schüssel.

»Und jetzt noch«, sagte Mrs. Dunwiddy, »das Teufelsgras, die John-der-Eroberer-Wurzel und den Roten Fuchsschwanz.«

Mrs. Bustamonte wühlte in ihrer Einkaufstüte und holte einen kleinen Glaskrug hervor. »Es sind gemischte Kräuter«, erläuterte sie. »Ich dachte, das müsste passen.«

»Gemischte Kräuter!«, sagte Mrs. Dunwiddy. »Gemischte Kräuter!«

»Ist das ein Problem?«, fragte Mrs. Bustamonte. »Das ist das, was ich immer nehme, wenn es im Rezept heißt: Basilikum hier oder Oregano da. Was soll ich mir da groß Umstände machen. Wenn du mich fragst, sind das alles gemischte Kräuter.«

Mrs. Dunwiddy seufzte. »Kipp’s rein«, sagte sie.

Eine halbe Flasche gemischte Kräuter wurde in den Sherry gestreut. Die getrockneten Blätter schwammen auf der Oberfläche.

»So«, sagte Mrs. Dunwiddy. »Und nun viermal Erde. Ich hoffe«, sagte sie, ihre Worte mit Bedacht wählend,

»dass ich jetzt nicht zu hören kriege, es wäre keine Erde zu bekommen gewesen und wir müssten uns mit einem Kieselstein, einer toten Qualle, einem Kühlschrankmagneten und einem Stück Seife begnügen.«

»Ich hab die Erde«, sagte Mrs. Higgler. Sie zeigte ihre braune Papiertüte her, aus der sie vier Ziploc-Beutel zog, die alle etwas enthielten, das wie Sand oder getrockneter Lehm aussah, jeweils von verschiedener Farbe. Sie leerte je einen Beutel an den vier Ecken des Tisches.

»Schön, dass wenigstens eine aufgepasst hat«, sagte Mrs. Dunwiddy.

Miss Noles entzündete die Kerzen und wies währenddessen darauf hin, wie schön die Pinguine brannten und überhaupt, wie niedlich und lustig sie doch seien.

Mrs. Bustamonte schenkte für alle vier Damen ein Glas des übrig gebliebenen Sherrys ein.

»Bekomme ich kein Glas?«, fragte Fat Charlie, obwohl er im Grunde gar keins wollte. Er mochte keinen Sherry.

»Nein«, sagte Mrs. Dunwiddy entschieden, »du nicht. Du musst’n klaren Kopf behalten.« Aus ihrer Handtasche zog sie eine kleine goldfarbene Pillenschachtel hervor.

Mrs. Higgler machte das Licht aus.

Die fünf Personen saßen im Kerzenschein um den Tisch herum.

»Und was jetzt?«, fragte Fat Charlie. »Fassen wir uns jetzt an den Händen und nehmen Kontakt zu den Lebenden auf?«

»Nein«, flüsterte Mrs. Dunwiddy. »Und ich will jetzt kein Wort mehr von dir hören.«

»‘tschuldigung«, sagte Fat Charlie und biss sich gleich darauf auf die Zunge.

»Hör zu«, sagte Mrs. Dunwiddy. »Du wirst wo hingehen, wo man dir vielleicht helfen kann. Trotzdem, gib nichts weg, was dir gehört, und mach keine Versprechungen. Hast du verstanden? Aber falls du jemandem etwas geben musst, dann pass auf, dass du etwas zurückbekommst, was genauso viel wert ist. Ja?«

Fat Charlie hätte beinahe »Ja« gesagt, hielt sich aber noch rechtzeitig zurück und nickte stattdessen.

»Ist gut.« Und damit begann Mrs. Dunwiddy zu summen, unmelodisch, mit ihrer alten, zittrigen und schwankenden Stimme.

Auch Miss Noles summte, allerdings melodisch anspruchsvoller. Ihre Stimme war höher und kräftiger.

Mrs. Bustamonte summte nicht. Stattdessen zischte sie, an und abschwellend, schlangengleich, und es dauerte nicht lange, da schien dieses Zischen sich in den Rhythmus des Summens zu finden, ihn zu durchweben und zu stützen.

Dann legte Mrs. Higgler los, aber sie summte nicht und zischte auch nicht. Sondern sie brummte, brummte wie eine Fliege am Fenster, ein vibrierender, mit Zunge und Zähnen hergestellter Ton, sehr seltsam, so als habe sie eine Handvoll von wütenden Bienen im Mund, die gegen ihre Zähne anschwirrten und hinaus wollten.

Fat Charlie fragte sich, ob auch er mit einstimmen sollte, aber er hatte keine Ahnung, wie sein Beitrag aussehen könnte oder sollte, daher beschränkte er sich darauf, einfach dazusitzen und sich von den Geräuschen möglichst nicht verrückt machen zu lassen.

Mrs. Higgler warf eine Prise rote Erde in die Schüssel mit Sherry und gemischten Kräutern. Mrs. Bustamonte warf eine Prise der gelben Erde hinein. Miss Noles warf die braune Erde hinein, während Mrs. Dunwiddy sich ganz langsam nach vorn beugte und etwas schwarzen Lehm dazugab.

Mrs. Dunwiddy nahm einen Schluck von ihrem Sherry. Dann stocherte sie mit ihren arthritischen Fingern in der Pillenschachtel, klaubte etwas heraus und ließ es in die Kerzenflamme fallen. Einen Moment lang roch es im Zimmer nach Zitronen, dann roch es einfach so, als ob etwas brennen würde.

Miss Noles begann auf die Tischplatte zu trommeln. Sie hörte dabei nicht auf zu summen. Die Kerzenflammen flackerten, riesige Schatten tanzten an den Wänden. Mrs. Higgler klopfte ebenfalls auf den Tisch, in einem anderen Rhythmus freilich als Miss Noles, schneller, perkussiver, doch nach einiger Zeit verschlangen die beiden Rhythmen sich ineinander, bildeten einen neuen, dritten.

In Fat Charlies Kopf begannen alle Geräusche sich zu einem einzigen, seltsamen Klang zu vermischen: das Summen und das Zischen und das Brummen und das Trommeln. Er fühlte sich ein bisschen benommen. Alles war so lustig. Alles war so unwahrscheinlich. In den Tönen der Frauen konnte er die Geräusche von Tieren und Pflanzen im Wald hören, das Prasseln und Knacken von gewaltigen Lagerfeuern. Seine Finger fühlten sich gestreckt und gummiartig an, seine Füße waren ungeheuerlich weit entfernt.

Plötzlich schien es, als schwebte er irgendwo über ihnen, irgendwo über allem, und als säßen unter ihm fünf Leute um einen Tisch. Dann machte eine der Frauen am Tisch eine Bewegung und warf etwas in die Schüssel in der Mitte des Tisches, und dann loderte es so hell auf, dass Fat Charlie vorübergehend geblendet war. Er schloss die Augen, was aber, wie er feststellte, überhaupt nichts nützte. Selbst mit geschlossenen Augen war alles viel, viel zu hell.

Er rieb sich die Augen. Er blickte sich um.

Eine steile Felswand türmte sich hinter ihm auf: ein Berghang. Vor ihm Klippen, die ebenso steil nach unten fielen. Er trat zum Klippenrand und spähte vorsichtig hinunter. Er sah etwas Weißes und dachte zunächst, es seien Schafe, bis ihm klar wurde, dass es sich um Wolken handelte, große, weiße, flauschige Wolken, ganz weit unter ihm. Und unterhalb der Wolken war nichts; er konnte den blauen Himmel sehen, und es schien, dass er, wenn er lange genug hinsah, die Schwärze des Weltenraums sehen konnte, und dahinter nichts als das kalte Funkeln der Sterne.

Er machte einen Schritt vom Klippenrand weg.

Dann drehte er sich um und ging auf den Berg zu, der sich so hoch erhob, dass er die Spitze nicht sehen konnte, so hoch, dass er unversehens überzeugt war, er würde auf ihn fallen, die ganze Felswand würde einstürzen und ihn unter sich begraben. Er zwang sich, den Blick zu senken, auf den Boden zu blicken, und dabei bemerkte er, in Bodennähe, Löcher in der Felswand, die den Eindruck von Höhleneingängen machten.

Die Fläche zwischen dem Berghang und den Klippen, auf der er stand, war nach seiner Schätzung knappe vierhundert Meter breit: ein von Felsbrocken übersäter Pfad, hier und da von ein paar Büschen und vereinzelten staubbraunen Bäumen bestanden. Der Pfad schien dem Berghang zu folgen, bis er sich, weit entfernt, im Nebeldunst verlor.

Ich werde beobachtet, dachte Fat Charlie. »Hallo?«, rief er, mit wieder erhobenem Kopf. »Hallo, ist da jemand?« Der Mann, der aus der nächstgelegenen Höhlenöffnung trat, hatte eine viel dunklere Haut als Fat Charlie, dunkler sogar als Spider, aber sein langes Haar war bräunlich gelb und es umrahmte sein Gesicht wie eine Mähne. Er trug ein zerschlissenes gelbes Löwenfell um die Hüften, aus dem hinten ein Löwenschwanz heraushing, und dieser Schwanz wischte ihm in diesem Moment eine Fliege von der Schulter.

Der Mann blinzelte mit goldenen Augen.

»Wer bist du?«, fragte er donnergrollend. »Und mit welcher Befugnis betrittst du diesen Boden?«

»Ich bin Fat Charlie Nancy«, sagte Fat Charlie. »Die Spinne Anansi war mein Vater.«

Der mächtige Kopf nickte. »Und warum kommst du her, Kind des Compé Anansi?«

Sie waren, soweit Fat Charlie wusste, allein auf dem Felsen, dennoch kam es ihm vor, als würden viele Leute lauschen, viele Ohren gespitzt, viele Stimmen nichts sagen. Fat Charlie sprach laut, sodass jeder, der wollte, mithören konnte. »Mein Bruder. Er zerstört mein Leben. Ich habe nicht die Macht, ihn zu vertreiben.«

»Also suchst du bei uns nach Hilfe?«, fragte der Löwe.

»Ja.«

»Und dieser Bruder. Er ist, genau wie du, von Anansis Blut?«

»Er ist überhaupt nicht wie ich«, sagte Fat Charlie. »Er ist einer von euch.«

Eine fließende goldene Bewegung; der Löwenmann kam vom Höhleneingang her über die grauen Felssteine gesprungen, unangestrengt, träge fast, obwohl er die Entfernung in wenigen Augenblicken überbrückte. Schon stand er neben Fat Charlie. Sein Schwanz schlug ungeduldig.

Die Arme verschränkt, sah er zu Fat Charlie hinunter und sagte: »Warum regelst du diese Angelegenheit nicht selbst?«

Fat Charlies Mund war ausgetrocknet. Seine Kehle fühlte sich extrem staubig an. Das Wesen vor ihm, größer als jeder Mensch, roch nicht nach Mensch. Die Spitzen seiner Beißzähne ruhten auf der Unterlippe.

»Kann nicht«, quiekte Fat Charlie.

Aus dem Eingang der nächsten Höhle beugte sich ein gewaltig großer Mann. Seine faltige, runzlige Haut war bräunlich grau, und er hatte runde, sehr runde Beine.

»Wenn du Streit hast mit deinem Bruder«, sagte er, »dann musst du deinen Vater bitten, dass er ein Urteil spricht. Unterwerft euch dem Willen des Familienoberhaupts. So bestimmt es das Gesetz.« Dann warf er den Kopf zurück und machte ein lautes Geräusch, hinten aus der Nase und dem Hals heraus, wie ein mächtiger Trompetenstoß, und Fat Charlie wusste, dass es Elefant war, dem er gegenüberstand.

Fat Charlie schluckte. »Mein Vater ist tot«, sagte er, und jetzt war seine Stimme wieder klar, lauter und deutlicher, als er erwartet hatte. Sie hallte von der Bergwand wider, wurde aus hundert Höhleneingängen, von hundert Felsvorsprüngen zu ihm zurückgeworfen. Tot tot tot tot tot, sagte das Echo. »Deswegen bin ich ja hergekommen.«

Löwe sagte: »Ich habe nichts übrig für die Spinne Anansi. Einmal, vor langer Zeit, hat er mich an einen Holzklotz festgebunden und mich von einem Esel durch den Staub schleifen lassen, bis zum Sitz von Mawu, der alle Dinge schuf.« Er knurrte ob der Erinnerung, und Fat Charlie wünschte sich weit fort.

»Geh weiter«, sagte Löwe. »Vielleicht gibt es hier jemanden, der dir helfen will, aber ich bin es nicht.«

Elefant sagte: »Ich auch nicht. Dein Vater hat mich reingelegt und mein Bauchfett gefressen. Er sagte, er wolle mir Schuhe machen, und hat mich gekocht, und dann hat er gelacht, als er sich den Bauch vollschlug. Ich habe das nicht vergessen.«

Fat Charlie ging weiter.

Im nächsten Höhleneingang stand ein Mann in einem schicken grünen Anzug und einem flotten Hut mit einem Band aus Schlangenhaut. Er zischte, als Fat Charlie sich näherte. »Geh weiter, Anansi-Junge«, sagte Schlange mit einer Stimme, die ein trockenes Klappern war. »Deine ganze verdammte Familie, nichts als Arger. Ich lass mich nicht reinziehen in euren Schlamassel.«

Die Frau in der nächsten Höhle war sehr schön, ihre Augen wie schwarze Öltropfen und die Schnurrhaare schneeweiß vor der dunklen Haut. Sie hatte zwei Reihen von Brüsten auf der Vorderseite.

»Ich kannte deinen Vater«, sagte sie. »Es ist lange her. Huh.« Sie schüttelte erinnernd den Kopf, und Fat Charlie kam sich vor, als habe er gerade einen intimen Brief gelesen. Sie blies Fat Charlie einen Kuss zu, schüttelte jedoch den Kopf, als er Anstalten machte, sich ihr zu nähern.

Er ging weiter. Ein toter Baum ragte vor ihm aus dem Boden wie ein Gewirr aus alten grauen Knochen. Die Schatten wurden jetzt länger, denn die Sonne sank langsam am endlosen Himmel, war schon unterhalb des Punktes, wo die Klippen sich hinunter in das Ende der Welt stürzten; das Auge der Sonne war ein monströser goldorangefarbener Ball, und all die weißen Wölkchen darunter waren golden und purpurrot angehaucht.

Es kam des Assyrers gewaltige Macht, dachte Fat Charlie, eine Gedichtzeile, aus längst versunkenen Zeiten des Englischunterrichts ins Gedächtnis zurückgespült. Die Kohorten, sie glänzten in ldener Pracht. Er versuchte sich zu erinnern, was Kohorten waren, aber er kam nicht darauf. Wahrscheinlich, befand er, eine spezielle Art von Streitwagen.

Etwas bewegte sich, gleich neben seinem Ellbogen, und jetzt erst bemerkte er, dass das, was er für einen braunen Felsstein unter dem toten Baum gehalten hatte, ein sandfarbener Mann war, mit Flecken auf dem Rücken wie bei einem Leoparden. Seine Haare waren sehr lang und sehr schwarz, und als er lächelte, zeigte er die Zähne einer großen Katze. Er lächelte nur kurz, und es lag keine Wärme, kein Humor, keine Freundschaft in diesem Lächeln. Er sagte: »Ich bin Tiger. Dein Vater hat mich auf hundertfache Art verletzt und auf tausendfache Art beleidigt. Tiger vergisst nicht.«

»Es tut mir leid«, sagte Fat Charlie.

»Ich begleite dich«, sagte Tiger. »Ein kurzes Stück. Du sagst, Anansi sei tot?«

»Ja.«

»Tja. Ja, ja. Er hat mich so oft an der Nase herumgeführt. Einst hat alles mir gehört – die Geschichten, die Sterne, alles. Er hat es mir alles gestohlen. Jetzt, wo er tot ist, werden die Leute vielleicht aufhören, diese verdammten Geschichten über ihn zu erzählen. Und über mich zu lachen.«

»Das glaube ich ganz bestimmt«, sagte Fat Charlie. »Ich habe nie über dich gelacht.«

Augen von der Farbe geschliffener Smaragde blitzten im Gesicht des Mannes. »Anansis Blut bleibt Anansis Blut«, sagte er nur. »Der Apfel fällt nie weit vom Stamm.«

»Ich bin nicht mein Vater«, sagte Fat Charlie.

Tiger fletschte die Zähne. Sie waren sehr scharf. »Man darf einfach nicht hergehen und die Leute dazu bringen, über alles zu lachen«, erläuterte Tiger. »Das ist eine große, ernste Welt da draußen; da gibt es nichts zu lachen. Nicht die Spur. Man muss die Kinder Furcht lehren, muss sie lehren zu zittern. Grausam zu sein. Man muss sie lehren, die Gefahr in der Dunkelheit zu sein. Sich im Schatten verstecken, dann mit ein, zwei Sprüngen heran, zupacken und töten. Weißt du, was der wahre Sinn des Lebens ist?«

»Ähm«, sagte Fat Charlie. »Einander zu lieben, vielleicht?«

»Der einzig wahre Sinn des Lebens ist das heiße Blut der Beute auf deiner Zunge, das Fleisch, das unter deinen Zähnen zerreißt, der Kadaver deines Feindes, der in der Sonne liegt und auf die Aasfresser wartet. Das ist es, worum es im Leben geht. Ich bin Tiger, und ich bin stärker, als Anansi je war, größer, gefährlicher, mächtiger, grausamer, weiser …«

Fat Charlie wollte nicht an diesem Ort sein und mit Tiger reden. Nicht, weil Tiger verrückt gewesen wäre, sondern weil er seine Überzeugungen so freimütig zum Besten gab, und alle diese Überzeugungen waren gleichermaßen unerfreulich. Außerdem erinnerte er Fat Charlie an jemanden, und obwohl er nicht hätte sagen können, an wen, wusste er doch, dass es jemand war, den er nicht mochte. »Wirst du mir helfen, meinen Bruder loszuwerden?«

Tiger hustete, als stecke ihm eine Feder, oder womöglich eine ganze Amsel, im Hals.

»Soll ich dir etwas Wasser holen?«, fragte Fat Charlie.

Tiger beäugte Fat Charlie argwöhnisch. »Das letzte Mal, als Anansi mir Wasser angeboten hat, lief es darauf hinaus, dass ich versucht hab, den Mond aus einem Teich raus zu fressen, und dabei ertrunken bin.«

»Ich wollte nur behilflich sein.«

»Das hat er auch gesagt.« Tiger beugte sich zu Fat Charlie hin, starrte ihm in die Augen. Von Nahem war überhaupt nichts Menschliches mehr an ihm – die Nase war zu platt, die Augen standen schräg, und er roch wie ein Käfig im Zoo. Seine Stimme war ein grollendes Knurren. »Ich sag dir, wie du mir helfen kannst, Anansi-Kind. Du und deine ganze Sippe. Halte dich von mir fern. Verstanden? Wenn du das Fleisch auf diesen Knochen da behalten möchtest.« Dann leckte er sich die Lippen, mit einer Zunge so rot wie frisch erlegtes Fleisch und länger, als je eine menschliche Zunge gewesen.

Fat Charlie wich zurück, überzeugt davon, dass er, falls er sich umdrehte, falls er wegliefe, Tigers Zähne im Nacken spüren würde. Alles auch nur entfernt Menschliche war jetzt von dem Geschöpf gewichen: Es hatte die Größe eines echten Tigers angenommen. Er war wie jede zum Menschenfresser gewordene große Katze, war jeder einzelne gewöhnliche Tiger, der je das Genick eines Menschen zerknackt hat, wie die Hauskatze es mit der Maus macht. Also behielt er Tiger stets im Auge, während er sich langsam rückwärts schob, und schon bald trottete die Kreatur zurück zu ihrem toten Baum, streckte sich auf den Felssteinen aus und verschwand im ungleichmäßigen Schatten – nur noch der ungeduldig schlagende Schwanz verriet ihre Anwesenheit.

»Mach dir seinetwegen keine Gedanken«, sagte eine Frau aus einem Höhleneingang heraus. »Komm hierher.« Fat Charlie konnte nicht entscheiden, ob sie attraktiv oder ungeheuer hässlich war. Er ging auf sie zu.

»Kommt immer Wunder wie großkotzig daher, aber in Wirklichkeit hat er Schiss vor seinem eigenen Schatten. Und noch mehr Schiss vor dem Schatten von deinem Daddy. Hat einfach keinen Mumm in den Knochen.«

Es war etwas Hundeartiges an ihrem Gesicht. Nein, nicht hundeartig …

»Ich dagegen«, fuhr sie fort, als er bei ihr ankam, »also, ich zerknack die Knochen. Das ist es, wo die guten Sachen verborgen sind. Da steckt das leckerste Fleisch, und keiner weiß es außer mir.«

»Ich suche jemanden, der mir hilft, meinen Bruder loszuwerden.«

Die Frau warf den Kopf zurück und lachte, ein wildes, ungezügeltes Lachen, lang, laut und irre, und da wusste Fat Charlie, wer sie war.

»Hier findest du keinen, der dir hilft«, sagte sie. »Sie haben alle zu leiden gehabt, wenn sie sich deinem Vater widersetzten. Tiger hasst dich und deinesgleichen mehr, als je einer etwas gehasst hat, aber selbst er würde niemals etwas tun, solange dein Vater da draußen in der Welt ist. Hör zu: Geh auf diesem Weg weiter. Wenn du mich fragst, und ich hab einen Stein der Prophezeiung hinterm Auge, wirst du niemanden finden, der dir hilft, bis du eine leere Höhle findest. Da geh hinein. Und sprich mit dem, den du dort antriffst. Hast du mich verstanden?«

»Ich glaube ja.«

Sie lachte. Es war kein gutes Lachen. »Willst du vorher noch ein bisschen zu mir reinkommen? Ich bin eine echte Erfahrung. Du weißt doch, was man sagt – keene is so obszöne und hat so schöne Beene als wie die Frau Hyäne.«

Fat Charlie schüttelte den Kopf und ging weiter, an den Höhlen vorbei, die die felsigen Wände am Rand der Welt säumten. Stets warf er einen Blick in die Dunkelheit dieser Höhlen, und er sah dort Leute in allen Gestalten und Größen, winzige Leute und riesige Leute, Männer und Frauen. Und wenn sie sich durch die Schatten bewegten, während er ihre Höhle passierte, sah er glatte Haut oder Schuppen, Hörner oder Klauen.

Manchmal machte er ihnen Angst, dann zogen sie sich in die Tiefen der Höhle zurück. Manche aber traten nach vorn, starrten ihn angriffslustig oder neugierig an.

Vom Fels über einem der Höhleneingänge herunter purzelte etwas durch die Luft und landete neben Fat Charlie.

»Hallo«, sagte es atemlos.

»Hallo«, sagte Fat Charlie.

Der Neue war nervös und haarig. Seine Arme und Beine sahen völlig verkehrt aus. Fat Charlie versuchte sich einen Reim darauf zu machen. Die anderen Tiermenschen waren Tiere, ja, und aber auch Menschen, und es war daran nichts Merkwürdiges oder Widersprüchliches das Tiersein und das Menschsein verbanden sich wie die Streifen auf einem Zebra, um etwas anderes zu schaffen. Dieser jedoch schien sowohl menschlich als auch fast-menschlich, und das ergab eine so eigenartige Wirkung, dass Fat Charlie Zahnweh bekam. Dann aber fiel der Groschen.

»Affe«, sagte er. »Du bist Affe.«

»Haste mal ‘n Pfirsich?«, sagte Affe, »‘ne Mango? ‘ne Feige?«

»Leider nicht«, sagte Fat Charlie.

»Gib mir was zu essen«, sagte Affe. »Dann bin ich dein Freund.«

Mrs. Dunwiddy hatte ihn vor dieser Situation gewarnt.

Gib nichts weg, dachte er. Mach keine Versprechungen.

»Ich kann dir leider gar nichts geben.«

»Wer bist du?«, fragte Affe. »Was bist du? Du scheinst irgendwie ein halbes Ding zu sein. Bist du von hier oder von dort?«

»Anansi war mein Vater«, sagte Fat Charlie. »Ich suche jemanden, der mir hilft, mit meinem Bruder fertig zu werden. Damit er weggeht.«

»Könnte Anansi wütend machen«, sagte Affe. »Sehr schlechte Idee, das. Machste Anansi sauer, kommste in keiner Geschichte mehr vor.«

»Anansi ist tot«, sagte Fat Charlie.

»Drüben tot«, sagte Affe. »Kann sein. Aber tot hier? Das issen völlig andrer Strunk Maden.«

»Du meinst, er könnte hier sein?« Fat Charlie sah sich den Berg noch einmal mit anderen Augen an: Die Vorstellung, er könnte in einer dieser Höhlen seinen Vater finden, wie er womöglich, den grünen Filzhut aus der Stirn geschoben, in einem Schaukelstuhl lümmelte, aus einer Dose Dunkelbier trank und mit seinen zitronengelben Handschuhen ein Gähnen unterdrückte diese Vorstellung war in der Tat beunruhigend.

»Wer? Was?«

»Glaubst du, dass er hier ist?«

»Wer?«

»Mein Vater.«

»Dein Vater?«

»Anansi.«

Affe sprang in panischer Angst auf einen Felsen, drückte sich dann eng an das Gestein und ließ unruhig den Blick hin und her schweifen, als halte er Ausschau nach einem plötzlich aufkommenden Tornado. »Anansi? Er ist hier?«

»Das habe ich dich gefragt«, sagte Fat Charlie.

Affe schwang plötzlich herum, sodass er mit dem Kopf nach unten hing, und sein Kopfüber-Gesicht starrte Fat Charlie genau in die Augen. »Ich geh manchmal zurück in die Welt«, sagte er. »Die sagen: Affe, weiser Affe, komm, komm doch zu uns. Komm und iss die Pfirsiche, die wir für dich haben. Und die Nüsse. Und die Maden. Und die Feigen.«

»Ist mein Vater hier?«, fragte Fat Charlie geduldig.

»Er hat keine Höhle«, sagte Affe. »Das wüsst’ ich, wenn er eine Höhle hätte. Glaube ich. Vielleicht hatte er eine Höhle und ich hab’s vergessen. Wenn du mir einen Pfirsich geben würdest, könnt ich mich vielleicht besser erinnern.«

»Ich habe nichts bei mir«, sagte Fat Charlie.

»Keine Pfirsiche?«

»Nichts, fürchte ich.«

Affe schwang sich zurück auf seinen Felsen und war verschwunden.

Fat Charlie ging weiter über den felsigen Pfad. Die Sonne stand jetzt auf einer Höhe mit dem Pfad und brannte in einem tiefen Orange. Sie warf ihr altes Licht genau in die Höhlen, und so zeigte sich, dass jede der Höhlen bewohnt war. Das da musste Rhinozeros sein, graue Haut, aus kurzsichtigen Augen blickend; dort, mit der Farbe eines faulenden Baumstamms im flachen Wasser, das war Krokodil, seine Augen schwarz wie Glas.

Hinter ihm knirschte es, als wenn Stein gegen Stein schabt, und Fat Charlie fuhr herum. Affe starrte zu ihm herauf, strich mit den Fingerknöcheln über den Boden.

»Ich habe wirklich überhaupt keine Früchte dabei«, sagte Fat Charlie. »Ich würde dir sonst welche geben.«

Affe sagte: »Hast mir leid getan. Du solltest vielleicht nach Hause gehen. Das hier ist eine schlechte schlechte schlechte schlechte Idee. Ja?«

»Nein«, sagte Fat Charlie.

»Ah«, sagte Affe. »Na gut. Na gut na gut na gut na gut na gut.« Er verharrte bewegungslos, plötzlich aber sprang er dann mit schnellen, weiten Sätzen an Fat Charlie vorbei und hielt vor einer etwas weiter gelegenen Höhle an.

»Da bloß nicht reingehen«, rief er. »Übler Ort.« Er deutete auf die Höhlenöffnung.

»Warum nicht?«, fragte Fat Charlie. »Wer ist da drin?«

»Niemand ist da drin«, sagte Affe frohlockend. »Also isses nicht die, die du suchst, oder?«

»Doch«, sagte Fat Charlie. »Genau die.«

Affe hüpfte erregt schnatternd auf und ab, aber Fat Charlie drängte an ihm vorbei und kletterte über einige Felsbrocken, bis er den Eingang der Höhle erreicht hatte, während gleichzeitig die purpurrote Sonne unter den Rand der Klippen am Ende der Welt sank.

Wie er da so über den Pfad auf dem Berghang am Anfang der Welt ging (der Berghang am Ende der Welt ist es nur, wenn man aus der anderen Richtung kommt), schien die Wirklichkeit fremd und weit hergeholt. Diese Berge und ihre Höhlen sind aus dem Stoff der ältesten Geschichten gemacht (und die gab es natürlich schon lange, bevor die Menschenleute kamen; wie kommen Sie bloß darauf, dass die Menschen die Ersten waren, die Geschichten erzählt haben?), und als er von dem Pfad hinunter in die Höhle trat, hatte Fat Charlie das Gefühl, er würde in die Realität einer völlig anderen Person hineinspazieren. Die Höhle war tief, der Roden von Vogeldreck weiß gesprenkelt. Es lagen auch Federn auf dem Roden und hier und da, wie ein liegen gelassener Staubwedel, ein toter Vogel, eingefallen und vertrocknet.

Im hinteren Bereich der Höhle nichts als Dunkelheit.

Fat Charlie rief »Hallo?«, und das Echo seiner Stimme wurde aus dem Höhleninnern zu ihm zurückgetragen. Hallo hallo hallo hallo. Er ging weiter. Die Dunkelheit war jetzt fast spürbar, so als habe man ihm etwas Dünnes und Dunkles über die Augen gelegt. Er ging langsam, einen Schritt vor den anderen setzend, die Arme nach vorn ausgestreckt.

Etwas regte sich.

»Hallo?«

Seine Augen lernten, sich das wenige Licht, das es gab, zunutze zu machen, und jetzt konnte er etwas erkennen. Es ist nichts. Lumpen und Federn, weiter nichts. Noch ein Schritt, und dann stoben die Federn auf, und die Lumpen auf dem Höhlenboden schlugen im Wind.

Etwas flatterte um ihn herum, flatterte durch ihn hindurch, wischte durch die Luft wie ein Taubenflügel.

Luft wirbelte. Staub stach ihm in die Augen und ins Gesicht, er blinzelte gegen den kalten Wind an, trat einen Schritt zurück, als dieser plötzlich stärker wurde – ein Sturm aus Staub, Lumpen und Federn. Dann war der Wind wieder verschwunden, und wo die Federn aufgeflogen waren, stand jetzt eine menschliche Gestalt, die Fat Charlie mit der Hand Zeichen machte.

Er wollte zurückweichen, aber die Gestalt kam ihm zuvor und fasste ihn am Ärmel. Sie fühlte sich leicht und trocken an, und sie zog ihn zu sich heran …

Er machte einen Schritt vorwärts in die Höhle – und stand im Freien, auf einer baumlosen, kupferfarbenen Ebene, unter einem Himmel, dessen Färbung an saure Milch denken ließ.

Unterschiedliche Geschöpfe haben unterschiedliche Augen. Menschenaugen sind (anders als, sagen wir, Katzenoder Tintenfischaugen) so gebaut, dass sie nur eine Realitätsversion auf einmal sehen können. Fat Charlie sah eine Sache mit seinen Augen, aber eine andere Sache mit seinem Verstand, und in der Kluft zwischen diesen beiden Sachen lauerte der Wahnsinn. Er fühlte wilde Panik in sich aufsteigen, er atmete tief ein und hielt die Luft dann in der Lunge, während sein Herz gegen den Brustkorb schlug. Er zwang sich, seinen Augen zu glauben, nicht seinem Verstand.

Wenngleich er also wusste, dass es ein Vogel war, was er sah, ein Vogel mit irrem Blick, zerzaustem Federkleid, größer als ein Adler, höher ragend als ein Vogel Strauß, der Schnabel das mitleidslos reißende Instrument eines Raubtiers, die Federn schieferfarben, von einem öligen Glanz überzogen, was einen dunklen Regenbogen aus Rotund Grüntönen erzeugte so wusste er dies doch nur einen Augenblick lang, ganz hinten im Kopf. Was er mit den Augen sah, war aber eine Frau mit rabenschwarzem Haar, die dort stand, wo eben noch die Vorstellung eines Vogels gewesen war. Sie war weder jung noch alt, und sie wandte ihm ein Gesicht zu, das aus Obsidian gemeißelt sein mochte, vor langer Zeit, als die Welt noch jung war.

Sie beobachtete ihn, rührte sich aber nicht. Wolken wogten über den Sauermilchhimmel.

»Ich bin Charlie«, sagte Fat Charlie. »Charlie Nancy. Einige, na ja, die meisten nennen mich Fat Charlie. Du kannst mich auch so nennen. Wenn du möchtest.«

Keine Antwort.

»Anansi war mein Vater.«

Immer noch nichts. Nicht der leiseste Mucks.

»Ich möchte, dass du mir hilfst, meinen Bruder loszuwerden.«

Jetzt legte sie den Kopf schief. Gerade genug, um erkennen zu geben, dass sie zuhörte. Genug, um erkennen zu geben, dass sie am Leben war.

»Ich kann es nicht alleine. Er besitzt Zauberkräfte und alles. Ich habe mit einer Spinne gesprochen, und eh ich mich versah, ist mein Bruder aufgetaucht. Und jetzt werde ich ihn nicht wieder los.«

Ihre Stimme war rau und tief wie die einer Krähe. »Was soll ich dabei tun?«

»Mir helfen?«, schlug er vor.

Sie schien darüber nachzudenken.

Später konnte Fat Charlie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, was sie getragen hatte. Manchmal dachte er, es müsse ein Umhang aus Federn gewesen sein; manchmal jedoch glaubte er, es seien wohl irgendwelche Lumpen gewesen, oder vielleicht ein zerschlissener Regenmantel, von der Art, wie sie ihn trug, als er sie am Piccadilly sah, später, als alles schon schiefzulaufen begonnen hatte. Jedenfalls war sie nicht nackt; dessen war er sich nahezu sicher. An so etwas würde er sich doch erinnern, oder?

»Dir helfen«, wiederholte sie.

»Mir helfen, ihn loszuwerden.«

Sie nickte. »Du möchtest, dass ich dir helfe, dich von Anansis Blutlinie zu befreien.«

»Ich möchte einfach, dass er weggeht und mich in Ruhe lässt. Ich will nicht, dass du ihm etwas zuleide tust oder so.«

»Dann versprich mir, dass ich Anansis Blutlinie für mich bekomme.«

Fat Charlie stand auf der großen kupferroten Ebene, die sich irgendwie, das wusste er, im Innern der Höhle in den Bergen am Ende der Welt befand – und gleichzeitig aber, in gewisser Weise, in Mrs. Dunwiddys nach Veilchen riechendem Wohnzimmer, und versuchte zu begreifen, was das war, das sie von ihm verlangte.

»Ich kann nichts weggeben. Und ich kann keine Versprechungen machen.«

»Wenn du willst, dass er weggeht«, sagte sie, »sag es. Meine Zeit ist kostbar.« Sie verschränkte die Arme und starrte ihn aus irren Augen an. »Ich habe keine Angst vor Anansi.«

Mrs. Dunwiddys Stimme klang ihm im Ohr. »Ähm«, sagte Fat Charlie. »Ich darf keine Versprechungen machen. Und ich muss etwas von gleichem Wert verlangen. Ich mein, es muss ein Tauschgeschäft sein.«

Die Vogelfrau schien unzufrieden, nickte aber. »Dann werde ich dir im Tausch etwas von gleichem Wert geben.

Mein Wort darauf.« Sie legte ihre Hand über seine, als würde sie ihm etwas übergeben, dann bog sie seine Finger so, dass seine Hand sich schloss. »Jetzt sag es.«

»Ich gebe dir Anansis Blutlinie«, sagte Fat Charlie.

»Es ist gut«, sagte eine Stimme, und mit diesen Worten löste sie sich gewissermaßen auf.

Wo eben noch eine Frau gestanden hatte, war jetzt ein Schwarm Vögel, die, wie von einem Gewehrschuss aufgescheucht, in alle Richtungen flogen. Bald war der Himmel voller Vögel, mehr Vögel, als in Fat Charlies Vorstellungskraft passten, braune Vögel und schwarze Vögel, die kreisten und kreuzten und dahinflossen wie eine schwarze Rauchwolke, größer, als der Verstand begreifen konnte, wie eine Wolke aus unendlich vielen Mücken, so groß wie die Welt.

»Du sorgst jetzt also dafür, dass er weggeht?«, rief Fat Charlie in den dunkler werdenden milchigen Himmel hinein. Die Vögel rutschten und glitten über den Himmel. Jeder einzelne bewegte sich nur um ein winziges Stück, und sie flogen immer weiter, aber plötzlich starrte Fat Charlie in ein Gesicht am Himmel, ein Gesicht aus wirbelnden Vögeln. Es war sehr groß.

Es sagte seinen Namen inmitten der Schreie, der krächzenden Rufe der abertausenden von Vögeln, und es waren Lippen so groß wie Hochhäuser, die die Worte im Himmel formten.

Dann zerfiel das Gesicht in Wahnsinn und Chaos, als die Vögel, aus denen es zusammengesetzt war, aus dem blassen Himmel stießen und direkt auf ihn zuflogen. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, im Versuch, sich zu schützen.

Der Schmerz in der Wange kam jäh und heftig. Für einen Moment glaubte er, einer der Vögel müsse ihn erwischt und ihm die Wange mit dem Schnabel oder den Klauen aufgeschlitzt haben. Dann sah er, wo er war.

»Nicht noch mal schlagen!«, sagte er. »Ist ja gut. Sie müssen mich nicht schlagen!«

Inzwischen näherten die Pinguine auf dem Tisch sich dem Verlöschen; ihre Köpfe und Schultern hatten sie bereits eingebüßt, und die Flammen brannten jetzt in den gestaltlosen scharz-weißen Klümpchen, die vormals ihren Bauch gebildet hatten, während die Füße in erstarrten Pfützen von schwärzlichem Kerzenwachs steckten. Drei alte Frauen starrten ihn an.

Miss Noles schüttete ihm ein Glas Wasser ins Gesicht.

»Das hätte auch nicht nötig getan«, sagte er. »Ich bin ja hier, oder?«

Mrs. Dunwiddy kam ins Zimmer. Triumphierend schwenkte sie eine kleine braune Glasflasche. »Riechsalz«,

verkündete sie. »Wusste doch, dass ich’s noch irgendwo habe. Gekauft hab ich’s, na, siebenundsechzig, achtundsechzig. Weiß gar nicht, ob es noch was taugt.« Sie blickte auf Fat Charlie, und ihre Miene verfinsterte sich. »Er ist wach. Wer hat ihn aufgeweckt?«

»Er hat nicht geatmet«, sagte Mrs. Bustamonte. »Da hab ich ihm ‘nen Klaps gegeben.«

»Und ich hab ihm Wasser ins Gesicht geschüttet«, sagte Miss Noles, »da isser dann endgültig zu sich gekommen.«

»Ich brauche kein Riechsalz«, sagte Fat Charlie. »Ich bin schon nass und habe Schmerzen.« Aber Mrs. Dunwiddys alte Hände hatten bereits den Verschluss abgeschraubt, und jetzt zwängte sie ihm die Flasche unter die Nase. Er versäumte es, während er zurückwich, die Luft anzuhalten, und atmete dadurch eine Schwade von Ammoniak ein. Seine Augen tränten und er hatte das Gefühl, einen Schlag auf die Nase bekommen zu haben. Wasser lief ihm übers Gesicht.

»Na also«, sagte Mrs. Dunwiddy. »Fühlst dich jetzt besser?«

»Wie spät ist es?«, fragte Fat Charlie.

»Fast fünf Uhr morgens«, sagte Mrs. Higgler. Sie nahm einen Schluck Kaffee aus ihrem Riesenbecher. »Haben uns alle Sorgen um dich gemacht. Solltest lieber erzählen, was passiert ist.«

Fat Charlie versuchte sich zu erinnern. Die Erlebnisse der letzten paar Stunden waren nicht unbedingt verflogen, wie es bei Träumen oft der Fall ist, sondern es war eher so, als seien sie jemand anders zugestoßen, einer Person, die nicht er war, und er müsse jetzt diese Person mittels einer bislang noch nie praktizierten Form der Telepathie kontaktieren. Es herrschte ein einziges Durcheinander in seinem Kopf, und die Zauberer-von-Oz-in-Technicolor-Landschaft des anderen Ortes löste sich wieder in die Sepiatöne der Wirklichkeit auf. »Da waren Höhlen. Ich habe um Hilfe gebeten. Es gab viele Tiere dort. Tiere, die Menschen waren. Keiner wollte mir helfen. Sie hatten alle Angst vor meinem Daddy. Aber dann hat eine von ihnen gesagt, dass sie mir helfen würde.«

»Sie?«, fragte Mrs. Bustamonte.

»Einige waren Männer, einige waren Frauen«, sagte Fat Charlie. »Dies war eine Frau.«

»Weißt du, was sie war? Krokodil? Hyäne? Maus?«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht wusste ich’s noch, bevor man angefangen hat, mich zu schlagen und mit Wasser zu begießen. Und mir Sachen in die Nase zu tun. Dabei wird einem leicht der Kopf leer gefegt.«

Mrs. Dunwiddy sagte: »Hast du daran gedacht, was ich dir gesagt hab? Nichts wegzugeben? Nur zu tauschen?«

»Ja«, sagte er, auf nicht ganz durchschaubare Weise stolz. »Ja. Da war ein Affe, der etwas von mir haben wollte, und ich habe nein gesagt. Hören Sie, ich glaube, ich brauche etwas zu trinken.«

Mrs. Bustamonte nahm ein Glas unbestimmten Inhalts vom Tisch. »Wir haben uns schon gedacht, dass du einen Schluck gebrauchen könntest. Also haben wir den Sherry durchs Sieb gegossen. Sind vielleicht noch ein paar gemischte Kräuter mit drin, aber nichts Großes.«

Seine Hände lagen im Schoß, zu Fäusten geballt. Er öffnete die rechte Hand, um der alten Frau das Glas abzunehmen. Dann hielt er inne und machte große Augen.

»Was?«, fragte Mrs. Dunwiddy. »Was ist los?«

In Fat Charlies Hand lag eine Feder, schwarz, zerknickt und schweißnass. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Alles fiel ihm wieder ein.

»Es war die Vogelfrau«, sagte er.


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EIN GRAUER Morgen brach an, als Fat Charlie auf den Beifahrersitz von Mrs. Higglers Kombi kroch.

»Biste müde?«, fragte sie ihn.

»Eigentlich nicht. Ich fühl mich nur einfach komisch.«

»Wo soll ich dich hinbringen? Mit zu mir? Zum Haus von deinem Dad? Motel?«

»Ich weiß nicht.«

Sie legte den Gang ein und schlingerte auf die Straße.

»Wohin fahren wir?«

Sie antwortete nicht. Sie schlürfte etwas Kaffee aus dem Megabecher. Dann sagte sie: »Vielleicht war’s zum Besten, was wir heut Abend gemacht haben, vielleicht auch nicht. Manchmal ist es bei Familiensachen am besten, wenn die Familien sie selber regeln. Du und dein Bruder. Ihr seid euch zu ähnlich. Ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ihr euch in die Haare kriegt.«

»Ich nehme an, das war eben eine spezielle westindische Gebrauchsform des Wortes ›ähnlich‹, die so viel bedeutet wie ›es besteht nicht die geringste Gemeinsamkeit«?«

»Komm mir hier nicht auf die britische Tour. Ich weiß, was ich sage. Du und er, ihr seid beide aus dem gleichen Stoff gemacht. Ich weiß noch, wie dein Vater zu mir sagte: Callyanne, sagt’ er, meine Jungs, die sind dümmer als – na gut, ist ja egal, was er genau gesagt hat, nich’ wahr, aber entscheidend ist, er hat es über euch beide gesagt.« Ihr kam ein Gedanke. »He. Als du da an dem Ort warst, wo die alten Götter sind, hast du da auch deinen Vater gesehen?«

»Ich glaube nicht. Daran würde ich mich wohl erinnern.«

Sie nickte, fuhr dann schweigend weiter. Sie parkte das Auto, und sie stiegen aus.

Es war kühl im floridianischen Morgengrauen. Der Garten der Letzten Ruhe sah wie eine Filmkulisse aus: Bodennebel waberte und verwischte alle Konturen. Mrs. Higgler öffnete das kleine Tor, und sie betraten den Friedhof.

Wo noch kürzlich nichts als frische Erde auf dem Grab seines Vaters gelegen hatte, war jetzt Rasen, und am Kopfende des Grabs befand sich eine Metalltafel mit eingebauter Metallvase, und in der Vase stand eine einzelne gelbe Seidenrose.

»Der Herr sei dem Sünder in diesem Grab gnädig«, sagte Mrs. Higgler gefühlvoll. »Amen, amen, amen.«

Sie hatten Publikum: Die beiden rotköpfigen Kraniche, die Fat Charlie schon bei seinem ersten Besuch aufgefallen waren, kamen mit wippenden Köpfen heranstolziert, wie zwei vornehme Gefängnisbesucher.

»Husch husch!«, sagte Mrs. Higgler. Die Vögel starrten sie desinteressiert an, wichen nicht zurück.

Einer von ihnen tauchte den Kopf ins Gras, kam mit einer zappelnden Eidechse im Schnabel wieder hoch. Einmal schlucken, einmal schütteln, und die Eidechse beulte den Hals des Vogels von innen aus.

Der Morgenchor begann: In der Wildnis hinter dem Garten der Letzten Ruhe sangen Stärlinge, Pirole und Spottdrosseln den Tag ein. »Es wird schön sein, wieder nach Hause zu kommen«, sagte Fat Charlie. »Mit ein bisschen Glück hat sie ihn schon rausgeworfen, wenn ich zurückkomme. Dann wird alles gut. Mit Rosie kann ich dann alles klären.« Eine sanft optimistische Stimmung ergriff ihn. Der Tag versprach einiges.


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IN DEN ALTEN GESCHICHTEN LEBT ANANSI, genau wie du und ich, in seinem Haus. Klar, er ist gierig, lüstern, verschlagen und voller Lügen. Und er ist gutherzig, ein Glückskind und manchmal sogar ehrlich. Manchmal ist er gut, manchmal ist er schlecht. Aber er ist nie böse. Meistens ist man auf Anansis Seite. Das kommt daher, dass Anansi alle Geschichten gehören, die es gibt. Mawu schenkte ihm die Geschichten, damals in der Frühzeit, nahm sie Tiger weg und gab sie Anansi, und der versteht es wunderbar, das Netz dieser Geschichten zu spinnen.

In den Geschichten ist Anansi eine Spinne, aber er ist auch ein Mensch. Es ist nicht schwer, zwei Dinge gleichzeitig im Kopf zu behalten. Selbst Kinder können das schon.

Erzählt werden Anansis Geschichten von Großmüttern und Tanten an der Westküste Afrikas, überall in der Karibik und in der ganzen Welt. Die Geschichten haben es bis in die Kinderbücher geschafft: Ein großer, lächelnder Anansi, der seine lustigen Streiche spielt. Das Problem ist: Großmütter, Tanten und die Autoren von Kinderbüchern neigen dazu, bestimmte Dinge wegzulassen. Es gibt auch Geschichten, die sich für kleine Kinder nicht so gut eignen.

Hier ist eine Geschichte, die man nicht in den Vorlesebüchern findet. Ich nenne sie:


ANANSI und VOGEL


Anansi mochte Vogel nicht, denn wenn Vogel hungrig war, fraß sie immer viele Dinge, und zu diesen Dingen, die Vogel fraß, gehörten auch Spinnen, und außerdem war Vogel eine, die praktisch immer Hunger hatte.

Früher waren sie mal Freunde gewesen, aber jetzt nicht mehr.

Eines Tages, als er gerade spazieren ging, sah Anansi ein Loch in der Erde, und da hatte er eine Idee. Er legt Holz unten ins Loch und zündet ein Feuer an, er stellt einen Kochtopf ins Loch und tut Wurzeln und Kräuter hinein. Dann fängt er an, um den Topf herumzulaufen, immer rundherum, und dabei tanzt und singt er und ruft immerzu: Mir geht’s gut, mir geht’s sooo gut. O Mann, alle meine Schmerzen und Leiden sind weg, und in meinem ganzen Leben hab ich mich noch nie so verdammt wohlgefühlt!

Vogel hört das Spektakel. Vogel kommt aus dem Himmel heruntergeflogen, um zu sehen, was das ganze Theater soll. Sie sagt: Was singst du da? Warum führst du dich wie’n Verrückter auf, Anansi?

Anansi singt: Ich hatte Nackenschmerzen, aber jetzt sind sie weg. Ich hatte Bauchschmerzen, aber die sind vergessen. Ich hatte ein Knirschen in den Gelenken, und jetzt bin ich so gelenkig wie eine junge Palme. Ich bin so glatt wie Schlange, nachdem er seine Haut abgeworfen hat. Ich bin mächtig glücklich, und bald wird alles vollkommen sein, denn ich kenn das Geheimnis und niemand sonst.

Was für ein Geheimnis?, fragt Vogel.

Mein Geheimnis, sagt Anansi. Alle werden mir ihre wertvollsten, ihre Lieblingssachen geben, nur um mein Geheimnis zu erfahren. Jippie! Mann! Das ist ein tolles Gefühl!

Vogel kommt ein bisschen näher gehoppelt, und sie legt den Kopf auf die Seite. Dann fragt sie: Kann ich dein Geheimnis erfahren?

Anansi sieht Vogel mit einem misstrauischen Blick an, und er stellt sich vor den Topf, der im Loch vor sich hinbrodelt.

Ich glaube nicht, sagt Anansi. Es reicht vielleicht nicht für mehrere. Mach dir am besten keine Gedanken darüber.

Vogel sagt: Also, Anansi, ich weiß, wir sind nicht immer Freunde gewesen. Aber ich will dir was sagen. Wenn du dein Geheimnis mit mir teilst, dann versprech ich dir, dass kein Vogel jemals wieder eine Spinne fressen wird. Und

wir werden für alle Zeiten Freunde sein.

Anansi kratzt sich am Kinn, und er schüttelt den Kopf. Es ist ein mächtig großes Geheimnis, sagt er, es macht einen jung und frisch und kräftig, und man hat keine Schmerzen mehr.

Vogel putzt sich und wirft sich in die Brust. Vogel sagt: O Anansi, du weißt doch bestimmt, dass ich dich schon immer für ein besonders schmuckes Mannsbild gehalten hab. Wie wär’s, wenn wir beide uns neben der Straße ein bisschen hinlegen, dann glaube ich bestimmt, dass ich all deine Bedenken dagegen ausräumen kann, mir dein Geheimnis zu verraten.

Also legen sie sich neben der Straße nieder, und bald beginnen sie zu lachen und zu schmusen und übermütig zu werden, und als dann Anansi bekommen hat, was er wollte, sagt Vogel: Also, Anansi, was ist jetzt mit deinem Geheimnis?

Anansi sagt: Na ja, eigentlich wollte ich ja niemandem davon erzählen. Aber dir werd ich’s sagen. Es ist ein Kräuterbad, da in diesem Erdloch. Guck mal, ich werfe diese Blätter und Wurzeln rein. Und jeder, der jetzt darin badet, der wird ewig leben und keine Schmerzen mehr haben. Ich hab das Bad genommen, und seitdem bin ich so lebendig wie ein junger Ziegenbock. Aber ich glaube nicht, dass ich irgendjemand sonst das Bad nehmen lassen sollte.

Vogel blickt in das blubbernde Wasser, und hast du nicht gesehen, gleitet sie in den Topf hinein.

Das ist aber furchtbar heiß, Anansi, sagt sie.

Das muss so heiß sein, damit die Kräuter ihre gute Wirkung tun können, sagt Anansi. Dann nimmt er den Topfdeckel und bedeckt den Topf damit. Es ist ein schwerer Deckel, und Anansi legt zusätzlich einen großen Stein oben drauf, damit er noch schwerer wird.

Bamm! Bomm! Bumm!, kommt das Klopfen aus dem Topfinnern.

Wenn ich dich jetzt rauslasse, ruft Anansi, geht die ganze gute Wirkung des Sprudelbads verloren. Mach’s dir einfach gemütlich da drinnen und pass auf, wie du dich immer gesünder fühlst.

Aber vielleicht hat Vogel ihn nicht gehört oder ihm nicht geglaubt, denn das Klopfen und das Drücken aus dem Innern des Topfs ging noch eine ganze Weile weiter. Und dann hörte es auf.

An diesem Abend gab es bei Familie Anansi eine überaus köstliche Vogelsuppe zu essen. Viele Tage lang wurde keiner von ihnen mehr hungrig.

Seit dieser Zeit fressen Vögel jede Spinne, die sie kriegen können, und aus Spinnen und Vögeln werden niemals mehr Freunde werden.


Es gibt noch eine andere Version dieser Geschichte, in der auch Anansi in den Kochtopf gelockt wird. Die Geschichten gehören alle Anansi, aber er geht nicht immer als Gewinner daraus hervor.

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