KAPITEL VIERZEHN

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IN DEM SICH SO

MANCHES

KLÄRT

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CHARLIE ERWACHTE von lautem Türklopfen, verwirrt blickte er sich um: Er war in einem Hotelzimmer; verschiedene unwahrscheinliche Ereignisse sirrten in seinem Kopf herum wie Motten um eine nackte Glühbirne, und während er noch versuchte, daraus schlau zu werden, überließ er es seinen Füßen, aus dem Bett zu steigen und ihn zur Zimmertür zu tragen. Blinzelnd blickte er auf das Schaubild an der Innenseite der Tür, das ihm zeigte, wohin er sich im Falle eines Feuers zu wenden hätte, und gleichzeitig mühte er sich, die Geschehnisse der letzten Nacht wieder aufzurufen. Dann entriegelte er die Tür und zog sie auf.

Daisy blickte ihm skeptisch entgegen. Sie sagte: »Hast du mit dem Hut da geschlafen?«

Charlie befühlte seinen Kopf. Er hatte definitiv einen Hut auf. »Ja«, sagte er. »Das muss ich wohl.«

»Meine Güte«, sagte sie. »Na ja, wenigstens hast du dir die Schuhe ausgezogen. Ist dir klar, dass du gestern Abend die entscheidenden Entwicklungen verpasst hast?«

»Ach ja?«

»Putz dir die Zähne«, sagte sie hilfreich. »Und zieh dir ein anderes Hemd an. Ja, es stimmt. Während du …« Und dann zögerte sie. Es schien bei näherer Überlegung doch recht unwahrscheinlich, dass er wirklich mitten in einer Seance verschwunden war. So etwas gab es einfach nicht. Nicht in der realen Welt. »Während du nicht da warst. Ich habe den Polizeichef veranlasst, zu Grahame Coats’ Haus zu fahren. Er hatte diese Touristen.«

»Touristen …?«

»Als er bei uns am Tisch saß, hatte er doch so etwas gesagt – dass wir diese Leute auf ihn angesetzt hätten, die beiden im Haus. Es waren deine Verlobte und ihre Mutter. Er hatte sie in seinem Keller eingesperrt.«

»Geht’s ihnen gut?«

»Sie sind beide im Krankenhaus.«

»Oh.«

»Ihre Mutter hat es ziemlich übel erwischt. Ich glaube aber, deine Verlobte wird sich bald erholt haben.«

»Kannst du bitte aufhören, sie so zu nennen? Sie ist nicht meine Verlobte. Sie hat die Verlobung aufgelöst.«

»Ja. Aber du nicht, oder?«

»Sie ist nicht in mich verliebt«, sagte Charlie. »So, und jetzt werde ich mir die Zähne putzen und das Hemd wechseln, und dabei wäre ich gern möglichst ungestört.«

»Du solltest auch duschen«, sagte sie. »Und dieser Hut riecht wie eine Zigarre.«

»Das ist ein Familienerbstück«, erklärte er, dann ging er ins Badezimmer und machte die Tür hinter sich zu.


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DAS KRANKENHAUS war zehn Minuten Fußweg vom Hotel entfernt, Spider saß im Wartezimmer und hielt eine zerlesene Ausgabe der Zeitschrift Entertainment Weekly in der Hand, als würde er darin lesen.

Als Charlie ihm auf die Schulter tippte, fuhr er zusammen. Argwöhnisch blickte er auf und entspannte sich nur unwesentlich, als er sah, dass es sein Bruder war. »Sie haben gesagt, ich muss hier draußen warten«, sagte Spider.

»Weil ich kein Verwandter und nichts bin.«

Charlie war sprachlos. »Ja, warum hast du dann nicht einfach gesagt, du wärst ein Verwandter? Oder ein Arzt?«

Spider wirkte verlegen. »Na ja, es ist leicht, so was zu machen, wenn es dir egal ist. Wenn es nicht wichtig ist, ob ich rein kann oder nicht, ist es leicht, reinzukommen. Aber jetzt ist es wichtig, und ich möchte wirklich nicht im Weg sein oder etwas Falsches tun, und ich mein, was ist, wenn ich es versuchen würde, und sie lassen mich nicht, und dann … was grinst du?«

»Ach, nur so«, sagte Charlie. »Das klingt alles ziemlich vertraut. Komm. Lass uns gehen und Rosie suchen. Weißt du«, sagte er zu Daisy, als sie in den nächstbesten Flur einbogen, »es gibt zwei Arten, durch ein Krankenhaus zu gehen. Entweder du erweckst den Eindruck, du würdest hierher gehören – da, Spider, weißer Kittel am Türhaken, genau deine Größe, zieh ihn an oder du solltest dermaßen fehl am Platze wirken, dass sich niemand über deine Anwesenheit beschwert. Jeder meint, es werde sich schon jemand anders um dich kümmern.« Er begann vor sich hinzusummen.

»Was ist das für ein Lied?«, fragte Daisy.

»Es heißt ›Yellow Bird‹«, sagte Spider.

Charlie schob seinen Hut aus der Stirn, und sie spazierten in Rosies Krankenzimmer hinein.

Rosie saß im Bett, las in einer Zeitschrift und wirkte besorgt. Als sie die drei hereinkommen sah, wirkte sie noch besorgter. Ihr Blick ging von Spider zu Charlie und wieder retour.

»Ihr seid beide weit von zu Hause weg«, sagte sie nur.

»Das sind wir alle«, sagte Charlie. »Also, Spider hast du schon kennengelernt. Das hier ist Daisy. Sie ist bei der Polizei.«

»Ich weiß nicht, ob ich das noch bin«, sagte Daisy.

»Wahrscheinlich stecke ich in allen möglichen Schwierigkeiten.«

»Sie sind diejenige, die letzte Nacht beim Haus war? Die die Inselpolizei dorthin geholt hat?« Rosie hielt inne. Sie sagte: »Irgendwas Neues über Grahame Coats?«

»Er ist auf der Intensivstation, genau wie Ihre Mutter.«

»Tja, falls sie vor ihm wieder zu sich kommt«, sagte Rosie, »dann wird sie ihn wahrscheinlich umbringen.« Dann sagte sie: »Sie wollen nicht mit mir über Mamas Zustand reden. Sie sagen nur, dass es sehr ernst sei, und sie würden mir berichten, sobald es etwas zu berichten gebe.« Sie sah Charlie mit klaren Augen an. »Sie ist in Wirklichkeit nicht so schlecht, wie du glaubst. Man muss nur Zeit haben, sie richtig kennenzulernen. Wir hatten viel Zeit zum Reden, als wir im Dunkeln eingesperrt waren. Sie ist ganz in Ordnung.«

Sie putzte sich die Nase. Dann sagte sie: »Sie glauben nicht, dass sie durchkommt. Sie haben es mir nicht direkt gesagt, aber sie haben es auf diese Ohne-es-auszusprechen-Art gesagt. Ist schon komisch. Ich habe immer geglaubt, sie würde alles überleben.«

Charlie sagte: »Ich auch. Ich bin davon ausgegangen, dass, selbst wenn es einen Atomkrieg gibt, hinterher immer noch radioaktive Kakerlaken und deine Mama übrig bleiben würden.«

Daisy trat ihm auf den Fuß. Sie sagte: »Weiß man inzwischen Näheres darüber, was sie so zugerichtet hat?«

»Ich hab’s ihnen erzählt«, sagte Rosie. »Da war irgendeine Art Tier im Haus. Vielleicht war es auch einfach nur Grahame Coats. Ich meine, er war es irgendwie, aber irgendwie war es auch jemand anders. Sie hat es von mir abgelenkt, und dann hat es sich auf sie gestürzt …« Sie hatte all dies am Morgen, so gut sie konnte, der Inselpolizei erklärt. Sie hatte es vorgezogen, nicht über die blonde Geisterfrau zu sprechen. Wenn Menschen unter großem Druck stehen, entwickeln sie manchmal Wahnvorstellungen, und sie hielt es für besser, wenn niemand erfuhr, dass das bei ihr der Fall gewesen war.

Rosie hielt inne. Sie starrte Spider an, als sei ihr eben erst wieder eingefallen, wer er war. Sie sagte: »Ich hasse dich immer noch, weißt du.« Spider sagte nichts, aber er machte ein sehr unglückliches Gesicht und sah gar nicht mehr wie ein Arzt aus, sondern jetzt wirkte er wie ein Mann, der sich einen weißen Kittel von irgendeinem Haken genommen hat und sich Sorgen macht, dass jemand es merkt. Ihre Stimme nahm einen träumerischen Ton an.

»Aber«, sagte sie, »aber als ich im Dunkeln gesessen habe, da hatte ich das Gefühl, dass du mir helfen würdest. Dass du das Tier von mir fernhieltest. Was ist mit deinem Gesicht passiert? Es ist ja ganz zerkratzt.«

»Das war ein Tier«, sagte Spider.

»Weißt du«, sagte sie. »Jetzt, wo ich euch beide gleichzeitig sehe, habt ihr überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander.«

»Ich bin der Gutaussehende«, sagte Charlie und hatte zum zweiten Mal Daisys Fuß auf seinen Zehen stehen.

»Herrje«, sagte Daisy leise. Dann, etwas lauter: »Charlie? Komm mal mit raus. Es gibt da eine Sache, über die wir dringend sprechen müssen.«

Sie gingen hinaus in den Krankenhausflur, Spider blieb zurück.

»Was ist?«, fragte Charlie.

»Wie, was ist?«, sagte Daisy.

»Worüber müssen wir dringend sprechen?«

»Nichts.«

»Warum stehen wir dann hier draußen? Du hast sie doch gehört. Sie hasst ihn. Wir hätten sie nicht zusammen allein lassen dürfen. Womöglich hat sie ihn inzwischen umgebracht.«

Daisy sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, wie ihn Jesus gezeigt haben könnte, nachdem einer der zu beköstigenden Fünftausend ihm erklärt hat, er sei wahrscheinlich gegen Brot und Fische allergisch und könne Er, Jesus, ihm nicht vielleicht schnell einen Hühnersalat machen: Es lag Mitleid in diesem Gesichtsausdruck, ein fast grenzenloses Mitgefühl.

Sie legte einen Finger auf die Lippen und zog ihn zurück zur Tür. Er blickte ins Krankenzimmer. Es sah nicht so aus, als würde Rosie Spider umbringen. Eher im Gegenteil.

»Oh«, sagte Charlie.

Sie küssten sich. Nun, wenn man es so ausdrückt, kann man keinem Leser einen Vorwurf machen, wenn er sich einen normalen Kuss vorstellt, unter Beteiligung von Lippen, Haut und vielleicht sogar ein bisschen Zunge. Ihm würde dann aber entgehen, wie Spider lächelte, wie seine Augen funkelten. Und wie er dann stand, als der Kuss zu Ende war, wie ein Mann, der soeben die Kunst des Stehens entdeckt hat und diese nun besser beherrscht als jeder andere, der sich daran versuchen wollte.

Als Charlie seine Aufmerksamkeit wieder in den Flur zurück richtete, fand er Daisy im Gespräch mit mehreren Ärzten und dem Polizeibeamten, mit dem sie am Abend zuvor das Vergnügen gehabt hatten.

»Nun, dass er ein schlechter Mensch ist, das haben wir uns von Anfang an gedacht«, sagte der Polizeibeamte gerade zu Daisy. »Ich mein, offen gesagt, ein solches Verhalten erlebt man nur bei Ausländern. Die Einheimischen, die würden so etwas einfach nicht tun.«

»Selbstverständlich nicht«, sagte Daisy.

»Sehr, sehr dankbar«, sagte der Polizeichef und klopfte Daisy dabei auf eine Weise auf die Schulter, dass sie schwer an sich halten musste, um nicht zu platzen. »Diese kleine Lady hat der anderen Dame das Leben gerettet«, teilte er Charlie mit, nicht ohne ihm zur Sicherheit auch noch einen gönnerhaften Klaps auf die Schulter mitzugeben, bevor er mit den Ärzten durch den Flur davonging.

»Also, was liegt an?«, fragte Charlie.

»Tja, Grahame Coats ist tot«, sagte sie. »Mehr oder weniger. Und für Rosies Mutter besteht auch kaum noch Hoffnung.«

»Verstehe«, sagte Charlie. Er dachte nach. Bald war er fertig mit Nachdenken und traf einen Entschluss. Sagte:

»Hast du was dagegen, wenn ich mal kurz mit meinem Bruder plaudere? Ich glaube, er und ich haben etwas zu besprechen.«

»Ich gehe jetzt sowieso zurück ins Hotel. Ich will meine E-Mails durchsehen. Werde mich wahrscheinlich am Telefon sehr ausführlich entschuldigen müssen. Mal gucken, ob ich noch eine berufliche Zukunft habe.«

»Aber du bist doch eine Heldin, oder?«

»Ich glaube nicht, dass es das ist, wofür ich bezahlt werde«, sagte sie etwas matt. »Komm und triff mich im Hotel, wenn du fertig bist.«

Spider und Charlie spazierten im morgendlichen Sonnenschein über die Hauptstraße von Williamstown.

»Weißt du, das ist wirklich ein guter Hut«, sagte Spider.

»Glaubst du wirklich?«

»Ja. Kann ich ihn mal aufprobieren?«

Charlie gab Spider den grünen Filzhut. Spider setzte ihn auf, begutachtete sein Spiegelbild in einem Ladenfenster.

Er verzog das Gesicht und gab Charlie den Hut zurück.

»Na ja«, sagte er enttäuscht, »bei dir sieht er jedenfalls gut aus.«

Charlie setzte seinen Hut wieder auf. Manche Hüte können nur getragen werden, wenn man den Mut zur Keckheit hat, den Hut ein bisschen schief aufsetzt und darunter so beschwingt einherschreitet, dass es so aussieht, als würde man gleich anfangen zu tanzen. Sie verlangen viel von ihrem Träger. Dieser Hut war so einer, und Charlie war ihm gewachsen. Er sagte: »Rosies Mutter liegt im Sterben.«

»Ja.«

»Ich habe sie wirklich echt nie gemocht.«

»Ich kannte sie nicht so gut wie du. Aber hätte ich mehr Zeit gehabt, ich bin sicher, ich hätte sie auch nicht ausstehen können.«

Charlie sagte: »Wir müssen versuchen, ihr das Leben zu retten, nicht?« Er sagte es ohne Begeisterung, wie jemand, der darauf hinweist, dass es mal wieder Zeit sei, zum Zahnarzt zu gehen.

»Ich glaube nicht, dass wir solche Sachen tun können.«

»Dad hat so etwas für Mama gemacht. Danach ging es ihr besser, für eine Weile jedenfalls.«

»Aber das war er. Ich weiß nicht, wie wir das machen sollten.«

Charlie sagte: »Der Ort am Ende der Welt. Mit den Höhlen.«

»Anfang der Welt, nicht das Ende. Was ist damit?«

»Können wir da nicht einfach hin? Ohne das ganze Kerzen – und – Kräuter-Brimborium?«

Spider war still. Dann nickte er. »Ich glaube.«

Sie drehten sich gemeinsam um, wandten sich in eine Richtung, die es dort normalerweise nicht gab, und verließen die Hauptstraße von Williamstown.

Jetzt ging die Sonne auf, und Charlie und Spider liefen über einen Strand, der von Totenschädeln übersät war. Es waren keine richtigen menschlichen Schädel, sie bedeckten den Strand wie gelbe Kieselsteine. Charlie vermied es, darauf zu treten, wo immer es ging, während Spider sich seinen Weg knirschend mitten hindurch bahnte. Am Ende des Strands machten sie einen Linksschwenk, der links von absolut allem war, und schon ragten die Berge am Beginn der Welt über ihnen, und die Klippen fielen steil nach unten ab.

Charlie erinnerte sich an das letzte Mal, als er hier gewesen war, es schien tausend Jahre her zu sein. »Wo seid ihr alle?«, rief er laut. Seine Stimme hallte von den Felsen wider und kam zu ihm zurück. Er sagte, immer noch laut:

»Hallo?«

Und dann waren sie da, beobachteten ihn. Alle miteinander. Sie wirkten größer diesmal, weniger menschlich, tierähnlicher, wilder. Er begriff, dass er sie beim letzten Mal als Menschen wahrgenommen hatte, weil es seine Erwartung gewesen war, Menschen zu sehen. Aber sie waren keine Menschen. Aufgereiht auf den Felsen über ihnen standen Löwe und Elefant, Krokodil und Python, Kaninchen und Skorpion und all die anderen, zu Hunderten, und sie starrten ihn mit ernsten Augen an: Tiere, die er erkannte; Tiere, die kein Lebender würde identifizieren können. Alle Tiere, die je in Geschichten vorgekommen sind. Alle Tiere, die Menschen je erträumt, angebetet oder mit Opfern beschwichtigt haben.

Charlie sah sie alle.

Es ist eines, dachte er, in einem Saal voller Restaurantgäste um sein Leben zu singen, spontan, während eine Pistole auf das Mädchen gerichtet ist, das

Das du … Oh.

Nun ja, dachte Charlie, darüber kann ich mir später Gedanken machen.

In diesem Moment hatte er das dringende Bedürfnis, entweder in eine Papiertüte zu atmen oder sich in Luft aufzulösen.

»Es müssen Hunderte sein«, sagte Spider, mit Ehrfurcht in der Stimme.

Es gab einen Auftrieb in der Luft, auf einem nahe gelegenen Felsen. Es war die Vogelfrau. Sie verschränkte die Arme und starrte zu ihnen hinunter.

»Was immer du vorhast«, sagte Spider zu Charlie, »du solltest bald damit anfangen. Die werden nicht ewig darauf warten.«

Charlie hatte einen trockenen Mund. »Okay.«

Spider sagte: »Also. Ähm. Was genau machen wir denn jetzt?«

»Wir singen ihnen etwas vor«, sagte Charlie schlicht.

»Was?«

»Unsere Methode, Sachen in Ordnung zu bringen. Das habe ich herausgefunden. Wir singen es einfach alles, du und ich.«

»Ich versteh nicht. Was singen wir?«

Charlie sagte: »Das Lied. Man singt das Lied und alles wird gut.« Er klang jetzt verzweifelt. »Das Lied

Spiders Augen waren wie Pfützen nach dem Regen, und Charlie sah darin Dinge, die er bei seinem Bruder noch nie gesehen hatte: Zuneigung vielleicht und Verwirrung und, das vor allem, Bedauern. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

Löwe beobachtete sie von der Seite eines Felsblocks her. Affe blickte von einem Baum herunter. Und Tiger …

Charlie sah Tiger. Er ging vorsichtig auf vier Füßen. Das Gesicht war geschwollen und verfärbt, aber seine Augen funkelten, und es machte den Eindruck, als wäre er nur allzu bereit, die Rechnung zu begleichen.

Charlie öffnete den Mund. Ein kleines krächzendes Geräusch kam heraus, es klang, als habe er kürzlich einen ungewöhnlich nervösen Frosch verschluckt. »Es hat keinen Sinn«, flüsterte er Spider zu. »Das war eine blöde Idee, stimmt’s?«

»Jau.«

»Meinst du, wir können einfach wieder weggehen?« Charlies unruhiger Blick schweifte über den Berg und die Höhlen, nahm jedes der etlichen hundert Totemwesen aus den frühesten Zeiten der Menschheit in sich auf. Eins war darunter, das er beim letzten Mal nicht gesehen hatte: Ein kleiner Mann mit zitronengelben Handschuhen und einem dünnen Oberlippenbart, aber keinem Filzhut auf den sich lichtenden Haaren.

Der Alte zwinkerte, als er Charlies Blick begegnete. Es war nicht viel, aber es reichte.

Charlie ließ Luft in seine Lunge strömen, und dann begann er zu singen. »Ich bin Charlie«, sang er. »Ich bin Anansis Sohn. Hört mein Lied. Ich will euch von meinem Leben singen.«

Er sang für sie das Lied von einem Jungen, der ein halber Gott war und der entzweigebrochen wurde von einer alten Frau, die einen Groll hegte. Er sang von seinem Vater, und er sang von seiner Mutter.

Er sang von Namen und Wörtern, den Grundsteinen der Wirklichkeit, den Welten, aus denen Welten entstehen, den Wahrheiten unterhalb dessen, was ist: Er sang vom gerechten Ende und von angemessenen Konsequenzen für diejenigen, die ihm und den Seinen Leid zugefügt haben würden.

Er sang die Welt.

Es war ein gutes Lied, und es war sein Lied. Manchmal war es mit Worten, aber manchmal hatte es auch überhaupt keine Worte.

Nach einiger Zeit begannen all die versammelten Wesen zu seinem Gesang zu klatschen und mit den Füßen zu stampfen und mitzusummen; Charlie hatte das Gefühl, ein Medium zu sein für ein großes Lied, das sie alle in sich aufnahm. Er sang von Vögeln, von dem Zauber, den man empfindet, wenn man hochblickt und sie im Fluge sieht, vom Schimmern der Morgensonne in einer Flügelfeder.

Die Totemwesen tanzten jetzt, ein jeder nach seiner Weise. Die Vogelfrau tanzte den kreisenden Tanz der Vögel, mit zurückgeworfenem Schnabel, die Schwanzfedern auffächernd.

Es gab nur ein Wesen auf dem Berg, das nicht tanzte. Tiger schlug mit dem Schwanz. Weder klatschte er, noch sang oder tanzte er. Sein Gesicht war lila verfärbt und sein Körper von Striemen und Beißspuren übersät. Er war, behutsam einen Schritt nach dem anderen setzend, die Felsen heruntergestapft, bis er in Charlies Nähe angelangt war.

»Die Lieder sind nicht deine«, knurrte er.

Charlie sah ihn an, und dann sang er von Tiger und von Grahame Coats und von all denen, die Jagd auf Unschuldige machen. Er drehte sich um: Spider sah ihn voller Bewunderung an. Tiger brüllte vor Wut, aber Charlie nahm dieses Brüllen, und er spann sein Lied darum herum. Dann wiederholte er das Brüllen, genau so, wie es vorher bei Tiger geklungen hatte. Oder genauer: Das Brüllen begann genau wie Tigers Brüllen, aber dann veränderte Charlie es, es wurde ein richtig trotteliges Brüllen daraus, und alle von den Felsen aus zuschauenden Wesen begannen zu lachen. Sie konnten nicht anders. Charlie ließ das trottelige Brüllen noch einmal hören. Wie jede wirklich gelungene Parodie hatte seine Imitation die Wirkung, das Nachgeahmte unrettbar der Lächerlichkeit zu überführen. Niemand würde je wieder Tigers Brüllen hören können, ohne zugleich Charlies Version des Brüllens mitzuhören. »Hört sich ziemlich trottelig an, das Brüllen«, würde jeder sagen.

Tiger kehrte Charlie den Bücken. Er sprang durch die Menge davon, stimmte dabei ein neuerliches Brüllen an, was die anderen nur zu noch heftigerem Lachen bewegte. Tiger zog sich wütend in seine Höhle zurück.

Spider gestikulierte mit den Händen, ein paar schnelle, schroffe Bewegungen.

Ein Grollen war zu hören, dann stürzte der Eingang von Tigere Höhle ein. Spider schien zufrieden. Charlie sang weiter.

Er sang das Lied von Rosie Noah und das Lied von Rosies Mutter; er sang ein langes Leben für Mrs. Noah und alles Glück, das ihr zustand.

Er sang von seinem Leben, von ihrer aller Leben, und in seinem Lied betrachtete er das ihnen gemeinsame Lebensmuster als ein Netz, in das eine Fliege hineingeplatzt war, und diese Fliege umwickelte er mit seinem Lied, stellte sicher, dass sie nicht entkommen konnte, und reparierte das beschädigte Netz mit neuen Fäden.

Und nun näherte das Lied sich seinem natürlichen Ende. Zu seiner nicht geringen Überraschung stellte Charlie fest, dass es ihm Freude machte, vor anderen Leuten zu singen, und es wurde ihm in diesem Moment klar, dass es das war, womit er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Er würde singen: Nicht die großen, magischen Lieder, die Welten erschufen oder das Leben nachstellten. Sondern kleine Lieder, die die Menschen für eine kleine Weile glücklich machten, sie in Bewegung setzten, sie vorübergehend ihre Probleme vergessen ließen. Und er wusste, dass es immer die Angst vor dem Auftritt, das Lampenfieber, geben würde, das nie verschwände, aber er begriff auch, dass es so sein würde, als wenn man in einen Swimmingpool springt: einige Sekunden lang unangenehm kalt –, aber dann ließe das unangenehme Gefühl auch schon nach und der Spaß würde beginnen, es wäre gut …

Nicht so gut wie jetzt. So gut würde es nie wieder. Aber immer noch gut genug.

Und dann war er fertig. Charlie ließ den Kopf hängen.

Die Geschöpfe auf der Klippe ließen die letzten Töne verklingen, hörten auf zu stampfen, hörten auf zu klatschen, hörten auf zu tanzen. Charlie nahm den grünen Filzhut seines Vaters ab und fächelte sich damit Luft ins Gesicht.

Spider murmelte ihm zu: »Das war sensationell.«

»Du hättest es auch gekonnt«, sagte Charlie.

»Das glaub ich nicht. Was ist am Ende passiert? Ich konnte fühlen, dass du irgendwas gemacht hast, aber ich hab nicht rausgefunden, was es war.«

»Ich habe alles in Ordnung gebracht«, sagte Charlie.

»Für uns. Glaube ich. Ganz sicher bin ich mir nicht …« Und konnte er auch nicht sein. Jetzt, da das Lied zu Ende war, löste sein Inhalt sich auf wie ein Traum am Morgen danach.

Er deutete auf den Höhleneingang, der von Felsbrocken zugeschüttet war. »Warst du das?«

»Ja«, sagte Spider. »Schien mir das Mindeste, was ich tun konnte. Tiger wird sich aber irgendwann freigraben. Ich wünschte, ehrlich gesagt, ich hätte etwas Schlimmeres tun können, als ihm die Tür zu versperren.«

»Keine Sorge«, sagte Charlie. »Das habe ich getan. Etwas viel Schlimmeres.«

Er beobachtete, wie die Tiere sich zerstreuten. Sein Vater war nirgends zu sehen, was ihn nicht weiter überraschte. »Komm«, sagte er. »Wir sollten sehen, dass wir wieder zurückkommen.«


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SPIDER KEHRTE zur Besuchszeit zu Rosie ins Krankenhaus zurück. Im Arm hatte er eine große Schachtel Pralinen, die größte, die der Geschenkeshop im Krankenhaus hergab.

»Für dich«, sagte er.

»Danke.«

»Die Ärzte haben mir erzählt«, sagte sie, »dass sie glauben, Mama würde durchkommen. Offenbar hat sie die Augen geöffnet und nach Haferbrei verlangt. Die Ärzte sagen, es sei ein Wunder.«

»Jau. Dass deine Mutter nach Essen verlangt, das klingt wirklich wie ein Wunder.«

Sie versetzte ihm einen kleinen Schlag auf den Arm, ließ dann ihre Hand dort ruhen.

»Weißt du«, sagte sie nach einer Weile, »du wirst mich für närrisch halten. Aber als ich da im Dunkeln saß mit Mama, hatte ich das Gefühl, du würdest mir helfen. Es war, als würdest du das Ungeheuer in Schach halten. Und wenn du nicht getan hättest, was du getan hast, hätte es uns getötet.«

»Ähm. Ich habe wahrscheinlich geholfen.«

»Wirklich?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube. Ich war auch in Schwierigkeiten, und ich habe an dich gedacht.«

»Warst du in richtig großen Schwierigkeiten?«

»Mächtig großen. Ja.«

»Kannst du mir ein Glas Wasser einschenken, bitte?« Er tat es. Sie sagte: »Spider, was machst du so?«

»Machen?«

»Beruflich.«

»Wozu ich gerade Lust habe.«

»Ich glaube«, sagte sie, »ich bleibe vielleicht hier, für eine Weile jedenfalls. Von den Krankenschwestern habe ich gehört, wie dringend hier Lehrer und Lehrerinnen benötigt werden. Ich würde gern das Gefühl haben, dass ich etwas bewirken kann.«

»Das könnte ganz lustig sein.«

»Und was würdest du machen, wenn ich es täte?«

»Oh. Wenn du hier wärest, dann würde ich bestimmt etwas finden, womit ich mich beschäftigen kann.«

Ihre Finger verschlangen sich ineinander, so fest wie ein Seemannsknoten.

»Glaubst du, dass es funktionieren kann mit uns?«, fragte sie.

»Ich glaube schon«, sagte Spider nüchtern. »Und falls es mir zu langweilig wird mit dir, geh ich eben weg und mache was anderes. Also, keine Sorge.«

»Oh«, sagte Rosie, »ich mache mir keine Sorgen.« Und das tat sie auch nicht. Ihre Stimme war weich, aber darunter war eine gewisse Härte zu spüren. Man ahnte, woher ihre Mutter es hatte.


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CHARLIE FAND Daisy auf einem Liegestuhl am Strand, es sah so aus, als würde sie in der Sonne schlafen. Als sein Schatten über sie fiel, sagte sie: »Hallo, Charlie.« Sie machte die Augen nicht auf.

»Woher wusstest du, dass ich es bin?«

»Dein Hut riecht nach Zigarre. Wirst du das Ding bald wegschmeißen?«

»Nein«, sagte Charlie. »Das habe ich dir doch schon erklärt. Familienerbstück. Ich habe die Absicht, ihn bis zu meinem Tod zu tragen und ihn dann an meine Kinder weiterzuvererben. Also. Hast du noch immer einen Job bei der Polizei?«

»Sozusagen«, sagte sie. »Mein Chef meint, man hätte festgestellt, dass ich unter nervöser Erschöpfung auf Grund von Überarbeitung leiden würde, und ich bin krankgeschrieben, bis ich mich gut genug fühle, um zurückzukehren.«

»Ah. Und wann wird das sein?«

»Weiß nicht genau«, sagte sie. »Gibst du mir mal das Sonnenöl?«

Er hatte eine Schachtel in der Tasche. Er zog sie heraus und stellte sie auf die Armlehne des Liegestuhls. »Gleich.

Ah.« Er machte eine Pause. »Weißt du«, sagte er dann,

»den großen peinlichen Teil haben wir ja schon unter vorgehaltener Waffe erledigt.« Er öffnete die Schachtel. »Aber das hier ist für dich, von mir. Na ja, Rosie hat ihn mir zurückgegeben. Und wir können ihn gegen einen tauschen, der dir gefällt. Such dir einen anderen aus. Wahrscheinlich passt dieser nicht mal. Aber er gehört dir. Wenn du ihn haben möchtest. Und, ähm. Mich.«

Sie griff in die Schachtel und nahm den Verlobungsring heraus.

»Hmph. Ist gut«, sagte sie. »Solange du das nicht nur machst, um die Limone zurückzukriegen.«


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TIGER WAR UNRUHIG, SEIN SCHWANZ SCHLUG ungeduldig, während er vor dem Ausgang seiner Höhle immer hin und her lief. Seine Augen brannten im Dunkeln wie grüne Fackeln.

»Die ganze Welt und alles hat mal mir gehört«, sagte Tiger. »Mond und Sterne, Sonne und Geschichten, alles war meins.«

»Ich komme nicht umhin, darauf hinzuweisen«, sagte eine vergleichsweise weniger voluminöse Stimme im hinteren Teil der Höhle, »dass du das bereits erwähntest.«

Tiger unterbrach sein rastloses Gelaufe; er drehte sich um und schlich ins Höhleninnere, wogte gleichsam voran, beim Gehen Wellen schlagend wie ein Pellteppich auf hydraulischen Federn. So stapfte er weiter, bis er zu einem Ochsenkadaver gelangte, und sagte dann mit betont ruhiger Stimme: »Wie bitte?«

Aus dem Innern des Kadavers erklang Geraschel. Eine Nasenspitze schob sich aus dem Brustkorb heraus. »Im Grunde«, sagte sie, »habe ich dir sozusagen recht gegeben. Voll und ganz.«

Kleine weiße Hände rissen einen dünnen Streifen getrockneten Fleisches zwischen zwei Rippen heraus, worauf ein kleines Tier sichtbar wurde, dessen Fellfarbe an schmutzigen Schnee denken ließ. Es mochte sich um einen Albino-Mungo handeln, oder aber um eine besonders zwielichtige Wieselart in ihrem Winterfell. Es hatte die Augen eines Aasfressers.

»Ganze Welt und alles hat mal mir gehört. Mond und Sterne, Sonne und Geschichten, alles war meins.« Dann sagte er: »Hätte wieder meins werden können.«

Tiger starrte auf das kleine Tier hinunter. Dann kam, ohne Vorwarnung, eine gewaltige Pranke hernieder, zerschlug den Brustkorb, sodass die übel riechenden Bruchstücke des Kadavers in alle Richtungen flogen, und hielt das kleine Tier am Boden fest; zappelnd wand es sich hin und her, konnte aber nicht entkommen.

»Du bist hier«, sagte Tiger, sein riesiger Kopf Nase an Nase mit dem winzigen Kopf des blassen Tieres, »du bist hier, weil ich dich dulde. Kapierst du das? Wenn du nämlich noch einmal etwas sagst, das mich ärgert, dann beiß ich dir den Kopf ab.«

»Mmmph«, sagte das wieselige Wesen.

»Das würde dir nicht gefallen, wenn ich dir den Kopf abbeiße, oder?«

»Nngk«, sagte das kleinere Tier. Seine Augen waren blassblau, zwei Eiswürfel, die glitzerten, während es sich unbehaglich unter dem Gewicht der großen Pranke wand.

»Versprichst du mir also, dass du dich benimmst und dass du still sein wirst?«, grollte Tiger. Er hob die Pranke ein klein wenig an, damit das andere Tier sprechen konnte.

»Aber klaro«, sagte das kleine weiße Ding in ausgesprochen höflichem Ton. Dann, in einer einzigen wieseligen Bewegung, drehte es sich um und schlug seine scharfen kleinen Zähne in Tigers Pranke. Tiger brüllte auf vor Schmerz, riss die Pranke zurück und schleuderte dadurch das kleine Tier hoch durch die Luft. Es prallte gegen die Höhlendecke, wurde von dort auf einen Felsvorsprung geworfen und schoss dann wie ein schmutziger weißer Blitz ins tiefe Innere der Höhle, wo die Decke sich sehr weit absenkte und es viele Verstecke für kleine Tiere gab, an die größere Tiere nicht herankamen.

Tiger stapfte so weit in die Höhle hinein, wie er noch bequem gehen konnte. »Glaubst du, ich kann nicht warten?«, fragte er. »Früher oder später musst du ja rauskommen. Ich rühr mich nicht vom Fleck.« Tiger legte sich hin. Er machte die Augen zu, und schon bald begann er recht überzeugende Schnarchgeräusche von sich zu geben.

Nachdem Tiger ungefähr eine halbe Stunde lang vor sich hingeschnarcht hatte, kam das blasse Tier hinter den Felssteinen hervorgekrochen und bewegte sich, von einem Schatten zum nächsten schlüpfend, auf einen großen Knochen zu, an dem noch eine Menge Fleisch hing, das man gut essen konnte, wenn man sich nicht an seinem etwas strengen Geruch störte, und das tat das blasse Tier nicht. Um allerdings zu dem Knochen zu gelangen, musste es an dem großen Tier vorbei. Es lauerte noch ein wenig im Schatten, dann schlich es auf kleinen leisen Sohlen los.

Als es auf Höhe des schlafenden Tigers war, kam eine Vorderpranke herausgeschossen, eine Klaue sauste auf den Schwanz des Geschöpfes nieder und nagelte ihn fest. Eine weitere Klaue hielt das kleine Wesen hinter dem Genick gepackt. Die große Katze öffnete die Augen. »Mal offen gesprochen«, sagte sie. »Es sieht so aus, als würden wir hier zusammen feststecken. Ich verlange daher von dir nichts weiter, als dass du dir ein bisschen Mühe gibst. Ich möchte bezweifeln, dass wir je Freunde werden, aber vielleicht können wir lernen, uns gegenseitig zu tolerieren.«

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte das kleine Frettchenwesen. »Was sein muss, muss sein, wie es heißt; Not kennt kein Gebot.«

»Das ist so ein Beispiel für das, was ich meine«, sagte Tiger. »Du musst einfach lernen, auch mal den Mund zu halten.«

»So hat doch alles«, sagte das kleine Tier, »auch seine guten Seiten.«

»Jetzt ärgerst du mich schon wieder«, sagte Tiger. »Ich habe doch versucht dir das klarzumachen: Verärgere mich nicht, und ich beiß dir nicht den Kopf ab.«

»Du benutzt schon zum wiederholten Mal die Wendung ›mir den Kopf abbeißen‹. Ich darf das doch wohl so verstehen, dass das irgendeine metaphorische Sprechweise ist, die so viel besagen will wie: dass du mich in so einem Fall dann anschreien wirst, womöglich sogar ziemlich laut und wütend?«

»Ich beiß den Kopf ab. Dann zerknack ich ihn. Dann kaue ich ihn. Dann schluck ich ihn runter«, sagte Tiger.

»Keiner von uns beiden kann hier weg, bis Anansis Kind vergisst, dass wir hier sind. So wie dieser Mistkerl es offenbar hingedreht hat, wirst du, selbst wenn ich dich am Morgen töte, bis zum späten Nachmittag wieder in diese verdammte Höhle hineingeboren werden. Geh mir also nicht auf die Nerven.«

Das kleine weiße Tier sagte: »Ach, na ja. Kommt Zeit…«

»Wenn du jetzt sagst »kommt Rat‹«, sagte Tiger, »dann werde ich ärgerlich, und das würde ernste Folgen haben.

Sage. Nichts. Was. Mich. Nervt. Hast du verstanden?«

Es folgte eine kurze Stille in der Höhle am Ende der Welt. Sie wurde dann beendet von einer kleinen wieseligen Stimme, die sagte: »Selbstverfreilich.«

Sie wollte noch »Aua!« sagen, wurde aber jäh und sehr wirkungsvoll zum Verstummen gebracht.

Und dann war an diesem Ort nichts mehr zu hören als knirschende Kaugeräusche.


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WAS IN DER EINSCHLÄGIGEN LITERATUR ÜBER Särge in der Regel überhaupt keine Erwähnung findet weil es, offen gesagt, auch kein Kaufargument für etwaige Interessenten ist –, ist die Tatsache, dass diese Särge wirklich sehr bequem sind.

Mr. Nancy war ausgesprochen zufrieden mit seinem Sarg. Nachdem alle Aufregung jetzt vorbei war, hatte er sich in seinen Sarg zurückgelegt, um gemütlich zu dösen. Hin und wieder wachte er auf und rief sich in Erinnerung, wo er war, dann drehte er sich auf die andere Seite und schlief weiter.

Das Grab ist, wie gesagt, ein angenehmer Ort ganz zu schweigen davon, dass man dort ganz und gar ungestört ist – und als solcher ausgezeichnet dafür geeignet, eine kleine Auszeit zu nehmen. Sechs Fuß unter der Erde, was Besseres gibt es nicht. Noch mal zwanzig Jahre oder so, dachte er, dann würde es vielleicht langsam Zeit werden, ans Aufstehen zu denken.

Er öffnete ein Auge, als die Beerdigung begann.

Er konnte sie über seinem Grab hören: Callyanne Higgler und die Bustamonte und diese andere, die dünne, gar nicht zu reden von der kleinen Horde Enkelkinder, Urenkelkinder und Ururenkelkinder, die alle miteinander seufzten und klagten und sich die Augen ausweinten für die verstorbene Mrs. Dunwiddy.

Mr. Nancy erwog, eine Hand durch die Erde zu stoßen und Callyanne Higgler am Fuß zu packen. Das war etwas, was er schon immer tun wollte, seit er, vor ungefähr dreißig Jahren, im Autokino Carrie gesehen hatte, aber jetzt, wo sich tatsächlich die Gelegenheit dazu bot, sah er sich imstande, der Versuchung zu widerstehen. Es war ihm, ehrlich gesagt, viel zu viel Aufstand. Sie würde doch nur schreien und einen Herzinfarkt kriegen und sterben, und dann wäre der verdammte Garten der Letzten Ruhe noch überfüllter als jetzt schon.

Das klang alles viel zu sehr nach Arbeit. Dabei warteten noch jede Menge schöner Träume darauf, geträumt zu werden in der Welt unter der Erde. Zwanzig Jahre, dachte er. Vielleicht fiinfundzwanzig. Bis dahin hatte er vielleicht sogar Enkelkinder. Es ist immer interessant zu sehen, nach wem die Enkelkinder ausschlagen.

Er hörte Callyanne Higgler klagen und einen mächtigen Radau veranstalten da oben. Dann unterbrach sie ihr Geheule gerade mal lange genug, um zu verkünden:

»Trotzdem, man kann nicht sagen, dass sie kein gutes und langes Leben gehabt hätte. Diese Frau war hundertdrei Jahre alt, als sie von uns gegangen ist.«

»Hunnertvier!«, keifte eine fuchsteufelswilde Stimme unter der Erde neben ihm.

Mr. Nancy streckte einen substanzlosen Arm aus und klopfte heftig gegen den neuen Sarg. »Immer mit der Ruhe da drüben«, bellte er. »Hier gibt es Leute, die gerne ein bisschen schlafen würden.«


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ROSIE HATTE gegenüber Spider unmissverständlich ihrer Erwartung Ausdruck verliehen, dass er sich einen festen Job suche, einen von der Sorte, wo man morgens aufsteht und irgendwo hingeht.

Eines Morgens also, am Tag, bevor Rosie aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte, stand Spider früh auf und begab sich in die Stadtbücherei. Er loggte sich in den Büchereicomputer ein, stöberte ein bisschen im Internet und räumte ganz vorsichtig alle noch bestehenden Konten von Grahame Coats aus, nämlich all diejenigen, die die Polizeikräfte mehrerer Kontinente bislang nicht aufgespürt hatten. Er veranlasste den Verkauf der Zuchthengstfarm in Argentinien. Er kaufte eine kleine Firma von der Stange, stattete sie mit dem erlösten Geld aus und beantragte den Status der Gemeinnützigkeit. Unter dem Namen Roger Bronstein verschickte er eine E-Mail und engagierte einen Anwalt, den er mit der Aufgabe betraute, die Geschäfte der Stiftung zu führen, verbunden mit dem Vorschlag, der Anwalt möge sich an Miss Rosie Noah wenden, ehemals in London wohnhaft, gegenwärtig in Saint Andrews aufhältig, und sie dazu anstellen, Gutes zu tun.

Rosie wurde eingestellt. Ihre erste Aufgabe bestand darin, Büroräume zu finden.

Anschließend verbrachte Spider volle vier Tage damit, den Strand entlangzulaufen (und nachts darauf zu schlafen), der den größten Teil der Insel umgab, und das Essen in jedem einzelnen der Restaurationsbetriebe, die ihm begegneten, zu kosten, bis er schließlich zu Dawson’s Fish Shack kam. Hier probierte er den gebratenen fliegenden Fisch, die gekochten grünen Feigen, das gegrillte Hühnchen und den Kokosnusskuchen, dann begab er sich in die Küche, stellte sich dem Chefkoch vor, der gleichzeitig der Betreiber des Restaurants war, und bot ihm Geld für eine Teilhaberschaft und dafür, dass er ihm Kochunterricht erteilte.

Dawson’s Fish Shack ist jetzt keine Bude mehr, sondern ein richtiges Restaurant, und Mr. Dawson hat sich zur Ruhe gesetzt. Manchmal ist Spider vorn im Gästebereich zu finden, manchmal hinten in der Küche; gehen Sie ruhig mal hin und schauen Sie nach, dann werden Sie ihn dort sehen. Das Essen ist das beste auf der ganzen Insel. Er ist dicker geworden, ist aber noch nicht so fett, wie er vielleicht mal sein wird, wenn er immer alles probiert, was er kocht.

Nicht, dass Rosie sich daran stören würde.

Sie ist teilweise als Lehrerin tätig, teilweise hilft sie aus, wo es nötig ist; vor allem aber tut sie viel Gutes, und falls

sie je Heimweh nach London hat, lässt sie sich jedenfalls nichts anmerken. Rosies Mutter dagegen vermisst London sehr und tut dies auch bei jeder Gelegenheit kund, doch wertet sie jeden Vorschlag, dass sie dann doch vielleicht in die Heimat zurückkehren möge, als hartherzigen Versuch, sie von ihren noch ungeborenen (und, das sei bei der Gelegenheit gesagt, auch noch nicht empfangenen) Enkelkindern zu trennen.

Nichts würde diesem Autor größeres Vergnügen bereiten, als der geschätzten Leserschaft zu versichern, dass Rosies Mutter, nachdem sie aus dem Tal der Todesschatten zurückgekehrt war, zu einer ganz neuen Persönlichkeit gereift sei, einer fröhlichen Frau, die für jeden ein freundliches Wort hat und deren neu entdeckte Lust am Essen nur übertroffen wird von ihrer Lust am Leben und allem, was es zu bieten hat. Aber ach, der Respekt für die Wahrheit gebietet vollkommene Aufrichtigkeit, und die Wahrheit ist die, dass Rosies Mutter, als sie aus dem Krankenhaus kam, ganz die Alte war, ebenso argwöhnisch und unnachsichtig wie eh und je, wenn auch weitaus gebrechlicher als zuvor, und außerdem hatte sie es sich angewöhnt, beim Schlafen das Licht anzulassen.

Sie verkündete, dass sie ihre Wohnung in London verkaufen und dorthin – an welchem Flecken der Welt es auch sei ziehen würde, wo Spider und Rosie wohnten, nur um ihren Enkelkindern nahe zu sein; und nachdem einige Zeit verstrichen war, begann sie gezielte Bemerkungen über das Ausbleiben dieser Enkelkinder zu machen, sowie auch über die Quantität und Motilität der Spider’schen Spermatozoen, über die Häufigkeit der geschlechtlichen Begegnungen zwischen Spider und Rosie und die dabei in Anwendung kommenden Stellungen und darüber, wie relativ kostengünstig und unkompliziert eine In vitro-Empfängnis sei. Dies ging so weit, dass Spider ernsthaft zu erwägen begann, nicht mehr mit Rosie ins Bett zu gehen, einfach, um Rosies Mutter zu ärgern. Er erwog dies etwa elf Sekunden lang an einem Nachmittag, als Rosies Mutter ihnen Fotokopien eines Zeitschriftenartikels überreichte, aus dem hervorging, dass Rosie nach dem Sex eine halbe Stunde lang auf dem Kopf stehen sollte; und als er am Abend Rosie von diesen Gedanken erzählte, lachte sie und versicherte ihm, dass ihre Mutter keinen Zugang zu ihrem Schlafzimmer habe und dass sie für nichts und niemanden gewillt sei, nach dem Sex auf dem Kopf zu stehen.

Mrs. Noah hat eine Wohnung in Williamstown, in der Nähe von Rosies und Spiders Haus, und zweimal die Woche kommt eine von Callyanne Higglers vielen Nichten, um nach dem Rechten zu schauen; sie putzt die Wohnung, staubt das Glasobst ab (das Wachsobst schmilzt bei den Temperaturen, die auf der Insel herrschen), kocht ein bisschen was und stellt das Essen in den Kühlschrank, und manchmal isst Rosies Mutter es und manchmal auch nicht.


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CHARLIE IST jetzt von Beruf Sänger, und er hat viel von seiner Weichheit verloren. Er ist ein schlanker Mann geworden, dessen Markenzeichen die Filzhüte sind. Er hat viele verschiedene Filzhüte, in verschiedenen Farben, sein Lieblingshut aber ist grün.

Charlie hat einen Sohn. Er heißt Marcus; er ist viereinhalb und besitzt jene tiefe Ernsthaftigkeit, über die auf der ganzen Welt nur kleine Kinder und Berggorillas verfügen.

Keiner sagt mehr »Fat Charlie« zu Charlie, und ehrlich gesagt, manchmal fehlt es ihm sogar ein bisschen.

Es war im Sommer, früh am Morgen, draußen war es schon hell. Es kamen auch schon Geräusche aus dem Nebenzimmer. Charlie ließ Daisy schlafen. Er stieg leise aus dem Rett, nahm sich ein T-Shirt und Shorts und ging nach nebenan, wo er seinen Sohn nackt auf der Erde sitzen und mit seiner kleinen Holzeisenbahn spielen sah. Gemeinsam schlüpften sie in ihre T-Shirts, Shorts und Latschen, Charlie setzte noch einen Hut auf, und dann gingen sie hinaus zum Strand.

»Daddy?«, sagte der Junge. Seine Stirn lag in Falten, er schien über etwas nachzugrübeln.

»Ja, Marcus?«

»Wer war der kürzeste Präsident?«

»Du meinst, von der Körpergröße her?«

»Nein. In, nach Tagen. Wer war der Kürzeste?«

»Harrison. Er hat sich bei der Amtseinführungszeremonie eine Lungenentzündung geholt und ist daran gestorben. Er war vierzig und ein paar Tage lang Präsident, und den größten Teil seiner Amtszeit hat er damit verbracht zu sterben.«

»Oh. Na gut, und wer war der Längste?«

»Franklin Delano Roosevelt. Der hat drei volle Amtsperioden abgeleistet. Während der vierten ist er gestorben. Komm, hier ziehen wir uns die Schuhe aus.«

Sie stellten ihre Schuhe auf einem Felsstein ab und gingen, die Zehen in den feuchten Sand grabend, weiter auf die Wellen zu.

»Wie kommt es, dass du so viel über Präsidenten weißt?«

»Das kommt daher, dass mein Vater fand, es wäre gut für mich, wenn ich mich für die Präsidenten interessiere, damals, als ich noch ein Kind war.«

»Oh.«

Sie wateten ins Wasser hinaus, auf einen Felsblock zu, der nur bei Ebbe zu sehen war. Nach einer Weile hob Charlie den Jungen hoch und ließ ihn auf seinen Schultern reiten.

»Daddy?«

»Ja, Marcus.«

»P’choona sagt, dass du berühmt bist.«

»Und wer ist Petunia?«

»Aus der Spielgruppe. Sie sagt, ihre Mama hat alle deine CDs. Sie sagt, sie liebt deinen Gesang.«

»Ah.«

»Bist du berühmt?«

»Nicht richtig. Ein bisschen nur.« Er stellte Marcus auf dem Felsblock ab, dann kletterte er selbst hinauf. »Okay. Bereit zum Singen?«

»Ja.«

»Was möchtest du denn singen?«

»Mein Lieblingslied.«

»Ich weiß nicht, ob sie das mag.«

»Ganz bestimmt.« Marcus besaß die Unerschütterlichkeit von Mauern, von Bergen.

»Okay. Lins, zwei, drei …«

Sie sangen zusammen »Yellow Bird«, was in dieser Woche Marcus’ Lieblingslied war. Danach sangen sie »Zombie Jamboree«, welches sein zweitliebstes, und »She’ll Be Coming Round the Mountain«, welches sein drittliebstes Lied war. Marcus, dessen Augen besser waren als Charlies, entdeckte sie, als »She’ll Be Coming Round the Mountain« zu Ende ging, und er begann zu winken.

»Da ist sie, Daddy.«

»Bist du sicher?«

Der Morgennebel ließ Meer und Himmel blassweiß ineinander verschwimmen, Charlie kniff die Augen zusammen und blickte Richtung Horizont. »Ich sehe gar nichts.«

»Sie ist unter Wasser getaucht. Sie ist bestimmt gleich hier.«

Plötzlich spritzte es, und sie kam an die Oberfläche, genau unter ihnen. Einmal hinaufgelangt, einmal gehüpft und einmal gewackelt, dann saß sie auf dem Fels neben ihnen, ihr silbrig glänzender Schwanz baumelte im Atlantik, wedelte Wasserperlen über ihre Schuppen. Sie hatte lange orangerote Haare.

Sie sangen jetzt alle zusammen, der Mann und der Junge und die Meerjungfrau. Sie sangen »The Lady Is a Tramp« und »Yellow Submarine«, und dann brachte Marcus der Meerjungfrau noch den Text des Fred-Feuerstein-Titelsongs bei.

»Er erinnert mich an dich«, sagte sie zu Charlie, »als du noch ein kleiner Junge warst.«

»Hast du mich denn damals gekannt?«

Sie lächelte. »Du und dein Vater, ihr seid immer am Strand spazieren gegangen. Dein Vater«, sagte sie. »Er war ein sehr bemerkenswerter Herr.« Sie seufzte. Meerjungfrauen können besser seufzen als jeder andere. Dann sagte sie: »Ihr solltet jetzt zurückgehen. Die Flut kommt bald.« Sie strich ihre langen Haare zurück und hechtete in den Ozean.

Sie hob den Kopf über die Wellen, hielt die Fingerspitzen an die Lippen und blies Marcus einen Kuss zu, bevor sie im Wasser verschwand.

Charlie nahm seinen Sohn wieder auf die Schultern, dann watete er durchs Wasser zum Strand zurück, wo Marcus von ihm herunter auf den Sand glitt. Er nahm seinen alten Filzhut ab, um ihn dem Kleinen auf den Kopf zu setzen. Er war viel zu groß für den Jungen, trotzdem brachte er ihn zum Lächeln.

»He«, sagte Charlie. »Willst du mal was sehen?«

»Okay, na gut. Aber dann will ich frühstücken. Ich möchte Pfannkuchen. Nein, ich möchte lieber Haferbrei. Ach nein, doch lieber Pfannkuchen.«

»Pass auf.« Charlie begann einen Soft-Shoe-Shuffle hinzulegen, einen Sandtanz mit nackten Füßen, schlurfend, schleppend, aber leichtfüßig.

»Das kann ich auch«, sagte Marcus.

»Ehrlich?«

»Ja klar, Daddy. Kucke!«

Und er konnte es, einwandfrei.

Gemeinsam tänzelten der Mann und der Junge durch den Sand zum Haus zurück, und dabei sangen sie ein Lied, ein Lied ohne Worte, das sie sich beim Singen erst ausdachten und das noch in der Luft nachschwang, als sie nach drinnen gegangen waren, um zu frühstücken.

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