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IN DEM WIR
DIE VIELEN
FOLGEN
DES
MORGENS DANACH
UNTERSUCHEN
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FAT CHARLIE hatte Durst.
Fat Charlie hatte Durst und sein Kopf brummte.
Fat Charlie hatte Durst und sein Kopf brummte, und er hatte einen fiesen Geschmack im Mund, und seine Augen saßen irgendwie zu fest im Kopf, und er hatte ein Stechen in allen Zahnen und außerdem Sodbrennen, und sein Rücken tat weh, aber so, dass es irgendwo um die Knie herum anfing und sich bis zur Stirn zog, und sein Gehirn war entfernt und durch Wattebäusche sowie Nadeln und Reißzwecken ersetzt worden, aus welchem Grunde es auch so schmerzhaft war, wenn er versuchte nachzudenken, und seine Augen saßen nicht nur zu fest im Kopf, sondern sie mussten in der Nacht herausgerollt und dann mit Dachdeckernägeln wieder befestigt worden sein: und jetzt stellte er fest, dass alles, was lauter war als die sanfte brownsche Bewegung von aneinander vorbeischwebenden Luftmolekülen, oberhalb seiner Schmerzschwelle lag. Außerdem hatte er den Wunsch, tot zu sein.
Fat Charlie öffnete die Augen, was insofern ein Fehler war. als es ihn mit dem Tageslicht konfrontierte, und das tat weh.
Es verriet ihm außerdem, wo er war (in seinem eigenen Bett, in seinem Schlafzimmer), und da es die Uhr auf dem Nachttisch war, auf die sein Blick fiel, erfuhr er außerdem, dass es 11:30 Uhr war.
Das, dachte er langsam, ein Wort nach dem anderen, war praktisch das Schlimmste, was passieren konnte: Er hatte einen Kater, wie ihn der Gott des Alten Testaments auf die Midianiler hätte niederfahren lassen mögen, und bei seiner nächsten Begegnung mit Grahame Coats würde er ohne jeden Zweifel die Mitteilung erhalten, dass er gefeuert war.
Er fragte sich, ob er am Telefon glaubwürdig krank klingen könnte, dann fiel ihm ein, dass die Herausforderung eher darin läge, glaubwürdig nach irgendwas anderem zu klingen.
Er konnte sich nicht erinnern, wie er letzte Nacht nach Hause gekommen war.
Er würde im Büro anrufen, sobald er sich auf die Telefonnummer besinnen konnte. Er würde sich entschuldigen – schwere Vierundzwanzigstundengrippe, die ihn niedergeworfen hatte, da war nichts zu machen …
»Weißt du«, sagte jemand im Bett neben ihm, »ich glaube, da steht eine Flasche Wasser auf deiner Seite. Kannst du die mal rüberreichen?«
Fat Charlie wollte erklären, dass es kein Wasser auf seiner Seite des Bettes gebe und tatsächlich sogar nicht die geringsten Wasservorkommen zwischen hier und dem Waschbecken im Badezimmer, und dort auch nur, wenn er zuerst den Zahnputzbecher desinfizieren würde, aber dann bemerkte er, dass er mehrere auf dem Nachttisch stehende Wasserflaschen im Blickfeld hatte. Er streckte die Hand aus und schloss die Finger, die freilich seinem Gefühl nach einer anderen Person anzugehören schienen, um eine der Flaschen und rollte sich dann, mit. einer Kraftanstrengung, die man normalerweise nur aufbietet, wenn man sich den letzten halben Meter einer steilen Felswand hochhievt, auf die andere Seite.
Es war Fräulein Wodka Orange.
Außerdem war sie nackt. Jedenfalls an den Stellen, die er sehen konnte.
Sie nahm das Wasser entgegen und zog die Decke hoch, um ihre Brust zu bedecken. »Danke. Ich soll dir sagen«, sagte sie, »wenn du aufwachst, dass du dir keinen Stress machen sollst, von wegen im Büro anrufen und sagen, dass du krank bist. Ich soll dir sagen, dass er sich darum schon gekümmert hat.«
Fat Charlie war keineswegs beruhigt. Seine Befürchtungen und Sorgen waren nicht zerstreut. Andererseits, in dem Zustand, in dem er sich befand, war in seinem Kopf nur Platz für eine Sorge, und die galt der Frage, ob er es rechtzeitig ins Bad schaffen würde oder nicht.
»Du brauchst mehr Flüssigkeit«, sagte das Mädchen.
»Du musst deine Elektrolyte auffüllen.«
Fat Charlie schaffte es noch rechtzeitig ins Bad. Hinterher stellte er sich, wo er schon einmal dort war, unter die Dusche und blieb dort, bis das Zimmer aufhörte, hin und her zu schwanken, dann putzte er sich die Zähne, ohne sich zu übergeben.
Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, war Fräulein Wodka Orange nicht mehr da, was Fat Charlie mit Erleichterung zur Kenntnis nahm, zumal er bereits die Hoffnung gehegt hatte, sie sei vielleicht nicht mehr als eine vom Restalkohol befeuerte Einbildung gewesen, so wie zum Beispiel rosa Elefanten oder die albtraumhafte Vorstellung, er wäre am Abend zuvor auf eine Bühne gestiegen, um zu singen.
Er konnte seinen Morgenmantel nicht finden, daher schlüpfte er in einen Trainingsanzug, in dem er sich angezogen genug fühlte, um einen Besuch der Küche, am anderen Ende des Flurs, zu wagen.
Sein Handy klingelte, und er wühlte in seiner Jacke, die neben dem Bett auf der Erde lag, bis er es gefunden hatte, und klappte es auf. Er grunzte unbestimmt in die Muschel, so anonym wie möglich, nur für den Fall, dass es jemand von der Grahame-Coats-Agentur war, der sich nach seinem Verbleib erkundigen wollte.
»Ich bin’s«, sagte Spiders Stimme. »Alles ist geregelt.«
»Du hast ihnen gesagt, dass ich tot bin?«
»Besser noch. Ich hab ihnen gesagt, dass ich du bin.«
»Aber.« Fat Charlie versuchte klar zu denken. »Du bist nicht ich.«
»He, das weiß ich. Ich hab ihnen gesagt, dass ich es bin.«
»Du siehst nicht mal aus wie ich.«
»Bruderherz, nun male die Dinge mal nicht schwärzer, als sie sind. Es ist alles unter Kontrolle. Upps. Muss Schluss machen. Der große Boss will mich sprechen.«
»Grahame Coats? Hör mal, Spider …«
Aber Spider hatte aufgelegt, und die Anzeige erlosch.
Fat Charlies Morgenmantel kam durch die Tür. Eine junge Frau steckte darin. An ihr sah der Mantel bedeutend besser aus als an ihm. Sie trug ein Tablett, auf dem ein Wasserglas mit einem sprudelnden Alka-Seltzer darin stand, dazu ein Becher mit irgendwas.
»Trink das beides«, sagte sie. »Den Becher zuerst. Einfach runterstürzen.«
»Was ist da drin?«
»Eigelb, Worcestersoße, Tabasco, Salz, Schuss Wodka und so«, sagte sie. »Die Rosskur. Und jetzt«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, »trink.«
Fat Charlie trank.
»O Gott«, sagte er.
»Ja«, bestätigte sie. »Aber du lebst noch.«
Er war sich da nicht so sicher. Trotzdem trank er das Alka-Seltzer. Plötzlich kam ihm ein Gedanke.
»Ähm«, sagte Fat Charlie. »Ähm. Hör mal. Letzte Nacht. Haben wir. Ähm.«
Sie blickte verständnislos.
»Haben wir was?«
»Haben wir. Du weißt schon. Es gemacht?«
»Soll das heißen, du weißt es nicht mehr?« Sie machte ein langes Gesicht. »Du hast gesagt, es wäre das Beste gewesen, was du je erlebt hättest. Es wäre so gewesen, als hättest du vorher noch nie mit einer Frau geschlafen. Du warst halb Gott, halb Tier, und halb Sexmaschine – einfach nicht abzustellen.«
Fat Charlie wusste nicht, wo er hingucken sollte. Sie kicherte.
»Ich zieh dich nur auf«, sagte sie. »Ich hatte deinem Bruder geholfen, dich nach Hause zu bringen, wir haben dich sauber gemacht und danach, na ja, du weißt schon.«
»Nein«, sagte er. »Ich weiß gar nichts.«
»Na ja«, sagte sie, »du warst völlig weggetreten, und das Bett ist ja groß genug. Ich weiß nicht genau, wo dein Bruder geschlafen hat. Er muss ja wohl eine Rossnatur haben.
Beim ersten Morgengrauen war er schon wieder hoch, fröhlich und vergnügt.«
»Er ist ins Büro gefahren«, sagte Fat Charlie. »Hat erzählt, dass er ich wäre.«
»Müssten die das nicht merken? Ich mein, ihr beide seid nicht gerade Zwillinge.«
»Offensichtlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. Dann sah er sie an. Sie streckte ihm eine kleine, extrem rosige Zunge entgegen.
»Wie heißt du?«
»Du meinst, das hast du auch vergessen? Ich weiß noch, wie du heißt. Du bist Fat Charlie.«
»Charles«, sagte er. »Charles reicht vollkommen.«
»Ich bin Daisy«, sagte sie und streckte die Hand aus.
»Freut mich, dich kennenzulernen.«
Sie schüttelten sich feierlich die Hände.
»Mir geht’s ein bisschen besser«, sagte Fat Charlie.
»Ich sag ja«, sagte sie. »Die Rosskur.«
SPIDER HATTE einen Riesenspaß im Büro. Er arbeitete sehr selten in Büros. Er arbeitete sehr selten überhaupt. Alles war neu für ihn, alles war wunderbar und fremd, von dem winzigen Lift, der ihn ruckelnd und schlingernd in den fünften Stock transportierte, bis zu den kaninchenbauartigen Büroräumen der Grahame-Coats-Agentur. Fasziniert starrte er auf den Glaskasten im Empfang, in dem staubige Preise ausgestellt waren. Er wanderte durch die Büroräume, und immer, wenn ihn jemand fragte, wer er sei, sagte er: »Ich bin Fat Charlie Nancy«, und er sagte es mit seiner Götterstimme, die alles, was er sagte, praktisch wahr werden ließ.
Er fand die Teestube und machte sich ein paar Tassen Tee. Diese trug er dann zurück zu Fat Charlies Schreibtisch, wo er sie; auf künstlerische Weise aufstellte und arrangierte. Er begann mit dem Computernetzwerk zu spielen. Er wurde nach einem Passwort gefragt. »Ich bin Fat Charlie Nancy«, teilte er dem Computer mit, aber da waren trotzdem viele Bereiche, zu denen ihm dieser keinen Zugang gewähren wollte, also sagte er: »Ich bin Grahame Coats«, und darauf öffnete er sich ihm wie eine Blume.
Er sah sich Sachen auf dem Computer an, bis es ihm langweilig wurde. Er bearbeitete Fat Charlies Eingangskorb. Er bearbeitete Fat Charlies Zu-erledigen-Korb.
Ihm fiel ein, dass Fat Charlie um diese Zeit wahrscheinlich aufwachen würde, also rief er ihn zu Hause an, um ihn zu beruhigen; gerade hatte er das Gefühl, dass er langsam zu ihm durchdrang, da steckte Grahame Coats seinen Kopf durch die Tür, fuhr mit den Fingern über seine hermelinartigen Lippen und gab Zeichen.
»Muss Schluss machen«, sagte Spider zu seinem Bruder.
»Der große Boss will mich sprechen.« Er legte auf.
»Private Telefongespräche während der Arbeitszeit, Nancy«, stellte Grahame Coats fest.
»Darauf könnense Gift nehmen«, bestätigte Spider.
»Und sollte ich das sein, den Sie mit ›der große Boss‹ bezeichnet haben?«, fragte Grahame Coats. Sie gingen bis zum Ende des Flurs und betraten sein Büro.
»Sie sind der Größte«, sagte Spider. »Und der Bossigste.« Grahame Coats machte ein verwirrtes Gesicht; er hatte den Verdacht, dass er zum Besten gehalten wurde, war sich jedoch nicht sicher, und das verunsicherte ihn.
»Nun, setzt Euch, nehmt Platz«, sagte er. Spider nahm Platz.
Es war Grahame Coats Gepflogenheit, die personelle Fluktuation in der Grahame-Coats-Agentur auf einem einigermaßen konstant hohen Niveau zu halten. Einige Leute kamen und gingen gleich wieder. Andere kamen und blieben grad so lange, dass sie kein Anrecht auf Kündigungsschutz erwerben konnten. Fat Charlie war schon länger da als jeder andere: ein Jahr und elf Monate. Einen Monat noch, dann würde er vielleicht Bekanntschaft mit Abfindungszahlungen und Arbeitsgerichten schließen können.
Jedes Mal, bevor Grahame Coats jemanden feuerte, hielt er eine Rede. Er war sehr stolz auf seine Ansprachen.
»In unser aller Leben«, begann er, »fällt hin und wieder etwas Regen. Doch auf jedes Gewitter folgt auch wieder Sonnenschein.«
»So hat denn alles«, parierte Spider, »auch eine gute Seite.«
»Ah. Ja. In der Tat. Nun. Während wir also dieses Tal der Tränen durchqueren, sollten wir uns die Zeit nehmen zu bedenken …«
»Dass das erste Mal«, sagte Spider, »immer das schwerste ist.«
»Was? Oh.« Grahame Coats versuchte sich darauf zu besinnen, was als Nächstes kam. »Das Glück«, erklärte er,
»ist wie ein Schmetterling.«
»Oder eine Drossel«, bestätigte Spider.
»Ganz recht. Wenn ich jetzt fortfahren dürfte?«
»Unbedingt. Nur zu«, sagte Spider fröhlich.
»Und das Glück jedes Einzelnen in der Grahame-Coats-Agentur ist mir ebenso wichtig wie mein eigenes.«
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen«, sagte Spider, »wie glücklich mich das macht.«
»Ja«, sagte Grahame Coats.
»Tja, dann sollte ich wohl wieder an die Arbeit gehen«, sagte Spider. »Aber es war wirklich ein tolles Gespräch.
Wenn Sie wieder mal etwas auf dem Herzen haben, sagen Sie einfach Bescheid. Sie wissen ja, wo ich bin.«
»Glück«, sagte Grahame Coats. Seine Stimme nahm einen leicht erstickten Charakter an. »Und was ich mich frage, Nancy, Charles, ist Folgendes sind Sie hier glücklich? Und finden Sie nicht auch, dass Sie anderswo vielleicht glücklicher sein könnten?«
»Das ist ganz und gar nicht das, was ich mich frage«, sagte Spider. »Wollen Sie wissen, was ich mich frage?«
Grahame Coats sagte nichts. So war das Gespräch noch nie verlaufen. Normalerweise machten sie an diesem Punkt ein langes Gesicht und verfielen in eine Art Schockstarre.
Manchmal fingen sie an zu weinen. Grahame Coats machte es nichts aus, wenn sie weinten.
»Was ich mich frage«, sagte Spider, »ist: Wozu sind die Konten auf den Cayman-Inseln? Es sieht ja fast so aus, als würde einiges von dem Geld, das auf die Konten unserer Klienten gehen sollte, stattdessen auf die Cayman-Insel-Konten fließen. Und das wäre doch auch eine komische Art, die Finanzen zu organisieren, dass man alle eingehenden Gelder auf diesen Konten parkt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich hatte gehofft, dass Sie mir das erklären können.«
Grahame Coats wurde bleich, sein Gesicht nahm eine Tönung an, die in Farbkatalogen unter der Bezeichnung »Pergament« oder »Magnolie« firmieren würde. Er sagte:
»Wie haben Sie Zugang zu diesen Konten erlangt?«
»Computer«, sagte Spider. »Sie machen einen wahnsinnig, geht Ihnen das auch so? Aber was soll man machen?«
Grahame Coats dachte nach. Bisher hatte er sich in dem Glauben gewiegt, dass seine Finanzgeschäfte derart verwickelt seien, dass das Betrugsdezernat, selbst im Falle, dass es ihm irgendwie auf die Schliche käme, große Probleme hätte, einem Geschworenengericht zu erläutern, worin genau denn die finanziellen Straftaten bestünden, die ihm zur Last zu legen seien.
»Es ist in keiner Weise illegal, Offshore-Konten zu unterhalten«, sagte er so leichthin wie möglich.
»Illegal?«, sagte Spider. »Das will ich doch hoffen, dass es das nicht ist. Ich meine, wenn ich irgendwas Illegales sehen würde, dann wäre ich ja gezwungen, bei der zuständigen Behörde Meldung zu machen.«
Grahame Coats nahm einen auf seinem Schreibtisch liegenden Kugelschreiber in die Hand, legte ihn gleich darauf wieder ab. »Ah«, sagte er. »Tja, so vergnüglich es ist, mit Ihnen zu plaudern, interessante Gespräche zu führen und überhaupt zu verkehren, Charles, haben wir beide, fürchte ich, genug Arbeit, die erledigt werden will. Denn eine verpasste Gelegenheit, nicht wahr, kehrt so schnell nicht wieder. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«
»Das Leben gehört zu den härtesten«, gab Spider zu bedenken, »aber die Zeit heilt alle Wunden.«
»Wie auch immer.«
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FAT CHARLIE begann sich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Er hatte keine Schmerzen mehr; er wurde nicht länger von langsamen, ihn mit penibler Gründlichkeit überschwemmenden Wellen der Übelkeit geplagt. Wenn er auch noch nicht davon überzeugt war, dass die Welt ein schöner und vergnüglicher Ort sei, so befand er sich jedenfalls nicht länger im neunten Kreis der Katerhölle, und das war eine gute Sache.
Daisy hielt das Bad in Beschlag. Er hatte dem Laufen der Wasserhähne gelauscht und wenig später vergnügtes Plätschern vernommen.
Er klopfte an die Badezimmertür.
»Ich bin hier«, sagte Daisy. »Ich sitze in der Wanne.«
»Ich weiß«, sagte Fat Charlie. »Ich meine, ich wusste es nicht, aber ich habe es mir gedacht.«
»Ja?«, sagte Daisy.
»Ich wollte nur wissen«, sagte er durch die Tür, »also, ich hab mich gefragt, warum du mit hierher gekommen bist. Letzte Nacht.«
»Na ja«, sagte sie. »Du warst ziemlich mitgenommen. Und dein Bruder schien ein bisschen Hilfe gebrauchen zu können. Ich muss heute Morgen nicht arbeiten, also. Voilà.«
»Voilà«, sagte Fat Charlie. Zum einen hatte sie Mitleid mit ihm gehabt. Zum anderen mochte sie Spider wirklich gern. Ja. Er hatte den Bruder erst seit etwas mehr als einem Tag, doch schon jetzt wurde er das Gefühl nicht los, dass diese neue geschwisterliche Beziehung kaum Überraschungen bergen würde. Spider war der Coole; er war der andere.
Sie sagte: »Du hast eine schöne Stimme.«
»Was?«
»Du hast im Taxi gesungen, als wir nach Haus gefahren sind. ›Unforgettable‹. Es war schön.«
Er hatte sich den Karaoke-Vorfall irgendwie aus dem Gedächtnis gestrichen, hatte ihn in jene dunklen Regionen abgedrängt, wohin Unangenehmes gern entsorgt wird. Jetzt kehrte die Erinnerung zurück, und er befand, dass das nicht nötig war, ganz und gar nicht.
»Du warst toll«, sagte sie. »Singst du nachher noch mal für mich?«
Fat Charlie dachte verzweifelt nach und wurde dann durch die Türklingel von seinem verzweifelten Nachdenken erlöst.
»Jemand an der Tür«, sagte er.
Er ging die Treppe hinunter, öffnete die Tür, und die Lage verschärfte sich. Rosies Mutter fixierte ihn mit einem Blick, von dem jede Milch sauer geworden wäre. Sie sagte nichts. Sie hielt einen großen weißen Umschlag in der Hand.
»Hallo«, sagte Fat Charlie. »Mrs. Noah. Schön, Sie zu sehen. Ähm.«
Sie rümpfte die Nase und hielt den Umschlag umklammert. »Oh«, sagte sie. »Du bist ja da. Und? Hast du die Absicht, mich hereinzubitten?«
Ach ja, dachte Fat Charlie. Euresgleichen muss ja immer hereingebeten werden. Sag einfach nein, dann bleibt ihr nichts anderes übrig, als wieder zu gehen.
»Aber natürlich, Mrs. Noah. Bitte, treten Sie ein.« Aha, so machen das also die Vampire. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Wenn du glaubst, dass du mich auf die Tour loswirst«, sagte sie, »dann hast du dich geschnitten.«
»Ah. Ist klar.«
Die schmale Treppe hinauf und in die Küche. Rosies Mutter blickte sich um und verzog das Gesicht, wie um anzuzeigen, dass diese Küche nicht ihren hygienischen Ansprüchen genügte, da sie offensichtlich essbare Nahrungsmittel enthielt. »Kaffee? Wasser?« Sag jetzt bloß nicht Wachsobst. »Wachsobst?« Verdammt.
»Ich hab von Rosie gehört, dass dein Vater kürzlich verstorben ist«, sagte sie.
»Ja. Das stimmt.«
»Als Rosies Vater starb, haben sie einen vierseitigen Nachruf in Köche und Küche gebracht. Sie meinten, die Einführung der karibischen Fusionsküche wäre ganz allein ihm zu verdanken gewesen.«
»Oh«, sagte er.
»Es ist auch nicht so, dass er mich arm zurückgelassen hätte. Er hatte eine Lebensversicherung, und ihm gehörten Anteile von zwei erfolgreichen Restaurants. Ich bin eine sehr wohlhabende Frau. Wenn ich mal sterbe, geht alles an Rosie.«
»Wenn wir verheiratet sind«, sagte Fat Charlie, »werde ich für sie sorgen. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Ich sage nicht, dass du nur wegen meinem Geld hinter Rosie her bist«, sagte Rosies Mutter in einem Ton, der erkennen ließ, dass es genau das war, was sie vermutete.
Fat Charlies Kopfschmerzen machten sich wieder bemerkbar. »Mrs. Noah, gibt es irgendwas, das ich für Sie tun kann?«
»Ich hab mit Rosie geredet, und wir haben beschlossen, dass ich euch ab jetzt mit den Hochzeitsvorbereitungen helfe«, sagte sie spröde. »Ich brauche eine Liste von deinen Leuten. Von denen du glaubst, dass du sie einladen kannst.
Namen, Adressen, E-Mail und Telefonnummern. Ich hab ein Formblatt gemacht, das du nur ausfüllen musst. Ich dachte, ich spar mir das Porto und steck es selber bei dir ein, weil ich sowieso an Maxwell Gardens vorbei musste. Hab nicht damit gerechnet, dich zu Hause anzutreffen.« Sie reichte ihm den großen weißen Umschlag. »Insgesamt werden neunzig Personen an der Hochzeit teilnehmen. Du hast Anspruch auf insgesamt acht Familienmitglieder und sechs private Freunde. Die privaten Freunde und vier Mitglieder werden den Tisch H einnehmen. Der Rest deiner Gruppe wird an Tisch C sitzen. Dein Vater hätte bei uns am Haupttisch gesessen, aber wo er jetzt gestorben ist, haben wir diesen Platz an Rosies Tante Winifred vergeben. Hast du dich schon für einen Trauzeugen entschieden?«
Fat Charlie schüttelte den Kopf.
»Also, wenn du so weit bist, sorg dafür, dass er keine ungehobelten Sachen in seiner Rede sagt. Ich will von deinem Trauzeugen nichts hören, was ich nicht auch in der Kirche hören würde. Hast du mich verstanden?«
Fat Charlie fragte sich, was Rosies Mutter für gewöhnlich in der Kirche hörte. Wahrscheinlich nur Schreie wie »Weiche zurück! Ausgeburt der Hölle!«, gefolgt von einem gekeuchten »Ist es am Leben?« und einer besorgten Anfrage, ob irgendjemand daran gedacht habe, die Holzpflöcke und den Hammer mitzubringen.
»Ich glaube«, sagte Fat Charlie, »ich habe mehr als zehn Verwandte. Ich meine, mit den Cousins und Großtanten und so.«
»Was dir offensichtlich nicht ganz klar ist«, sagte Rosies Mutter, »ist, dass Hochzeiten Geld kosten. Ich habe £175 pro Person für die Tische A bis D – Tisch A ist der Haupttisch – veranschlagt, womit Rosies engste Verwandte und mein Frauenclub abgedeckt wären, und £125 für die Tische E bis G, wo die entfernteren Bekannten sitzen, nicht wahr, die Kinder und so weiter und so fort.«
»Sie sagten, meine Freunde würden an Tisch H sitzen«, sagte Fat Charlie.
»Das ist die nächste Stufe darunter. Die werden keine Avocado-Shrimps als Vorspeise und keinen Sherry-Trifle kriegen.«
»Als Rosie und ich zuletzt darüber gesprochen haben, dachten wir, dass wir beim Essen generell in die westindische Richtung gehen würden.«
Rosies Mutter rümpfte die Nase. »Sie weiß manchmal selbst nicht, was sie will, dieses Mädchen. Aber sie und ich, wir sind uns jetzt völlig einig.«
»Hören Sie«, sagte Fat Charlie, »ich denke, ich sollte vielleicht noch mal mit Rosie über alles sprechen und mich dann bei Ihnen melden.«
»Füll du nur das Formular aus«, sagte Rosies Mutter. Dann fragte sie misstrauisch: »Warum bist du eigentlich nicht zur Arbeit?«
»Ich. Ähm. Ich bin heut nicht da. Will sagen, ich hab heut Morgen frei. Ich geh nicht ins Büro. Heute. Nicht.«
»Ich hoffe nur, dass du das auch Rosie gesagt hast. Sie hatte die Absicht, sich zum Lunch mit dir zu treffen, hat sie mir erzählt. Das war der Grund, warum sie nicht mit mir zu Mittag essen konnte.«
Fat Charlie schluckte die Information. »Ist klar«, sagte er. »Tja, danke, dass Sie mal vorbeigeschaut haben, Mrs. Noah. Ich werde mit Rosie sprechen und …«
Daisy trat in die Küche. Sie trug ein um den Kopf gewickeltes Handtuch und Fat Charlies Morgenmantel, der sich an ihren feuchten Körper schmiegte. Sie sagte: »Es ist Orangensaft da, oder? Ich meine, ich hätte welchen gesehen, als ich mich vorhin umgesehen hab. Was macht dein Kopf?
Geht’s besser?« Sie öffnete die Kühlschranktür und goss sich ein großes Glas Orangensaft ein.
Rosies Mutter räusperte sich. Es klang nicht unbedingt so, wie man sich ein Räuspern vorstellt. Es klang mehr nach Kieselsteinen, die von irgendwo herunterrasseln.
»Hallo«, sagte Daisy. »Ich bin Daisy.«
Die Raumtemperatur begann gefährlich zu sinken. »Tatsächlich?«, sagte Rosies Mutter. Eiszapfen hingen an dem abschließenden ch.
»Ich frage mich, wie man die Orangen genannt hätte«, sprach Fat Charlie in die Stille hinein, »wenn sie nicht orange wären. Ich mein, wenn sie eine bislang unbekannte blaue Frucht wären, hätte man sie dann Blauen genannt? Würden wir dann Blauensaft trinken?«
»Was?«, fragte Rosies Mutter.
»Du meine Güte. Du solltest mal hören, was dir so alles aus dem Mund kommt«, sagte Daisy fröhlich. »Okay. Ich geh mal und guck, ob ich meine Sachen finde. Hat mich echt gefreut.«
Sie ging hinaus. Fat Charlie nahm die Atmung vorerst nicht wieder auf.
»Wer«, sagte Rosies Mutter, vollkommen ruhig. »War. Das.«
»Meine Schwes… Cousine. Meine Cousine«, sagte Fat Charlie. »Sie ist für mich nur praktisch wie eine Schwester. Wir haben uns als Kinder sehr nahegestanden. Sie hat gestern Abend spontan beschlossen, hier reinzuschneien. Sie ist ein bisschen eine Wilde. Tja. Ja. Sie werden sie dann ja bei der Hochzeit sehen.«
»Ich werde sie für Tisch H vormerken«, sagte Rosies Mutter. »Da wird sie sich am wohlsten fühlen.« Sie sagte dies in einem Ton, in dem die meisten Leute gemeinhin Sachen sagen wie: »Möchtest du schnell sterben, oder soll ich Mongo erst noch seinen Spaß haben lassen?«
»Aha«, sagte Fat Charlie. »Tja«, sagte er. »Schön, dass Sie da waren. Tja«, sagte er, »Sie haben bestimmt noch jede Menge zu tun. Und«, sagte er, »ich muss dann mal los zur Arbeit.«
»Ich dachte, du hättest einen freien Tag.«
»Vormittag. Ich hab den Vormittag frei. Und der ist fast vorbei. Und ich müsste jetzt bald mal los, also auf Wiedersehen.«
Sie drückte ihre Handtasche an sich und stand auf. Fat Charlie folgte ihr hinaus auf den Flur.
»Schön, dass Sie vorbeigekommen sind«, sagte er.
Sie blinzelte, wie eine vom Lidkrampf geplagte Python blinzeln mag, bevor sie zustößt. »Auf Wiedersehen, Daisy«, rief sie. »Wir sehen uns auf der Hochzeit.«
Daisy, inzwischen in Höschen und BH und eben im Begriff, ein T-Shirt überzustreifen, lehnte sich in den Flur hinaus. »Alles Gute«, sagte sie und ging zurück in Fat Charlies Schlafzimmer.
Rosies Mutter sagte weiter nichts mehr, während Fat Charlie sie die Treppe hinunterführte. Er machte ihr die Tür auf, und als sie an ihm vorbeiging, sah er auf ihrem Gesicht etwas Schreckliches, etwas, das seinen Magen sich noch heftiger zusammenkrampfen ließ, als er es eh schon war: Es war etwas, das Rosies Mutter mit ihrem Mund anstellte. Er war in grausiger Verzerrung an den Rändern hochgezogen. Wie ein Totenkopf mit Lippen, so lächelte Rosies Mutter.
Er schloss die Tür hinter ihr, und dann stand er zitternd im Flur des Erdgeschosses. Schließlich ging er, wie ein Mann auf dem Weg zum elektrischen Stuhl, wieder die Treppe hinauf.
»Wer war denn das?«, fragte Daisy, die mittlerweile fast vollständig angezogen war.
»Die Mutter meiner Verlobten.«
»Das ist ja eine echte Frohnatur, wie?« Sie zog dieselben Sachen an wie am Abend zuvor.
»Willst du so zur Arbeit gehen?«
»Du meine Güte, nein. Ich fahr nach Hause und zieh mich um. Bei der Arbeit seh ich überhaupt nicht so aus wie jetzt. Kannst du mir ein Taxi bestellen?«
»In welche Richtung willst du?«
»Hendon.«
Er rief bei einem Taxidienst in der Nähe an. Dann setzte er sich auf den Fußboden im Flur und dachte über verschiedene, durch die Bank unausdenkbare Zukunftsszenarien nach.
Jemand stand neben ihm. »Ich hab ein paar Vitamin-B-Tabletten in meiner Tasche«, sagte sie. »Oder du könntest versuchen, an einem Löffel voll Honig zu saugen. Bei mir hat es noch nie gewirkt, aber meine Mitbewohnerin schwört darauf, wenn es um Katerbekämpfung geht.«
»Das ist es nicht«, sagte Fat Charlie. »Ich hab ihr erzählt, dass du meine Cousine bist. Damit sie nicht denkt, dass du meine, dass wir, na ja, du weißt schon, ein fremdes Mädchen in der Wohnung und so weiter.«
»Cousine, ja? Na, mach dir keinen Kopf. Wahrscheinlich hat sie mich eh bald vergessen, und falls nicht, sag ihr, dass
ich das Land bei Nacht und Nebel verlassen hätte. Du wirst mich nicht wiedersehen.«
»Echt? Versprochen?«
»Du brauchst nicht ganz so erfreut zu klingen.«
Draußen auf der Straße ertönte eine Autohupe. »Das wird mein Taxi sein. Steh auf und sag auf Wiedersehen.«
Er stand auf.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. Sie umarmte ihn.
»Ich glaube, mein Leben ist zu Ende«, sagte er.
»Nein, das stimmt nicht.«
»Ich bin geliefert.«
»Danke«, sagte sie. Und dann reckte sie sich und küsste ihn auf die Lippen, länger und fester, als es im Rahmen einer kurzen und flüchtigen Bekanntschaft schlechterdings vorgesehen sein kann. Dann lächelte sie, stieg munter die Treppe hinab und verließ das Haus.
»In Wirklichkeit«, sagte Fat Charlie laut, als die Tür zuging, »ist das wahrscheinlich alles gar nicht wahr.«
Er spürte sie noch immer auf seinen Lippen, schmeckte das Orangensaftund Himbeeraroma nach. Das war ein Kuss gewesen. Ein richtiger, ernsthafter Kuss. Da war, äh, Schmackes drin in diesem Kuss, wie er es noch nie in seinem Leben … nicht mal von …
»Rosie«, sagte er.
Er klappte sein Handy auf und gab ihre Kurzwahl ein.
»Hier ist Rosies Mobiltelefon«, sagte Rosies Stimme.
»Ich bin entweder beschäftigt oder ich habe das Telefon mal wieder verlegt. Und Sie haben die Mailbox erwischt.
Versuchen Sie’s bei mir zu Hause oder hinterlassen Sie eine Nachricht.« Fat Charlie klappte das Telefon wieder zu.
Dann zog er seinen Mantel über den Trainingsanzug und begab sich, nur kurz zusammenzuckend im Angesicht des brutalen Tageslichts, hinaus auf die Straße.
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ROSIE NOAH MACHTE SICH SORGEN, eine Tatsache. die ihr an sich bereits Sorgen bereitete. Es war, wie so vieles in Rosies Leben, ob sie es sich nun eingestand oder nicht, die Schuld ihrer Mutter.
Rosie hatte sich einigermaßen daran gewöhnt, in einer Welt zu leben, in der ihre Mutter absolut nichts für die Vorstellung übrig hatte, dass sie, Rosie, Fat Charlie Nancy heiratete. Den Widerstand ihrer Mutter gegen diese Ehe nahm sie als Zeichen dafür, dass sie sich auf dem rechten Wege befand, auch wenn sie sich selbst gar nicht mal so sicher war, ob das auch wirklich stimmte.
Und sie liebte ihn, selbstverständlich. Er war solide, verlässlich, zurechnungsfähig …
Dass ihre Mutter nun sozusagen eine Kehrtwende in Sachen Fat Charlie vollzogen hatte, bot Rosie Anlass zur Sorge, und die plötzliche Begeisterung ihrer Mutter für die Organisation der Hochzeit beunruhigte sie zutiefst.
Sie hatte Fat Charlie am Abend zuvor angerufen, um die Angelegenheit mit ihm zu besprechen, hatte ihn aber auf keinem seiner Telefone erreicht. Vielleicht, dachte Rosie, war er früh zu Bett gegangen.
Es geschah aus diesem Grund, dass sie ihre Mittagspause opferte, um mit ihm zu sprechen.
Die Grahame-Coats-Agentur beanspruchte das oberste Stockwerk eines grauen viktorianischen Gebäudes und war über fünf steile Treppenflüchte zu erreichen. Es gab aber auch einen Lift, einen altehrwürdigen Fahrstuhl, der vor hundert Jahren auf Veranlassung des Theateragenten Rupert »Binky« Butterworth installiert worden war. Es war ein extrem kleiner, langsamer und ruckelnder Lift, dessen gestalterische und funktionale Eigentümlichkeiten erst nachvollziehbar wurden, wenn man sich vor Augen führte, dass Binky Butterworth über die Größe und Gestalt eines stattlichen jungen Nilpferdes verfügt hatte, wie auch über dessen Fähigkeit, sich in enge Räume zu zwängen, und dass der Lift so angelegt war, dass er, mit viel Gedränge und knapper Not, Binky Butterworth und eine andere, sehr viel schlankere Person aufnehmen konnte: eine Revuetänzerin zum Beispiel, oder auch einen Revuetänzer – Binky war in diesem Punkt nicht wählerisch gewesen. Um Binky glücklich zu machen, war nichts weiter vonnöten gewesen als eine Person, die die Dienste der Theateragentur in Anspruch nehmen wollte und sich zu diesem Behufe mit Binky in den Lift zwängen ließ, um die sehr langsame und sehr ruckelige Fahrt nach oben, fünf Stockwerke hoch, anzutreten. Oft geschah es, dass Binky zum Zeitpunkt der Ankunft im Obergeschoss von den Belastungen der Fahrt so überwältigt war, dass er sich schleunigst ein wenig hinlegen musste, währenddessen die Revuetänzerin oder der Revuetänzer im Wartezimmer Däumchen drehte und sich besorgt fragte, ob das rotgesichtige Keuchen und unkontrollierte nach Luft Schnappen, das Binky während der Reise im Fahrstuhl entwickelt hatte, auf eine frühe edwardianische Art von Embolie hindeuten mochte.
Man ging immer nur einmal mit Binky Butterworth in den Lift, danach benutzte man die Treppe.
Grahame Coats, der die Überreste der Butterworth-Agentur vor über zwanzig Jahren von Binkys Enkelin erworben hatte, hielt dafür, dass der Lift ein unverzichtbarer Teil von deren Geschichte sei.
Rosie schlug die innere Ziehharmonikatür zu, schloss die äußere Tür und ging zur Rezeption, wo sie der Empfangsdame mitteilte, sie wünsche Charles Nancy zu sprechen. Zum Warten setzte sie sich vor eine Wand mit Fotografien, die Grahame Coats mit einigen seiner Klienten zeigten sie erkannte Morris Livingstone, den Komiker, einige einstmals berühmte Boygroups und eine Reihe von Sportstars, die gegen Ende ihrer Karriere zu »Persönlichkeiten« gereift waren – jene Sorte, die so viel aus dem Leben herausholt wie möglich, bis eine neue Leber verfügbar wird.
Ein Mann kam zum Empfang. Er sah nicht unbedingt aus wie Fat Charlie. Er war dunkler und er lächelte, als würde er sich über alles und jedes amüsieren tief und gefährlich amüsieren.
»Ich bin Fat Charlie Nancy«, sagte er.
Rosie ging auf Fat Charlie zu und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er sagte: »Kenne ich Sie?«, was im Grunde eine ziemlich merkwürdige Äußerung war, und dann sagte er: »Natürlich. Du bist Rosie. Und du wirst mit jedem Tag schöner«, und er erwiderte den Kuss, berührte ihre Lippen mit seinen. Ihre Lippen streiften sich nur, aber Rosies Herz begann so wild zu schlagen wie das von Binky Butterworth nach einer besonders ruckeligen Liftfahrt in engster Zweisamkeit mit einem Revuemädchen.
»Lunch«, quiekte Rosie. »Vorbeigekommen. Dachte, wir könnten uns unterhalten.«
»Yeah«, sagte der Mann, den Rosie nunmehr ganz und gar für Fat Charlie hielt. »Lunch.«
Er legte sehr selbstverständlich den Arm um Rosies Schultern. »Wo möchtest du denn essen?«
»Oh«, sagte sie. »Einfach. Wo du meinst.« Es war sein Geruch, dachte sie. Warum war ihr noch nie aufgefallen, wie sehr ihr sein Geruch gefiel?
»Wir werden schon was finden«, sagte er. »Nehmen wir die Treppe?«
»Falls es dir nichts ausmacht«, sagte sie, »würde ich, glaube ich, lieber den Lift nehmen.«
Sie knallte die Ziehharmonikatür zu, dann fuhren sie langsam und schaukelnd, eng aneinandergepresst, hinunter ins Erdgeschoss.
Rosie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so glücklich gewesen war.
Als sie auf die Straße traten, piepte Rosies Handy, um ihr anzuzeigen, dass sie einen Anruf verpasst hatte. Sie achtete nicht darauf.
Sie gingen in die erstbeste auf dem Weg liegende Gaststätte. Bis vor einem Monat war es ein hochtechnisiertes Sushi-Restaurant gewesen, mit einem Förderband, das einmal rund um den Raum führte und kleine rohe Fischhappen transportierte, deren Preis man an der Tellerfarbe erkennen konnte. Das japanische Restaurant hatte den Betrieb kürzlich eingestellt und war, typisch für Londoner Verhältnisse, sofort durch ein ungarisches ersetzt worden, das das Förderband als High-Tech-Ergänzung zur Welt der ungarischen Küche übernommen hatte, mit der Folge, dass nunmehr schnell abkühlende Schüsseln mit Gulasch oder Paprikaklößen und Schalen mit Sauerrahm gemessen durch die Räumlichkeit kreisten.
Rosie glaubte nicht, dass dieses Konzept sich durchsetzen würde.
»Wo warst du gestern Abend?«, fragte sie.
»Ich bin ausgegangen«, sagte er. »Mit meinem Bruder.«
»Du bist ein Einzelkind«, sagte sie.
»Eben nicht. Wie sich herausstellt, bin ich die Hälfte eines zusammengehörigen Paares.«
»Tatsächlich? Gehört das auch zur Hinterlassenschaft deines Vaters?«
»Liebling«, sagte der Mann, den sie für Fat Charlie hielt.
»Du hast ja keine Ahnung.«
»Nun gut«, sagte sie. »Ich hoffe, er kommt zur Hochzeit.«
»Ich glaube, das wird er sich um keinen Preis der Welt entgehen lassen.« Er umfasste ihre Hand, worauf sie um ein Haar den Gulaschlöffel fallen ließ. »Was hast du für den Rest des Nachmittags geplant?«
»Nichts Besonderes. Im Büro ist im Moment praktisch nichts los. Ein paar Bittanrufe um Spenden müssten gemacht werden, aber die können noch warten. Gibt es, äh, hast du, ähm. Warum?«
»Es ist so ein schöner Tag. Möchtest du ein bisschen spazieren gehen?«
»Das«, sagte Rosie, »wäre sehr schön.«
Sie wanderten hinunter zum Themseufer, wo sie Hand in Hand entlang der nördlichen Seite des Flusses spazierten und sich über nichts Bestimmtes unterhielten.
»Was ist mit deiner Arbeit?«, fragte Rosie, als sie einmal anhielten, um sich ein Eis zu kaufen.
»Ach«, sagte er. »Das geht schon klar. Wahrscheinlich merkt es gar keiner, dass ich nicht da bin.«
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FAT CHARLIE rannte die Treppe zur Grahame-Coats-Agentur hinauf. Er nahm immer die Treppe. Zum einen war es auf jeden Fall gesünder, und zum andern konnte er auf diese Weise nie wieder in die Verlegenheit geraten, mit jemand anders zusammen im Fahrstuhl fahren zu müssen, ohne angesichts der Enge so tun zu können, als würde er diese andere Person gar nicht bemerken.
Leicht keuchend betrat er den Empfangsbereich. »Ist Rosie hier gewesen, Annie?«
»Ist sie Ihnen abhanden gekommen?«, fragte die Empfangsdame.
Er ging zu seinem Büro. Sein Schreibtisch wirkte seltsam aufgeräumt. Der heillose Stapel noch nicht erledigter Korrespondenz war verschwunden. Ein gelber Post-itZettel klebte an seinem Computerbildschirm, darauf die Mitteilung »Ich möchte Sie sprechen. GC.«
Er klopfte an Grahame Coats’ Bürotür. Anders als vor einigen Tagen sagte diesmal eine Stimme: »Ja?«
»Ich bin’s«, sagte er.
»Ja«, sagte Grahame Coats. »Treten Sie näher, junger Mann. Bitte Platz zu nehmen. Ich habe sehr gründlich über unsere Unterhaltung von heute Morgen nachgedacht. Und es scheint mir, als hätte ich Sie bisher ganz falsch eingeschätzt. Sie arbeiten jetzt hier seit – wie lange …?«
»Fast zwei Jahre.«
»Sie haben lange und hart gearbeitet. Und jetzt noch das traurige Verscheiden Ihres werten Herrn Vaters …«
»Ich habe ihn eigentlich kaum gekannt.«
»Ah. Brave Einstellung, Nancy. Unter dem Gesichtspunkt, dass wir hier im Moment, saisonal bedingt, eine ruhige Phase haben, was würden Sie da zu dem Angebot sagen, mal ein paar Wochen freizunehmen? Bei vollem Lohn, wie sich wohl von selbst versteht?«
»Bei vollem Lohn?«, sagte Fat Charlie.
»Bei vollem Lohn, ja, aber ich verstehe, was Sie sagen wollen. Taschengeld. Sie könnten sicherlich noch ein bisschen Taschengeld gebrauchen, nicht wahr?«
Fat Charlie versuchte zu ergründen, in welches Universum es ihn verschlagen hatte. »Bin ich gefeuert?«
Da lachte Grahame Coats wie ein Wiesel, dem ein spitzer Knochen im Hals stecken geblieben ist. »Selbstverfreilich nicht. Ganz im Gegenteil. Ich glaube sogar«, sagte er,
»dass wir uns jetzt vollkommen verstehen. Ihr Job ist sicher. Sicher wie nur sonst was. Solange Sie dieses Muster an Umsicht und Diskretion bleiben, als das Sie sich bislang erwiesen haben.«
»Wie sicher ist nur sonst was?«, fragte Fat Charlie.
»Bombensicher.«
»Hoffen wir, dass die Bombe nicht hochgeht.«
»Nie im Leben«, sagte Grahame Coats. »Ich denke, Sie sollten einfach ein bisschen ausspannen.« Er reichte Fat Charlie ein rechteckiges Stück Papier. »Hier«, sagte er,
»ein kleines Dankeschön für zwei Jahre aufopferungsvolle Arbeit in Diensten der Grahame-Coats-Agentur.« Und dann, einfach weil er das immer sagte, wenn er jemandem Geld gab: »Geben Sie nicht alles mit einem Mal aus.«
Fat Charlie sah sich das Papier an. Es war ein Scheck.
»Zweitausend Pfund. Mensch. Ich meine, auf keinen Fall.«
Grahame Coats lächelte Fat Charlie zu. Falls ein gewisser Triumph in diesem Lächeln lag, war Fat Charlie zu verwirrt, zu aufgewühlt, zu sehr von den Socken, als dass er es bemerkt hätte.
»Gehen Sie mit Gott«, sagte Grahame Coats. Fat Charlie ging in sein Büro zurück.
Plötzlich war Grahame Coats wieder da, lehnte am Türrahmen, ganz lässig und beiläufig, wie ein Mungo vor einer Schlangengrube. »Eine kleine Frage noch. Falls, während Sie fort sind und es sich gut gehen lassen – eine Vorgehensweise, die ich Ihnen gar nicht eindringlich genug ans Herz legen kann –, für den Fall also, dass ich während dieser Zeit Zugang zu Ihren Dateien benötige, könnten Sie mir wohl sagen, welches Passwort Sie benutzen?«
»Ich glaube, mit Ihrem Passwort kommen Sie im System überall hin«, sagte Fat Charlie.
»Zweifellos«, bestätigte Grahame Coats unbekümmert.
»Aber nur für den Fall der Fälle. Sie wissen doch, wie es ist mit den Computern.«
»Meerjungfrau«. sagte Fat Charlie. »M-E-E-R-J-U-N-GF-R-A-U.«
»Ausgezeichnet«, sagte Grahame Coats. »Ganz ausgezeichnet.« Er rieb sich nicht die Hände, aber es fehlte nicht viel.
Fat Charlie ging die Treppe hinunter, in der Tasche einen Scheck über zweitausend Pfund, und er fragte sich, wie er sich zwei Jahre lang so sehr in Grahame Coats hatte täuschen können.
Er ging um die Ecke zu seiner Bank und ließ den Scheck auf sein Konto überschreiben.
Dann spazierte er hinunter zum Themseufer, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und nachzudenken.
Er war mit einem Schlag zweitausend Pfund reicher geworden. Die Kopfschmerzen von heute Morgen waren vollständig verschwunden. Er fühlte sich gefestigt und glücklich. Er fragte sich, ob er Rosie würde überreden können, mit ihm auf eine kleine Urlaubsreise zu gehen. Es war zwar reichlich kurzfristig, aber dennoch …
Und dann sah er Spider und Rosie, Hand in Hand auf der anderen Straßenseite gehend. Rosie war mit einem Speiseeis beschäftigt. Jetzt blieb sie stehen und warf den Rest der Eistüte in einen Abfallkorb, dann zog sie Spider an sich und begann ihn mit ihrem eisverschmierten Mund hingebungsvoll zu küssen.
Fat Charlie spürte, wie seine Kopfschmerzen zurückkehrten. Er war wie gelähmt.
Er sah ihnen beim Küssen zu. Er war der Meinung, dass sie früher oder später würden Atem schöpfen müssen, aber dem war offenbar nicht so, also ging er, hundeelend, in die andere Richtung, bis er zur U-Bahn-Station kam.
Und fuhr nach Hause.
Als er dort ankam, fühlte Fat Charlie sich ziemlich erledigt, daher legte er sich auf sein Bett, das noch immer leicht nach Daisy roch, und schloss die Augen.
Es verging einige Zeit, und dann spazierte Fat Charlie auf einmal an einem Sandstrand entlang, zusammen mit seinem Vater. Sie waren barfuß. Er war wieder ein Kind, und sein Vater war alterslos.
Na, sagte sein Vater gerade, wie verstehst du dich denn so mit Spider?
Dies ist ein Traum, stellte Fat Charlie klar, und ich möchte nicht darüber reden.
Ach, ihr Jungen, sagte sein Vater kopfschüttelnd. Hör zu, ich werde dir jetzt etwas Wichtiges erzählen.
Was denn?
Aber sein Vater antwortete nicht. Etwas am Rande der Wellen hatte seine Aufmerksamkeit erregt, er bückte sich und hob es auf. Fünf spitze Beine beugten und streckten sich träge.
Ein Seestern, sagte sein Vater nachdenklich. Wenn man ihn in zwei Teile schneidet, wachsen daraus zwei neue Seesterne.
Ich dachte, du wolltest mir etwas Wichtiges erzählen.
Sein Vater griff sich an die Brust, dann brach er zusammen, fiel auf den Sand und bewegte sich nicht mehr. Würmer krochen aus dem Sand und verspeisten ihn in Sekundenschnelle, ließen nur die Knochen übrig.
Dad?
Fat Charlie erwachte in seinem Schlafzimmer, die Wangen tränennass. Sofort hörte er auf zu weinen. Es gab keinen Grund zur Aufregung. Sein Vater war nicht gestorben, das war ja nur ein böser Traum gewesen.
Er beschloss, Rosie für morgen Abend zu sich einzuladen. Sie würden Steak essen. Er würde es zubereiten. Alles würde gut werden.
Er stand auf und zog sich an.
Er war in der Küche und löffelte gerade eine Fertigsuppe hinunter, als ihm, zwanzig Minuten später, ins Bewusstsein trat, dass zwar das Ereignis am Strand nur ein Traum gewesen, sein Vater aber trotzdem tot war.
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AM SPÄTEN NACHMITTAG MACHTE ROSIE einen Besuch bei ihrer Mutter in der Wimpole Street.
»Ich habe deinen Freund heute gesehen«, sagte Mrs. Noah. Ihr Vorname hatte ursprünglich Eutheria gelautet, aber seit drei Jahrzehnten war sie damit nicht mehr angeredet worden, außer von ihrem verstorbenen Ehemann, nach dessen Tod der Name dann vollends verkümmert war und nun bis zu ihrem Tod vermutlich keine Verwendung mehr finden würde.
»Ich auch«, sagte Rosie. »Mein Gott, wie ich diesen Mann liebe.«
»Na ja, natürlich. Du willst ihn schließlich heiraten, nicht wahr?«
»Nun, ja. Ich meine, ich wusste immer, dass ich ihn liebe, aber heute habe ich erst richtig erkannt, wie sehr ich ihn liebe. Alles an ihm.«
»Hast du herausgefunden, wo er gestern Abend war?«
»Ja. Er hat mir alles erklärt. Er ist mit seinem Bruder ausgegangen.«
»Ich wusste gar nicht, dass er einen Bruder hat.«
»Er hat vorher nie über ihn gesprochen. Sie stehen sich nicht sehr nahe.«
Rosies Mutter schnalzte mit der Zunge. »Da scheint ja ein ordentliches Familientreffen im Gange zu sein. Hat er auch von seiner Cousine erzählt?«
»Cousine?«
»Vielleicht auch seine Schwester. Er schien sich da nicht ganz sicher zu sein. Hübsches Ding, auf die billige Art. Sah ein bisschen chinesisch aus. Weiß Gott keine Heilige, wenn du mich fragst. Aber das kann man ja wohl für die ganze Familie sagen.«
»Mama. Du bist seiner Familie noch nie begegnet.«
»Ich bin ihr begegnet. Sie war in der Küche heute Morgen. Ist so gut wie nackt in der Wohnung rumgelaufen.
Schamlos. Falls sie wirklich seine Cousine ist.«
»Fat Charlie würde nicht lügen.«
»Er ist ein Mann, oder?«
»Mama!«
»Und überhaupt, warum war er denn heute nicht im Büro?«
»War er. Er war heute im Büro. Wir haben zusammen Mittag gegessen.«
Rosies Mutter überprüfte ihre Lippenbemalung mit Hilfe eines Taschenspiegels, wischte dann mit dem Zeigefinger einige scharlachrote Flecken von den Vorderzähnen.
»Was hast du sonst noch zu ihm gesagt?«, fragte Rosie.
»Wir haben nur über die Hochzeit gesprochen. Ich hab ihm klargemacht, dass sein Trauzeuge keine von diesen gewagten Reden hart an der Grenze halten soll. Für mich sah er so aus, als hätte er getrunken. Du weißt, ich hab dich davor gewarnt, einen Trinker zu heiraten.«
»Nun, als ich ihn gesehen habe, machte er einen einwandfreien Eindruck«, sagte Rosie steif. Dann: »Ach, Mama, ich hab so einen schönen Tag gehabt. Wir sind spazieren gegangen, haben geredet und oh, hab ich schon mal erzählt, wie wunderbar er riecht? Und er hat die weichsten Hände der Welt.«
»Wenn du mich fragst«, sagte ihre Mutter, »riecht er nicht ganz astrein. Pass auf, wenn du ihn das nächste Mal siehst, sprich ihn auf seine Cousine an. Ich sag nicht, dass sie seine Cousine ist, und ich sag auch nicht, dass sie’s nicht ist. Ich will nur sagen, wenn sie’s ist, dann hat er Huren und Stripperinnen und leichte Mädchen in der Familie und wäre keine Person, mit der du dich näher einlassen solltest.«
Rosie war jetzt wohler, seit ihre Mutter wieder begonnen hatte, über Fat Charlie herzuziehen. »Mama. Ich will nichts mehr davon hören.«
»Na schön. Ich halt den Mund. Ich bin ja schließlich nicht diejenige, die ihn heiraten will. Die ihr Leben wegwerfen will. Die, die nachts in ihr Kissen weint, während er sich mit seinen Geliebten herumtreibt und sich betrinkt. Ich bin nicht diejenige, die einsam Tag für Tag und Nacht für Nacht darauf wartet, dass er aus dem Gefängnis entlassen wird.«
»Mama!« Rosie versuchte empört zu sein, aber die Vorstellung, Fat Charlie würde im Gefängnis sitzen, war einfach zu lustig und absurd, sodass sie sogar an sich halten musste, um nicht laut zu lachen.
Rosies Handy trillerte. Sie meldete sich, kurz darauf sagte sie »Ja« und »Würde ich gerne. Das wäre wunderbar.« Dann steckte sie das Handy wieder weg.
»Das war er«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Ich besuche ihn morgen Abend. Er kocht für mich. Ist das nicht lieb?« Und dann sagte sie: »Gefängnis, also wirklich.«
»Ich bin eine Mutter«, sagte ihre Mutter in ihrer nahrungsmittellosen Wohnung, in der kein Staubkorn es wagte, sich niederzulassen, »und ich weiß, was ich weiß.«
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GRAHAME COATS saß in seinem Büro, während die Dämmerung den Tag verdrängte, und starrte auf einen Computerbildschirm. Er rief ein Dokument nach dem anderen auf, eine Tabellenkalkulation nach der anderen. Bei einigen nahm er Änderungen vor. Die meisten löschte er.
Eigentlich hätte er an diesem Abend nach Birmingham fahren sollen, wo ein ehemaliger Fußballer, ein Klient von ihm, einen Nachtclub eröffnen wollte. Er rief dort an und sagte mit Bedauern ab: Es gibt halt Dinge, die dulden keinen Aufschub.
Bald war das Tageslicht jenseits des Fensters ganz verschwunden. Grahame Coats saß im kalten Schimmer des Bildschirms, er änderte, er überschrieb, er löschte.
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HIER IST NOCH EINE ANDERE GESCHICHTE, die man sich von Anansi erzählt.
Vor langer, langer Zeit pflanzte Anansis Ehefrau einmal ein Erbsenfeld an. Es waren die besten, die dicksten und die grünsten Erbsen, die du je gesehen hast. Bei ihrem bloßen Anblick wäre dir schon das Wasser im Mund zusammengelaufen.
Von dem Augenblick an, da Anansi das Feld sah, gelüstete es ihn nach den Erbsen. Und er wollte nicht nur ein paar von den Erbsen haben, denn Anansi war ein Mann mit gewaltigem Appetit. Nein, er wollte nicht teilen. Er wollte sie alle.
Also legte Anansi sich auf sein Bett nieder, und er begann zu seufzen, lang und lang und laut, sodass seine Frau und seine Söhne alle herbeigelaufen kamen. »Ich lieg im Sterben«, sagte Anansi mit einer ganz sterbensschwachen Stimme, »und mein Leben ist aus und vorbei.«
Und seine Frau und seine Söhne vergossen heiße Tränen. Mit seiner schwachen Flüsterstimme sagt Anansi: »Auf meinem Totenbett müsst ihr mir zwei Dinge versprechen.«
»Alles, alles was du willst«, sagen seine Frau und seine Söhne.
»Als Erstes müsst ihr mir versprechen, dass ihr mich unter dem großen Brotfruchtbaum begrabt.«
»Meinst du den großen Brotfruchtbaum unten beim Erbsenfeld?«, fragte seine Frau.
»Natürlich, welchen denn sonst«, sagt Anansi. Dann, wieder mit seiner schwachen Stimme, sagt er: »Und ihr müsst mir noch was versprechen. Versprecht mir, dass ihr, mir zum Angedenken, ein kleines Feuer am Fuße meines Grabes anzündet. Und um zu zeigen, dass ihr mich nicht vergessen habt, sollt ihr das kleine Feuer immer unterhalten und es nicht ausgehen lassen.«
»Ja, das wollen wir gerne tun!«, sagten Anansis Frau und seine Kinder klagend und schluchzend.
»Und auf diesem Feuer möchte ich, als Zeichen des Respekts und eurer Liebe, einen kleinen Topf voll Salzwasser sehen, der euch an all die heißen salzigen Tränen erinnern soll, die ihr um mich vergießt an meinem Sterbebett.«
»Ja, auch das werden wir tun!«, schluchzten sie, und dann machte Anansi die Augen zu und hörte auf zu atmen.
Ja, sie trugen Anansi also zu dem großen Brotfruchtbaum, der neben dem Erbsenfeld wuchs, und sie begruben ihn sechs Fuß tief, und am Fuß des Grabes machten sie ein kleines Feuer und stellten einen Topf voll Salzwasser daneben.
Anansi, der wartet den ganzen Tag unter der Erde, aber sobald die Nacht anbricht, steigt er aus dem Grab, und er geht ins Erbsenfeld, wo er sich die dicksten, süßesten und reifsten Erbsen pflückt. Er sammelt sie und dann kocht er sie in seinem Topf, und er stopft sich voll damit, bis sein Bauch anschwillt und sich spannt wie das Fell einer Trommel.
Dann, vor Sonnenaufgang, geht er wieder unter die Erde, legt sich schlafen. Als seine Frau und seine Söhne bemerken, dass die Erbsen verschwunden sind, schläft er; als sie den leeren Topf finden und wieder auffüllen, schläft er. Er schläft die ganze Zeit, während sie trauern und voller Kummer sind.
Jede Nacht kommt Anansi aus seinem Grab heraus, tanzt und freut sich über seine Schlauheit, und jede Nacht füllt er den Topf mit Erbsen, stopft sich den Bauch mit Erbsen voll und isst, bis nichts mehr in ihn reinpasst.
Die Tage vergehen, und Anansis Familie wird immer dünner, denn sie haben nichts zu essen, weil alle Früchte, sobald sie heranreifen, in der Nacht von Anansi gepflückt werden.
Anansis Frau blickt auf die leeren Teller, und sie sagt zu ihren Söhnen: »Was würde euer Vater tun?«
Ihre Söhne denken scharf nach, und sie rufen sich alle Geschichten in Erinnerung, die Anansi ihnen jemals erzählt hat. Dann gehen sie hinunter zu den Teergruben und kaufen für sechs Pennies Teer, genug, um vier große Eimer zu füllen, und mit diesem Teer kehren sie zurück zum Erbsenfeld. Und genau in der Mitte des Erbsenfeldes basteln sie einen Mann aus Teer: Teergesicht, Teeraugen, Teerarme, Teerfinger und Teerbrust. Es war ein großartiger Mann, ebenso schwarz und ebenso stolz wie Anansi selbst.
In dieser Nacht kommt der alte Anansi, fett wie nie zuvor in seinem Leben, aus der Erde gekrochen, und er schlendert behäbig und zufrieden, der Bauch angeschwollen wie eine Trommel, aufs Erbsenfeld.
»Wer bist’n du?«, sagt er zu dem Teermann.
Der Teermann sagt kein einziges Wort.
»Das hier gehört mir«, sagt Anansi zu dem Teermann.
»Das ist mein Erbsenfeld. Verschwinde lieber, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
Der Teermann sagt kein Wort, er rührt keinen Muskel.
»Ich bin der stärkste und mächtigste Bursche, den es je gegeben hat und je geben wird«, sagt Anansi zu dem Teermann. »Ich bin wilder als Löwe, schneller als Cheetah, stärker als Elefant, schrecklicher als Tiger.« Er schwoll an vor Stolz über seine Macht, seine Kraft und seine Wildheit, und er vergaß, dass er nur eine kleine Spinne war. »Erzittre«, sagt Anansi. »Erzittre und lauf weg.«
Der Teermann zitterte nicht und er lief nicht weg. Stand einfach nur da, ehrlich gesagt.
Da schlägt Anansi zu. Anansis Faust steckt fest.
»Lass meine Hand los«, sagte er zu dem Teermann.
»Lass los, sonst schlag ich dir ins Gesicht.«
Der Teermann sagt wieder kein Wort, und er rührt nicht den kleinsten Muskel, und Anansi schlägt ihn, Wusch!, mitten ins Gesicht.
»Okays sagt Anansi. »Spaß muss sein. Du kannst meine Hände festhalten, wenn du willst, aber ich hab noch vier Hände mehr und zwei kräftige Beine, die kannst du nicht alle festhalten, also lass mich jetzt los, dann tu ich dir auch nichts weiter.«
Der Teermann lässt Anansis Hände nicht los und er sagt auch immer noch kein Wort, also schlägt Anansi ihn mit allen seinen Händen und dann tritt er ihn mit den Füßen, erst mit dem einen, dann mit dem andern.
»Okay«, sagt Anansi. »Lass mich los, oder ich beiß dich.« Der Teer klebt in seinem Mund, bedeckt seine Nase und sein Gesicht.
Und so finden sie Anansi also am nächsten Morgen, seine Frau und seine Kinder, als sie zum Erbsenfeld neben dem alten Brotfruchtbaum kommen: Er klebt mit allen Gliedern am Teermann und ist mausetot.
Sie wunderten sich nicht, ihn in dieser Lage zu sehen.
Zu jener Zeit hat man Anansi andauernd so aufgefunden.