KAPITEL ACHT

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IN DEM EIN

BECHER KAFFEE

SICH ALS

ÜBERAUS

NÜTZLICH

ERWEIST

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FALLS IRGENDWELCHE Umtriebe im Gange waren, Spider zu vertreiben, bemerkte er davon nichts. Im Gegenteil, Spider hatte extrem viel Spaß daran, Fat Charlie zu sein. So außerordentlich unterhaltsam war es, Fat Charlie zu sein, dass er sich zu fragen begann, warum er nicht schon viel eher damit angefangen hatte. Es war lustiger als ein Fass voller Affen. ∗


∗ Einige Jahre zuvor hatte Spider eine große Enttäuschung mit einem Fass voller Affen erlebt. Dieses hatte nämlich absolut nichts geleistet, was er als sonderlich unterhaltsam empfunden hätte, abgesehen von den interessanten Geräuschen, die aus ihm herausdrangen, und am Ende, nachdem die Geräusche aufgehört hatten und die Affen gar nichts mehr machten – es sei denn, auf unterster organischer Ebene –, musste das Fass sogar noch klammheimlich zum Verschwinden gebracht werden.


Was Spider am besten daran gefiel, Fat Charlie zu sein, war Rosie.

Bisher hatte Spider Frauen als mehr oder weniger austauschbar betrachtet. Man nannte ihnen selbstredend keinen richtigen Namen oder eine Adresse, die länger gültig war als eine Woche, oder überhaupt irgendetwas, das über eine jederzeit wegwerfbare Handynummer hinausging. Frauen machten Spaß, sie waren dekorativ, wunderbare Accessoires, aber es gab ja so viele davon und immer wieder neue, wie Schüsseln mit Gulasch, die per Förderband an einem vorbeigetragen wurden: Wenn man mit einer fertig war, nahm man einfach die nächste und schlug seinen Sauerrahm hinein.

Aber Rosie … Rosie war anders.

Er konnte gar nicht sagen, inwiefern sie anders war. Versucht hatte er es, aber es war ihm nicht gelungen. Zum Teil hatte es wohl damit zu tun, wie er sich fühlte, wenn er mit ihr zusammen war: als würde er, indem er sich durch ihre Augen sah, ein ganz und gar besserer Mensch werden. Das war, wie gesagt, ein Aspekt der Angelegenheit.

Spider gefiel es zu wissen, dass Rosie wusste, wo sie ihn finden konnte. Das war ein behagliches Gefühl. Er erfreute sich an ihren kissenweichen Rundungen, an ihrer Art, die es immer nur gut meinte mit der Welt, an ihrem Lächeln. An Rosie gab es wirklich nichts auszusetzen, abgesehen davon, dass man zwischendurch ohne sie auskommen musste, und abgesehen natürlich auch, wie er jetzt zu ahnen begann, von der Sache mit Rosies Mutter. Genau an diesem Abend, während Fat Charlie auf einem sechstausend Kilometer entfernten Flughafen im Begriff war, auf Grund eines Versehens in die erste Klasse hinaufgestuft zu werden, befand sich Spider in Rosies Mutters Wohnung in der Wimpole Street und erfuhr auf die harte Tour, was es mit ihr auf sich hatte.

Spider war daran gewöhnt, dass er die Realität ein bisschen herumschubsen konnte, ein kleines Stück nur, aber das reichte eigentlich immer. Man musste der Realität einfach nur zeigen, wer hier der Boss war, das war alles. Noch nie aber hatte er jemanden kennengelernt, der so fest in seiner eigenen Realität verankert war wie Rosies Mutter.

»Wer ist das?«, fragte sie argwöhnisch, als sie die Wohnung betraten.

»Ich bin Fat Charlie Nancy«, sagte Spider.

»Warum sagt er das?«, fragte Rosies Mutter. »Wer ist er?«

»Ich bin Fat Charlie Nancy, Ihr zukünftiger Schwiegersohn, und Sie mögen mich sehr«, sagte Spider mit fester Überzeugung.

Rosies Mutter schwankte und blinzelte und starrte ihn an. »Kann sein, dass Sie vielleicht Fat Charlie sind«, sagte sie zögerlich, »aber mögen tu ich Sie nicht.«

»Nun«, sagte Spider, »das sollten Sie aber. Ich bin außerordentlich liebenswert. Es hat noch nicht viele Leute gegeben, die so liebenswert und beliebt waren wie ich. Es gibt, offen gestanden, keine Grenzen meiner Beliebtheit. Die Menschen strömen zusammen und sprechen in öffentlichen Versammlungen darüber, wie sehr sie mich mögen.

Ich besitze mehrere Auszeichnungen und eine Medaille, die mir von einem kleinen Land in Südamerika verliehen wurde, in Würdigung sowohl meiner extrem großen Beliebtheit als auch meiner allgemeinen und umfassenden Großartigkeit. Ich habe sie jetzt natürlich nicht bei mir. Ich bewahre meine Medaillen in meiner Sockenschublade auf.«

Rosies Mutter rümpfte die Nase. Sie wusste nicht, was hier vorging, aber was es auch war, es gefiel ihr überhaupt nicht. Bisher hatte sie eigentlich zu wissen geglaubt, wie sie Fat Charlie einzuschätzen hatte. Gut möglich, gestand sie sich ein, dass sie die Dinge am Anfang ein bisschen falsch angepackt hatte: Möglicherweise hätte Rosie sich nicht mit solcher Begeisterung an Fat Charlie gehängt, wenn sie, ihre Mutter, im Anschluss an ihre erste Begegnung mit Fat Charlie ihre Meinung über ihn nicht ganz so krass zum Ausdruck gebracht hätte. Er sei ein Versager, ein Loser, hatte Rosies Mutter gesagt, denn sie konnte Furcht riechen, wie der Hai einen Blutstropfen durch die ganze Bucht wittert. Aber sie hatte Rosie nicht dazu überreden können, ihm den Laufpass zu geben, und daher konzentrierte ihre Strategie sich jetzt darauf, die Kontrolle über die Hochzeitsvorbereitungen zu übernehmen, Fat Charlie das Leben so schwer wie möglich zu machen und die nationalen Scheidungsstatistiken mit einer gewissen grimmigen Befriedigung zur Kenntnis zu nehmen.

Doch jetzt ging etwas anderes vor, und es gefiel ihr nicht. Fat Charlie war keine füllige, verwundbare Person mehr. Dieses neue, schneidig elegante Geschöpf verwirrte sie.

Spider, auf der anderen Seite, musste sich richtig anstrengen.

Die meisten Menschen nehmen die anderen Menschen nicht wahr. Rosies Mutter aber sehr wohl. Sie bemerkte alles. Gegenwärtig schlürfte sie ihr heißes Wasser aus einer feinen Porzellantasse. Sie wusste, dass sie soeben eine Niederlage erlitten hatte, auch wenn sie nicht hätte sagen können, wie das gekommen oder worum es bei dem Scharmützel überhaupt gegangen war. Also startete sie ihren nächsten Angriff auf höherem Terrain.

»Charles, mein Lieber«, sagte sie, »erzähl mir von deiner Cousine Daisy. Ich mache mir Sorgen, dass deine Familie vielleicht ein bisschen unterrepräsentiert ist. Hättest du es gern, dass sie eine größere Rolle bei der Hochzeitsfeier spielt?«

»Wer?«

»Daisy«, sagte Rosies Mutter liebenswürdig. »Die junge Dame, die ich neulich morgens bei dir kennengelernt habe und die kaum etwas anhatte. Falls das deine Cousine war, heißt das natürlich.«

»Mutter! Wenn Charlie sagt, dass es seine Cousine war …«

»Lass ihn für sich sprechen, Rosie«, sagte ihre Mutter und nahm noch ein Schluck vom heißen Wasser.

»Äh ja«, sagte Spider. »Daisy«.

Er versuchte die Erinnerung an jene Nacht im Zeichen von Wein, Weib und Gesang wachzurufen: Die hübscheste und lustigste der Frauen war mit ihnen zurück nach Hause gekommen, nachdem er ihr beigebracht hatte, dass es ihre eigene Idee sei; und dann hatte er ihre Hilfe benötigt, um den halb bewusstlosen Fat Charlie die Treppe hinaufzuwuchten. Da er im Verlauf des Abends bereits die Aufmerksamkeiten verschiedener anderer Frauen genossen hatte, sollte ihm die kleine Lustige gewissermaßen als kleine Nachtischleckerei dienen, die man sich für später aufbewahrt, aber später dann, als sie zu Hause waren und den notdürftig gesäuberten Fat Charlie ins Bett gesteckt hatten, stellte er fest, dass er doch keinen Hunger mehr hatte. Die war das also.

»Die liebe kleine Cousine Daisy«, fuhr er ohne Pause fort. »Ich bin mir ganz sicher, dass sie liebend gern an der Hochzeit teilnehmen würde, falls sie gerade im Lande ist. Aber leider Gottes arbeitet sie als Kurier. Immer unterwegs. Den einen Tag ist sie hier, und am nächsten Tag schon in Murmansk, um ein vertrauliches Dokument abzuliefern.«

»Hast du ihre Adresse nicht? Oder ihre Telefonnummer?«

»Wir können gemeinsam nach ihr suchen, Sie und ich«, stimmte Spider zu. »Im Eiltempo um die Welt. Sie kommt und sie geht.«

»Dann«, sagte Rosies Mutter, ganz wie Alexander der Große einst die Plünderung irgendeines kleinen persischen Dorfes angeordnet haben mochte, »musst du sie einladen, wenn sie das nächste Mal im Lande ist. Sie ist so ein hübsches kleines Ding, fand ich, und ich bin sicher, dass Rosie sie furchtbar gerne kennenlernen würde.«

»Ja«, sagte Spider. »Das muss ich wirklich.«


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JEDE PERSON, die je gelebt hat oder leben wird, hat ein Lied. Es ist kein Lied, das jemand anders komponiert hat. Es hat seine eigene Melodie, seinen eigenen Text. Nur wenige Leute kommen dazu, ihr eigenes Lied zu singen. Die meisten von uns haben Angst, dass wir ihm mit unserer Stimme nicht gerecht werden können oder dass unser Text zu töricht, zu aufrichtig oder zu seltsam ist. Daher ziehen die Menschen es vor, ihre Lieder zu leben.

Nehmen Sie zum Beispiel Daisy. Ihr Lied, das ihr schon fast das ganze Leben lang irgendwo im Hinterkopf herumgeisterte, hatte einen beruhigenden, sich dem Marschrhythmus annähernden Beat und einen Text, der vom Beschützen der Schwachen handelte. Der Refrain begann mit der Zeile: »Hütet euch, ihr Bösewichter!« und war daher viel zu peinlich, um je laut gesungen zu werden. Sie summte ihn aber manchmal vor sich hin, in der Dusche, hauptsächlich beim Einseifen.

Und das ist mehr oder weniger schon alles, was man über Daisy wissen muss. Alles andere sind Details.

Daisys Vater stammte aus Hongkong. Ihre Mutter kam aus Äthiopien, aus einer Familie von reichen Teppichexporteuren: sie besaßen ein Haus in Addis Abeba und ein weiteres Haus plus Ländereien in der Nähe von Nazret. Daisys Eltern lernten sich in Cambridge kennen. Er studierte EDV, noch bevor irgendjemand damit eine auch nur halbwegs annehmbare Berufsperspektive verband, während sie sich in die molekulare Chemie und das internationale Recht versenkt hatte. Sie waren zwei junge Menschen, die gleichermaßen lerneifrig, von Natur aus schüchtern und allgemein gehemmt waren. Beide hatten Heimweh, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Aber sie spielten auch beide Schach, und so begegneten sie sich eines Mittwochnachmittags im Schachklub. Da sie Neueinsteiger waren, wurden sie ans selbe Brett gesetzt, und bei dieser ersten Partie besiegte Daisys Mutter Daisys Vater ohne jede Mühe.

Daisys Vater ärgerte sich darüber, so sehr, dass er am folgenden Mittwoch schüchtern um eine Revanche bat, und dies wiederholte sich an jedem folgenden Mittwoch (ausgenommen Semesterferien und Feiertage) während der nächsten zwei Jahre.

Ihre Bekanntschaft wurde zusehends intensiver, je mehr sie ihre gesellschaftlichen Fertigkeiten und ihre englischen Sprachkenntnisse verbesserten. Gemeinsam fassten sie sich als Teil einer Menschenkette an den Händen und protestierten gegen die Ankunft riesiger, mit Raketen beladener Lastwagen. Gemeinsam, wenn auch als Teil einer erheblich größeren Gruppe, reisten sie nach Barcelona, um den Machenschaften des internationalen Kapitals Einhalt zu gebieten und entschiedenen Protest gegen die unkontrollierte Herrschaft der großen Konzerne zu erheben. Dies war auch die Zeit, in der sie Bekanntschaft mit staatlicherseits versprühtem Tränengas machten, und Mr. Day zog sich sogar, als er von der spanischen Polizei aus dem Weg geräumt wurde, eine Verstauchung des Handgelenks zu.

Und dann, eines Mittwochs zu Beginn ihres dritten Jahres in Cambridge, besiegte Daisys Vater Daisys Mutter beim Schach. So glücklich machte ihn dies, versetzte ihn in eine solche Hochstimmung, dass er ihr, durch den Triumph aller Hemmungen beraubt, einen Heiratsantrag machte, und Daisys Mutter, die insgeheim befürchtet hatte, dass er, sobald er nur eine Partie gewänne, das Interesse an ihr verlieren würde, quittierte ihn mit den Worten: ja, natürlich.

Sie lebten weiter in England und blieben auch dem akademischen Milieu treu. Sie bekamen eine Tochter, die sie Daisy nannten, weil sie zu jener Zeit ein gleichnamiges Tandem besaßen ein Fahrrad für zwei (mit dem sie, zu Daisys späterer Belustigung, auch tatsächlich fuhren). Sie zogen von einer britischen Universität zur nächsten: Er lehrte Computerwissenschaften, während seine Frau Bücher über die Macht der multinationalen Konzerne schrieb, die keiner lesen wollte, und Bücher über die Geschichte und die Strategien des Schachspiels, die sehr viele Leute lesen wollten, sodass sie in guten Jahren mehr Geld verdiente als er, was allerdings gar nicht mal so schwierig war. Ihr politisches Engagement verlor mit den Jahren an Dringlichkeit, und als sie sich dem mittleren Lebensalter näherten, waren sie zu einem Paar geworden, das keine weiteren Interessen pflegte als das eigene Glück miteinander, Schach, Daisy und die Sanierung vergessener Betriebssysteme.

Keiner von beiden konnte begreifen, was mit Daisy los war.

Sie machten sich Vorwürfe, dass sie Daisys Begeisterung für die Polizei nicht sofort im Keim erstickt hatten, als sie sich zuerst bemerkbar machte, nämlich mehr oder weniger zur gleichen Zeit, als sie zu sprechen begann. Wo andere kleine Mädchen aufgeregt auf niedliche Ponys zeigen, zeigte Daisy ebenso aufgeregt auf vorbeifahrende Polizeiautos. Ihr siebter Geburtstag wurde in Form eines Kostümfests begangen, was ihr die Möglichkeit gab, ihre kleine Polizistinnenuniform zu tragen, und im Dachgeschoss ihrer Eltern steht noch immer eine Kiste mit Fotos, die das glückstrahlende Gesicht eines siebenjährigen Kindes beim Anblick seiner Geburtstagstorte dokumentieren: sieben Kerzen, die im flackernden Blaulicht brennen.

Daisy war ein fleißiges, fröhliches und intelligentes junges Mädchen, das seine Eltern glücklich machte, als sie sich in der University of London einschrieb, um Jura und Informatik zu studieren. Ihr Vater sah sie vor seinem geistigen Auge bereits als Rechtsdozentin; ihre Mutter hegte Träume, in denen ihre Tochter Kronanwältin, vielleicht sogar Richterin wurde und mit Hilfe des Gesetzes die Herrschaft der Konzerne zerschlug, wo immer diese ihr garstiges Haupt erhoben. Stattdessen aber zertrümmerte Daisy die schönsten Hoffnungen ihrer Eltern, indem sie die Aufnahmeprüfung bei der Polizei absolvierte und bestand. Die Polizei nahm sie mit offenen Armen auf: Zum einen gab es Anweisungen von höherer Stelle, die ethnische Vielfalt der Truppe zu erhöhen, und zum anderen war eine drastische Zunahme der Computerkriminalität und des Computerbetrugs zu verzeichnen. Sie brauchten Daisy. Sie hätten, offen gesagt, eine ganze Kompanie von Daisys gebrauchen können.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, vier Jahre später, durfte man mit Fug feststellen, dass die Laufbahn bei der Polizei nicht dem entsprach, was Daisy sich erwartet hatte. Nicht, dass die wiederholt vorgetragenen Warnungen ihrer Eltern sich bestätigt hätten, denen zufolge die Polizei eine strukturell rassistische und sexistische Institution sei, die ihre Individualität auslöschen und sie einer seelenlosen Gleichförmigkeit unterwerfen würde, bis sie am Ende ebenso Teil der Kantinenkultur wäre wie jeder beliebige Anrührkaffee. Nein, das Frustrierende war die Schwierigkeit, den anderen Bullen klarzumachen, dass auch sie ein Bulle war. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass für die meisten Bullen Polizeiarbeit in erster Linie darin bestand, die Bevölkerung Mittelenglands vor all den unheimlichen Leuten mit dem falschen sozialen Hintergrund zu beschützen, die wahrscheinlich nur darauf aus waren, ihnen die Handys zu klauen. Aus Daisys Sicht ging es um etwas ganz anderes. Daisy wusste, dass es jede Menge Mittelschichtsjugendliche gab, die imstande waren, von ihren Kinderzimmern in Deutschland aus Viren zu verschicken, die ein ganzes Krankenhaus lahmlegen und mehr Schaden verursachen konnten als eine Bombe. Daisy war der Ansicht, dass die wirklichen Bösewichte heutzutage solche waren, die sich mit FTP-Sites, modernsten Verschlüsselungstechniken und Prepaid-Wegwerfhandys auskannten.

Sie nahm einen Schluck Kaffee aus einem Plastikbecher und verzog das Gesicht; während sie eine Datei nach der anderen durchgesehen hatte, war der Kaffee kalt geworden.

Sie hatte alle Informationen gesichtet, die Grahame Coats ihr übergeben hatte. Dass hier irgendetwas nicht in Ordnung war, schien wirklich auf der Hand zu liegen – und sei es allein angesichts des Schecks über zweitausend Pfund, den Charles Nancy in der letzten Woche allem Anschein nach sich selbst ausgestellt hatte.

Trotzdem. Trotzdem kam ihr die Sache komisch vor.

Sie ging den Flur hinunter und klopfte an die Tür des Hauptkommissars.

»Herein!«

Hauptkommissar Camberwell hatte dreißig Jahre lang an seinem Schreibtisch Pfeife geraucht, bis eine Rauchverbotsverordnung für das gesamte Gebäude erlassen worden war. Seither begnügte er sich mit einem Klumpen Plastilin, den er drückte, knetete und zwischen den Händen rollte. Als Mann mit Pfeife im Mund war er heiter, gelassen und, soweit es seine Untergebenen betraf, die Rechtschaffenheit in Person gewesen. Als Mann mit einem Klumpen Plastilin in der Hand war er gleichermaßen übellaunig wie cholerisch. An guten Tagen gelang es ihm, nur gereizt zu sein.

»Ja?«

»Der Fall mit der Grahame-Coats-Agentur.«

»Hmm.«

»Ich bin mir da nicht so sicher.«

»Nicht so sicher? Worüber, um Himmels willen, kann man sich denn da nicht so sicher sein?«

»Nun, ich glaube, ich sollte den Fall vielleicht abgeben.« Er schien unbeeindruckt. Er starrte sie an. Auf der Schreibtischplatte, unbeobachtet, waren seine Finger dabei, das blaue Plastilin in die Form einer Meerschaumpfeife zu kneten. »Weil?«

»Ich kenne den Verdächtigen privat.«

»Ja und? Sie sind mit ihm zusammen im Urlaub gewesen? Sie sind die Patentante seiner Kinder? Oder was?«

»Nein. Ich bin ihm nur einmal begegnet. Ich habe bei ihm in der Wohnung übernachtet.«

»Sie wollen also sagen, Sie hätten’s mit ihm getrieben?« Ein tiefes Seufzen, in dem Weltverdrossenheit, Ärger und das dringende Verlangen nach ein paar Gramm Condor »Ready rubbed« sich die Waage hielten.

»Nein, Sir. Nichts dergleichen. Ich habe dort einfach nur geschlafen.«

»Und das war Ihre ganze Bekanntschaft mit ihm?«

»Ja, Sir.«

Er zerdrückte die Plastilin-Pfeife wieder zu einem gestaltlosen Klumpen. »Ihnen ist klar, dass Sie mir die Zeit stehlen?«

»Ja, Sir. Tut mir leid, Sir.«

»Tun Sie, was zu tun ist. Lassen Sie mich in Ruhe.«


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MAEVE LIVINGSTONE fuhr ganz allein im Fahrstuhl in den fünften Stock und hatte während der langsamen, ruckeligen Fahrt genügend Zeit, um in Gedanken noch einmal durchzugehen, was sie, sobald sie oben angelangt war, zu Grahame Coats sagen würde.

Sie hatte eine schmale braune Aktenmappe bei sich, die Morris gehört hatte: ein ausgesprochen männlicher, ja maskuliner Gegenstand. Sie trug eine weiße Bluse, einen blauen Jeansrock und darüber einen grauen Mantel. Sie hatte sehr lange Beine und eine außergewöhnlich blasse Haut, und ihre Haare waren, mit nur geringfügiger chemischer Unterstützung, noch genauso blond wie vor zwanzig Jahren, als Morris Livingstone sie geheiratet hatte.

Maeve hatte Morris sehr geliebt. Als er starb, löschte sie ihn nicht aus ihrem Handyverzeichnis, nicht einmal, nachdem sie seinen Vertrag gekündigt und sein Telefon zurückgegeben hatte. Ihr Neffe hatte das Foto von Morris aufgenommen, das auf ihrem Handy gespeichert war, und das wollte sie nicht verlieren. Wie gern hätte sie Morris jetzt angerufen und ihn um Rat gefragt.

Sie hatte der Freisprechanlage mitgeteilt, wer sie war, um unten eingelassen zu werden, daher wartete Grahame Coats bereits auf sie, als sie den Empfang betrat.

»Wie geht’s, wie steht’s, meine Teuerste«, sagte er.

»Ich muss Sie unter vier Augen sprechen, Grahame«, sagte Maeve. »Sofort.«

Grahame Coats grinste sich eins; seltsamerweise begannen viele seiner geheimen Fantasien damit, dass Maeve ganz ähnliche Worte sprach, bevor sie dann zu Äußerungen überging wie »Ich brauche dich, Grahame, jetzt gleich« und »O Grahame, ich war ein unartiges, ein ganz böses Mädchen, dem ordentlich Disziplin eingebläut werden muss«, und, das aber eher selten: »Grahame, du bist zu viel für eine einzelne Frau, darf ich dir daher meine eineiige nackte Zwillingsschwester Maeve II vorstellen.« Sie gingen in sein Büro.

Zu Grahame Coats’ leiser Enttäuschung ließ Maeve in keiner Weise durchblicken, dass sie es hier und jetzt brauche. Sie zog nicht einmal den Mantel aus. Stattdessen öffnete sie ihre Aktenmappe und zog einen Stapel Papiere hervor, den sie auf den Schreibtisch platzierte.

»Grahame, auf Vorschlag des Filialleiters meiner Bank habe ich Ihre Abrechnungen und Auszüge der letzten zehn Jahre einer unabhängigen Rechnungsprüfung unterziehen lassen. Seit der Zeit, als Morris noch lebte. Sie können die Unterlagen gern einsehen. Ihre Zahlen stimmen nicht. Von vorn bis hinten nicht. Ich dachte, ich spreche mit Ihnen darüber, bevor ich die Polizei einschalte. Ich hatte das Gefühl, Ihnen das, Morris zu Ehren, schuldig zu sein.«

»In der Tat«, stimmte Grahame Coats zu, glatt wie eine Schlange im Butterfass. »Das sind Sie wirklich.«

»Nun also?« Maeve Livingstone hob eine makellose Augenbraue. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts übermäßig Gutes. Grahame Coats fand die Maeve aus seinen Fantasien entschieden vorteilhafter.

»Leider haben wir einen schurkischen Angestellten in der Grahame-Coats-Agentur gehabt, Maeve, eine ganze Weile schon. Ich habe selbst schon die Polizei gerufen, letzte Woche, gleich als ich bemerkt hatte, dass etwas im Argen liegt. Der lange Arm des Gesetzes ermittelt bereits. Mit Rücksicht auf den Prominentenstatus mehrerer Kunden der Grahame-Coats-Agentur – Sie eingeschlossen – behandelt die Polizei die Sache so diskret wie möglich, und wer wollte es ihr verübeln?« Sie schien nicht annähernd so beschwichtigt, wie er sich erhofft hatte. Er fuhr weiteres Geschütz auf. »Sie haben große Hoffnungen, dass sie einen Großteil des Geldes, wenn nicht gar alles, wieder auffinden werden.«

Maeve nickte. Grahame Coats entspannte sich, aber nur etwas.

»Darf ich fragen, um welchen Angestellten es sich handelt?«

»Charles Nancy. Ich muss sagen, dass ich ihm uneingeschränkt vertraut habe. Es war ein mächtiger Schock für mich.«

»Oh. Er ist ein lieber Kerl.«

»Der äußere Anschein«, gab Grahame Coats zu bedenken, »ist mitunter trügerisch.«

Da lächelte sie, und es war ein liebreizendes, süßes Lächeln. »Das kaufe ich Ihnen nicht ab, Grahame. Das geht jetzt schon seit Ewigkeiten so. Lange bevor Charles Nancy hier angefangen hat. Wahrscheinlich schon vor meiner Zeit. Morris hat Ihnen vollkommen vertraut, und Sie haben ihn bestohlen. Und jetzt erzählen Sie mir allen Ernstes, dass Sie einem Ihrer Angestellten oder einem Ihrer Komplizen die ganze Sache anhängen wollen? Tja, also, wie gesagt, das kaufe ich Ihnen nicht ab.«

»Nein«, sagte Grahame Coats zerknirscht. »Tut mir leid.«

Sie nahm den Papierstapel zur Hand. »Nur interessehalber«, sagte sie, »wie viel, glauben Sie, haben Sie im Laufe der Jahre aus Morris und mir herausgeholt? Meiner Schätzung nach: ungefähr drei Millionen.«

»Ah.« Er lächelte nicht mehr. Es war mit Sicherheit mehr, als sie gesagt hatte, aber trotzdem. »Das kommt wohl hin.«

Sie sahen sich an, und Grahame Coats’ Gedanken arbeiteten auf Hochtouren. Er musste Zeit gewinnen. Zeit war es, was er dringend brauchte. »Wie wär’s«, sagte er, »wenn ich es zurückzahle, den vollen Betrag, in bar, jetzt gleich. Mit Zinsen. Sagen wir, fünfzig Prozent des fraglichen Betrages.«

»Sie bieten mir viereinhalb Millionen Pfund? In bar?« Grahame Coats lächelte ihr auf haargenau die Weise zu, wie es angreifende Kobras in der Regel nicht tun.

»Selbstverfreilich. Wenn Sie zur Polizei gehen, werde ich alles abstreiten und mir ein paar Spitzenanwälte nehmen.

Im ungünstigsten Fall, nach einem extrem langen Gerichtsprozess, im Zuge dessen ich gezwungen sein werde, Morris’ Namen auf jede mir zu Gebote stehende Weise in den Schmutz zu ziehen, wird man mich zu höchstens zehn bis zwölf Jahren Gefängnis verurteilen. Davon werde ich, bei guter Führung – und ich dürfte einen Mustergefangenen abgeben – vielleicht fünf Jahre absitzen müssen. Angesichts der allgemeinen Überfüllung unserer Gefängnisse werde ich den größten Teil dieser Zeit im offenen Vollzug ableisten, vielleicht sogar mit täglichem Freigang. Ich halte das für nicht allzu problematisch. Die Kehrseite, wenn Sie zur Polizei gehen, ist die, dass Sie nicht einen Pfennig von Morris’ Geld sehen werden, das garantiere ich Ihnen. Die Alternative wäre, den Mund zu halten und dafür so viel und noch mehr Geld zu bekommen, wie Sie brauchen, während ich ein bisschen Zeit gewinne, um … das einzig Richtige zu tun. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Maeve dachte darüber nach. »Ich würde Sie gern im Gefängnis verfaulen sehen«, sagte sie. Dann seufzte sie und nickte schließlich. »Na gut«, sagte sie. »Ich nehme das Geld. Ich muss nie wieder mit Ihnen in Kontakt treten. Alle Tantiemenzahlungen gehen in Zukunft direkt an mich.«

»Selbstverfreilich. Der Safe ist hier drüben«, sagte er.

An der Wand auf der anderen Seite des Zimmers befand sich ein Bücherregal, in dem vollkommen einheitliche, in Leder gebundene Ausgaben von Dickens, Thackeray, Trollope und Austen standen, sämtlich ungelesen. Er machte sich an einem der Bücher zu schaffen, worauf das Regal zur Seite glitt und den Blick auf eine Tür freigab, die in derselben Farbe wie die Wand gestrichen war.

Maeve fragte sich, ob sie ein Kombinationsschloss hatte, aber nein, da war nur ein kleines Schlüsselloch, für das Grahame Coats einen großen Messingschlüssel besaß. Die Tür öffnete sich.

Er betätigte einen Lichtschalter im Innern. Es war ein schmaler Raum, gesäumt von recht amateurhaft aufgestellten Regalen. An der Wand gegenüber stand ein kleiner feuerfester Aktenschrank.

»Sie können es in Bargeld oder in Schmuck haben, oder in einer Kombination von beidem«, sagte er unverblümt.

»Ich würde zu Letzterem raten. Habe viele schöne alte Goldteile hier. Sehr gut zu tragen.«

Er schloss mehrere Kassetten auf und zeigte den Inhalt. Ringe, Ketten und Medaillons funkelten, glitzerten und blitzten.

Maeves Mund stand offen. »Gucken Sie sich alles an«, ermunterte er sie, und sie zwängte sich an ihm vorbei. Es war eine wahre Schatzkammer.

Sie nahm ein goldenes Medaillon an einer Kette in die Hand, hielt es hoch und betrachtete es staunend. »Das ist zauberhaft«, sagte sie. »Das muss einen Wert haben von…«, und sie brach ab. In dem glänzenden Gold des Medaillons sah sie, wie sich hinter ihr etwas bewegte, und sie drehte sich um, was zur Folge hatte, dass der Hammer sie nicht genau am Hinterkopf traf, wie es in Grahame Coats’ Absicht gelegen hatte, sondern seitlich von ihrer Wange abglitt.

»Du mieser kleiner Scheißer!«, sagte sie und trat nach ihm. Maeve hatte kräftige Beine und einen beachtlichen Tritt am Leib, aber sie und ihr Angreifer standen recht eng beisammen.

Maeves Fuß erwischte ihn am Schienbein, gleichzeitig griff sie nach dem Hammer in seiner Hand. Grahame Coats schlug erneut zu, und diesmal traf er, sodass Maeve zur Seite taumelte. Ihr Blick schien zu verschwimmen. Er setzte nach, schlug ihr den Hammer auf den Kopf, ein zweites, drittes Mal, und sie sank zu Boden.

Grahame Coats hätte jetzt gern eine Schusswaffe gehabt. Eine schöne handliche Pistole am besten. Mit Schalldämpfer, wie im Film. Mal ehrlich jetzt, wenn er je auf die Idee gekommen wäre, dass es mal nötig sein würde, jemanden in seinem Büro umzubringen, dann wäre er darauf natürlich viel besser vorbereitet gewesen. Er hätte dann vielleicht sogar einen Vorrat an Gift parat gehabt. Das wäre praktisch und klug gewesen. Und dieser Unfug hier ganz unnötig.

Blut und blonde Haare klebten an der Schlagfläche seines Hammers. Er legte ihn angewidert aus der Hand, stieg über die auf dem Boden liegende Frau hinweg und nahm die Tresorkästen mit dem Schmuck an sich. Er kippte den Inhalt auf seinen Schreibtisch und stellte sie dann in den Safe zurück, um diesem dafür einen Diplomatenkoffer zu entnehmen, der bündelweise Hundertdollarund Fünfhunderteuroscheine enthielt, sowie einen kleinen schwarzen Samtbeutel, halb gefüllt mit losen Diamanten. Aus dem Aktenschrank zog er einige Akten. Und schließlich last, aber keineswegs least, wie er eindringlich versichert hätte – entnahm er dem geheimen Zimmer das lederne Kosmetikköfferchen, in dem zwei Brieftaschen und zwei Reisepässe steckten.

Dann drückte er die schwere Tür wieder zu, schloss sie ab und schob das Bücherregal in seine Ausgangsstellung zurück.

Etwas keuchend stand er da und schöpfte Atem.

Alles in allem, befand er, durfte er stolz auf sich sein. Gut gemacht, Grahame. Gut, der Mann. Sehr gute Arbeit.

Er hatte mit dem improvisiert, was grad zur Hand war, und es hatte geklappt: Bluff, Kühnheit und Kreativität die Bereitschaft, alles auf eine Karte zu setzen. Er hatte es riskiert, und er hatte gewonnen. Seine Karte hatte gestochen. Eines Tages würde er, in der Ruhe seines tropischen Paradieses, seine Memoiren schreiben, dann könnten die Leute erfahren, wie er mit dieser gefährlichen Frau fertig geworden war. Obwohl, dachte er, es wäre vielleicht noch besser gewesen, wenn sie eine Pistole in der Hand gehabt hätte.

Wahrscheinlich, dämmerte ihm bei genauerem Nachdenken, hatte sie tatsächlich eine Pistole auf ihn gerichtet.

Er meinte ziemlich sicher gesehen zu haben, wie sie sie gezogen hatte. Was für ein Glück, dass der Hammer bereitgelegen hatte, weil er einen Werkzeugkasten in dem Zimmer aufbewahrte für den Fall, dass Heimwerkerarbeiten zu erledigen waren – anderenfalls wäre er schwerlich zu einer so raschen und effektiven Selbstverteidigung imstande gewesen.

Erst jetzt fiel ihm ein, dass es ratsam wäre, die Tür zu seinem Büro zu verschließen.

Auch hatte er, wie er bei der Gelegenheit feststellte, Blut auf dem Hemd, auf der Hand und auf einer Schuhsohle. Er zog das Hemd aus und wischte den Schuh damit ab. Dann warf er das Hemd in den Abfallkorb unter seinem Schreibtisch. Er überraschte sich selbst damit, dass er seine Hand zum Mund führte und den Blutflecken mit seiner roten Zunge ableckte, wie eine Katze.

Und dann gähnte er. Er nahm Maeves Papiere vom Schreibtisch, jagte sie durch den Reißwolf. Sie hatte eine zweite Ausfertigung der Dokumente in ihrer Aktenmappe, auch diese zerschredderte er. Und zerschredderte die Schnipsel anschließend noch einmal.

In einer Ecke seines Büros stand ein Kleiderschrank, in dem ein Anzug hing, und obendrein war er mit Oberhemden, Socken, Unterhosen und dergleichen ausgestattet. Man konnte schließlich nie wissen, ob man nicht direkt vom Büro aus unerwartet zu einem Premierenabend zu gehen hatte. Es galt, vorbereitet zu sein.

Er zog sich mit Sorgfalt an.

Im Kleiderschrank gab es auch einen kleinen Koffer mit Rädern, einer von der Sorte, die dafür gemacht ist, ins Gepäckfach eines Flugzeugs zu passen. Dort hinein packte er einige Sachen, bewegte sie hin und her, um Platz zu schaffen.

Er klingelte seine Empfangsdame an. »Annie«, sagte er.

»Könnten Sie schnell mal loslaufen und mir ein Sandwich holen? Nicht von Pret, nein. Ich dachte an den neuen Laden in der Brewer Street? Mrs. Livingstone und ich sind gleich fertig, durchaus möglich, dass ich sie sogar noch richtig zum Lunch ausführe, aber ich hätte doch gern vorgesorgt.«

Er brachte noch einige Minuten am Computer zu, wo er eins von diesen Festplattensäuberungsprogrammen laufen ließ, die sich alle Ihre Daten krallen, sie mit zufallsgenerierten Nullen und Einsen überschreiben, sie anschließend in ganz kleine Teile zermahlen, um sie schließlich, mit Betonschuhen an den Füßen, auf den Grund der Themse zu versenken. Als dies erledigt war, verließ er sein Büro und ging, den Koffer hinter sich herziehend, durch den Flur.

Er steckte den Kopf durch eine der anderen Bürotüren.

»Bin mal kurz weg«, sagte er. »Komme ungefähr um drei wieder, falls jemand fragt.«

Annie saß nicht am Empfang, was seiner Ansicht nach eine gute Sache war. Man würde annehmen, dass Maeve Livingstone die Agentur bereits verlassen habe, ebenso wie man jeden Augenblick mit Grahame Coats’ Rückkehr rechnen würde. Bis man anfinge, nach ihm zu suchen, wäre er bereits über alle möglichen Berge.

Er fuhr im Fahrstuhl nach unten. Es geschah dies alles ein bisschen früh, fand er. Er würde erst in über einem Jahr fünfzig werden. Aber die Maschinerie des Ausstiegs war bereits in Gang gesetzt. Er musste das Ganze einfach nur als goldenen Händedruck auffassen, oder vielleicht als goldenen Fallschirm.

Und dann marschierte er, den Rollkoffer im Gefolge, durch die Eingangstür hinaus in den sonnigen Aldwych-Vormittag und ließ die Grahame-Coats-Agentur für immer hinter sich.


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SPIDER HATTE friedlich in seinem eigenen riesigen Bett geschlafen, in seiner Wohnung in Fat Charlies Abstellzimmer. Er hatte begonnen sich zu fragen – wenn auch nicht sehr nachdrücklich, ob Fat Charlie sich endgültig verabschiedet habe, und war mit sich übereingekommen, dass er der Angelegenheit nachgehen werde, sobald es sich irgendwie ergäbe, vorausgesetzt natürlich, er würde nicht durch interessantere Dinge abgelenkt oder es schlicht und einfach vergessen.

Er war spät aufgestanden und hatte sich jetzt aufgemacht, um mit Rosie zu Mittag zu essen. Er wollte sie in ihrer Wohnung abholen, und dann würden sie in ein gutes Lokal gehen. Es war ein herrlicher Frühherbsttag, und Spiders Fröhlichkeit war ansteckend. Das lag daran, dass Spider, mehr oder weniger, ein Gott war. Wenn du ein Gott bist, kannst du andere Leute mit deinen Gefühlen infizieren. Wenn jemand an einem Tag, an dem Spider richtig froh war, neben ihm stand, dann wurde auch seine Welt ein bisschen heller. Wenn Spider ein Lied summte, fingen die Leute in seiner Umgebung ebenfalls zu summen an, und sogar richtig, als wär’s eine Melodie aus einem bekannten Musical. Wenn er allerdings gähnte, gähnten natürlich auch hundert andere Leute, und wenn er niedergeschlagen war, verbreitete es sich wie ein feuchter Flussnebel, und die Welt wurde noch düsterer für jeden, der dort hineingeriet.

Es hatte nichts damit zu tun, dass er etwas tat; es lag an dem, was er war.

Das Einzige, was seine Fröhlichkeit derzeit beeinträchtigte, war sein Entschluss, Rosie die Wahrheit zu sagen.

Spider war nicht gut darin, die Wahrheit zu sagen. Wahrheit war für ihn etwas grundsätzlich Formbares, mehr oder weniger eine Frage des Standpunkts, und Spider war in der Lage, einige höchst eindrucksvolle Standpunkte einzunehmen, wenn sich die Notwendigkeit ergab.

Die Hochstapelei an sich war nicht das Problem. Es gefiel ihm, ein Hochstapler zu sein. Er konnte es sehr gut. Es passte zu seinen Plänen, die recht einfach strukturiert waren und sich bis dato etwa folgendermaßen zusammenfassen ließen: (a) irgendwo hingehen; (b) sich amüsieren; und (c) wieder weggehen, bevor es langweilig wird. Und inzwischen, das war ihm im tiefsten Innern klar, wurde es definitiv Zeit, wieder wegzugehen. Die Welt stand ihm offen, lag vor ihm wie ein zum Verzehr bestimmter Hummer. Die Serviette war um seinen Hals gebunden, er hatte einen Topf mit zerschmolzener Butter und allerlei grotesk aussehendes, aber effektives Besteck zum Hummerzerlegen griffbereit.

Und doch …

Und doch wollte er nicht weg.

Spider hatte Zweifel, er machte sich Gedanken. Und das war beunruhigend. Gedanken waren etwas, das Spider für lästig, wenn nicht überflüssig erachtete. Ein Leben ohne Nachdenken, das war’s doch – Instinkt, Spontaneität und ein geradezu unverschämtes Glück hatten ihm bislang tadellose Dienste geleistet. Aber irgendwann bringen einen selbst Wunder nicht mehr richtig weiter. Spider ging die Straße entlang, und die Leute lächelten ihm zu.

Er hatte mit Rosie verabredet, dass er sie in ihrer Wohnung abholen würde, daher war er angenehm überrascht, als er sah, dass sie am Ende der Straße stand und schon auf ihn wartete. Etwas flog ihn an, aber ein richtiges Schuldgefühl war es nicht, also winkte er.

»Rosie? Hallo!«

Sie ging über den Bürgersteig auf ihn zu, und er begann zu grinsen. Sie würden die Sache schon noch klären. Alles würde sich regeln. Alles würde gut werden. »Du siehst großartig aus«, sagte er. »Wenn nicht größerartig. Worauf hast du Appetit?«

Rosie zuckte lächelnd die Achseln.

Sie kamen an einem griechischen Restaurant vorbei. »Ist Griechisch okay?« Sie nickte. Sie gingen ein paar Stufen hinunter und traten ein. Es war dunkel und leer, hatte gerade erst geöffnet, und der Inhaber geleitete sie zu einer Nische, vielleicht war’s auch nur eine Ecke, im hinteren Teil.

Sie saßen einander gegenüber, der Tisch war grad groß genug für zwei. Spider sagte: »Es gibt etwas, worüber ich mit dir sprechen muss.« Sie sagte nichts. »Es ist nichts Schlimmes«, fuhr er fort. »Na ja, schön ist es auch nicht. Aber. Tja. Es ist etwas, das du wissen solltest.«

Der Inhaber erkundigte sich, ob sie etwas zu bestellen wünschten. »Kaffee«, sagte Spider, und Rosie nickte zustimmend. »Zweimal Kaffee«, sagte Spider. »Aber lassen Sie sich Zeit, sagen wir fünf Minuten. Wir wollen ein bisschen ungestört sein.«

Der Inhaber zog sich zurück.

Rosie sah Spider fragend an.

Er holte tief Luft. »Okay. Also. Lass mich das einfach sagen, weil, es ist nicht leicht, und ich weiß nicht, ob ich … na gut. Also. Hör zu, ich bin nicht Fat Charlie. Ich weiß, du glaubst es, aber ich bin es nicht. Ich bin sein Bruder, Spider. Du denkst, dass ich er bin, weil wir uns sozusagen ein bisschen ähnlich sehen.« Sie sagte nichts.

»Na ja, eigentlich sehe ich ihm nicht sehr ähnlich. Aber.

Weißt du, das ist alles nicht so einfach für mich. O-oh-kay. Äh. Ich muss immerzu an dich denken. Also, ich mein, ich weiß, du bist mit meinem Bruder verlobt, aber ich möchte dich sozusagen fragen, also, ob du ihm nicht eventuell den

Laufpass geben und vielleicht lieber mit mir gehen willst.« Eine Kanne Kaffee auf einem Silbertablett traf ein, dazu zwei Tassen.

»Griechischer Kaffee«, sagte der Inhaber, der ihn gebracht hatte.

»Ja. Danke. Aber ich hatte doch darum gebeten …«

»Ist sehr heiß«, sagte der Inhaber. »Sehr heißer Kaffee. Stark. Griechisch. Nicht türkisch.«

»Großartig. Hören Sie, wenn’s Ihnen nichts ausmacht – fünf Minuten. Ja?«

Der Inhaber entfernte sich achselzuckend.

»Wahrscheinlich hasst du mich«, sagte Spider. »An deiner Stelle würde ich mich wahrscheinlich auch hassen. Aber ich meine es ernst. Ernster, als ich jemals etwas im Leben gemeint habe.« Sie sah ihn einfach nur an, ausdruckslos, und er sagte: »Bitte. Sag etwas. Irgendwas.«

Ihre Lippen bewegten sich, als versuche sie die rechten Worte zu finden.

Spider wartete.

Ihr Mund öffnete sich.

Sein erster Gedanke war, dass sie etwas zu essen im Mund hatte, denn was er zwischen ihren Zähnen erblickte, war braun, und es war mit Sicherheit keine Zunge. Doch dann bewegte es seinen Kopf, und seine Augen, kleine schwarz glänzende Knopfaugen, starrten ihn an. Rosie machte ihren Mund unfassbar weit auf, und die Vögel kamen heraus.

Spider sagte: »Rosie?«, und dann war die Luft voller Schnäbel, Federn und Klauen, es wurden immer mehr. Vögel ergossen sich, jedes Mal begleitet von einem winzigen Husten-Erstickungs-Geräusch, aus ihrem Hals, in einem Strom, der auf ihn gerichtet war.

Er riss einen Arm hoch, um seine Augen zu schützen, und etwas verletzte ihn am Handgelenk. Er schlug um sich, und etwas flog ihm ins Gesicht, zielte auf die Augen. Er riss den Kopf zurück, und der Schnabel bohrte sich in seine Wange.

Ein Augenblick von albtraumhafter Klarheit: Immer noch saß da eine Frau ihm gegenüber. Was er jetzt aber nicht mehr begreifen konnte, war, wie er sie jemals für Rosie hatte halten können. Zum einen war sie älter als Rosie, ihre blauschwarzen Haare von etlichen silbernen Strähnen durchzogen. Ihre Haut hatte nicht den warmen Braunton von Rosies Haut, sondern war schwarz wie Feuerstein. Sie trug einen zerschlissenen ockerfarbenen Regenmantel. Und sie grinste und öffnete ihren Mund noch einmal ganz weit, und jetzt sah er darin die grausamen Schnäbel und die irren Augen von Möwen …

Spider überlegte nicht lange. Sondern handelte. Er packte den Griff der Kaffeekanne, zog mit der anderen Hand den Deckel ab, dann schwenkte er die Kanne ruckartig in Richtung der Frau auf der anderen Tischseite. Der Inhalt der Kanne, kochend heißer schwarzer Kaffee, ergoss sich über sie.

Sie zischte vor Schmerz.

Vögel flatterten aufgescheucht durch das Kellerrestaurant, aber jetzt saß ihm niemand mehr gegenüber, und die Vögel waren orientierungslos, stoben durcheinander und prallten gegen die Wände.

Der Inhaber sagte: »Sir? Sind Sie verletzt? Es tut mir leid. Die müssen von der Straße reingekommen sein.«

»Mir ist nichts passiert«, sagte Spider.

»Sie bluten im Gesicht«, sagte der Mann. Er reichte Spider eine Serviette, die dieser sich gegen die Wange presste.

Die Wunde brannte.

Spider bot dem Mann an, ihm beim Verscheuchen der Vögel zu helfen. Er machte die Tür zur Straße auf, aber plötzlich war das Lokal so leer, so vogellos, wie vor seiner Ankunft.

Spider zückte einen Fünfpfundschein. »Hier«, sagte er.

»Für den Kaffee. Ich muss jetzt los.«

Der Inhaber nickte dankbar. »Die Serviette können Sie ruhig behalten.«

Spider hielt inne und überlegte. »Als ich kam«, fragte er,

»war da eine Frau bei mir?«

Der Inhaber blickte verwirrt vielleicht, Spider war sich nicht sicher, sogar ein bisschen ängstlich. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er wie benommen. »Wenn Sie allein gewesen wären, hätte ich Sie nicht nach da hinten gesetzt. Aber ich weiß es nicht.«

Spider ging hinaus auf die Straße. Der Tag war immer noch hell, aber das Sonnenlicht schien seine beruhigende Wirkung verloren zu haben. Er blickte sich um. Er sah eine

Taube, die sich an einer weggeworfenen Eiskremwaffel zu schaffen machte, und einen Spatzen auf einem Fenstersims. Und hoch oben, weiß aufblitzend im Sonnenschein, kreiste mit weit ausgebreiteten Schwingen eine Möwe.

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