KAPITEL NEUN

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IN DEM

FAT CHARLIE

DIE TÜR ÖFFNET

UND

SPIDER AUF FLAMINGOS

TRIFFT

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FAT CHARLIES Glück wendete sich, er konnte es fühlen. Das Flugzeug, mit dem er nach Hause zurückkehrte, war überbelegt, und so fand er sich unversehens in die erste Klasse versetzt. Das Essen war ausgezeichnet. Auf halber Strecke über dem Atlantik trat eine Stewardess an ihn heran, um ihm mitzuteilen, dass er eine Schachtel Pralinen gewonnen habe, die sie ihm sogleich überreichte. Er legte sie ins Gepäckfach und bestellte sich einen Drambuie on Ice.

Sobald er zu Hause war, würde er alles mit Grahame Coats klären, denn wenn es etwas gab, dessen Fat Charlie sich vollkommen sicher war, dann war es die Korrektheit seiner eigenen Buchführung. Er würde die Dinge mit Rosie ins Reine bringen. Alles würde ganz großartig werden.

Er fragte sich, ob Spider schon verschwunden sein würde, wenn er nach Hause kam, oder ob ihm die Genugtuung zuteil würde, ihn persönlich vor die Tür zu setzen. Er hoffte auf Letzteres. Fat Charlie wollte seinen Bruder um Verzeihung bitten, vielleicht sogar zu Kreuze kriechen sehen. Er begann sich auszumalen, was er alles sagen würde.

»Raus hier!«, sagte Fat Charlie. »Verschwinde mitsamt deinem Sonnenschein, deinem Whirlpool und deinem Schlafzimmer!«

»Wie bitte?«, fragte die Stewardess.

»Oh«, sagte Fat Charlie. »Ich, ähm, rede nur mit, äh, mir selbst.«

Doch selbst die Verlegenheit, in die ihn dieser kleine Patzer stürzte, war nicht weiter schlimm. Er verspürte nicht einmal den Wunsch, dass das Flugzeug abstürzen und seiner Scham ein Ende bereiten möge. Mit seinem Leben ging es definitiv aufwärts.

Er öffnete die Schachtel mit nützlichen Annehmlichkeiten, die man ihm ausgehändigt hatte, setzte seine Augenklappe auf und schob seinen Sitz so weit zurück, wie es ging, und das war ganz schön weit. Er dachte an Rosie; allerdings musste er feststellen, dass diese sich vor seinem geistigen Auge zu verwandeln begann, eine andere, kleinere Gestalt annahm, die ziemlich wenig anhatte. Schuldbewusst stellte er sie sich angezogen vor und war zutiefst beschämt, als er sah, dass sie offenbar eine Polizeiuniform trug. Er sagte sich, dass er darüber entsetzt und todunglücklich sei, doch schien diese Versicherung unerwartet wenig Eindruck zu machen. Er sollte sich schämen. Sollte er … Fat Charlie räkelte sich in seinem Sitz und entließ einen kleinen, befriedigten Schnarchlaut.

Er war noch immer in bester Stimmung, als er in Heathrow landete. Er nahm den Heathrow Express nach Paddington und stellte erfreut fest, dass die Sonne während seiner kurzen Abwesenheit offenbar beschlossen hatte, am englischen Himmel vorstellig zu werden. Every little thing, vermerkte er mit Bob Marley, is going to be all right.

Die einzige Merkwürdigkeit, die dem großartigen Vormittag eine unpassende Geschmacksnote beimischte, ereignete sich während der Bahnfahrt. Er starrte aus dem Fenster und ärgerte sich, dass er sich in Heathrow keine Zeitung gekauft hatte. Vor dem Fenster zog gerade ein grünes Feld vorbei vielleicht der Sportplatz einer Schule, als der Himmel sich kurzzeitig zu verdunkeln schien und der Zug mit zischenden Bremsen vor einem Signal hielt.

Das war es nicht, was Charlie beunruhigte. Es war Herbst in England: Die Sonne war per definitionem etwas, das nur stattfand, wenn es nicht bewölkt war oder regnete. Aber da war eine Gestalt, die neben einer Baumgruppe am Rande des Rasenplatzes stand.

Auf den ersten Blick hielt er sie für eine Vogelscheuche. Aber das war töricht. Es konnte gar keine Vogelscheuche sein. Vogelscheuchen stehen auf Feldern, nicht auf Fußballplätzen. Vogelscheuchen werden ganz bestimmt nicht am Rand von Waldgebieten abgestellt. Und überhaupt, wenn es denn eine Vogelscheuche war, dann eine, die ihre Funktion sehr schlecht erfüllte.

Denn da waren überall Krähen, große schwarze Krähen.

Und dann bewegte sie sich.

Sie war zu weit entfernt, um mehr als einen Umriss darzustellen, eine unbestimmte Gestalt in einem zerschlissenen braunen Regenmantel. Dennoch erkannte Fat Charlie sie. Er wusste, dass er, wäre er nahe genug gewesen, ein aus Obsidian gemeißeltes Gesicht, rabenschwarze Haare und ein dem Wahnsinn ergebenes Augenpaar hätte sehen können.

Dann fuhr der Zug ruckartig wieder an, und nach wenigen Augenblicken war von der Frau im braunen Regenmantel nichts mehr zu sehen.

Fat Charlie fühlte sich unbehaglich. Er war mittlerweile mehr oder weniger zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei dem, was in Mrs. Dunwiddys Wohnzimmer geschehen war – was er glaubte, dass passiert sei –, um eine Art Halluzination handelte, einen hyperdynamischen Traum, auf einer gewissen Ebene durchaus wahr, aber doch nicht wirklich real. Nicht etwas, das tatsächlich geschehen war, sondern etwas, das symbolisch für eine höhere Wahrheit stand. Er konnte wohl schwerlich an einen realen Ort gegangen sein, einen realen Handel abgeschlossen haben, oder?

Schließlich war das alles nur eine Metapher.

Er fragte sich nicht, woher er die Gewissheit hatte, dass bald alles besser werden würde. Es gab die Wirklichkeit, und dann gab es die Wirklichkeit, und manche Dinge waren wirklicher als andere.

Immer mehr Geschwindigkeit aufnehmend, fuhr der Zug ihn ratternd nach London.


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SPIDER WAR, vom griechischen Restaurant kommend, fast wieder zu Hause angelangt, die Serviette noch immer gegen die Wange gedrückt, als ihn jemand an der Schulter berührte.

»Charles?«, sagte Rosie.

Spider fuhr zusammen, oder zuckte jedenfalls und machte ein erschrockenes Geräusch.

»Charles? Alles in Ordnung? Was ist mit deiner Wange passiert?«

Er starrte sie an. »Bist du du?«, fragte er.

»Was?«

»Bist du Rosie?«

»Was ist denn das für eine Frage? Natürlich bin ich Rosie. Was hast du mit deiner Wange angestellt?«

Er drückte die Serviette nachhaltig gegen die Wange.

»Hab mich geschnitten«, sagte er.

»Lass mich mal sehen.« Sie zog seine Hand von der Wange. Die weiße Serviette war in der Mitte karmesinrot verfärbt, als habe er hineingeblutet, aber die Wange war glatt und unversehrt. »Da ist nichts.«

»Oh.«

»Charles? Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja«, sagte er. »Aber vielleicht auch nicht. Ich glaube, wir sollten schnell zu mir gehen. Dort bin ich sicherer, denke ich.«

»Wir wollten doch gemeinsam zu Mittag essen.« In Rosies Tonfall klang die Befürchtung durch, sie werde das, was hier vorging, nicht verstehen, bevor nicht irgendwelche Fernsehleute mit ihrer versteckten Kamera hinter der nächsten Ecke hervorgesprungen kämen.

»Ja«, sagte Spider. »Ich weiß. Aber ich glaube, dass jemand gerade versucht hat mich umzubringen. Und sie hat dabei so getan, als sei sie du.«

»Niemand will dich umbringen«, sagte sie, aber es klang eher beschwichtigend als überzeugt.

»Auch wenn keiner versucht mich umzubringen, können wir bitte das Mittagessen ausfallen lassen und zu mir gehen? Ich hab etwas zu essen zu Hause.«

»Natürlich.«

Rosie folgte ihm die Straße hinunter und fragte sich, wann Fat Charlie eigentlich so abgenommen hatte. Er sah gut aus, fand sie. Richtig gut sah er aus. Sie bogen schweigend in die Straße Maxwell Gardens.

Er sagte: »Guck dir das an.«

»Was?«

Er zeigte es ihr. Der frische Blutfleck war aus der Serviette verschwunden. Sie war wieder vollkommen weiß.

»Ist das ein Zaubertrick?«

»Wenn, dann wäre er jedenfalls nicht von mir«, sagte er.

»Ausnahmsweise.« Er warf die Serviette in einen Abfalleimer. Im gleichen Augenblick hielt vor Fat Charlies Haus ein Taxi, dem zerknittert und blinzelnd, in der Hand eine weiße Plastiktüte, Fat Charlie entstieg.

Rosie sah Fat Charlie an. Sie sah Spider an. Sie sah zurück zu Fat Charlie, der in die Tüte griff und eine gewaltige Pralinenschachtel hervorholte.

»Die sind für dich«, sagte er.

Rosie nahm die Pralinen und sagte: »Danke.« Da waren zwei Männer, die vollkommen verschieden aussahen und klangen, und trotzdem konnte sie nicht entscheiden, welcher von beiden ihr Verlobter war. »Ich werde gerade verrückt, nicht wahr?«, sagte sie mit zitternder Stimme. Es war leichter, jetzt wo sie wusste, was ihr Problem war.

Der dünnere der beiden Fat Charlies, der mit dem Ohrring, legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du musst jetzt nach Hause gehen«, sagte er. »Dann musst du ein Nickerchen machen. Wenn du wieder aufwachst, wirst du alles vergessen haben.«

Tja, dachte sie, das erleichtert das Leben. Mit einem Plan geht alles besser. Sie marschierte mit federnden Schritten, die Pralinenschachtel im Arm, zu ihrer Wohnung zurück.

»Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte Fat Charlie. »Es war, als ob man sie abgestellt hätte.«

Spider zuckte die Achseln. »Ich wollte nicht, dass sie sich aufregt«, sagte er.

»Warum hast du ihr nicht die Wahrheit gesagt?«

»Es schien mir nicht angemessen.«

»Du meinst, du wüsstest, was angemessen ist?« Spider berührte die Haustür, sie ging auf.

»Ich habe Schlüssel, weißt du«, sagte Fat Charlie. »Es ist nämlich meine Haustür.«

Sie traten in den Hausflur, stiegen die Treppe hinauf.

»Wo warst du?«, fragte Spider.

»Nirgends. Unterwegs«, sagte Fat Charlie im Stile eines aufsässigen Teenagers.

»Ich bin heute Vormittag im Restaurant von Vögeln angegriffen worden. Weißt du irgendwas darüber? Ja, nicht wahr?«

»Eigentlich nicht. Vielleicht. Es ist halt einfach Zeit, dass du wieder gehst.«

»Mach jetzt keinen Stunk.«

»Ich? Ich und Stunk machen? Ich war die ganze Zeit ein Muster an Zurückhaltung. Du bist in mein Leben eingedrungen. Du hast meinen Chef gegen mich aufgebracht und mir die Polizei auf den Hals gehetzt. Du, du hast meine Freundin geküsst. Du hast mir mein ganzes Leben versaut.«

»He«, sagte Spider. »Wenn du mich fragst, hast du dafür gar keine Hilfe gebraucht, dir das Leben zu versauen.«

Fat Charlie ballte die Faust, holte aus und schlug Spider voll ans Kinn wie im Kino. Spider taumelte rückwärts, mehr überrascht als angeschlagen. Er fasste sich an die Lippen, betrachtete das Blut an seiner Hand. »Du hast mich geschlagen«, sagte er.

»Ich kann’s gern noch einmal tun«, sagte Fat Charlie, obwohl er sich dessen gar nicht mal so sicher war. Seine Hand tat verdammt weh.

Spider sagte: »Ach ja?«, und warf sich auf Fat Charlie, hieb mit den Fäusten auf ihn ein, und Fat Charlie fiel, einen Arm um Spiders Hüfte geschlungen, zu Boden und riss Spider mit sich.

Sie rollten auf dem Flurfußboden hin und her, prügelten unkontrolliert aufeinander ein. Fat Charlie rechnete halb und halb damit, dass Spider ihn mit irgendwelchen Zaubertricks attackieren oder übernatürliche Kräfte an den Tag legen würde, doch sie schienen einander ziemlich ebenbürtig zu sein. Beide kämpften ohne jedes Konzept, wie Jungen – wie Brüder –, und während sie so beschäftigt waren, meinte Fat Charlie sich zu erinnern, dass er das Gleiche schon einmal erlebt habe, vor langer, langer Zeit. Spider war schlauer und schneller, aber falls Fat Charlie sich auf ihn wälzen und seine Hände aus dem Weg bekommen könnte …

Fat Charlie packte Spiders Hand, drehte ihm den Arm um und setzte sich ihm dann mit seinem ganzen Gewicht auf die Brust.

»Gibst du auf?«, fragte er.

»Nein.« Spider zappelte und wand sich, aber Fat Charlie saß sicher und fest.

»Ich möchte, dass du mir versprichst«, sagte Fat Charlie,

»aus meinem Leben zu verschwinden und mich und Rosie nie wieder zu belästigen.«

Jetzt bäumte Spider sich wütend auf, und Fat Charlie wurde abgeworfen. Er landete auf dem Küchenboden, alle viere von sich gestreckt. »Siehste«, sagte Spider. »Ich hab’s dir doch gesagt.«

Unten an der Haustür klopfte es, und es war ein gebieterisches Klopfen, das keinen Zweifel daran ließ, dass sein Urheber äußerst dringend einzutreten wünschte. Fat Charlie sah Spider wütend an, dieser blickte mürrisch zurück. Beide erhoben sich langsam.

»Soll ich hingehen?«, sagte Spider.

»Nein«, sagte Fat Charlie. »Es ist verdammt noch mal mein Haus. Und ich werde verdammt noch mal meine eigene Haustür aufmachen, damit das mal klar ist.«

»Mir doch egal.«

Fat Charlie schob sich Richtung Treppe. Dann drehte er sich noch einmal um. »Sobald ich mich um diese Sache gekümmert habe«, sagte er, »kümmere ich mich um dich. Pack deine Sachen. Deine Zeit hier ist abgelaufen.« Während er die Treppe hinunterging, steckte er sich das Hemd wieder in die Hose, klopfte sich den Staub ab und versuchte generell einen Zustand herzustellen, der nicht darauf schließen ließ, dass er sich prügelnd am Boden gewälzt hatte.

Er öffnete die Tür. Vor ihm standen zwei große uniformierte Polizisten und eine kleinere, eher exotische Polizistin in ausgesprochenem Zivil.

»Charles Nancy?«, sagte Daisy. Sie sah ihn an wie einen Fremden, mit ausdruckslosem Blick.

»Glumph«, sagte Fat Charlie.

»Mister Nancy«, sagte sie. »Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht …«

Fat Charlie drehte sich um. »Scheißkerl!«, rief er ins Innere des Hauses. »Scheißkerl Scheißkerl beschissener Scheißkerl!«

Daisy tippte ihn auf den Arm. »Wollen Sie ohne Aufhebens mitkommen?«, fragte sie ruhig. »Wenn nämlich nicht, könnten wir Sie auch zuerst ruhigstellen. Ich würde allerdings davon abraten. Das hier sind zwei begeisterte Ruhigsteller.«

»Ich werde ohne Aufhebens mitkommen«, sagte Fat Charlie.

»Das ist gut«, sagte Daisy. Sie führte Fat Charlie nach draußen und schloss ihn im hinteren Teil eines schwarzen Polizeitransporters ein.

Die Polizisten durchsuchten die Wohnung. Sie war leer, es war niemand da. Am Ende des Flurs gab es ein kleines Gästezimmer, in dem einige Kisten mit Büchern und Spielzeug standen. Sie stöberten dort ein bisschen herum, fanden aber nichts, was von Interesse war.


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SPIDER LAG AUF DEM SOFA in seinem Schlafzimmer und war eingeschnappt. Er war in sein Zimmer gegangen, nachdem Fat Charlie erklärt hatte, dass er die Haustür öffnen werde. Er wollte allein sein. Streit und Auseinandersetzungen waren nicht sein Ding. Wenn es dazu kam, war das für ihn normalerweise der Punkt, wo er sich verabschiedete, und Spider wusste genau, dass es jetzt Zeit war, sich zu verabschieden, aber er wollte es trotzdem nicht.

Er war sich nicht mehr sicher, ob es richtig gewesen war, Rosie nach Hause zu schicken.

Was er jetzt tun wollte und Spider wurde ganz und gar vom Wollen angetrieben, nicht vom Sollen oder Müssen – war, Rosie zu sagen, dass er sie begehrte – er, Spider. Dass er nicht Fat Charlie sei. Sondern etwas ganz anderes. Und dass das an und für sich nicht das Problem sei. Er hätte, und zwar mit vollkommen ausreichender Überzeugungskraft, einfach zu ihr sagen können: »Ich bin in Wirklichkeit Spider, Fat Charlies Bruder, und das stört dich nicht im Geringsten. Du findest es vollkommen in Ordnung«, und das Universum hätte Rosie ein klein bisschen angestoßen, und sie hätte es akzeptiert, genau so, wie sie es vorher akzeptiert hatte, nach Hause geschickt zu werden. Sie wäre damit zufrieden gewesen. Es hätte ihr nichts ausgemacht, überhaupt nicht.

Nur, das wusste er, irgendwo tief im Innern hätte es das eben doch.

Die Menschen mögen es nicht, von Göttern herumgestoßen zu werden. An der Oberfläche mag es anders aussehen, aber darunter, und sei es auch in erheblichen Tiefen darunter, da ahnen sie, was los ist, und sie nehmen es übel. Insgeheim also wissen sie es. Spider konnte Rosie sagen, sie solle glücklich sein mit der Situation, wie sie war, und sie würde dann auch glücklich sein, aber es wäre genauso echt, als hätte er ihr ein Lächeln aufs Gesicht gemalt – ein Lächeln, das sie in jeder relevanten Hinsicht für ihr eigenes halten würde. Kurzfristig (und bislang hatte Spider immer nur kurzfristig gedacht) würde das alles keine Rolle spielen, aber langfristig konnte es nur zu Problemen führen. Er hatte kein Verlangen nach einem Geschöpf, in dem die Wut brodelte, nach einer Frau, die, obwohl sie ihn recht eigentlich verabscheute, an der Oberfläche friedfertig, weibchenhaft und ganz normal war. Nein, er wollte Rosie.

Und das wäre ja dann nicht Rosie, oder?

Spider starrte durchs Fenster auf den prachtvollen Wasserfall und den tropischen Himmel, und er begann sich zu fragen, wann Fat Charlie kommen und an seine Tür klopfen würde. Irgendwas war in dem Restaurant heute Morgen geschehen, und er war davon überzeugt, dass sein Bruder mehr darüber wusste, als er zugab.

Nach einer Weile wurde ihm das Warten langweilig, daher schlenderte er zurück in Fat Charlies Wohnung. Es war niemand da. Aber es herrschte ein einziges Durcheinander als wäre die ganze Wohnung von ausgebildeten Fachkräften auf den Kopf gestellt worden. Spider kam zu dem Schluss, dass Fat Charlie das Chaos höchstwahrscheinlich selber angerichtet hatte, um so seine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck zu bringen, dass Spider ihn bei ihrer Prügelei besiegt hatte.

Er blickte aus dem Fenster. Draußen parkte ein Streifenwagen neben einem schwarzen Polizeitransporter. Während er noch Genaueres auszumachen versuchte, fuhren beide Fahrzeuge davon.

Er machte sich einen Toast, strich Butter drauf und aß ihn. Dann wanderte er durch die Wohnung, zog alle Vorhänge sorgfältig zu.

Die Türklingel schellte. Spider zog schnell noch den letzten Vorhang zu, dann ging er nach unten.

Als er die Tür öffnete, blickte ihm Rosie entgegen. Sie schien noch immer ein wenig benommen. Er starrte sie an.

»Na, was ist? Bittest du mich nicht rein?«

»Doch, natürlich. Komm.«

Sie stieg die Treppe hinauf. »Was ist hier passiert? Es sieht ja aus, als hätte es ein Erdbeben gegeben.«

»Ach ja?«

»Warum sitzt du hier im Dunkeln?« Sie schickte sich an, die Vorhänge aufzuziehen.

»Nicht! Lass sie zu.«

»Wovor fürchtest du dich denn?«, fragte Rosie.

Spider spähte aus dem Fenster. »Vögel«, sagte er schließlich.

»Aber Vögel sind doch unsere Freunde«, sagte Rosie, als spreche sie zu einem kleinen Kind.

»Vögel«, sagte Spider, »sind die letzten Dinosaurier. Winzige Velociraptoren mit Flügeln. Fressen wehrlose Krabbelwesen und, und Nüsse und Fische und, und andere Vögel. Sie sind unermüdlich. Und hast du schon mal ein Huhn fressen sehen? Sie mögen harmlos aussehen, aber Vögel sind, na ja, sie sind echt fies.«

»Neulich haben sie irgendwas in den Nachrichten gebracht«, sagte Rosie, »über einen Vogel, der einem Menschen das Leben gerettet hat.«

»Das ändert nichts an der Tatsache, dass …«

»Es war ein Rabe. Oder eine Krähe. Einer von den großen Schwarzen. Der Mann lag zu Hause auf seinem Rasen es war in Kalifornien – er liest in einer Zeitschrift und da hört er so ein Krächzen, es hört gar nicht wieder auf, und es stellt sich heraus, dass es ein Rabe ist, der seine Aufmerksamkeit erregen will. Er steht also auf und geht zu dem Baum, auf dem der Rabe sitzt, und darunter kauert ein Berglöwe, der sich angeschlichen hatte und drauf und dran war, sich auf ihn zu stürzen. Da ist er schnell ins Haus gegangen. Wenn der Rabe ihn nicht gewarnt hätte, wäre er zu Löwenfutter geworden.«

»Ich glaube nicht, dass das typisches Rabenverhalten ist«, sagte Spider, »aber egal, ob ein Rabe einmal einem Menschen das Leben gerettet hat oder nicht, ändern würde das überhaupt nichts. Die Vögel haben es trotzdem auf mich abgesehen.«

»Aha.« Rosie gab sich Mühe, nicht so zu klingen, als habe sie es mit einem Irren zu tun, auf dessen Spinnereien sie eingehen müsse. »Die Vögel haben es auf dich abgesehen.«

»Ja.«

»Und zwar weil …?«

»Ähm.«

»Es muss doch einen Grund geben. Du wirst mir nicht erzählen wollen, dass die ganze große Vogelschaft einfach so, ohne ersichtlichen Grund, beschlossen hat, dich als einen besonders schmackhaften Wurm zu behandeln.«

Er sagte: »Ich glaube nicht, dass du mir glauben würdest«, und das glaubte er wirklich nicht.

»Charlie. Du bist doch immer ein ehrlicher Mensch gewesen. Ich meine, ich habe dir vertraut. Wenn du mir etwas erzählst, dann versuche ich es nach besten Kräften zu glauben. Ich werde mir wirklich alle Mühe geben. Ich liebe dich und glaube an dich. Also, lass mich doch einfach mal sehen, ob ich dir glauben kann oder nicht.«

Spider dachte darüber nach. Dann griff er nach ihrer Hand und drückte sie.

»Ich glaube, ich sollte dir etwas zeigen«, sagte er.

Er führte sie ans Ende des Korridors. Sie blieben vor der Tür zu Fat Charlies Gästezimmer stehen. »Da ist etwas drin«, sagte er, »das die Sache wahrscheinlich ein bisschen besser erklärt, als ich das kann.«

»Du bist ein Superheld«, sagte sie, »und da drinnen befindet sich deine Bat-Höhle?«

»Nein.«

»Ist es irgendwas Perverses? Du ziehst dir gern mal ein Twinset mit ‘ner Perlenkette an und nennst dich Dora?«

»Nein.«

»Es ist … keine Modelleisenbahn, oder?«

Spider stieß die Tür zu Fat Charlies Gästezimmer auf, und gleichzeitig öffnete er die Tür zu seinem Schlafzimmer. Das Panoramafenster auf der anderen Seite zeigte einen Wasserfall, der sich tosend in einen weit unten gelegenen Urwaldsee ergoss. Der Himmel hinter dem Fenster war blauer als der blauste Saphir.

Rosie machte ein Geräusch, wie wenn einem die Luft wegbleibt.

Sie drehte sich um, ging durch den Flur zurück in die Küche und blickte durch das dortige Fenster in den grauen, teigigen und alles andere als einladenden Londoner Himmel. Sie kehrte zurück. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie.

»Charlie? Was geht hier vor?«

»Ich bin nicht Charlie«, sagte Spider. »Sieh mich an. Sieh mich richtig an. Ich sehe nicht mal aus wie er.«

Sie gab sich keine Mühe mehr, ihm nach dem Mund zu reden. Sie blickte ängstlich aus geweiteten Augen.

»Ich bin sein Bruder«, sagte Spider. »Ich hab alles durcheinandergebracht. Ich hab richtig großen Mist gebaut. Und ich glaube, es ist das Beste, wenn ich einfach abhaue und aus eurem Leben verschwinde.«

»Und wo ist Fat – wo ist Charlie?«

»Ich weiß nicht. Wir hatten uns geprügelt. Er ist dann an die Haustür gegangen, weil es geklingelt hatte, und ich bin in mein Zimmer gegangen. Irgendwie ist er danach nicht wiedergekommen.«

»Er ist nicht wiedergekommen? Und du hast nicht mal versucht herauszufinden, was mit ihm passiert ist?«

»Ah. Könnte sein, dass er von der Polizei mitgenommen wurde«, sagte Spider. »Das ist aber nur eine Vermutung.

Ich hab keinen Beweis oder so.«

»Wie heißt du?«, fragte sie.

»Spider.«

Rosie wiederholte. »Spider.« Draußen vor dem Fenster, über der Gischt des Wasserfalls, konnte sie eine Schar Flamingos durch die Luft schweben sehen, das Weiß und Rosa ihrer Flügel verschwamm im Sonnenlicht. Sie waren stattlich, eine unübersehbare Menge, und es war mit das Schönste, was Rosie je gesehen hatte. Sie wandte sich zurück zu Spider, und als sie ihn jetzt ansah, war es ihr unbegreiflich, wie sie diesen Mann jemals für Fat Charlie hatte halten können. Wo Fat Charlie gelassen bis zur Behäbigkeit, offen und immer etwas verlegen war, war dieser Mann wie eine gebogene, unter Hochspannung stehende Stahlrute. »Du bist wirklich nicht Charlie, was?«

»Hab ich doch gesagt.«

»So. Und wer war es jetzt. Wer hat mich … mit wem hab ich geschlafen?«

»Das war wohl ich«, sagte Spider.

»Dachte ich mir«, sagte Rosie. Sie schlug ihn, so kräftig sie konnte, ins Gesicht. Er spürte, dass seine Lippe wieder zu bluten begann.

»Das hab ich mir wohl verdient«, sagte er.

»Natürlich hast du das verdient.« Sie machte eine Pause. Dann sagte sie: »Wusste Fat Charlie davon? Von dir? Davon, dass du mit mir ausgegangen bist?«

»Na ja, schon. Aber er …«

»Ihr seid beide krank«, sagte sie. »Widerliche, kranke, verkommene Mannstypen. Ich hoffe, ihr verfault in der Hölle.«

Sie warf einen letzten verwirrten Blick durch das riesige Schlafzimmer und aus dem Fenster hinaus auf die Dschungelbäume, den großen Wasserfall und die Flamingoschar, dann drehte sie sich um und marschierte durch den Flur davon.

Spider setzte sich auf den Fußboden, ließ ein dünnes Blutrinnsal von der Unterlippe tropfen und kam sich ziemlich blöd vor. Er hörte die Haustür knallen. Er ging zu seinem Warmwasserbecken und tauchte das Ende eines flauschigen Handtuchs ein, das er anschließend auswrang und sich auf den Mund legte. »Ich brauche das hier alles nicht«, sagte Spider. Er sagte es laut; es ist leichter, sich selbst zu belügen, wenn man es laut tut. »Ich hab keinen von euch vor einer Woche gebraucht, und heute brauche ich euch auch nicht. Ist mir alles total egal. Ich bin hier fertig.«

Die Flamingos knallten auf das Fenster wie gefiederte rosa Kanonenkugeln, und das Glas zersprang in tausend kleine Stücke, die durchs Zimmer flogen und sich in die Wände, den Fußboden, das Bett bohrten. Überall schossen blassrosa Körper durch die Luft, ein wirres Durcheinander von großen rosa Flügeln und gebogenen schwarzen Schnäbeln. Das Tosen des Wasserfalls explodierte ins Zimmer hinein.

Spider schob sich rückwärts bis zur Wand. Zwischen ihm und der Tür waren hunderte von Flamingos: ein Meter sechzig hohe Tiere, ganz aus Beinen und Hälsen bestehend. Er kam auf die Füße und machte ein paar Schritte durch ein Minenfeld aus wütenden rosa Vögeln, die ihn aus wahnsinnigen rosa Augen feindselig anstarrten. Aus einiger Entfernung betrachtet, mochten sie sogar schön sein. Einer von ihnen schnappte nach Spiders Hand. Es ging nicht durch die Haut, aber es tat weh.

Spiders Schlafzimmer war groß, aber es füllte sich rasend schnell mit bruchlandenden Flamingos. Und im blauen Himmel über dem Wasserfall erschien jetzt eine dunkle Wolke: offenbar ein weiteres Geschwader im Anflug. Sie hackten und krallten nach ihm, stießen ihn mit ihren Flügeln hin und her, aber er wusste, dass das nicht das eigentliche Problem war. Die eigentliche Gefahr bestand darin, unter einer flauschigen rosa Federdecke und den dazugehörigen Vögeln zu ersticken. Ein beschämend unwürdiger Tod wäre das, von Vögeln erdrückt zu werden, von nicht einmal besonders intelligenten Vögeln zumal.

Denk nach, sagte er sich. Es sind Flamingos. Vogelhirne. Du bist Spider.

Na und?, erwiderte er sich selbst unwirsch. Erzähl mir mal was Neues.

Die Flamingos am Boden belagerten ihn. Die Flamingos in der Luft tauchten im Sturzflug auf ihn herab. Er zog seine Jacke über den Kopf, doch da schlugen die ersten Flugflamingos auch schon bei ihm ein. Es war, als würde man mit Hühnern bombardiert. Taumelnd ging er zu Boden. Na los, tricks sie aus, du Idiot.

Spider rappelte sich auf und watete durch das Meer von Flügeln und Schnäbeln, bis er das Fenster erreichte, das nurmehr ein offener Schlund mit gezackten Glasrändern war.

»Bescheuerte Vögel«, sagte er fröhlich. Er zog sich auf den Fenstersims hinauf.

Flamingos sind nicht gerade berühmt für ihre herausragende Intelligenz respektive ihre Problemlösungskompetenz: Wenn eine Krähe ein Stück Draht und eine Flasche mit etwas Essbarem darin vor sich hat, könnte sie durchaus auf die Idee kommen, aus dem Draht ein Werkzeug zu formen, mit dessen Hilfe sie sich Zugang zum Inhalt der Flasche verschafft. Ein Flamingo dagegen wird den Draht zu fressen versuchen, falls er wie eine Garnele aussieht, und vielleicht auch, wenn er nicht so aussieht, nur für den Fall, dass es sich vielleicht um eine neue Art Garnele handelt. Wenn also der Mann, der dort auf dem Fenstersims stand und sie beleidigte, etwas leicht Rauchiges und Körperloses an sich hatte, so war dies etwas, das über die geistige Verarbeitungskapazität der Flamingos hinausging. Sie funkelten ihn mit den irren rubinroten Augen von Killerkaninchen an und stürmten auf ihn ein.

Der Mann sprang kopfüber vom Fenstersims, hinein in die Gischt des Wasserfalls, und eintausend Flamingos stürzten sich hinterher. Wenn man sich vor Augen führt, wie viel Anlauf ein Flamingo benötigt, um richtig losfliegen zu können, verwundert es nicht, dass die meisten von ihnen fielen wie ein Stein.

Bald befanden sich nur noch tote oder verletzte Flamingos im Schlafzimmer: die, die das Fenster zerschmettert hatten, die, die in die Wände gekracht, und die, die von den anderen Flamingos erdrückt worden waren. Die Vögel, die noch am Leben waren, beobachteten, wie die Schlafzimmertür, offenbar von ganz allein, sich öffnete und wieder schloss, und da sie Flamingos waren, dachten sie sich nichts weiter dabei.

Spider stand im Flur von Fat Charlies Wohnung und rang nach Atem. Er konzentrierte sich darauf, die Existenz des Schlafzimmers zu beenden, was er äußerst ungern tat, vor allem, weil er unglaublich stolz auf seine Stereoanlage war, aber auch, weil er seine Sachen dort aufbewahrte.

Andererseits kann man sich ja immer wieder neue Sachen anschaffen.

Wenn man Spider ist, braucht man nichts weiter zu tun, als darum zu bitten.


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ROSIES MUTTER gehörte nicht zu den Frauen, die zur Schadenfreude neigen, jedenfalls nicht offen, und so nahm sie, als Rosie in Tränen aufgelöst auf das Chippendale-Sofa sank, davon Abstand, in Jubelschreie auszubrechen, zu singen oder einen kleinen Siegestanz durchs Wohnzimmer aufzuführen. Ein genauer Beobachter freilich hätte vielleicht ein Schimmern des Triumphes in ihren Augen bemerkt.

Sie reichte Rosie ein großes Glas mit vitaminisiertem Wasser und einem Eiswürfel darin und lauschte der tränenreichen Litanei von Täuschung und Herzeleid, die ihre Tochter zu überbringen hatte. Als diese auf ihr Ende zuging, war der Glanz des Triumphes durch einen Ausdruck von Verwirrung ersetzt worden, und langsam drehte sich Rosies Mutter der Kopf.

»Fat Charlie war also in Wirklichkeit gar nicht Fat Charlie?«, sagte sie.

»Nein. Beziehungsweise ja. Fat Charlie ist Fat Charlie, aber in den letzten beiden Wochen habe ich mich immer mit seinem Bruder getroffen.«

»Sie sind Zwillinge?«

»Nein. Ich glaube nicht mal, dass sie sich besonders ähnlich sehen. Ich weiß nicht, ich bin so verwirrt.«

»Mit welchem von beiden hast du denn jetzt Schluss gemacht?«

Rosie putzte sich die Nase. »Ich habe mit Spider Schluss gemacht. Das ist Fat Charlies Bruder.«

»Mit dem warst du aber nicht verlobt.«

»Nein, aber das dachte ich. Ich dachte, er wäre Fat Charlie.« »Also hast du auch mit Fat Charlie Schluss gemacht?«

»Sozusagen. Ich hab’s ihm nur noch nicht gesagt.«

»Wusste er Bescheid über diese, diese Brüdergeschichte? War das irgend so eine böse, perverse Verschwörung gegen mein armes kleines Mädchen?«

»Ich glaube nicht. Aber das spielt keine Rolle. Ich kann ihn nicht heiraten.«

»Nein«, stimmte ihre Mutter zu. »Das kannst du nicht.

Ganz bestimmt nicht.« Im Geiste gab sie dem Siegestanz jetzt freien Lauf und setzte zur Feier des Anlasses zusätzlich ein großes, aber geschmackvolles Feuerwerk in Gang.

»Wir finden schon noch einen anständigen Jungen für dich. Mach dir keine Sorgen. Dieser Fat Charlie. Der hat doch von Anfang an nichts Gutes im Schilde geführt. Ich hab’s gleich gewusst, als ich ihn das erste Mal sah. Er hat in mein Wachsobst gebissen. Das konnte ja nicht gut gehen. Wo ist er jetzt?«

»Ich weiß nicht genau. Spider sagte, er sei vielleicht von der Polizei abgeholt worden«, sagte Rosie.

»Hah!«, sagte ihre Mutter, die das Feuerwerk auf »Silvester in Disneyland« - Dimensionen ausweitete und sicherheitshalber gleich noch ein Dutzend makelloser schwarzer Bullen im Geiste opferte. Laut sagte sie nur: »Wahrscheinlich im Gefängnis, wenn du mich fragst. Da passt er auch hin. Ich hab doch immer gesagt, dass dieser junge Mann einmal dort landen würde.«

Rosie begann wieder zu weinen, womöglich noch heftiger als zuvor. Sie zog ein weiteres Knäuel Papiertücher hervor und schnauzte sich mit lauten Trompetenstößen. Sie schluckte tapfer. Dann weinte sie noch etwas mehr. Ihre Mutter tätschelte Rosies Hand so beruhigend und tröstend, wie es ihr gegeben war. »Das ist klar, dass du ihn nicht heiraten kannst«, sagte sie. »Du kannst keinen Sträfling heiraten. Aber wenn er im Gefängnis ist, kannst du die Verlobung ohne Probleme lösen.« Das Schreckgespenst eines Lächelns suchte ihre Mundwinkel heim, als sie sagte: »Ich kann das telefonisch für dich erledigen. Oder ich geh an einem Besuchstag hin und sage ihm, dass er ein mieser Schurke ist und du ihn nie wiedersehen willst. Wir könnten auch eine einstweilige Verfügung erwirken, dass er sich dir nicht nähern darf«, fügte sie hilfreich hinzu.

»D-das ist nicht der Grund, warum ich Fat Charlie nicht heiraten kann«, sagte Rosie.

»Nicht?« Ihre Mutter lüpfte eine perfekt gezogene Augenbraue.

»Nein«, sagte Rosie. »Ich kann Fat Charlie deshalb nicht heiraten, weil ich ihn nicht liebe.«

»Aber natürlich nicht. Das habe ich doch von Anfang an gewusst. Das war nur mädchenhafte Verliebtheit, aber jetzt, wo du erkannt hast …«

»Ich liebe«, fuhr Rosie fort, als würde sie die Worte ihrer Mutter gar nicht zur Kenntnis nehmen, »seinen Bruder. Spider.« Der Ausdruck, der sich auf dem Gesicht ihrer Mutter Bahn brach, glich einem Schwarm Wespen, der über ein Picknick herfällt. »Ist schon gut«, sagte Rosie. »Ihn werde ich auch nicht heiraten. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn nie wiedersehen will.«

Rosies Mutter schürzte die Lippen. »Tja«, sagte sie, »ich kann nicht behaupten, dass ich hier irgendetwas begreife, aber ich kann auch nicht sagen, dass es sich schlecht anhört.« Die Hebel in ihrem Kopf wurden umgelegt, die Zahnräder griffen auf neue und interessante Weise ineinander; Kurbeln kurbelten und Federn federten ab. »Weißt du«, sagte sie, »was jetzt das Beste für dich wäre? Hast du schon mal daran gedacht, ein bisschen Urlaub zu machen? Ich zahl natürlich gerne dafür, bei all dem Geld, was ich wegen der ausgefallenen Hochzeit spare …«

Letzteres war vielleicht doch eine eher unbedachte Bemerkung. Rosie begann wieder in ihre Papiertücher zu schluchzen. Ihre Mutter fuhr fort: »Wie auch immer, ich würde dir das spendieren. Ich weiß, dass du noch alten Urlaub hast. Und du hast selber gesagt, dass im Moment nicht viel los ist im Büro. In einer Situation wie dieser muss man als junges Mädchen einfach mal alles hinter sich lassen und richtig ausspannen.«

Rosie fragte sich, ob sie ihre Mutter all die Jahre lang falsch eingeschätzt hatte. Sie schniefte und schluckte und sagte: »Das wäre schön.«

»Dann ist es also beschlossen«, sagte ihre Mutter. »Ich werde mitkommen, um mich um mein Kleines zu kümmern.« Im Geiste, vor dem Hintergrund des auf seinen glanzvollen Abschluss zusteuernden Feuerwerks, fügte sie hinzu: Und aufpassen, dass mein Kleines nur die richtige Sorte Mann kennenlernt.

»Wo fahren wir hin?«, fragte Rosie.

»Wir gehen«, sagte ihre Mutter, »auf eine Kreuzfahrt.«


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FAT CHARLIE trug keine Handschellen, das war gut.

Alles andere war schlecht, aber wenigstens trug er keine Handschellen. Das Leben bot ihm nur mehr ein verworrenes, verschwimmendes Bild, aus dem einige Details unnötig scharf hervorstachen: der sich an der Nase kratzende Beamte vom Dienst, der ihn eintrug »Zelle sechs ist frei« und durch eine grüne Tür wies, und dann der Geruch der Zellen, ein Gestank von niedriger Intensität, aber sofort und erschreckend vertraut, eine durchdringende Erinnerung an die Kotze und die Desinfektionsmittel von gestern, an Rauch und muffige Decken, an Verzweiflung und nicht betätigte Toilettenspülungen. Es war der Geruch von ganz weit unten, und genau dort schien Fat Charlie jetzt gelandet zu sein.

»Wennde aufm Klo warst und spülen musst«, sagte der Polizist, der ihn durch den Flur führte, »drückste auf den Knopf in deiner Zelle. Irgendeiner von uns kommt dann vorbei, früher oder später, und zieht für dich an der Kette. So kommste gar nich’ erst auf die Idee, Beweise wegspülen zu wollen.«

»Beweise wofür?«

»Lass mal gut sein, mein Lieber.«

Fat Charlie seufzte. Seit er alt genug war, einen gewissen Wert auf diese Tätigkeit zu legen, hatte er seine körperlichen Ausscheidungsprodukte eigenhändig weggespült, und der Verlust dieses Privilegs, mehr noch als der Verlust seiner Freiheit, machte ihm deutlich, dass nichts mehr war wie vorher.

»Bist zum ersten Mal hier«, sagte der Polizist.

»Tut mir leid.«

»Drogen?«, sagte der Polizist.

»Nein, danke«, sagte Fat Charlie.

»Biste deswegen hier?«

»Ich weiß nicht, warum ich hier bin«, sagte Fat Charlie.

»Ich bin unschuldig.«

»Wirtschaftsverbrechen, wie?«, sagte der Polizist, und er schüttelte den Kopf. »Dann will ich dir mal was erzählen, was die anderen Knackis wissen, auch ohne dass man es ihnen sagt. Je weniger du uns Schwierigkeiten machst, desto weniger machen wir dir Schwierigkeiten. Ihr Typen mit den weißen Kragen. Pocht immerzu auf eure Rechte und was weiß ich. Macht euch das Leben nur unnötig schwer.«

Er öffnete die Tür zu Zelle sechs. »Trautes Heim, Glück allein«, sagte er.

Verstärkter Zellengeruch schlug ihnen aus dem Raum entgegen, der mit jener gesprenkelten Farbe gestrichen war, die Graffiti abweist, und der weiter nichts enthielt als ein ganz niedriges, regalartiges Bett und in der Ecke eine Toilette ohne Deckel.

Fat Charlie legte die Decke, die man ihm ausgehändigt hatte, auf das Bett.

»Na gut«, sagte der Polizist. »Tja. Mach’s dir gemütlich.

Und wenn dir langweilig wird, komm bitte nicht auf die Idee, die Toilette mit deiner Decke zu verstopfen.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Das frag ich mich auch oft«, sagte der Polizist. »Warum tun die das? Vielleicht hilft es gegen die Eintönigkeit. Ich kann es nicht beurteilen. Da ich ein gesetzestreuer Bürger bin, auf den eine Beamtenpension wartet, hab ich eigentlich noch nie längere Zeit in einer Zelle verbringen müssen.«

»Wissen Sie, ich habe es nicht getan«, sagte Fat Charlie.

»Was immer es war.«

»Das ist gut«, sagte der Polizist.

»Entschuldigung«, sagte Fat Charlie. »Bekomme ich irgendwas zu lesen?«

»Sieht das hier wie ‘ne Leihbücherei aus?«

»Nein.«

»Als ich noch’n junger Polizist war, hat mich so’n Typ mal um ein Buch gebeten. Hab ihm dann das Buch gebracht, was ich grad am Lesen war. J. T. Edson war’s, oder vielleicht auch Louis L’Amour. Und was hat er damit gemacht? Die Toilette verstopft hat er damit, nich’ wahr.

Braucht keiner zu glauben, dass ich das so schnell noch mal wieder mache.«

Dann ging er hinaus und verriegelte die Tür, und Fat Charlie musste drinnen bleiben.


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DAS MERKWÜRDIGSTE überhaupt, dachte Grahame Coats, der sonst nicht zur Selbstprüfung neigte, war, wie normal und aufgekratzt und rundweg gut er sich fühlte.

Der Flugkapitän forderte dazu auf, die Sitzgurte anzulegen, und teilte mit, dass man bald auf Saint Andrews landen werde. Saint Andrews war eine kleine Insel in der Karibik, die es anlässlich ihrer Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1962 für angezeigt befunden hatte, ihre Befreiung vom kolonialen Joch auf mehrererlei Weise zu demonstrieren, unter anderem durch die Schaffung einer sehr eigenen Gerichtsbarkeit sowie durch einen einzigartigen Mangel an Auslieferungsabkommen mit dem Rest der Welt.

Das Flugzeug landete. Grahame Coats stieg aus und schritt, seinen Reisekoffer hinter sich herziehend, über das sonnige Rollfeld. Er zückte den passenden Reisepass den von Basil Finnegan und ließ ihn abstempeln, sammelte sein übriges Gepäck vom Förderband und ging dann durch den unbesetzten Zoll in die winzige Flughalle, um von dort aus in den prächtigen Sonnenschein hinauszutreten. Er trug T-Shirt, Shorts und Sandalen und sah aus wie ein britischer Urlauber im Ausland.

Sein Hausmeister wartete vor dem Flughafen auf ihn. Grahame Coats setzte sich auf die Rückbank des schwarzen Mercedes und sagte: »Nach Hause, bitte.« Auf der Fahrt von Williamstown, unterwegs zu seinem auf einem Berg gelegenen Anwesen, blickte er mit einem zufriedenen Besitzerlächeln auf die Insel hinaus.

Ihm fiel wieder ein, dass er sich vor seinem Abflug aus England einer Frau entledigt hatte. Er fragte sich, ob sie wohl noch am Leben sei; er wagte es zu bezweifeln. Der Gedanke, getötet zu haben, störte ihn nicht. Vielmehr war es ein überaus befriedigendes Gefühl, beinahe als habe er es tun müssen, um sich als vollständiges Wesen zu spüren. Er fragte sich, ob er je wieder Gelegenheit dazu bekäme.

Er fragte sich, ob es vielleicht schon recht bald der Fall sein würde.

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