Heute früh setzen sie bestimmt wieder Regen aufs Programm, dachte Dr. Thei Svengaard. Bei Regen fühlen sich die Eltern immer so unbehaglich, ganz zu schweigen davon, wie er den Ärzten zusetzt.
Winterlicher Regen klatschte an das Fenster hinter seinem Schreibtisch. Er stand auf, um den Dämpfer am Fenster einzuschalten, aber die Durants, die für diesen Morgen bestellten Eltern, könnten an einem solchen Tag von einer unnatürlichen Stille noch mehr beunruhigt werden.
Dr. Svengaard trat ans Fenster und sah hinunter in das Gewühl der Fußgänger; die Tagesschicht eilte zur Arbeit in der Hauptstadt, die Nachtschicht strebte übermüdet der Ruhe entgegen. Sie führten das Leben von Höhlenbewohnern; und trotzdem lag über ihrem Kommen und Gehen ein Hauch machtvoller Bewegung. Er wußte, die meisten von ihnen waren Sterries — Legionen von Unfruchtbaren.
Das Sprechgerät zum Empfangsraum war eingeschaltet, und so hörte er, wie seine Assistentin, Mrs. Washington, die Durants mit Fragen und Formblättern quälte.
Routine …
Das war die Parole. Alles mußte wie normale Routine erscheinen. Die Durants und alle die anderen, die das Glück hatten, ausgewählt worden zu sein und Eltern zu werden, durften die Wahrheit niemals auch nur ahnen.
Dr. Svengaard schob diese Gedanken beiseite und erinnerte sich daran, daß einem Angehörigen des Arztberufes keine Schuldgefühle erlaubt waren. Schuldbewußtsein führte unweigerlich zu Verrat — und Verrat hatte unangenehme Folgen. Die Regenten waren außerordentlich empfindlich in allem, was das Programm der Aufzucht betraf.
Solch ein Gedanke mit einer Andeutung von Kritik erfüllte Svengaard sofort mit Unruhe. Er schluckte und lenkte seine Gedanken auf die Einstellung des Volkes den Regenten gegenüber. Sie sind die Macht, die uns liebt und für uns sorgt.
Mit einem Seufzer wandte er sich vom Fenster ab, ging um den Schreibtisch herum und durch die Tür, die vom Wartezimmer in das Labor führte. Im Spiegel prüfte er seine Erscheinung: graues Haar, dunkelbraune Augen, ein kräftiges Kinn, eine hohe Stirn und ziemlich strenge Lippen unter einer Hakennase. Schon immer war er ziemlich stolz gewesen auf die Andeutung von Würde in seiner Erscheinung, und er hatte sich darauf festgelegt, ihr auch Ausdruck zu verleihen. Nun setzte er eine Miene freundlicher Anteilnahme auf.
Mrs. Washington bat die Durants ins Labor, als Dr. Svengaard durch seine Privattür hereinkam. Auf die Dachfenster trommelte der Regen. Dieses Wetter schien plötzlich genau zu diesem Raum zu passen: Glas, Stahl, Plasmeld und Kacheln … alles unpersönlich.
Dr. Svengaard mochte diese Eltern nicht — vom ersten Augenblick an. Harvey Durant war ein beweglicher, großer Mann mit blondem Lockenhaar und hellblauen Augen. Das Gesicht sprach von Unschuld und Jugend. Lizbeth, seine Frau, war nahezu von gleicher Größe, ebenso blond, blauäugig und jung, mit der Gestalt einer Walküre. Um den Hals trug sie an einer Silberkette einen der allgegenwärtigen Volkstalismane, die Messingfigur der Regentin Calapine. Der Zuchtkultunsinn und der religiöse Hintergrund dieses Figürchens entgingen Dr. Svengaard nicht, und er unterdrückte nur mühsam eine geringschätzige Bemerkung.
Aber die Durants waren Eltern und robust — lebendes Zeugnis der Tüchtigkeit jenes Chirurgen, der sie geformt hatte. Stolz erfüllte Svengaard auf seinen Beruf. Nicht vielen gelang es, in die kleine Gruppe der Grundzelleningenieure aufgenommen zu werden, welche die menschliche Vielfalt in Grenzen hielten.
Mrs. Washington blieb hinter den Durants unter der Tür stehen. »Dr. Svengaard«, sagte sie, »das sind Harvey und Lizbeth Durant.« Dann verschwand sie. Sie war von außergewöhnlichem Taktgefühl.
»Die Durants, ach wie nett«, sagte Dr. Svengaard. »Ich hoffe, meine Assistentin hat Sie mit diesen Fragen und Formularen nicht allzusehr gelangweilt. Es ist aber anzunehmen, daß Sie genau wußten, worauf Sie sich einließen, als Sie sich entschlossen, zusehen zu wollen.«
»Das verstehen wir«, antwortete Harvey Durant. Zusehen wollen, dachte er. Glaubt denn dieser alte Schwindler, uns mit seinen Tricks kommen zu können?
Dr. Svengaard entging der volle Klang von Durants Stimme nicht. Der störte ihn und trug zu seiner Abneigung bei.
»Wir möchten Ihre Zeit nicht länger als unbedingt nötig beanspruchen«, bemerkte Lizbeth Durant. Sie griff nach der Hand ihres Gatten und signalisierte ihm mit dem geheimen Spiel ihrer Finger: Kannst du seine Gedanken lesen? Er mag uns nicht.
Er ist ein Sterrie-Snob, antworteten Harveys Finger, und so stolz auf seine Stellung, daß er fast blind ist.
Der vernünftige Ton der Frau irritierte Dr. Svengaard. Sie sah sich mit raschen, suchenden Blicken im Labor um. Ich muß sie unter Kontrolle halten, dachte er, ging auf sie zu und schüttelte ihnen die Hände; sie waren feucht vor Schweiß.
Gut, dachte Svengaard, sie sind nervös.
Das Geräusch einer Entwicklungspumpe zu seiner Linken war tröstlich laut; man konnte damit rechnen, daß sie die Eltern nervös machte. Deshalb waren die Pumpen ja auch so laut. Dr. Svengaard wandte sich um und deutete auf einen geschlossenen Behälter aus Kristallglas, der fast in der Mitte des Labors über einem Kraftfeld stand. Aus diesem Behälter kam das Pumpgeräusch.
»Da wären wir also«, sagte Dr. Svengaard.
Lizbeth besah sich die milchig-durchsichtige Oberfläche des Behälters; ihre Zunge befeuchtete die Lippen. »Da drinnen?«
»Und so sicher wie nur möglich«, antwortete Svengaard. Er hoffte, die Durants möchten nun endlich gehen und das Ergebnis abwarten.
Harvey nahm die Hand seiner Frau und tätschelte sie. Auch er starrte in den Behälter. »Wir haben gehört, daß Sie diesen Spezialisten zugezogen haben«, sagte er.
»Dr. Potter«, antwortete Svengaard. »Von der Zentrale.« Er beobachtete das nervöse Spiel der Hände der Durants, die tätowierten Zeigefinger — Kennzeichen der Erbmasse und der Brutstation. Nun konnten sie das ›L‹ für ›lebensfähig‹ hinzufügen, und dieser Gedanke ließ Eifersucht in ihm aufkeimen.
»Ja, Dr. Potter«, bestätigte Harvey. Hast du gehört, wie er ›Zentrale‹ sagte? fragten seine Finger.
Wie könnte ich das überhören? antworteten die ihren.
Die Zentrale, dachte sie, jener Ort mit den Zauberbildern der Regenten; zugleich fielen ihr die Cyborgs ein, die geheimen Gegenspieler der Regenten, und diese Gedanken erfüllten sie mit Unruhe. Sie war jetzt nicht imstande, an etwas anderes zu denken als an ihren Sohn.
»Wir wissen, daß Potter der beste ist, den es gibt«, sagte sie. »Sie dürfen nicht glauben, daß wir nur aus Gefühlen und Angst bestehen.«
»Aber wir werden zusehen«, warf Harvey ein. Dieser steifnackige Chirurg sollte sich besser klarmachen, daß wir unsere Rechte kennen, dachte er.
»Ich verstehe«, antwortete Dr. Svengaard und dachte: verdammte Narren! Seine Stimme klang beruhigend gleichmütig: »Ihre Sorgen sind ganz natürlich. Ich bewundere Sie. Aber die Konsequenzen…«
Er ließ die Worte im Raum hängen, um ihnen ins Gedächtnis zu rufen, daß auch er Rechte hatte und daß er die Formung auch ohne Erlaubnis der Eltern durchführen konnte.
Harvey nickte rasch. Seine Hand umschloß mit festem Griff die seiner Frau. Gedanken an Schauergeschichten und offizielle Mythen huschten durch sein Gehirn. Er sah Svengaard teils durch den Schleier dieser Geschichten, teils durch den einer verbotenen Literatur, die von Cyborgs dem Untergrund der Eltern zugespielt wurde, wie Stedman und Merck, Shakespeare und Huxley.
Lizbeths Nicken folgte später. Sie wußte, worum es hier ging, aber schließlich war es noch immer ihr Sohn, der sich dort im Bruttank befand.
»Sind Sie auch sicher«, fragte sie und reizte damit absichtlich Dr. Svengaard, »daß keine Schmerzen damit verbunden sind?«
»Das befruchtete Ei hat noch keine Nervenzellen«, antwortete er. »Es ist physisch kaum drei Stunden alt, denn sein Wachstum wurde durch kontrollierte Nitratbeatmung verzögert. Schmerzen? Das ist wohl ausgeschlossen.«
Technische Ausdrücke würden ihnen wenig sagen, wußte Dr. Svengaard; sie konnten höchstens den Abstand zwischen gewöhnlichen Eltern und einem Molekularingenieur betonen.
»Wahrscheinlich war es sehr dumm von mir«, sagte Lizbeth. »Es ist so … so primitiv, noch nicht richtig menschlich.« Er ist ein Dummkopf, signalisierte sie Harvey, und so leicht zu lesen wie ein Kind.
Der Regen trommelte eine Tarantella auf die Oberlichte. »Nun, wir wollen keine Fehler machen«, meinte Dr. Svengaard nach einer kleinen Pause. Das ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, diesen Narren Nachhilfeunterricht im Katechismus zu geben, dachte er. »Ihr Embryo ist jetzt weniger als drei Stunden alt, hat in sich aber schon jedes Grundenzym, das er braucht, wenn er voll entwickelt ist. Ein ungeheuer komplizierter Organismus.«
Lizbeth sah in den Bruttank.
Vor zwei Tagen waren dort ausgewählte Keimzellen von Harvey mit den ihren vereinigt worden; man zwang sie zur Stasis und erlaubte nur eine sehr beschränkte Zellteilung. Dieser Vorgang produzierte einen lebensfähigen Embryo; das war ziemlich selten in einer Welt, die nur wenige vor dem empfängnisverhütenden Gas bewahrte und ihnen die Zucht erlaubte, und auch von diesen wenigen Menschen wurden nur selten lebensfähige Embryos gezeugt. Man vermutete nicht, daß sie, Lizbeth, die Kompliziertheit dieses Vorganges begriff, und die Tatsache, daß sie verstand, mußte verborgen bleiben. Die genetischen Regenten der Zentrale gingen mit unnachsichtlicher Strenge gegen alles vor, was ihre Überlegenheit bedrohen konnte; und als schrecklichste Bedrohung dieser Überlegenheit betrachteten sie das Wissen bei den Falschen.
»Wie … wie groß ist er jetzt?« fragte sie.
»Durchmesser weniger als ein Zehntelmillimeter«, erklärte Dr. Svengaard. Er beruhigte sie mit einem Lächeln. »Es ist ein Keim, und in der alten, primitiven Zeit hätte es noch nicht einmal seine Reise zum Uterus beendet. In diesem Zustand ist es für uns am zugänglichsten. Wir müssen unsere Arbeit tun, bevor sich der Trophoblast bildet.«
Ehrfürchtig nickten die Durants.
Dr. Svengaard sonnte sich in ihrem Respekt. Ihr Geist orientierte sich nun sicherlich an den spärlichen Definitionen, die eine kümmerliche Schulbildung ihnen vermittelt hatte. Den Unterlagen nach war sie eine Bibliothekarin für Kinderbücher, und er arbeitete als Jugendinstruktor; für beide Berufe war keine besondere Bildung nötig.
Harvey berührte den Bruttank und zuckte zurück. Die kristallene Oberfläche fühlte sich warm an, von einem zarten Vibrieren erfüllt; dazu das ständige Trap-trap-trap der Pumpe. Er fühlte, daß dieser einförmige Laut Absicht war, spürte den raffinierten Betrug in Svengaards Benehmen; der Untergrund hatte ihn ja geschult.
Lizbeths Blick heftete sich an das einzige Ding, das sie wirklich eindeutig erkannte — einen gekachelten Abfluß mit glänzenden Hähnen. Das Bekken war zwischen zwei geheimnisvolle Geräte aus spiralförmigem Glas und fahlgrauem Plasmeld geklemmt. Dieser Abfluß störte Lizbeth; er diente dazu, etwas wegzuwerfen. Man warf Abfall in das Becken, zerkleinerte ihn und spülte ihn in das Abwassersystem. Jedes kleine Ding konnte dort hineingeworfen werden, und dann verschwand es. Für immer.
»Ich lasse mir das Zusehen nicht ausreden«, sägte sie.
Verdammt! dachte Svengaard. In ihrer Stimme lag ein Zögern, und dieses Zögern war eine Finte. Es paßte nicht zu ihrem mutigen Aussehen. Zuviel Nachdruck auf dem Mutterinstinkt bei ihrer Formung — ganz gleich, wie erfolgreich der Chirurg sonst bei ihr gearbeitet hatte.
»Wir sorgen uns genauso um Sie wie um Ihr Kind«, bemerkte Dr. Svengaard. »Das Trauma …«
»Das Gesetz gibt uns das Recht dazu«, erwiderte Harvey und signalisierte Lizbeth: Es ist alles mehr oder weniger genauso, wie wir es erwartet haben.
Trau einer diesem Trampel, er kennt das Gesetz, dachte Dr. Svengaard. Er seufzte. Die Statistik behauptete, daß von hunderttausend Eltern nur ein einziges Paar darauf bestehen würde, ganz gleich, welchen Druck man auch ausübte. Doch Statistiken und tatsächliche Fälle sind immer zwei verschiedene Dinge. Svengaard hatte bemerkt, wie lauernd ihn Harvey ansah. Sein männlicher Beschützerinstinkt war wohl sehr stark ausgeprägt, zu stark vielleicht. Er konnte es nicht ertragen, stellte man sich gegen seine Gefährtin. Zweifellos war er ein Modellgatte, der niemals an Orgien der Sternes teilnahm — eine Führernatur. — Ein Tölpel.
»Das Gesetz«, erklärte Dr. Svengaard, und seine Stimme klang tadelnd, »verlangt auch, daß ich den Eltern die Gefahren eines psychologischen Traumas vor Augen führe. Ich hatte nicht die Absicht, Sie vom Zusehen abzuhalten.«
»Wir werden zusehen«, wiederholte Lizbeth.
Harvey bewunderte sie, denn sie spielte ihre Rolle so gut, daß sogar das Zögern echt wirkte.
»Ich könnte das Warten sonst nicht ertragen«, fuhr Lizbeth fort. »Nicht zu wissen, wie …«
»Na schön«, seufzte Dr. Svengaard.
»Werden wir von hier aus zusehen?« fragte Harvey.
Dr. Svengaard war empört. »Natürlich nicht!« Wie primitiv diese Tölpel doch sind. Aber er dämpfte seinen Zorn mit der Erkenntnis, daß diese Unwissenheit von dem sorgfältig gehüteten Mysterium der Keimformung herrührte. »Sie werden einen kleinen Raum mit einer geschlossenen Direktverbindung zu diesem Labor zur Verfügung haben«, erklärte er etwas ruhigeren Tones. »Meine Assistentin wird Sie führen.«
Mrs. Washington bewies ihre Tüchtigkeit und erschien unter der Tür. Selbstverständlich hatte sie gelauscht. Eine gute Assistentin überließ nichts dem Zufall.
»Ist das alles, was wir hier zu sehen bekommen?« fragte Lizbeth.
Dr. Svengaard hörte die flehende Stimme und bemerkte, daß sie vermied, den Bruttank anzusehen. »Was sonst soll es hier noch zu sehen geben?« fragte er voll verhaltenem Spott. »Sie haben doch sicher nicht erwartet, die Morula zu sehen?«
Harvey ergriff den Arm seiner Frau. »Vielen Dank, Doktor.«
Wieder schweiften Lizbeths Augen durch den Raum, ohne den Bruttank zu streifen. »Ja, ich danke Ihnen, daß Sie uns … dieses Labor gezeigt haben. Wir haben ja nun … nun gesehen, wie Sie … für jeden Notfall gerüstet sind.« Sie blickte auf den Abfluß.
»Oh, bitte sehr«, erwiderte Dr. Svengaard. »Mrs. Washington wird Sie mit einer Namensliste versorgen. Sie können die Zeit dazu benützen, einen passenden Namen für Ihren Sohn auszuwählen, wenn Sie es nicht schon getan haben.« Er nickte der Pflegerin zu. »Führen Sie die Durants bitte zur Zelle fünf.«
»Wollen Sie mir bitte folgen?« forderte Mrs. Washington sie auf. Mit der Miene nervöser Ungeduld, die, wie Svengaard vermutete, jede Pflegerin mit ihrem Diplom erwarb, wandte sie sich um. Die Durants wurden in ihrem Kielwasser mitgezogen.
Svengaard wandte sich dem Bruttank zu.
Es gab noch soviel zu tun; Potter, der Spezialist von der Zentrale, mußte bald da sein, und er würde auch nicht besonders beglückt sein wegen der Durants. Die Leute hatten absolut kein Verständnis dafür, was man in diesem Beruf zu leisten hatte. Die psychologische Beeinflussung der Eltern lenkte von wichtigeren Dingen ab und kostete Zeit, gefährdete überdies die Sicherheit. Svengaard dachte an die fünf Punkte ›Nach Durchsicht zu vernichten‹, die Max Allgood, Sicherheitschef der Zentrale, im vergangenen Monat aufgestellt hatte. Sie waren verwirrend, als habe eine neue Gefahr das Sicherheitsamt aufgestört.
Aber die Zentrale bestand darauf, daß man sich mit den Eltern befaßte. Die Regenten hatten sicher ihre guten Gründe dafür. Meistens war das, was sie taten, recht vernünftig.
Manchmal wurde Svengaard von dem Gefühl befallen, verwaist zu sein, ein Geschöpf ohne Vergangenheit. Ein Gedanke genügte, ihn aus diesem emotionellen Morast herauszureißen: »Sie sind die Macht, die uns liebt und für uns sorgt.« Sie hatten die Welt fest in der Hand, sie planten die Zukunft, einen Platz für jeden Menschen und jeden Menschen an. seinem Platz. Einige der alten Träume wie Raumfahrt, Nutzung der Meere, philosophisches Forschen, waren nach kurzer Förderung zugunsten wichtigerer Dinge aufgegeben worden; doch der Tag würde kommen, an dem die Rätsel des noch Unbekannten bei der submolekularen Formung gelöst werden konnten.
Inzwischen gab es für die Willigen genug Arbeit: die Erhaltung der Arbeiterbevölkerung, die Unterdrückung und Ausmerzung genetischer Abarten, die Sorge um die genetischen Banken, denen selbst die Regenten entstammten.
Svengaard schob das Mesonenmikroskop über den Bruttank der Durants und stellte es auf kleine Verstärkung ein, um die Heisenberginterferenz so gering wie möglich zu halten. Es konnte nicht schaden, nochmal einen Blick hineinzuwerfen; vielleicht gelang es ihm, die Leitzelle zu lokalisieren und damit Potter die Arbeit zu erleichtern. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, diesen Keimling zu studieren, der ungeheure Fähigkeiten versprach und vielleicht zum Regenten geformt werden konnte. Wunder geschahen ja so selten. Er knipste den Schalter, stellte das Mikroskop ein …
Er seufzte tief. »Ahhhh …«
So passiv erschien der Keimling unter der schwachen Verstärkung; kein Pulsieren, denn er lag in Stasis — und doch so schön in seinem Dämmerschlaf! So unwahrscheinlich, daß er die Arena uralter Kämpfe sein sollte.
Svengaard legte die Hand auf die Verstärkerschraube, zögerte aber. Eine starke Vergrößerung brachte Gefahren mit sich, aber Potter konnte kleine Schäden an Mesoneninterferenzen wieder ausgleichen. Und die starke Vergrößerung war eine riesige Versuchung.
Er verdoppelte sie.
Noch mal.
Die Vergrößerung reduzierte immer die Erscheinungen der Stasis. Bewegung zeigte sich, und am Bildrand bemerkte er fischartige Zuckungen. Aus der schwärmenden Arena stieß die dreifache Spirale der Nukleotiden heraus, die ihn veranlaßt hatte, Potter zu rufen. Fast ein Regent. Nahezu die schöne Vollkommenheit der Form, des Geistes, die ein unendliches Ausgewogensein des Lebens versprach, wenn es durch kunstvoll errechnete Enzymgaben gestützt wurde.
Ein Gefühl des Verlorenseins überfiel Svengaard. Seine eigene Rezeptur hielt ihn am Leben, brachte ihn jedoch langsam um. Das war das Schicksal aller Menschen. Sie konnten zweihundert Jahre und länger leben, aber schließlich versagte sie doch — nur nicht bei den Regenten. Sie waren vollkommen, begrenzt nur von ihrer physischen Sterilität, aber die war das Schicksal vieler Menschen.
Er konzentrierte sich auf den Keimling. Eine schwefelhaltige Aminosäuredependenz zeigte bei dieser Verstärkung eine schwache Bewegung. Erschüttert erkannte Svengaard, was es war: Isovaltin, ein genetisches Merkmal für latentes Myxödem, ein Hinweis auf eine mögliche Schilddrüsenfehlfunktion. Das war ein beunruhigender Makel bei der sonstigen Vollkommenheit. Potter mußte auf der Hut sein.
Svengaard reduzierte die Vergrößerung, um die Knorpelstruktur des Keimlings zu studieren. Er folgte der eingestülpten Kernmembrane bis zur abgeflachten, sackähnlichen Kante, kehrte zur äußeren zweiten Membrane zurück, konzentrierte sich auf die hydrophile äußere Kammer. Ja … das Isovaltin bedurfte vermutlich der Verbesserung; dann war diese Morula perfekt.
Eine flatternde Bewegung zeigte sich am Rand des mikroskopischen Feldes. Svengaard erstarrte. Du lieber Gott, nein! dachte er.
Wie festgefroren stand er über dem Okular, als er etwas sah, was, soviel ihm bekannt war, nur achtmal in der Geschichte der Keimformung vorgekommen war: Eine dünne Linie ähnlich einem weit entfernten Kondensstreifen schob sich von links her in die Zellstruktur. Sie wand sich durch eine gedrehte Schlange von Alphaschrauben, griff nach den gebogenen Enden der Polypeptidketten in einem Myosinmolekül, drehte sich und löste sich auf.
Wo vorher die Linie war, lag nun eine neue Struktur in der Größe von ungefähr vier Angström im Durchmesser und tausend Angström lang — Spermprotamin, auffallend reich an Arginin. Die Proteinproduktion des Zellplasmas veränderte sich, kämpfte gegen die Stasis, richtete sich wieder aus. Svengaard erkannte nach der Beschreibung der acht vorhergegangenen Fälle genau, was vor sich ging. Das ADP-ATP-Austauschsystem vervollkommnete sich — wurde ›resistent‹. Die Arbeit des Chirurgen war nun unendlich schwieriger geworden.
Potter wird toben, dachte Svengaard.
Er wandte sich vom Mikroskop ab und richtete sich auf, wischte den Schweiß von seinen Händen und warf einen Blick auf die Uhr. Weniger als zwei Minuten waren vergangen. Die Durants waren jetzt noch nicht einmal in ihrer Zelle angelangt. Aber in diesen zwei Minuten hatte irgendeine Kraft, eine Energie von außen her im Embryo eine anscheinend sinnvolle Berichtigung vorgenommen.
Konnte es das sein, was das Sicherheitsamt und die Regenten aufgerüttelt hatte?
Er schüttelte den Kopf. Nein! Es war nicht zweckmäßig, es war reiner Zufall, sonst nichts.
Aber der Gedanke ließ ihn nicht los.
Wie plump doch meine Arbeit ist, verglichen damit! dachte er. Ich muß Potter darüber berichten. Er muß diese verdrehte Kette formen … wenn er es noch kann, jetzt, wo sie resistent ist.
Von Unruhe erfüllt und absolut nicht befriedigt von dem eben geschauten Zufall begann Svengaard die letzten Überprüfungen des Labors.
Alles in Ordnung.
So mußte es sein. Der Embryo der Durants, dieses wundervolle Wesen mit seinem einmaligen Potential, war nun resistent, ein unbekanntes Geschöpf, nicht zu bestimmen — wenn Potter Erfolg hatte, wo andere versagten.