Meine Zimmerwirtin, ein überaus wortreicher Mann, arrangierte meine Reise in den Osten.»Wenn man die Festungen besuchen will, muß man den Kargav überqueren. Über das Gebirge bis nach Alt-Karhide, nach Rer, der alten Königsstadt. Und wissen Sie was? Einer von meinen alten Herdgenossen führt eine Landbootkarawane über den Eskar- Paß, und gestern sagte er mir bei einer Tasse Orsh, daß sie in diesem Sommer die erste Tour bereits am Getheny Osme machen, weil es ein so warmer Frühling war und die Straßen bereits bis nach Engohar frei sind und die Pflüge den Paß in ein paar Tagen geräumt haben. Also ich — nicht für mein Leben würde ich den Kargav überqueren; ich halte mich an Erhenrang und an mein Dach über dem Kopf. Aber ich bin auch ein Yomeshta, den neunhundert Thronträgern sei Dank und gesegnet sei die Milch des Meshe, und ein Yomeshta kann überall sein. Wir sind sozusagen Neulinge, wissen Sie, denn Lord Meshe wurde vor 2202 Jahren geboren, während die alte Religion der Handdara noch zehntausend Jahre älter ist. Man muß ins alte Land, wenn man die alte Religion sucht. Hören Sie, Mr. Ai, für Sie habe ich in dieser Insel stets ein Zimmer, wenn Sie zurückkommen, aber ich finde, daß Sie sehr gut daran tun, Erhenrang eine Weile zu verlassen. Denn hier weiß doch jeder, daß dieser Verräter im Palast eine ganz große Schau aus seiner Freundschaft mit Ihnen gemacht hat. Jetzt, wo der alte Tibe das Ohr des Königs ist, werden die Dinge wieder glatt laufen. Also, wenn Sie zum Neuen Hafen hinuntergehen, werden Sie dort meinen Herdgenossen finden, und wenn Sie ihm sagen, daß Sie von mir kommen…«
Und so weiter. Er war, wie gesagt, überaus wortreich, und da er außerdem entdeckt hatte, daß ich keinen shifgrethor besaß, ergriff er jede Gelegenheit, mir gute Ratschläge zu erteilen, obwohl auch er sie mit Wenns und Abers kaschierte. Er war der Verwalter meiner Insel, aber ich sah in ihm immer nur meine Zimmerwirtin, weil er ein breites, beim Gehen wackelndes Hinterteil und ein schwammiges, fettes Gesicht hatte und ausgesprochen neugierig, vorwitzig, hinterhältig und zugleich freundlich war. Mir gegenüber gab er sich wohlwollend, aber er zeigte auch, während ich fort war, gegen ein geringes Entgelt Neugierigen, die auf einen Nervenkitzel aus waren, mein Zimmer: Hier sehen Sie das Gemach des geheimnisvollen Gesandten! Er wirkte und gab sich so feminin, daß ich ihn einmal fragte, wie viele Kinder er habe. Er zog eine traurige Miene. Nein, geboren hatte er keine, gezeugt dagegen vier. Auch einer jener kleinen Schocks, die ich hier ständig und immer wieder bekam. Ein kultureller Schock war nichts gegen den biologischen Schock, unter dem ich als männliches Wesen unter Menschen litt, die fünf Sechstel ihrer Zeit hermaphroditische Neutren waren.
Die Rundfunkbulletins waren voll von den Taten des neuen Premierministers Pemmer Harge rem ir Tibe. Eine große Anzahl der Meldungen betraf die Ereignisse oben im Norden, im Sinoth-Tal. Tibe war anscheinend fest entschlossen, Karhides Anspruch auf diese Region durchzusetzen: eine Haltung, die auf jeder anderen Welt in dieser Phase der Zivilisation zum Krieg führen würde. Auf Gethen jedoch führte nie etwas zum Krieg. Schmähungen, Mord, Fehden, Beutezüge, Blutrache, Attentate, Foltern und Greuel — all das gehörte zu ihrem Repertoire menschlicher Errungenschaften; nur in den Krieg zogen sie nicht. Anscheinend fehlte ihnen die Fähigkeit zur Mobilmachung. Sie verhielten sich in dieser Hinsicht wie Tiere — oder wie Frauen. Wie Männer verhielten sie sich nicht. Jedenfalls hatten sie sich bisher noch nie so verhalten. Was ich allerdings über Orgoreyn erfahren hatte, deutete darauf hin, daß dieses Land im Verlauf der letzten fünf oder sechs Jahrhunderte eine immer straffer organisierte Gesellschaft geworden war — ein richtiger Staat. Der Prestigewettbewerb, bislang hauptsächlich wirtschaftlicher Natur, könnte Karhide eines Tages zwingen, seinen größeren Nachbarn nachzuahmen, also eine Nation zu werden — bisher war es nur ein Familienclan, der ständig keifend miteinander im Streit lag, wie Estraven es formuliert hatte — patriotisch zu werden, wie Estraven außerdem gesagt hatte. Kam es so weit, dann hatten die Gethenianer eine großartige Chance, tatsächlich den Kriegszustand herbeizuführen.
Ich hatte vor, nach Orgoreyn zu gehen und zu erforschen, ob die Vorstellung, die ich mir von diesem Land machte, zutraf; zuerst jedoch mußte ich alles erledigen, was mit Karhide zusammenhing. Darum verkaufte ich dem narbengesichtigen Juwelier in der Engstraße einen weiteren Rubin und machte mich, ohne Gepäck, nur mit meinem Geld, meinem Ansible, einigen Instrumenten und Kleidung zum Wechseln, am ersten Tag des ersten Sommermonats als Passagier einer Handelskarawane auf den Weg.
Bei Morgengrauen brachen die Landboote von den windgefegten Verladehöfen des Neuen Hafens auf. Sie fuhren unter dem Bogen hindurch und wandten sich dann nach Osten: zwanzig dicke, fast lautlos laufende, schleppkahnähnliche Lastwagen, die auf weichen Raupenketten, einer hinter dem anderen, durch die morgendlichen Schatten der Straßenschluchten von Erhenrang rollten. Ihre Ladung bestand aus Kästen mit optischen Linsen, Spulen mit Tonbändern, Kupfer- und Platindrahtrollen, Tuchballen aus im West Fall gezogenen und verwobenen Pflanzenfasern, Kartons mit getrockneten Fischflocken aus dem Golf, Kisten mit Kugellagern und anderen kleinen Maschinenteilen und zehn Wagenladungen von Kardik-Getreide aus Orgota: alles bestimmt für die Pering-Sturmgrenze, den nordöstlichen Winkel des Landes. Auf dem großen Kontinent werden alle Transporte von diesen elektrisch angetriebenen Lastwagen übernommen, die, wo immer es möglich ist, auf Schleppkähnen verladen werden, um Flüsse und Kanäle zu benutzen. Während der Monate des tiefen Schnees sind, neben Skiern und von Menschen gezogenen Schlitten, schwerfällige Traktorpflüge, Motorschlitten und die unberechenbaren Eisschiffe auf den zugefrorenen Flüssen die einzigen Transportmittel; während der Tauperiode kann man sich auf keine Form des Transports verlassen. Deswegen erfolgt der gesamte Frachtverkehr, sowie der Sommer kommt. Dann sind die Straßen verstopft von Karawanen. Aber der Verkehr wird streng überwacht; jedes Fahrzeug oder jede Karawane muß unterwegs in ständiger Funkverbindung mit den Kontrollpunkten an der Straße bleiben. Alles kriecht, so dicht der Verkehr auch ist, mit einer steten Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Meilen pro Stunde (terrestrisch) dahin. Die Gethenianer könnten ihre Fahrzeuge auch ein schnelleres Tempo einschlagen lassen, aber sie tun es nicht. Gefragt, warum nicht, antworten sie:»Warum?«Ebenso wie Terraner, die gefragt, warum sie ihre Fahrzeuge so schnell fahren müssen, jedesmal antworten:»Warum nicht?«Über Geschmack läßt sich nicht streiten. Die Terraner haben immer das Gefühl, vorwärts kommen, Fortschritte machen zu müssen. Die Einwohner von Winter, die immer im Jahre Eins leben, haben das Gefühl, daß Fortschritt weniger wichtig ist als das Dasein selbst.
Meine Neigungen waren terrestrisch, und jetzt, als ich Erhenrang verließ, machte mich das gemächliche Tempo der Karawane ungeduldig. Ich wollte raus aus dieser Umgebung, und das möglichst schnell. Ich war froh, die langen Steinstraßen mit ihren schwarzen, steilen Dächern und den zahllosen Türmen, diese sonnenlose Stadt, in der all meine Hoffnungen in Furcht und Verrat untergegangen waren, endlich verlassen zu können.
Beim Erklimmen der Vorberge des Kargav machte die Karawane jeweils nur kurz, aber häufig zu Mahlzeiten in Gasthäusern halt. Am Nachmittag hatten wir von dem Kamm eines Vorberges aus zum erstenmal einen Blick auf die gesamte Bergkette. Den Kostor, vier Meilen hoch, sahen wir vom Fuß bis zum Gipfel; sein Westabhang verdeckte die nördlicheren Bergspitzen, von denen einige bis zu dreißigtausend Fuß hoch sind. Südlich des Kostor hob sich ein Gipfel neben dem anderen weiß von dem blassen Himmel ab. Ich zählte dreizehn, der letzte nur noch ein vager Schimmer im Dunst des südlichen Horizonts. Der Fahrer nannte mir die Namen der dreizehn Berge und berichtete mir — ein gutmütiger Versuch, mir Angst einzujagen — von Lawinen, von Landbooten, die durch plötzliche Stürme von der Straße geblasen, von Schneepflugbesatzungen, die wochenlang auf unzugänglichen Höhen festgehalten wurden, und so weiter. Einmal habe er gesehen, wie der Lastwagen vor ihm ins Rutschen kam und einen tausend Fuß hohen Hang hinunterstürzte; bemerkenswert dabei sei die Langsamkeit gewesen, mit der er fiel. Den ganzen Nachmittag habe er gebraucht, um auf dem Boden des Abgrundes anzukommen, und er, der Fahrer, sei sehr erleichtert gewesen, den Wagen endlich vollkommen lautlos in einer vierzig Fuß tiefen Schneewehe unten verschwinden zu sehen.
Zur dritten Stunde unterbrachen wir die Fahrt zu einer Mahlzeit in einem großen Gasthaus, einem großartigen Gebäude mit riesigen, hell lodernden Kaminen und weiten Räumen mit Balkendecken und Tischen, die mit erlesenen Speisen beladen waren. Aber wir blieben nicht über Nacht. Wir fuhren nämlich mit einer Schlafwagenkarawane: extra schnell (nach karhidischer Art), damit sie als erste der Saison im Pering-Sturmland ankommen und die mitreisenden Kaufleute den Rahm des dortigen Marktes abschöpfen konnten. Die Wagenbatterien wurden aufgeladen, ein neues Fahrerteam übernahm das Steuer, und schon ging es weiter. Einer der Wagen in der Karawane diente als Schlafwagen - allerdings nur den Fahrern. Für Passagiere gab es keine Betten, und so verbrachte ich die Nacht in der kalten Fahrerkabine auf einer harten Sitzbank. Nur einmal, gegen Mitternacht, wurde die Fahrt zum Essen in einem kleinen Gasthaus hoch in den Bergen unterbrochen. Karhide ist kein mit Komfort gesegnetes Land. Bei Morgengrauen war ich schon wach und sah, daß wir, außer Fels, Eis, Licht und der schmalen Straße, die unter unseren Raupenketten verschwand und vor uns immer weiter nach oben führte, alles hinter uns gelassen hatten. Fröstelnd sagte ich mir, daß es Dinge gibt, die wichtiger sind als Bequemlichkeit — es sei denn, man ist eine alte Frau oder eine Katze.
Jetzt, inmitten dieser furchteinflößenden Hänge aus Schnee und Granit, gab es auch keine Gasthäuser mehr. Zur Essenszeit hielten die Landboote eines nach dem anderen lautlos auf einer schneeverkrusteten Steigung von zirka dreißig Grad, alles stieg aus den Kabinen und versammelte sich um den Schlafwagen, vor dem aus Schüsseln voll heißer Suppe, Stücke getrockneter Brotäpfel und Becher voll dampfendem bitterem Bier serviert wurden. Wir standen füßestampfend im Schnee, schlangen das Essen und gossen das Bier hinunter und stemmten uns mit dem Rücken gegen den eiskalten Wind, der glitzernden, knochentrockenen Schneestaub mit sich trug. Dann wieder hinein in die Landboote, und weiter aufwärts. Um die Mittagszeit, auf dem Wehoth-Paß in ungefähr 14000 Fuß Höhe, betrug die Temperatur in der Sonne dreißig Grad Wärme, im Schatten zehn Grad Kälte. Die Elektromotoren liefen so leise, daß man deutlich hören konnte, wie auf der anderen Seite des zwanzig Meilen breiten Tals donnernd Lawinen niedergingen.
Später am Nachmittag erreichten wir in 15200 Fuß Höhe bei Eskar den Gipfel. Als ich den Abhang an der Südseite des Kostor entlangblickte, den wir den ganzen Tag lang wie winzige Ameisen herauf gekrochen waren, entdeckte ich, ungefähr eine Viertelmeile über der Straße, einen kastellartigen Felsvorsprung.»Sehen Sie die Festung da oben?«sagte der Fahrer.
»Ist das etwa ein Gebäude?«
»Jawohl. Das ist die Ariskostor-Festung.«
»Aber da oben kann doch kein Mensch leben!«
»O doch, die alten Männer schon. Ich bin eine Zeitlang in einer Karawane gefahren, die ihnen im Spätsommer Lebensmittel von Erhenrang brachte. Zehn bis elf Monate im Jahr können sie die Festung natürlich nicht verlassen, aber das ist ihnen egal. Es wohnen ungefähr sieben oder acht Männer da oben.«
Ich starrte zu der Burg aus rohem Felsen hinauf, die einsam in der ungeheuren Einsamkeit der Berge stand, und konnte dem Fahrer einfach nicht glauben. Aber ich mußte mich schon bald eines Besseren belehren lassen: Wenn überhaupt jemand in einem so eisigen Adlerhorst leben konnte, dann waren es Karhider.
Abwärts schwang sich die Straße weit nach Norden und Süden, zog sich vorsichtig an den Steilhängen entlang. Die Ostflanke des Kargav ist sehr viel schwieriger als die Westflanke, denn diese fällt in riesigen Felsstufen, den von Wind und Wetter kaum bearbeiteten Verwerfungen der Berg Struktur, zur Ebene hin ab. Bei Sonnenuntergang sahen wir siebentausend Fuß unter uns eine Reihe winziger Punkte durch einen ungeheuren, weißen Schatten kriechen: eine Landbootkarawane, die Erhenrang einen Tag vor uns verlassen hatte. Am folgenden Tag, gegen Abend, waren auch wir da unten angelangt und krochen über denselben Schneehang — sehr behutsam, wir wagten nicht zu niesen, damit wir keine Lawine auslösten. Von diesem Punkt aus sahen wir tief unter uns in östlicher Richtung, undeutlich ein weites, von Wolken und Wolkenschatten verwischtes und von den Silberstreifen der Flüsse durchzogenes Land: die Ebene von Rer.
Am vierten Tag nach unserem Aufbruch in Erhenrang kamen wir, als der Abend dämmerte, nach Rer. Zwischen den beiden Städten liegen elfhundert Meilen, eine mehrere Meilen hohe Felsbarriere und zwei- bis drei Jahrtausende. Die Karawane hielt vor dem Westtor, wo sie auf Kanal-Schleppkähne verladen werden sollte. In Rer selbst kann weder ein Landboot noch ein anderer Wagen fahren. Die Stadt war erbaut worden, bevor die Karhider energiegetriebene Fahrzeuge benutzten, und die benutzten sie nun schon seit über zwanzig Jahrhunderten. In Rer gibt es keine Straßen, sondern lediglich tunnelähnliche, überdeckte Steige, deren Dächer im Sommer ebenfalls als Gehwege benutzt werden können. Die Häuser, Inseln und Herde stehen chaotisch durcheinander, schachteln sich zu einem ungeheuren, ungezügelten Wirrwarr, der unvermittelt (wie eines Tages die Anarchie in Karhide) in erhabener Großartigkeit gipfelt: den eindrucksvollen Türmen des Un-Palastes — blutrot und fensterlos. Vor siebzehn Jahrhunderten erbaut, beherbergten sie tausend Jahre lang die Könige von Karhide, bis Argaven Harge, der erste seiner Dynastie, den Kargav überquerte und sich im großen Teil des West Fall ansiedelte. In Rer sind sämtliche Gebäude unvorstellbar massiv, mit tiefen Fundamenten, wetter- und wasserfest. Im Winter hält der Wind von der Ebene die Stadt zwar schneefrei, bei Schneestürmen jedoch kann er die Straßen nicht freiblasen, da es keine Straßen zum Freiblasen gibt. Die Menschen benutzen dann die Tunnel aus Stein oder graben sich Gänge durch den Schnee. Von allen Häusern ragen dann nur noch die Dächer aus dem Schnee, und die Wintertüren sind dicht unter der Dachkante, oder, wie Giebelfenster, sogar im Dach selbst angebracht. Die Tauperiode ist eine harte Zeit für diese Ebene mit den vielen Flüssen. Dann werden die Tunnel zu Abflußröhren und der Raum zwischen den Gebäuden wird zu einem Kanalsystem, auf dem die Bewohner von Rer in Booten zu ihren Arbeitsstätten fahren und dabei ständig mit den Riemen kleine Eisschollen beiseite stoßen müssen. Und immer ragen, ob über dem Staub des Sommers, dem schneebedeckten Dächergewirr des Winters oder den Fluten des Frühlings, ewig und unzerstörbar die roten Türme des Palastes, das leere Herz der Stadt, gen Himmel.
Ich stieg in einem düsteren aber ganz und gar nicht billigen Gasthof im Windschatten der Türme ab. Nach einer unruhigen Nacht, in der mich Alpträume heimsuchten, stand ich schon im Morgengrauen auf, bezahlte den Beutelschneider für Bett, Frühstück und eine ungenaue Auskunft über den Weg, den ich einschlagen mußte, und machte mich zu Fuß auf nach Otherhord, einer alten Festung nicht weit von Rer. Nach fünfzig Metern schon hatte ich mich verlaufen. Indem ich die Richtung so einhielt, daß ich die Türme genau hinter mir und das riesige, weiße Massiv des Kargav zu meiner Rechten hatte, fand ich schließlich in südlicher Richtung aus der Stadt hinaus und ließ mir unterwegs von einem Bauernkind, dem ich begegnete, erklären, wo ich nach Otherhord abbiegen müsse.
Gegen Mittag war ich dort. Das heißt, ich war gegen Mittag irgendwo, wußte aber nicht genau, wo das war. Es war im Grunde ein Wald oder ein dichtes Gehölz, aber der Wald war noch sorgfältiger gepflegt, als es in diesem Land sorgfältiger Waldpfleger üblich ist, und der Pfad führte am Hang entlang direkt zwischen die Bäume. Erst nach geraumer Zeit entdeckte ich dicht neben dem Pfad zu meiner Rechten eine Holzhütte, und gleich darauf zu meiner Linken ein ziemlich großes Holzgebäude. Von irgendwoher kam der köstliche Duft frisch gebratener Fische.
Langsam, ein wenig von Unbehagen erfüllt, folgte ich dem Pfad. Ich wußte ja nicht, was die Handdarata von neugierigen Touristen hielten. Ich wußte überhaupt sehr wenig von ihnen. Die Handdara ist eine Religion ohne Institution, ohne Priester, ohne Hierarchie, ohne Gelübde, ohne Glaubensbekenntnis; ich kann nicht einmal sagen, ob sie einen Gott hat oder nicht. Sie ist schwer greifbar. Sie ist immer irgendwie anders. Ihre einzig materielle Manifestation besitzt sie in den Festungen — Zufluchtsstätten, in die sich Ruhesuchende zurückziehen und über Nacht oder ihr Leben lang bleiben können. Ich hätte diesen sonderbar vagen Kult nicht bis in seine Geheimplätze verfolgt, hätte ich nicht die Antwort auf eine Frage gesucht, die die Investigatoren offen gelassen hatten: Wer sind diese Weissager eigentlich, und was machen sie?
Ich war inzwischen länger in Karhide als damals die Investigatoren und bezweifelte, daß in den Geschichten über die Weissager und ihre Prophezeiungen auch nur ein Körnchen Wahrheit steckte. Weissagungslegenden gibt es überall, wo Menschen leben. Gott spricht, Geister sprechen, Computer sprechen. Orakelhafte Zweideutigkeit und statistische Wahrscheinlichkeit bieten Schlupflöcher genug, und Diskrepanzen werden durch blinden Glauben überbrückt. Immerhin, die Legenden waren es wert, untersucht zu werden. Ich hatte bis jetzt noch keinen Karhider von der Existenz der telepathischen Kommunikation überzeugen können; sie wollten es alle nicht glauben, bis sie es ›sahen‹. Und das war aufs Haar meine Lage im Hinblick auf die Weissager der Handdara.
Während ich dem Pfad weiter folgte, merkte ich nach und nach, daß rings in den Schatten des Waldhangs verteilt, ebenso wirr durcheinander gebaut wie Rer, aber versteckt, friedlich, ländlich, ein ganzes Dorf, eine richtige Ortschaft lag. Über jedes Dach, über jeden Weg neigten sich die Äste des Hemmen, des am häufigsten vorkommenden Baumes auf Winter, einer kräftigen, gedrungenen Konifere mit dicken, blaßroten Nadeln. Auf den Nebenpfaden lagen Hemmenzapfen, der Wind war mit Hemmenpollen parfümiert und alle Häuser waren aus dunklem Hemmenholz gezimmert. Als ich nach einer Weile stehenblieb und überlegte, an welche Tür ich wohl klopfen sollte, kam jemand zwischen den Bäumen hervorgeschlendert und grüßte mich, höflich.»Suchen Sie vielleicht eine Unterkunft?«fragte er.
»Ich bin gekommen, weil ich eine Frage an die Weissager habe.«Ich hatte beschlossen, sie — wenigstens zunächst — in dem Glauben zu lassen, ich sei ein Karhider. Genau wie die Investigatoren, hatte ich mich stets ohne Schwierigkeiten für einen Eingeborenen ausgeben können, denn mein Akzent fiel unter den vielen Dialekten der karhidischen Sprache nicht weiter auf, und meine sexuellen Anomalien waren unter der schweren Kleidung verborgen. Zwar hatte ich nicht den schönen, dichten Haarschopf und die schräg heruntergezogenen Augen des typischen Gethenianers und war überdies schwärzer und größer als die meisten, lag damit aber keineswegs außerhalb der normalen Variationsmöglichkeiten. Mein Bart war vor meiner Abreise von Ollul depiliert worden, weil wir zu jenem Zeitpunkt noch nichts von den ›bepelzten‹ Perunter-Stämmen wußten, die nicht nur bärtig sind, sondern am ganzen Körper behaart wie die Weißen Terraner. Gelegentlich wurde ich wohl gefragt, wobei ich mir die Nase gebrochen hätte. Ich habe eine flache Nase, während die gethenianischen Nasen scharf und gerade und mit sehr schmalen Öffnungen für das Atmen eiskalter Luft wie geschaffen sind. Der Mann, dem ich jetzt auf dem Pfad in Otherhord gegenüberstand, betrachtete meine Nase mit leichter Neugier und antwortete:»Dann möchten Sie vermutlich den Weber sprechen. Wenn er nicht mit dem Holzschlitten fort ist, wird er auf der Lichtung sein. Oder möchten Sie zuerst mit einem von den Zölibatären reden?«
»Ich weiß nicht recht. Ich bin sehr unwissend…«Der junge Mann verbeugte sich lachend.»Ich fühle mich sehr geehrt!«sagte er.»Ich bin schon seit drei Jahren hier, habe mir aber noch immer kein nennenswertes Unwissen angeeignet. Er war belustigt, blieb aber überaus freundlich dabei. Und mir gelang es mit einiger Mühe, mir soviel von der Handdara-Lehre ins Gedächtnis zu rufen, daß mir bewußt wurde, geprahlt zu haben. Nicht anders als hätte ich ihm erklärt: ›Ich bin sehr schön.‹«
»Ich wollte sagen, daß ich nichts über die Weissager weiß…«
»Beneidenswert!«gab der junge Mann zurück.»Hören Sie, wir müssen Spuren in den unberührten Schnee ziehen, wenn wir weiter wollen. Darf ich Ihnen den Weg zur Lichtung zeigen? Ich heiße Goss.«
Das war ein Vorname.»Genry«, stellte ich mich vor, mein ›1‹ verleugnend. Dann folgte ich Goss tiefer in den kühlen Schatten des Waldes. Immer wieder änderte der schmale Pfad seine Richtung, wand sich an dieser Stelle den Hang hinauf, an jener den Hang wieder hinunter. Hier und da, am Wegrand oder weiter zurückgesetzt, zwischen den schweren Stämmen der Hemmen, standen kleine Holzhäuser. Alles war waldfarben, rot und braun, feucht, still, duftend, düster. Aus einem Haus drang der zarte melodische Ton einer karhidischen Flöte. Goss ging mit leichten und schnellen Schritten, mit mädchenhafter Grazie vor mir her. Mit einemmal leuchtete sein weißes Hemd hell auf, und dann trat auch ich hinter ihm aus dem Schatten in das volle Sonnenlicht einer weiten, grünen Wiese hinaus.
Vor uns stand aufrecht, regungslos eine Gestalt: das Gesicht im Profil, der scharlachrote hieb und das weiße Hemd wie buntes Email vor dem saftigen Grün des hohen Grases. Ungefähr hundert Meter weiter sah ich eine weitere Statue in Blau und Weiß, die während der ganzen Zeit, als wir uns mit der ersten unterhielten, weder eine Bewegung machte noch in unsere Richtung blickte. Die beiden praktizierten die Handdara-Übung ›Präzenz‹, eine Art Trance — die Handdarata, die zum Negativieren neigen, nennen es Untrance -, die den Selbstverlust (die Selbst-Vermehrung?) durch äußerste Aufnahmefähigkeit und Empfänglichkeit der Sinne zum Ziel hat. Obgleich diese Methode das genaue Gegenteil der meisten Methoden des Mystizismus darstellt, ist sie vermutlich dennoch eine mystische Übung, die auf das Erlebnis der Imanenz abzielt; aber es ist mir unmöglich, eine Übung der Handdarata mit Sicherheit zu analysieren. Goss sprach den Mann in Scharlachrot leise an. Als dieser sich behutsam aus seiner absoluten Reglosigkeit löste, uns ansah und dann sehr langsam auf uns zukam, versank ich unwillkürlich in Ehrfurcht vor ihm: Im hellen Schein der Mittagssonne erstrahlte er wie in eigenem inneren Licht.
Er war ebenso groß wie ich, schlank, mit einem klaren, offenen und schönen Gesicht. Als seine Augen meinem Blick begegneten, hatte ich plötzlich das Bedürfnis, ihn in der Gedankensprache anzusprechen, die ich seit meiner Landung auf Winter nicht mehr benutzt hatte, und die ich auch jetzt eigentlich noch nicht benutzen durfte. Aber das Verlangen war stärker als die Vernunft. Ich sprach ihn an. Keine Antwort. Es kam kein Kontakt zustande. Er sah mich nur weiterhin ruhig an. Nach einem Augenblick lächelte er, dann sagte er mit weicher, ziemlich heller Stimme:»Sie sind der Gesandte, nicht wahr?«
Stammelnd antwortete ich:»Ja.«
»Mein Name ist Faxe. Es ist uns eine Ehre, Sie hier begrüßen zu dürfen. Werden Sie eine Weile bei uns in Otherhord bleiben?«
»Sehr gern. Ich möchte so viel wie möglich über Ihre Weissagekunst erfahren. Und wenn es irgend etwas gibt, was ich Ihnen über mich erzählen kann, wer ich bin, woher ich komme…«
»Wie immer es Ihnen beliebt«, sagte Faxe mit freundlichem Lächeln.»Es ist ein sehr hübscher Gedanke, daß Sie den Ozean des Weltraums überquert haben, und dann noch einmal tausend Meilen auf sich nehmen, eine Überquerung des Kargav wagen, nur um uns zu besuchen.«
»Die berühmten Weissagungen von Otherhord haben in mir den Wunsch erweckt, herzukommen.«
»Dann würden Sie uns vielleicht gern einmal beim Weissagen zusehen. Oder haben Sie selbst eine Frage an uns?«
Seine klaren Augen zwangen mich, die Wahrheit zu bekennen.»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.
»Nusuth«, sagte er.»Unwichtig. Wenn Sie eine Weile bleiben, werden Sie vielleicht wissen, ob Sie eine Frage haben oder nicht… Die Weissager können nämlich nur zu bestimmten Zeiten zusammenkommen, deswegen müßten Sie ohnehin mehrere Tage bleiben.«
Das tat ich, und es waren angenehme Tage. Mit seiner Zeit konnte jeder anfangen, was er wollte, und lediglich die gemeinsamen Pflichten wie Feldarbeit, Gartenarbeit, Holzfällen, Instandsetzungen und so weiter, zu denen, wenn es nötig war, auch durchreisende Gäste wie ich herangezogen wurden, waren organisiert. Abgesehen von diesen Arbeiten, konnte ein ganzer Tag vergehen, ohne daß ein einziges Wort gesprochen wurde. Diejenigen, mit denen ich mich am häufigsten unterhielt, waren der junge Goss und Faxe, der Weber, dessen außergewöhnliche Persönlichkeit, so hell und klar wie ein Bergquell und dennoch tief und unergründlich, die Quintessenz des Charakters dieses Ortes repräsentierte. Am Abend versammelte man sich oft im Herdraum des einen oder anderen der niedrigen, baumüberschatteten Häuser. Dann gab es Gespräche, Bier und gelegentlich auch Musik, die lebhafte Musik von Karhide, einfach in der Melodieführung, im Rhythmus dagegen kompliziert und ausschließlich ex tempore gespielt. Eines Abends begannen zwei Bewohner zu tanzen — alte Männer, so alt, daß ihre Haare weiß geworden, ihre Glieder nur noch Haut und Knochen und die abwärts weisenden Falten an den äußeren Augenwinkeln so weit heruntergezogen waren, daß sie die dunklen Augen fast verbargen. Ihr Tanz war langsam, präzise, beherrscht; er faszinierte Auge und Verstand. Er begann in der dritten Stunde, gleich nach dem Essen. Musikanten fielen ein und hörten zu spielen auf, wann es ihnen paßte, und nur der Trommler hielt niemals inne in seinem nur unmerklich sich ändernden Schlag. Zur sechsten Stunde, um Mitternacht — nach fünf terrestrischen Stunden — tanzten die beiden Alten noch immer. Zum erstenmal erlebte ich so das Phänomen des dothe, der willkürlichen, kontrollierten Anwendung dessen, was wir als ›hysterische Kraft‹ bezeichnen; und glaubte von da an sehr viel bereitwilliger an die Legenden über die alten Männer der Handdara.
Es war ein introvertiertes Leben, selbstgenügsam, stillstehend, durchdrungen von jener einzigartigen ›Ignoranz‹, die von den Handdarata so gepriesen wird, und im Einklang mit ihrem Prinzip der Inaktivität oder des Nichteinmischens. Dieses Prinzip, das Ausdruck findet in dem Wort nusuth (von mir mit ›unwichtig‹ übersetzt), ist das Herz des Kults, und ich gebe keineswegs vor, es zu begreifen. Nach einem halben Monat Otherhord jedoch begann ich allmählich Karhide besser zu verstehen. Tief unter der Oberfläche von Politik, Festzügen und Gefühlen zieht sich in dieser Nation — passiv, anarchisch, stumm — eine uralte Dunkelheit dahin, die fruchtbare Dunkelheit der Handdara.
Aus diesem dunklen Schweigen erhebt sich — unerklärbar — die Stimme des Weissagers.
Der junge Goss, dem es Spaß machte, bei mir Fremdenführer zu spielen, erklärte mir, daß meine Frage an die Weissager jedes Thema betreffen, und daß ich sie beliebig formulieren könne.»Je präziser und eindeutiger die Frage, desto exakter die Antwort«, sagte er.»Undeutlichkeit erzeugt Undeutlichkeit. Und es gibt natürlich einige Fragen, die überhaupt nicht zu beantworten sind.«
»Was geschieht, wenn ich so eine Frage stelle?«erkundigte ich mich. Diese Vorsicht erschien mir klug, aber nicht unbekannt. Die Antwort, die ich bekam, hatte ich jedoch nicht erwartet:»Der Weber wird sie zurückweisen. Es sind schon Weissagergruppen durch unbeantwortbare Fragen vernichtet worden.«
»Vernichtet?«
»Kennen Sie die Geschichte des Lords von Shorth, der die Weissager der Festung Asen zwang, die Frage nach der Bedeutung des Lebens zu beantworten? Das war vor etwa zweitausend Jahren. Die Weissager blieben sechs Tage und Nächte lang im Dunkel. Zuletzt waren alle Zölibatäre katatonisch, die Zanies tot, der Perverse erschlug den Lord von Shorth mit einem Stein, und der Weber… Das war ein Mann namens Meshe.«
»Der Begründer des Yomesh-Kultes?«
»Ja«, sagte Goss. Dann lachte er, als wäre die Geschichte furchtbar komisch, aber ich wußte nicht recht, ob der Witz auf meine oder der Yomeshta Kosten ging.
Ich hatte beschlossen, eine Ja-oder-nein-Frage zu stellen. Auf diese Weise war wenigstens festzustellen, in welchem Maß und in welcher Form die Antwort dunkel oder zweideutig blieb. Faxe bestätigte mir, was Goss gesagt hatte: daß das Thema der Frage so gewählt werden konnte, daß die Weissager nicht das geringste darüber wußten. Ich konnte mich also erkundigen, ob die hoolm-Ernte in der nördlichen Hemisphäre von S in diesem Jahr gut werden würde, und sie würden mir diese Frage beantworten, obwohl sie nicht einmal von der Existenz eines Planeten namens S etwas ahnten. Diese Tatsache schien die ganze Angelegenheit, gemeinsam mit Schafgarbenstengeln und geworfenen Münzen, auf das Niveau des rein zufällig Erratenen zu stellen. Nein, widersprach Faxe sofort, ganz und gar nicht; der Zufall habe nichts damit zu tun. Die Prozedur sei sogar das genaue Gegenteil des Zufalls.
»Dann können sie eben Gedanken lesen«, warf ich ein.
»Nein«, sagte Faxe mit seinem gelassenen, freimütigen Lächeln.
»Sie lesen vielleicht Gedanken, ohne es selber zu wissen.«
»Wozu würde das gut sein? Wenn der Fragesteller die Antwort kennt, würde er niemals den Preis bezahlen, den wir dafür fordern.«
Ich wählte eine Frage, auf die mir leider eine eindeutige Antwort fehlte. Nur die Zeit konnte erweisen, ob die Weissagung richtig war oder falsch — es sei denn, sie wäre eine von jenen bewunderungswürdigen Berufsprophezeiungen, die praktisch auf jedes Ergebnis anwendbar sind. Darauf war ich jedenfalls gefaßt. Es war durchaus keine Trivialfrage; den Plan, etwa zu fragen, wann es zu regnen aufhören würde, hatte ich aufgegeben, als ich erfuhr, daß die Prozedur für die neun Weissager von Otherhord schwer und gefährlich war. Der Preis, den der Fragesteller zahlen mußte, war hoch — zwei meiner Rubine wanderten in die Schatztruhen der Festung -, doch höher noch war der Preis für die Beantworter. Und als ich Faxe besser kennenlernte, fiel es mir nicht nur schwer, zu glauben, daß ich in ihm einen professionellen Schwindler vor mir hatte, es fiel mir noch schwerer, zu glauben, daß er ein aufrichtiger Schwindler sei, der sich nur Selbsttäuschungen hingab. Denn seine Intelligenz war ebenso hart, klar und blank wie meine Rubine. Ich wagte es nicht, ihm eine Falle zu stellen. Also stellte ich die Frage, deren Beantwortung mir am meisten am Herzen lag.
Am Onnetherhad, dem achtzehnten Tag des Monats, kamen die neun in einem großen Gebäude zusammen, das sonst ständig verschlossen blieb. Es bestand nur aus einer einzigen, hohen Halle mit Steinfußboden — kalt, nur schwach beleuchtet durch mehrere Fensterschlitze und mit einem Feuer in dem tiefen Herd, der an einer Querwand stand. Sie setzten sich im Kreis auf den nackten Steinboden, alle in Umhang und Kapuze, konturlose, reglose Formen, die im schwachen Schein des entfernten Kaminfeuers einem Kreis von Dolmen glichen. Goss, einige andere junge Dorfbewohner, sowie ein Arzt von der nächsten Domäne sahen von ihren Plätzen am Herd aus schweigend zu, während ich die Halle durchquerte und in den Kreis trat. Die Atmosphäre war überaus unzeremoniell, aber sehr gespannt. Eine der Kapuzengestalten sah auf, als ich in ihre Mitte trat, und ich blickte in ein seltsames, schweres Gesicht mit groben Zügen und anmaßenden Augen, die mich intensiv beobachteten.
Faxe saß mit gekreuzten Beinen, reglos, aber erfüllt von einer inneren Kraft, einer sich ständig von selbst aufladenden Energie, die seine helle, sanfte Stimme so hart machte, daß sie manchmal wie Peitschenknallen klang.»Frage!«forderte er mich auf.
Ich stand in der Mitte des Kreises und stellte meine Frage.»Wird diese Welt, Gethen, in fünf Jahren Mitglied der Ökumene der bekannten Welten sein?«
Schweigen. Ich stand, nein, hing im Mittelpunkt eines aus Schweigen gewebten Spinnennetzes.
»Diese Frage kann beantwortet werden«, entschied der Weber in ruhigem Ton.
Alle entspannten sich. Die starren Steine mit ihren Kapuzen schienen sich in Bewegung aufzulösen. Derjenige, der mich so sonderbar angesehen hatte, begann mit seinem Nachbarn zu flüstern. Ich verließ den Kreis und gesellte mich zu den Zuschauern am Herd.
Zwei der neun Wahrsager blieben in sich gekehrt, sprachen kein Wort. Der eine von ihnen hob hin und wieder die linke Hand, schlug leicht und schnell zehn- oder zwanzigmal auf den Boden und saß sofort wieder regungslos da. Keinen von beiden hatte ich vorher gesehen. Wie Goss mir sagte, waren sie beide Zanies. Sie waren wahnsinnig. Goss nannte sie ›Zeitteiler‹, was möglicherweise schizophren bedeutete. Dabei waren die karhidischen Psychologen, obwohl ihnen die Gedankensprache fehlte und sie daher blinden Chirurgen glichen, überaus genial mit Drogen, Hypnose, Spotschock, cryonischer Behandlung und den verschiedensten anderen Therapiemethoden umzugehen wußten; ich fragte daher, ob man diese beiden Psychopathen nicht heilen könne.»Heilen?«staunte Goss.»Würden Sie einen Sänger von seiner Stimme heilen?«
Fünf andere Mitglieder des Kreises waren Bewohner von Otherhord, Meister in der Präsenzübung der Handdara und überdies, wie mir Goss erklärte, solange sie Weissager blieben Zölibatäre, das heißt, sie durften während der Periode ihrer sexuellen Potenz keinen Gefährten nehmen. Einer der beiden Zölibatäre mußte während der Weissagung im Kemmerzustand sein. Ich erkannte ihn sofort: Ich hatte gelernt, die sehr subtile, körperliche Intensivierung, diese Art Ausstrahlung, zu beachten, die auf die erste Kemmerphase hindeutet.
Neben dem Kemmerer saß der Perverse.
»Er ist mit dem Arzt aus Spreve heraufgekommen«, erzählte Goss.»Einige Weissagegruppen lösen die Perversion künstlich bei Normalpersonen aus, indem sie während der Tage vor einer Sitzung weibliche oder männliche Hormone spritzen. Es ist aber viel besser, einen natürlichen Perversen zu haben. Der hier kommt gerne; er genießt das Aufsehen, das er erregt.«
Goss verwendete das Wort, mit dem man ein männliches Tier bezeichnet, und nicht die Bezeichnung für einen Menschen in der männlichen Kemmerrolle. Er sah ein bißchen verlegen aus. Die Karhider sprechen zwar frei und offen über sexuelle Dinge und diskutieren Kemmer mit Ehrfurcht und großem Genuß, sind aber sehr zurückhaltend, wenn es um Perversionen geht. Jedenfalls waren sie das bei mir. Übermäßige Dauer der Kemmerperiode in Verbindung mit permanenter Unausgeglichenheit des Hormonhaushalts, respektive eindeutige Neigung zur männlichen oder weiblichen Seite nennen sie Perversion. Sie kommt nicht einmal selten vor; drei oder vier Prozent der Erwachsenen sind physiologisch pervertiert oder anomal, das heißt also, nach unserem Standard normal, sie sind entweder männlich oder weiblich. Sie werden nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen, werden geduldet aber mit leichter Verachtung behandelt; etwa wie in sehr vielen bisexuellen Gesellschaften die Homosexuellen. Das karhidische Slang-Wort für sie heißt ›Halbtote‹, denn sie sind unfruchtbar.
Der Perverse dieser Gruppe schenkte, nach jenem ersten, intensiv starrenden Blick, den er mir zuwarf, nur noch dem Kemmerer Beachtung, dessen sich zunehmende aktivierende Sexualität von der aufdringlichen, übertriebenen Männlichkeit des Perversen immer weiter verstärkt und schließlich zu voller, weiblicher Sexualkapazität gereizt werden würde. Der Perverse redete ununterbrochen im Flüsterton auf den Kemmerer ein, der jedoch nur einsilbig antwortete und vor dem Nachbarn, der sich weit zu ihm hinüberbeugte, zurückzuschrecken schien. Die anderen schwiegen schon eine ganze Zeit; nichts war zu hören, außer der leisen Stimme des Perversen. Faxe ließ den einen der Zanies nicht aus den Augen. Der Perverse legte seine Hand zart auf die des Kemmerers. Der Kemmerer zog, voll Angst und Abscheu, die Hand rasch zurück und blickte hilfesuchend zu Faxe hinüber. Faxe rührte sich nicht. Der Kemmerer blieb an seinem Platz und hielt nun still, als der Perverse ihn wieder berührte. Einer der Zanies hob den Kopf und brach in ein langes, künstliches, gurrendes Lachen aus:»Ah-ah-ah-ah…«
Faxe hob die Hand. Sofort wandten sich ihm alle Gesichter zu, als halte er sie an Fäden, zu einem Strang geschlossen, in seinen Fingern.
Als wir die große Halle betraten, war es Nachmittag gewesen und hatte geregnet. Schon bald war das graue Licht hinter den Fensterschlitzen hoch unter dem Dach verblaßt. Jetzt schoben sich, wie verzerrte, fantastische Segel, in langgezogenen Drei- und Rechtecken mattleuchtende Lichtbalken herein, erhellten die Gesichter der neun: matte Fetzen vom Schein des Mondes, der draußen über dem Wald aufgegangen war. Das Feuer war schon lange heruntergebrannt, so daß es kein anderes Licht mehr gab; nur diese bleichen Streifen und Strahlen, die über den Kreis hinkrochen und hier ein Gesicht, dort eine Hand oder einen reglosen Rücken abzeichneten. Eine Zeitlang konnte ich Faxes Profil in dem diffusen Lichtstaub sehen: so starr und weiß wie bleicher Stein. Dann kroch der schräge Lichtbalken weiter und hob ein dunkles Bündel aus dem Schatten: den Kemmerer, der tief nach vorn gebeugt dasaß, den Kopf auf den Knien, die Hände zu Fäusten geballt auf dem Boden gestemmt, der Körper wie in Krämpfen geschüttelt, die sich in den Zuckungen der Hände des Zany im Dunkel der gegenüberliegenden Kreishälfte in einem auf den Stein gepatschten Rhythmus wiederholten. Sie alle, jeder einzelne von ihnen, war mit jedem anderen verbunden, als wären sie die Suspensionspunkte eines Spinnennetzes. Ob ich es wollte oder nicht, ich spürte diese Verbundenheit, diese Kommunikation, die stumm, unartikuliert, durch Faxe strömte, und die Faxe zu formen und zu dirigieren versuchte, denn er war der Mittelpunkt, war der Weber. Das blasse Licht zerteilte sich und verblaßte langsam während es die östliche Wand hinaufkroch. Das Netz der Kraft, der Spannung, des Schweigens wuchs.
Ich gab mir Mühe, mich möglichst aus den Gedanken der Weissager fernzuhalten. Die stumme, elektrische Spannung im Raum machte mich sehr nervös; sie gab mir das Gefühl, in dieses Netz hineingezogen, zu einem Teil von ihm gemacht zu werden. Doch als ich eine Barriere errichtete, war es noch schlimmer: Ich fühlte mich ausgeschlossen und verkroch mich in meine eigene Gedankenwelt, gequält von Halluzinationen des Sehens und Fühlens, von einem Wirrwarr wilder Bilder und Ahnungen, plötzlicher Visionen und Gefühle — alle voll Sexualität und auf eine groteske Art gewalttätig, eine rot- schwarze Woge erotischen Wahns. Ich war umgeben von weiten, klaffenden Schluchten mit zerklüfteten Rändern, Vaginas, Wunden; Höllenpforten; ich verlor das Gleichgewicht, ich fiel… Wenn ich mich vor diesem Chaos nicht verschließen konnte, dann würde ich tatsächlich fallen, würde ich wahnsinnig werden; aber sich davor zu verschließen, war unmöglich. Diese empathischen und paraverbalen Kräfte, die da am Werk waren, die sich so machtvoll und wirr aus der Perversion und Frustration des Sexus, aus einem Wahnsinn, der die Zeit verzerrt, aus einer erschreckenden Disziplin totaler Konzentration und einer Erkenntnis der immediaten Realität erhoben — diese Kräfte überstiegen bei weitem die Kraft meiner Selbstbeherrschung und -kontrolle. Und dennoch waren sie unter Kontrolle: der Mittelpunkt war immer noch Faxe. Stunde um Stunde verging, das Mondlicht beschien die falsche Wand, dann gab es kein Mondlicht mehr, nur noch Dunkelheit, und im Mittelpunkt all dieser Dunkelheit Faxe: der Weber — eine Frau, eine in Licht gekleidete Frau. Das Licht war Silber, das Silber war eine Rüstung, eine gerüstete Frau mit einem Schwert. Das Licht brannte plötzlich und unerträglich auf, das Licht flammte an ihren Gliedern entlang wie Feuer, und dann schrie sie, von Qual und Entsetzen erfüllt, laut auf:»Ja, ja, ja!«
Der Zany begann gurrend zu lachen:»Ah — ah — ah — ah.«Dann stieg das Lachen, höher und höher, verwandelte sich in einen hallenden Schrei, der nicht aufhören wollte und länger dauerte, als es einer Stimme möglich war — quer durch die Zeit. Dann gab es ein Rumoren in der Dunkelheit, ein Schlurfen und Huschen, eine Umschichtung längst verblichener Jahrhunderte, ein Umgehen der Vorahnungen.»Licht, Licht!«befahl eine ungeheure Stimme in breiten Silben ein oder zahllose Male.»Licht! Ein Scheit aufs Feuer. So. Ein bißchen Licht.«Der Arzt aus Spreve. Er war in den Kreis getreten. Der Kreis hatte sich aufgelöst. Der Arzt kniete neben den Zanies, den schwächsten, den Sicherungen; beide lagen zusammengekrümmt auf dem Boden. Der Kemmerer lag vor Faxe, den Kopf auf seinen Knien, er atmete keuchend, zitterte noch immer. Geistesabwesend strich Faxe ihm zärtlich über das Haar. Der Perverse hatte sich ganz allein, schmollend und niedergeschlagen, in eine Ecke zurückgezogen. Die Sitzung war vorüber, die Zeit lief wieder normal, das Netz der Macht war zu Würdelosigkeit und Erschöpfung auseinandergefallen. Wo war meine Antwort, das Rätsel des Orakels, die zweideutige Prophezeiung?
Ich ließ mich neben Faxe auf die Knie nieder. Er blickte mich mit seinen klaren Augen an. Sekundenlang sah ich ihn so, wie ich ihn in der Dunkelheit gesehen hatte: als Frau in einer Rüstung aus Licht, brennend in einem heißen Feuer, laut schreiend: ›Ja…‹
Mit seiner weichen Stimme zerriß Faxe die Vision.»Hast du deine Antwort, Frager?«
»Ich habe meine Antwort, Weber.«
Ich hatte sie tatsächlich. In fünf Jahren würde Gethen Mitglied der Ökumene sein: ja. Kein Rätsel, kein Drumherumgerede. Sogar schon damals war es mir klar: diese Antwort war weniger eine Prophezeiung als eine Feststellung. Meiner eigenen Überzeugung, daß die Antwort stimmte, konnte ich nicht ausweichen. Die Antwort besaß die zwingende Klarheit der Ahnung.
Wir haben NAFAL-Schiffe, Synchronübertragung und Gedankensprache, aber die Ahnung haben wir noch nicht so weit gezähmt, daß sie im Geschirr geht; um dieses Kunststück zu sehen, mußten wir nach Gethen kommen.
»Ich diene lediglich als eine Art Leitungsdraht«, erklärte mir Faxe einen oder zwei Tage nach der Weissagung.»Die Energie baut sich in uns immer weiter auf, wird immer wieder zurückgeschickt, um jedesmal ihre Kraft zu verdoppeln, bis sie zuletzt durchbricht, und dann ist das Licht in mir, ist das Licht um mich, bin ich das Licht… Der Alte der Festung Arbin sagte einmal, wenn der Weber im Augenblick der Antwort in ein Vakuum gesetzt werden könnte, dann würde er jahrelang weiterbrennen. Genau das, was die Yomeshta von Meshe glauben: daß er die Vergangenheit und die Zukunft klar vor sich sah — nicht nur einen Augenblick lang, sondern, nach der Frage von Shorth, sein ganzes Leben hindurch. Schwer zu glauben. Ich jedenfalls bezweifle, daß ein Mensch so etwas ertragen kann. Aber nusuth, unwichtig…«
Nusuth, das ewige und vieldeutige Negativum der Handdara.
Wir schritten nebeneinander, und Faxe sah mich an. Sein Gesicht, eines der schönsten menschlichen Gesichter, die ich jemals gesehen hatte, wirkten so hart und zart wie gehauener Stein.»In der Dunkelheit waren wir zehn«, sagte er.»Nicht neun. Es war ein Fremder da.«
»Ja, das stimmt. Ich hatte keine Barriere gegen euch. Sie sind ein Lauscher, Faxe, ein natürlicher Empath; und außerdem vermutlich ein starker, natürlicher Telepath. Deswegen sind Sie der Weber, derjenige, der die Spannungen und Reaktionen der Gruppe zu einem sich selbst steigernden Muster konzentrieren kann, bis die Belastung das Muster durchbricht und Sie durch diesen Bruch nach der Antwort greifen.«
Er lauschte mit ernster Aufmerksamkeit.»Es ist merkwürdig, die Mysterien meiner Disziplin einmal von außen, sozusagen durch Ihre Augen zu sehen. Bis jetzt habe ich sie, als Ausübender, nur von innen gesehen…«
»Wenn Sie gestatten… Wenn Sie es wünschen, Faxe, dann würde ich gerne versuchen, mit Ihnen per Gedankensprache Kontakt aufzunehmen.«Ich war jetzt überzeugt, daß er ein natürlicher Kommunikant sein mußte; mit seiner Zustimmung und etwas Übung müßte es möglich sein, seine unbewußte Barriere zu überwinden.
»Konnte ich dann hören, was die anderen denken?«
»Nein, nein. Jedenfalls nicht anders, als Sie es als Empath bereits tun. Die Gedankensprache ist ein Kommunikationsmittel, mit dem man freiwillig sendet und empfängt.«
»Aber warum spricht man dann nicht gleich laut?«
»Nun ja, wenn man laut spricht, kann man lügen.«
»Bei der Gedankensprache nicht?«
»Nicht absichtlich.«
Darüber dachte Faxe eine Weile nach.»Dann ist das eine Übung, für die sich Könige, Politiker und Geschäftsleute interessieren dürften.«
»Die Geschäftsleute haben den Gebrauch der Gedankensprache von dem Augenblick an bekämpft, da man herausfand, daß sie erlernbar ist; sie wurde daraufhin jahrzehntelang verboten.«
Faxe lächelte.»Und die Könige?«
»Wir haben keine Könige mehr.«
»Ja. Aha, ich verstehe… Also, Genry, ich danke Ihnen. Doch meine Aufgabe ist nicht das Lernen, sondern das Entlernen. Außerdem möchte ich eine Kunst, mit der man die Welt völlig verändern könnte, nicht unbedingt lernen.«
»Nach Ihrer eigenen Weissagung wird diese Welt sich ohnehin verändern, und zwar innerhalb der nächsten fünf Jahre.«
»Und ich werde mich mit ihr verändern, Genry. Den Wunsch, sie aktiv zu verändern, habe ich dagegen nicht.«
Es regnete, den langen, feinen Regen des gethenianischen Sommers. Wir wanderten an den Hängen über der Festung durch die Hemmenbäume, ohne die Pfade zu benutzen. Das Licht fiel grau durch die dunklen Zweige, kristallklares Wasser tropfte von scharlachfarbenen Nadeln. Die Luft war kühl, und dennoch mild, ganz erfüllt vom Geräusch des Regens.
»Faxe, ich wüßte gern eines: Ihr Handdarata habt eine Gabe, um die euch jeder Mensch auf jeder Welt beneiden würde: Ihr könnt die Zukunft voraussagen. Und trotzdem lebt ihr genau wie alle anderen… Es scheint nicht von Bedeutung für euch zu sein…«
»Warum sollte es von Bedeutung sein, Genry?«
»Nun ja, zum Beispiel, diese Rivalität zwischen Karhide und Orgoreyn, dieser Streit um das Sinoth-Tal. Karhide hat, wie ich vermute, in diesen vergangenen Wochen ziemlich viel an Gesicht verloren. Warum also hat König Argaven nicht seine Weissager konsultiert und sie gefragt, was er unternehmen, welches Mitglied der kyorremy zum Premierminister ernennen sollte, oder irgend etwas ähnliches?«
»Derartige Fragen sind schwer zu beantworten.«
»Das kann ich nicht einsehen. Er könnte doch einfach fragen: Wer wird mir als Premierminister am besten dienen? Und es dabei belassen.«
»Das könnte er. Aber er weiß ja nicht, was ›ihm am besten dienen‹ ist. Es könnte bedeuten, daß der Erwählte das Tal an Orogoreyn abtreten, oder ins Exil gehen oder auch den König umbringen soll. Es könnte tausend Dinge bedeuten, die er weder erwarten noch akzeptieren würde.«
»Er müßte seine Frage eben sehr präzise formulieren.«
»Gewiß. Aber dann gäbe es viele Fragen. Und selbst ein König muß den Preis bezahlen.«
»Würdet ihr sehr viel von ihm fordern?«
»Sehr viel«, erwiderte Faxe gelassen.»Der Fragesteller bezahlt immer, was er sich leisten kann. Natürlich sind auch schon Könige zu den Weissagern gekommen, doch nicht sehr oft…«
»Was ist, wenn einer der Weissager selbst ein sehr mächtiger Mann ist?«
»Die Bewohner der Festung besitzen weder Rang noch Stand. Es wäre möglich, daß man mich nach Erhebung in die kyorremy schickt, doch wenn ich gehe, nehme ich meinen Stand und meinen Schatten wieder auf, und meine Weissagerei hat ein Ende. Wenn ich während des Dienstes in der kyorremy eine Frage hätte, würde ich zur Festung Orgny gehen, den Preis bezahlen und mir die Antwort holen. Wir in der Handdara jedoch wollen keine Antworten. Es ist zwar schwierig, sie zu vermeiden, aber wir geben uns große Mühe.«
»Ich muß gestehen, Faxe, daß ich das nicht begreife.«
»Nun, wir kommen hauptsächlich hier in die Festung, um zu lernen, welche Fragen man nicht stellen soll.«
»Aber ihr seid die Beantworter!«
»Erkennen Sie denn noch immer nicht, weshalb wir das Weissagen vervollkommnet haben und es ausüben?«
»Nein…«
»Um zu beweisen, wie sinnlos es ist, die Antwort auf die falsche Frage zu kennen.«
Während wir weiter Seite an Seite unter den dunklen Zweigen des Otherhord-Waldes durch den Regen wanderten, dachte ich geraume Zeit darüber nach. Faxes Gesicht unter der weißen Kapuze wirkte müde und sehr still; sein Licht war erloschen. Und trotzdem hatte ich immer noch tiefe Ehrfurcht vor ihm. Wenn er mich mit seinen klaren, freundlichen, ehrlichen Augen ansah, dann sah er mich aus einer dreizehntausend Jahre alten Tradition heraus an: aus einer Denk- und Lebensform heraus, die so alt, so gefestigt, so umfassend und so einheitlich war, daß sie dem Menschen die Sicherheit, die Autorität, die Ganzheit eines wilden Tieres verlieh, einer fremdartigen Kreatur, die aus ihrer ewigen Gegenwart heraus dem anderen gerade in die Augen blickt…
»Das Leben«, erklang Faxes weiche Stimme in diesem Wald,»basiert auf dem Unbekannten, dem Unvorhergesehenen, dem Unbewiesenen. Unwissen ist die Grundlage allen Denkens. Unbewiesenheit ist die Voraussetzung der Tat. Wenn es bewiesen wäre, daß es keinen Gott gibt, dann gäbe es auch keine Religion. Keine Handdara, keinen Yomesh, keine Herdgötter, nichts. Doch wenn es wiederum bewiesen wäre, daß es einen Gott gibt, dann gäbe es ebenfalls keine Religion… Sagen Sie mir, Genry: was ist bekannt? Was ist gewiß, vorhersagbar^ unvermeidbar… die einzige Tatsache, die Ihre Zukunft — und die meine — betrifft, und die wir mit Bestimmtheit wissen?«
»Daß wir sterben müssen.«
»Sehen Sie? Es gibt also in Wirklichkeit nur eine einzige Frage, die beantwortet werden kann, Genry, und die Antwort darauf kennen wir bereits… Das einzige, was das Leben überhaupt ermöglicht, ist die ständige, unerträgliche Ungewißheit: ist, nicht zu wissen, was als nächstes geschieht.«