NEUNZEHNTES KAPITEL Heimkehr

Bei düsterem, windigen Wetter arbeiteten wir uns vor, krampfhaft bemüht, uns vom Anblick der Esherhoth-Crags, dem ersten Objekt nach sieben Wochen, das nicht nur Eis und Schnee und Himmel war, Mut einflößen zu lassen. Nach der Karte konnten sie nicht weit entfernt von den Shenshey- Sümpfen im Süden und der Guthen-Bucht im Osten liegen. Doch leider war diese Karte der Gobrin-Region nicht zuverlässig. Und wir wurden allmählich sehr, sehr müde.

Wir waren näher an den Südrand des Gobringletschers herangekommen, als wir aus der Karte geschlossen hatten, denn schon am zweiten Tag nach unserer Richtungsänderung nach Süden trafen wir auf Druckverwerfungen und Gletscherspalten. Das Eis war zwar nicht so hochgetürmt und zerrissen wie in der Gegend der Feuerberge, aber es war verrottet. Es gab da eingesunkene Mulden, im Sommer vermutlich Seen, die einen Durchmesser von mehreren Meilen hatten; es gab weite Stellen, die von kleinen Löchern und Spalten durchsetzt waren; und immer häufiger gab es riesige Spalten, alte Canyons, die manchmal so breit wie Bergschluchten, manchmal dagegen nur bis zu einem Meter, dafür aber abgrundtief waren. An Odorny Nimmer (nach Estravens Tagebuch, denn ich selber führte keines) herrschte strahlender Sonnenschein und kräftiger Nordwind. Wenn wir mit dem Schlitten die Schneebrücken überquerten, die über die schmaleren Spalten führten, konnten wir rechts und links senkrecht in blaue Schächte und Abgründe blicken, in denen die winzigen, durch die Kufen abgesplitterte Eispartikelchen im Fallen eine ferne, zarte Musik erzeugten, wie Silberdrähte, die dünne Kristallflächen berühren. Ich erinnere mich deutlich an das tiefe, traumhafte, fast schwindelnde Hochgefühl dieses Vormittagsmarsches im hellen Sonnenlicht über die Abgründe. Dann aber wurde der Himmel weiß, die Luft schwer, die Schatten verblaßten, das Blau verblich am Himmel und auf dem Schnee. Wir ahnten nicht, wie gefährlich das weiße, nebelige Wetter in diesem Gelände für uns werden konnte. Da das Eis sehr uneben war, schob ich, während Estraven zog. Ich hatte nur Augen für den Schlitten, dachte an nichts anderes als daran, wie ich am besten schieben könnte, als mir die Stange auf einmal fast aus den Händen gerissen wurde und der Schlitten mit einem unvermittelten Ruck vorwärts schoß. Instinktiv klammerte ich mich an ihm fest und rief Estraven ein lautes»He!«zu, denn ich dachte, er hätte ein Stück freie Bahn vor sich und fahre deswegen plötzlich schneller. Aber da blieb der Schlitten, die Nase abwärts gerichtet, irgendwo hängen, und Estraven war nicht mehr da.

Fast hätte ich die Schlittenstange losgelassen, um nach ihm zu suchen; es war reiner Zufall, daß ich es nicht tat. Statt dessen hielt ich mich fest, während ich verdutzt nach ihm Ausschau hielt, und entdeckte schließlich den Rand einer Eisspalte nur dadurch, daß ein weiteres Stück der eingestürzten Schneebrücke abbrach und in die Tiefe fiel. Estraven war mit den Füßen voran abgestürzt, und nur mein Gewicht verhinderte, daß auch der Schlitten nachrutschte: Er stand nur noch mit einem Drittel der Kufen auf festem Eisboden. Und Estraven, der im Geschirr über dem Abgrund hing, zog ihn mit seinem Gewicht Zentimeter um Zentimeter hinab.

Ich legte mich mit voller Kraft auf die Schlittenstange und zog, zerrte und stemmte den Schlitten vom Rand der Spalte zurück. Es ging sehr schwer, aber ich warf mein ganzes Gewicht gegen den Zug nach unten und ließ nicht nach, bis er sich endlich widerwillig zu rühren begann und plötzlich und unvermittelt ganz wieder auf dem Eis stand. Estraven hatte den Rand der Spalte gepackt und half mir, indem er so das Gewicht verringerte. Auf allen Vieren kam er, vom Geschirr gezogen, über die Kante heraufgerutscht, versuchte sich aufzurichten und brach plötzlich zusammen.

Ich kniete mich neben ihn nieder, um ihn aus dem Geschirr zu lösen. Ich war beunruhigt, weil er so regungslos dalag und nur seine Brust sich in tiefen, keuchenden Atemzügen hob und senkte. Seine Lippen waren blau, die eine Gesichtshälfte verschwollen und zerschrammt.

Benommen richtete er sich auf und flüsterte zwischen rasselnden Atemzügen:»Blau… ganz blau… Hohe Türme in der Tiefe…«

»Was?«

»In der Spalte. Ganz blau… Voller Licht.«

»Geht es dir besser?«

Er schnallte das Geschirr wieder um.

»Du gehst jetzt voraus… angeseilt… mit dem Stock«, keuchte er.»Du suchst den Weg.«

Und so marschierten wir stundenlang weiter, der eine ziehend, der andere schiebend und lenkend. Vor jedem Schritt sondierten wir den Boden zuerst mit dem Stock und kamen daher nur im Schneckentempo voran. Bei diesem weißen Wetter erkannte man eine Spalte erst, wenn man direkt von oben in sie hineinsah — ein bißchen zu spät, denn der Rand hing bei allen etwas über und war nur selten wirklich fest. Jeder Schritt war für uns eine Überraschung: entweder höher oder tiefer als erwartet. Es gab keine Schatten. Nur eine glatte, weiße, geräuschlose Kugel. Wir bewegten uns wie in einer riesigen Kugel aus dickem Milchglas. Innerhalb dieser Kugel war nichts, und außerhalb dieser Kugel war nichts. Aber das Glas hatte zahlreiche Sprünge. Sondieren — Schritt, Sondieren — Schritt. Vorsichtiges Abtasten nach diesen unsichtbaren Rissen, durch die man aus der weißen Glaskugel herausfallen und fallen und fallen und fallen würde… Nach und nach wurden alle meine Muskeln von einem Krampf gepackt, der sich nicht lösen wollte, so daß es mir fast unmöglich wurde, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen.

»Was ist denn, Genry?«

Ich stand da, regungslos, mitten im Nichts. Tränen traten mir in die Augen und froren meine Lider zu. Ich sagte:»Ich habe Angst, daß ich abstürze.«

»Aber du bist doch angeseilt«, erwiderte er. Dann kam er nach vorn, sah, daß nirgends eine Gletscherspalte zu entdecken war, und wußte sofort, was mit mir los war.»Wir schlagen das Lager auf«, erklärte er.

»Aber es ist doch noch viel zu früh. Wir müssen weiter!«

Er löste bereits die Verschnürungen der Zeltplane.

Später, als wir gegessen hatten, sagte er:»Es war wirklich Zeit, daß wir haltmachten. Ich glaube kaum, daß wir auf dieser Route weiterkommen. Das Eis scheint sich allmählich zu senken und wird von jetzt an überall verrottet und von Spalten durchzogen sein. Wenn wir etwas sehen könnten, dann würden wir es schaffen. Im Unschatten aber schaffen wir es auf keinen Fall.«

»Und wie sollen wir zu den Shenshey-Sümpfen hinunterkommen?«

»Also, wenn wir uns wieder nach Osten halten, anstatt nach Süden zu gehen, dann wäre es möglich, daß wir auf dem guten Eis ganz bis zur Guthen-Bucht kommen. Im Sommer, als ich mit einem Boot auf dem Wasser war, habe ich das Eis einmal von der Bucht aus gesehen. Es stößt bis an die Roten Berge und ergießt sich in Eisströmen in die Bucht. Wenn wir auf einem dieser Gletscher absteigen, könnten wir auf der zugefrorenen Bucht in südlicher Richtung bis nach Karhide laufen und das Land statt über die Grenze, an der Küste betreten, was für unsere Zwecke vermutlich sogar besser wäre. Allerdings verlängert diese Route unseren Weg um einige Meilen — um zwanzig bis fünfzig, würde ich sagen. Was meinst du dazu, Genry?«

»Ich meine, daß ich in diesem weißen Wetter nicht einmal mehr zehn Meter schaffe.«

»Aber wenn wir aus dem Gebiet der Gletscherspalten heraus sind…«

»Oh, wenn wir aus dem Gebiet der Gletscherspalten heraus sind, geht es mir fabelhaft! Und wenn dann die Sonne wieder zum Vorschein kommt, setzt du dich auf den Schlitten und ich ziehe dich kostenlos bis nach Karhide.«Das war einer unserer für dieses Stadium der Reise typischen Versuche, Humor zu zeigen; unsere Scherze mochten zwar reichlich dumm sein, aber zuweilen gelang es uns damit, den anderen zum Lächeln zu bringen.»Mir fehlt überhaupt nichts«, fuhr ich fort.»Nichts, außer einer akuten, chronischen Angst.«

»Angst ist etwas sehr nützliches. Genau wie die Dunkelheit; genau wie der Schatten.«Estravens Lächeln wirkte in dem sich schälenden, rissigen, braunen Gesicht wie ein häßlicher Spalt in einer von schwarzem Pelz umrahmten und mit zwei schwarzen Steinen verzierten Maske.»Sonderbar, daß das Tageslicht nicht genügt! Um gehen zu können, brauchen wir den Schatten.«

»Gib mir mal eben dein Notizbuch.«

Er hatte gerade den Reisebericht für heute geschrieben und einige Kalkulationen über Entfernungen und Rationen angestellt. Jetzt schob er das kleine Büchlein und den Kohlestift um den Chabe-Ofen herum zu mir. Ich schlug es ganz hinten auf und zeichnete auf das Blatt, das fest auf den hinteren Deckel geklebt war, den Kreis mit der Doppelkurve darin. Die Yin-Hälfte des Symbols malte ich schwarz, dann schob ich das Buch wieder zu ihm zurück.»Kennst du dieses Zeichen?«

Er betrachtete es lange, mit einem merkwürdigen Ausdruck, sagte dann aber:»Nein.«

»Es gibt dieses Symbol auf der Erde, auf Hain-Davenant und auf Chiffewar. Es ist das Yin und das Yang. ›Das Licht ist die linke Hand der Dunkelheit…‹ Wie fing der Vers doch noch? Licht, Dunkelheit, Angst, Mut. Kälte, Wärme. Weiblich, männlich. Das bist du selbst, Therem. Beide Hälften und das Ganze. Ein Schatten auf dem Schnee.«

Am nächsten Tag tasteten wir uns durch das weiße Nichts nach Nordosten, bis es im Boden dieses Nichts keine Sprünge mehr gab: ein Tagesmarsch. Wir lebten von Zweidrittel-Rationen und konnten nur hoffen, daß uns der Proviant trotz des Umweges nicht ausgehen würde. Mir schien allerdings, daß sogar das keine große Rolle mehr spielen konnte, da mir der Unterschied zwischen dem, was wir zu essen hatten, und gar nichts recht unerheblich schien. Estraven dagegen war auf den Spuren seines Glücks und folgte dem, was er für Intuition hielt, was aber durchaus auch angewandte Erfahrung und logisches Denken sein konnte. Vier Tage lang zogen wir so nach Osten — die längsten Tagemärsche, die wir bis dahin geschafft hatten: achtzehn bis zwanzig Meilen pro Tag. Doch dann war es plötzlich aus mit dem ruhigen Wetter bei achtzehn Grad minus, die Stille zerbrach, zerbarst und verwandelte sich in einen unaufhörlichen Wirbel von winzigen nadelspitzen Schneepartikelchen vor uns, hinter uns, neben uns, in unseren Augen, in einen Schneesturm, der begann, als das Licht erlosch. Drei Tage mußten wir in unserem Zelt liegen bleiben, während der Blizzard uns in die Ohren schrie — einen drei Tage langen, wortlosen, haßerfüllten Schrei aus den Tiefen seiner atemlosen Lungen.

»Ich bin bald so weit, daß ich zurückschreie«, sagte ich in der Gedankensprache zu Estraven. Und er antwortete mir mit jener zögernden Förmlichkeit, die seinen Kontakt mit mir kennzeichnete: »Hat keinen Zweck. Er wird dir nicht zuhören.«

Stunde um Stunde schliefen wir, aßen ein wenig, pflegten unsere Frostbeulen, Entzündungen und Schrammen, unterhielten uns in der Gedankensprache und schliefen wieder. Dann mäßigte sich das dreitägige Kreischen zu einem Fauchen, zu einem Seufzen, zu tiefer Stille. Der Tag brach durch. Zum offenen Türventil schien strahlend blauer Himmel herein, der uns das Herz leicht machte, obwohl wir zu niedergeschlagen waren, um unserer Erleichterung durch Munterkeit oder begeisterten Gesten Ausdruck zu verleihen. Wir brachen das Lager ab — das dauerte beinahe zwei Stunden, denn wir krochen umher, als wären wir uralte Männer — und stapften los. Es ging jetzt bergab, auf einer leichten, aber deutlich erkennbaren Neigung; die Schneedecke war ideal zum Skilaufen geeignet. Die Sonne schien. Am Vormittag zeigte das Thermometer zweiundzwanzig Grad minus. Die Bewegung schien uns neue Kraft zu verleihen, so daß wir schnell und leicht vorankamen. An diesem Tag machten wir erst halt, als schon die Sterne am Himmel standen.

Zum Abendessen teilte Estraven volle Rationen aus. Wenn wir so weitermachten, hatten wir nur noch Lebensmittel für sieben Tage.

»Das Rad dreht sich«, sagte er ernst.»Wenn wir eine gute Strecke zurücklegen wollen, müssen wir auch gut essen.«

»Eßt, trinkt und seid fröhlich!«spöttelte ich. Das Essen hatte mich regelrecht berauscht. Ich begann unbändig über meinen eigenen Scherz zu lachen.»Gehört alles zusammen — Essen, Trinken, Fröhlichsein. Ohne Essen kann man nicht fröhlich sein, stimmt’s?«Dies schien mir mit einemmal ein Mysterium zu sein, das dem des Yin-Yang-Kreises in nichts nachstand, aber es hielt nicht an. Irgend etwas in Estravens Miene verscheuchte meinen Optimismus. Plötzlich hätte ich am liebsten geweint, aber ich hielt meine Tränen zurück. Estraven war nicht so stark wie ich, daher wäre es unfair gewesen; es hätte ihn womöglich auch zum Weinen gebracht. Aber er schlief bereits. Er war im Sitzen, die Eßschale noch auf dem Schoß, eingeschlafen. Es sah ihm gar nicht ähnlich, so nachlässig zu sein. Aber er hat vollkommen recht, dachte ich. Es ist gar keine schlechte Idee, einfach schlafen zu gehen.

Am nächsten Morgen erwachten wir ziemlich spät, nahmen ein doppeltes Frühstück zu uns, schirrten uns an und zogen unseren leichten Schlitten geradenwegs über das Ende der Welt hinaus.

Unter dem Ende der Welt, einem steilen, geröllbedeckten Hang, der weiß und rot im bleichen Mittagslicht lag, erstreckte sich das zugefrorene Meer: die Guthen-Bucht, gefroren von einer Küste bis zur anderen, von Karhide ganz bis weit zum Nordpol hinauf.

Der Abstieg zu dem Meereseis, durch die zerklüfteten Kanten, Platten und Gräben des großen Gletschers, die durch die Gewalt des fließenden Eises im Ansturm gegen die Roten Berge entstanden waren, kostete uns den Nachmittag und den ganzen nächsten Tag. An jenem zweiten Tag ließen wir unseren Schlitten zurück und packten Traglasten zusammen: Der eine von uns bekam das Zelt als Hauptlast, der andere die Schlafsäcke, und den Proviant luden wir zu gleichen Teilen dazu; so hatten wir jeder knapp fünfundzwanzig Pfund zu tragen. Als ich den Chabe-Ofen auch noch dazupackte, waren es immer noch nicht ganz dreißig Pfund für mich. Es war eine Erleichterung, endlich von dem ewigen Ziehen, Zerren, Stoßen, Stemmen und Schieben des Schlittens erlöst zu sein, und das sagte ich, als wir weitergingen, auch zu Estraven. Er drehte sich nach dem Schlitten um, der in dieser Wüste aus Eis und rötlichem Felsgestein wie ein Stück Abfall wirkte.»Er hat uns gute Dienste geleistet«, sagte er dann. Seine Loyalität erstreckte sich unterschiedslos sogar auf Gegenstände, auf jene geduldigen, ausdauernden, zuverlässigen Dinge, die wir benutzen, und an die wir uns gewöhnen, auf alle Dinge, von denen wir leben. Der Schlitten fehlte ihm.

Am selben Abend, dem fünfundsiebzigsten Tag unserer Reise, dem einundfünfzigsten auf dem Plateau, Harhahad Anner, verließen wir das Gobrin-Eis und betraten das Meereseis von Guthen-Bucht. Wieder marschierten wir so lange, bis es dunkel war. Die Luft war sehr kalt, aber klar und still, und die glatte Eisfläche, sowie die Tatsache, daß wir keinen Schlitten mehr zu ziehen brauchten, wirkte wie eine Einladung für unsere Skier. Als wir an jenem Abend unser Lager aufgeschlagen hatten und schlafen gingen, bewegte uns der Gedanke merkwürdig tief, daß sich unter uns nun nicht mehr meilendickes, sondern lediglich meterdickes Eis und darunter Salzwasser befand. Aber wir verschwendeten nicht viel Zeit darauf. Wir aßen, und dann schliefen wir.

Bei Morgengrauen — es war wieder ein klarer, aber furchtbar kalter Tag, unter vierzig Grad minus bei Tagesanbruch — konnten wir, als wir nach Süden blickten, die Küstenlinie verfolgen, die sich, bis auf einige Gletscherzungen, die hier und da weit ins Meer vorstießen, in einer nahezu gerader Linie nach Süden zog. Wir folgten ihr zuerst dicht unter Land. Der Nordwind schob uns vor sich her, bis wir auf die Höhe eines Taleinschnitts zwischen zwei hohen, orangefarbenen Bergen kamen. Aus dieser Schlucht heulte ein Sturmwind herunter, der uns beide zu Boden warf. Rasch krochen wir wieder nach Osten, auf die glatte Meeresfläche hinaus, wo wir wenigstens aufstehen und weiterlaufen konnten.»Das Gobrin-Eis hat uns aus seinem Schlund gespien«, sagte ich.

Am nächsten Tag lag der östlich verlaufende Bogen der Küste, deutlich sichtbar, direkt vor uns. Zu unserer Rechten lag noch ein Zipfel Orgoreyn, aber die blaue Kurve vor uns war Karhide.

An diesem Tag verbrauchten wir die letzten Orshkörner und die letzten Kadik-Keime. Jetzt hatten wir noch für jeden zwei Pfund Gichymichy, und insgesamt einhundertfünfzig Gramm Zucker.

Ich kann diese letzten Tage unseres Marsches, wie ich eben feststelle, nicht recht beschreiben, weil ich mich nicht sehr deutlich an sie erinnere. Der Hunger kann zwar das Wahrnehmungsvermögen steigern, aber nur, wenn man nicht gleichzeitig im Zustand äußerster Erschöpfung ist; ich vermute, daß alle meine Sinne stark abgestumpft waren. Ich weiß zwar noch, daß ich Hungerkrämpfe bekam, aber ich kann mich nicht erinnern, ob sie mir Schmerzen verursachten. Falls ich in jener Zeit überhaupt etwas empfand, dann war es ein vages Gefühl der Befreiung, das Gefühl, etwas hinter mich gebracht zu haben, ein Gefühl der Freude und Genugtuung. Abgesehen davon, war ich lediglich unaussprechlich müde. Am zwölften Tag, Posthe Anner, erreichten wir das Land und kletterten über den gefrorenen Strand auf die felsige, schneebedeckte Öde der Guthen-Küste.

Wir waren in Karhide. Wir hatten unser Ziel erreicht. Aber es war auch höchste Zeit, denn unsere Traglasten waren leer. Zur Feier unserer Ankunft tranken wir heißes Wasser. Am nächsten Morgen machten wir uns auf, um nachzusehen, ob wir irgendwo eine Straße oder eine Siedlung fanden. Dieser Landesteil ist eine richtige Einöde, und überdies hatten wir keine Karte, nach der wir marschieren konnten. Falls es hier Straßen gab, dann waren sie unter zwei bis drei Meter Schnee vergraben, und wir haben vermutlich mehrere überquert, ohne es zu bemerken. Es gab keine Anzeichen von Ackerbau. Wir zogen den ganzen Tag und den nächsten nach Süden und Westen, und als wir am Abend des dritten an einem fernen Berghang ein Licht durch die Dämmerung und den leise fallenden Schnee schimmern sahen, traute zunächst keiner von uns seinen Augen. Wir standen da und starrten sprachlos hinüber. Endlich krächzte mein Begleiter:»Ist das tatsächlich ein Licht?«

Es war schon lange dunkel, als wir das karhidische Dorf erreichten. Die ganze Ortschaft bestand aus einer einzigen, von dunklen Häusern mit Steildächern flankierten Straße, wo der Schnee fest gepackt bis zu den Wintertüren hinaufreichte. Wir blieben vor der Garküche stehen, durch deren schmale Fensterläden in Strahlen, Streifen und Pfeifen das gelbe Licht drang, das wir über die Schneeberge hinweg gesehen hatten. Wir stießen die Tür auf und traten ein.

Es war Odsordny Anner, der einundachtzigste Tag unserer Reise; wir hatten Estravens Marschplan um elf Tage überzogen. Unsere Proviantmenge hatte er genau eingeschätzt: im Höchstfall für achtundsiebzig Tage. Wir hatten, nach dem Stand des Tachometers am Schlitten plus einer groben Schätzung für die letzten paar Tage, achthundertundvierzig Meilen zurückgelegt. Eine Menge dieser Meilen hatten wir verschwendet, weil wir umkehren mußten, und wenn die Entfernung tatsächlich achthundert Meilen betragen hätte, dann hätten wir es nie geschafft. Doch als wir eine genaue Karte fanden, errechneten wir, daß die Entfernung zwischen der Pulefen-Farm und diesem Dorf nicht einmal siebenhundertunddreißig Meilen betrug. Und all diese Tage und Meilen hatten uns durch eine Wüste ohne Menschen und ohne Sprache geführt: nur Fels, Eis, Himmel und Schweigen — sonst nichts. Einundachtzig Tage lang nichts, nur wir beide.

Wir traten in einen riesigen, dampfend-heißen, hell erleuchteten Raum voll Essen und Essensduft, voll Menschen und Menschenstimmen. Ich hielt mich an Estravens Schulter fest. Fremde Gesichter, fremde Augen wandten sich uns zu. Ich hatte vergessen, daß es überhaupt Menschen gab, die nicht so aussahen wie Estraven. Ich hatte Angst.

In Wirklichkeit war es ein ziemlich kleiner Raum, und bei den vielen Fremden handelte es sich um sieben bis acht Personen, die alle mit Sicherheit ebenso erschrocken waren wie ich. Denn in der Kurkurast-Domäne kommt kein Mensch mitten im Winter, dazu bei Nacht, aus dem Norden. Sie starrten uns an, wunderten sich, und alle Gespräche waren verstummt.

Estraven sagte in einem kaum vernehmbaren Flüsterton:»Wir bitten um die Gastfreundschaft der Domäne.«

Lärm, Stimmengewirr, Durcheinander, Bestürzung, Willkommen.

»Wir kommen über das Gobrin-Eis.«

Wieder Lärm, wieder Stimmen, Fragen. Sie drängten auf uns zu.

»Würden Sie sich bitte um meinen Freund kümmern?«

Ich dachte, das hätte ich gesagt, aber es war Estraven. Irgend jemand drückte mich auf einen Stuhl. Man brachte uns Essen; man kümmerte sich um uns, nahm uns auf, hieß uns daheim willkommen.

Gutmütige, streitlustige, hitzige, unwissende Seelen — die Landbevölkerung eines armen Landes! Ihre Freigebigkeit verlieh dieser schweren Reise einen noblen Abschluß. Und so empfing Estraven das, was sie uns gaben, als Herr unter Herren oder als Bettler unter Bettlern: als ein Mann bei seinem eigenen Volk.

Für diese Fischer in den Dörfern am äußersten Rand dieses Planeten, an der kaum noch bewohnbaren Grenze eines kaum bewohnbaren Kontinents, ist die Aufrichtigkeit ebenso lebensnotwendig wie das Essen. Sie müssen ehrlich zueinander sein, denn zum Betrügen ist einfach nicht genug da. Das wußte Estraven, und deswegen antwortete er, als sie uns nach einem oder zwei Tagen endlich diskret und auf Umwegen, mit entsprechender Rücksicht auf den shifgrethor fragten, warum wir einen ganzen Winter mit einer Wanderung über das Gobrin-Eis verbracht hätten, sofort:»Ich sollte nicht das Schweigen wählen, und dennoch steht es mir besser an als eine Lüge.«

»Es ist uns allen wohlbekannt, daß auch ehrenwerte Männer manchmal geächtet werden, und dennoch schrumpft ihr Schatten nicht«, sagte der Koch der Garküche, der im Ansehen gleich hinter dem Dorfoberhaupt rangierte, und dessen Lokal im Winter für die gesamte Domäne so etwas wie ein Wohnzimmer war.

»Der eine ist in Karhide geächtet, der andere in Orgoreyn«, sagte Estraven.

»Wohl wahr. Und der eine von seinem Clan, der andere vom König in Erhenrang.«

»Der König kürzt keines Mannes Schatten, selbst wenn er es versuchen wollte«, entgegnete Estraven, und der Koch machte ein zufriedenes Gesicht. Wenn Estraven von seinem eigenen Clan geächtet worden wäre, dann hätte es sich bei ihm um ein suspektes Individuum gehandelt; die Ungnade des Königs dagegen wog nicht weiter schwer.

Wir nannten unseren Gastgebern in Kurkurast nie unsere Namen. Estraven widerstrebte es zwar, einen falschen Namen zu gebrauchen, doch unsere richtigen durften wir auf keinen Fall preisgeben. Es war ja schließlich schon ein Verbrechen, mit Estraven auch nur ein Wort zu wechseln, von dem Essen, der Kleidung und dem Obdach, die sie ihm gaben, ganz zu schweigen, denn selbst in einem entlegenen Dorf an der Guthen-Küste gibt es ein Radio, daher konnten sie nicht so tun, als wüßten sie nichts von der Verbannung Estravens, und daher konnte auch nur echte Unkenntnis im Hinblick auf die Identität ihres Gastes für sie eine Entschuldigung sein. Ihre gefährliche Lage lastete schwer auf Estravens Seele, noch ehe ich überhaupt einen Gedanken daran verschwendet hatte. Und darum kam er am dritten Abend zu mir in mein Zimmer, um seine weiteren Pläne mit mir zu besprechen.

Ein karhidisches Dorf gleicht einer alten Burg unserer Erde: Es hat nur wenige oder gar keine abgeschlossenen Privatwohnungen. Trotzdem fand jeder der fünfhundert Dorfbewohner in diesen hohen, weitläufigen, alten Gebäuden des Herdes, des Kommerzes, der Co-Domäne (es gab keinen Herrn von Kurkurast) und des Außenhauses in den Räumen entlang der alten Gänge mit den meterdicken Mauern ungestörte Ruhe, ja sogar Abgeschiedenheit. Wir hatten jeder ein Zimmer im obersten Stock des Herdes zugewiesen bekommen. Ich saß gerade in dem meinen vor dem Kamin, in dem ein kleines, heißes, stark duftendes Feuer aus Torf, gestochen in den Shenshey-Sümpfen, brannte, als Estraven hereinkam.»Wir müssen bald wieder aufbrechen«, sagte er.

Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er im Schatten des vom Feuer schwach erleuchteten Zimmers stand, barfuß und nur mit der weiten Pelzhose bekleidet, die ihm der Dorfälteste geschenkt hatte. Wenn sie allein und in der Wärme ihres Hauses sind — ihrer als Wärme empfundenen Temperatur, ich hätte am liebsten den Mantel anbehalten -, laufen die Karhider oft halb oder ganz nackt herum. Auf unserer Reise hatte Estraven all seine glatte, kompakte Festigkeit verloren, die für den Körperbau der Gethenianer bezeichnend ist, und war hager geworden, die Haut war narbenübersät, und sein Gesicht von der Kälte verbrannt wie durch Feuer. In diesem zuckenden, unruhigen Licht wirkte er wie eine dunkle, harte und dennoch körperlose Gestalt.

»Wohin?«

»Nach Süden oder Westen, denke ich. Auf die Grenze zu. Unsere wichtigste Aufgabe ist es jetzt, einen Radiosender zu finden, der stark genug ist, um dein Schiff zu erreichen. Danach werde ich mir ein gutes Versteck suchen oder für eine Weile nach Orgoreyn zurückkehren. Ich möchte unbedingt vermeiden, daß diejenigen, die uns hier geholfen haben, bestraft werden.«

»Wie willst du denn nach Orgoreyn zurückkommen?«

»Genau wie schon einmal: über die Grenze. Die Orgota haben nichts gegen mich.«

»Und wo finden wir einen Radiosender?«

»Wohl kaum vor Sassinoth.«

Ich zuckte zusammen. Er grinste mich an.

»Nicht näher?«

»Ungefähr einhundertfünfzig Meilen. Wir haben weitere Strecken in ungünstigerem Gelände zurückgelegt. Hier gibt es überall Straßen, die Leute werden uns in ihren Häusern aufnehmen, und vielleicht nimmt man uns unterwegs auf einem Motorschlitten mit.«

Ich stimmte ihm zu, war aber bei dem Gedanken an eine zusätzliche Etappe unserer Winterreise zutiefst deprimiert. Und diesmal führte sie uns nicht in einen sicheren Hafen, sondern zu dieser verdammten Grenze, wo Estraven womöglich wieder ins Exil gehen und mich ganz allein hier zurücklassen mußte.

Ich dachte eine Weile darüber nach und sagte schließlich:»Es gibt eine einzige Bedingung, die Karhide erfüllen muß, ehe es sich der Ökumene anschließen kann: Argaven muß deine Verbannung aufheben.«

Er schwieg und starrte stumm ins Feuer.

»Es ist mir ernst«, beteuerte ich.»Das ist das Wichtigste.«

»Ich danke dir, Genry«, sagte er. Wenn er so leise sprach wie jetzt, nahm seine Stimme fast das Timbre einer Frauenstimme an: etwas belegt und ohne Resonanz. Er sah mich gütig an, ohne zu lächeln:»Aber ich erwarte schon seit langem nicht mehr, meine Heimat wiederzusehen. Weißt du, ich bin eigentlich seit zwanzig Jahren im Exil. Es besteht gar kein so großer Unterschied zu dieser Verbannung. Ich sorge schon für mich selbst. Sorg du für dich und die Ökumene. Das mußt du allein tun. Doch jedes Wort darüber wäre verfrüht. Rufe dein Schiff herunter. Wenn das getan ist, können wir weiterdenken.«

Wir blieben noch zwei Tage in Kurkurast, aßen uns satt, ruhten uns aus und warteten auf einen Straßenpacker, der aus dem Süden kam und uns auf dem Rückweg mitnehmen würde. Unsere Gastgeber ließen sich von Estraven die ganze, lange Geschichte unserer Eiswanderung erzählen. Und er erzählte sie, wie nur ein Mensch mit mündlicher Überlieferungstradition eine Geschichte erzählen kann: Er machte aus ihr eine Saga voll traditioneller Redewendungen und Episoden, und dennoch exakt und lebendig, von den Schwefelfeuern und der Dunkelheit im Paß zwischen Drumner und Dremegole bis zu den kreischenden Windstößen aus den Bergtälern, die über die Guthen-Bucht hinfegten; mit komischen Zwischenfällen wie seinem Sturz in die Gletscherspalte, und mystischen Schilderungen wie der von den Geräuschen und dem Schweigen des Großes Eises, vom schattenlosen Nichts und von der Finsternis der Nächte. Ich lauschte ihm nicht weniger fasziniert als die anderen, den Blick gespannt auf das dunkle Gesicht meines Freundes gerichtet.

Wir verließen Kurkurast, Ellbogen an Ellbogen zusammengedrängt, in der Fahrerkabine eines Straßenpackers, eines der großen, motorgetriebenen Fahrzeuge, die den Schnee auf Karhides Straßen glattwalzen und festpacken — die einzige Möglichkeit, die Straßen auch im Winter für den Verkehr offenzuhalten, denn wenn man sie freipflügen wollte, so würde das Königreich dafür die Hälfte seiner Zeit und seines Geldes opfern müssen, und während des Winters läuft der gesamte Verkehr ohnehin auf Kufen. Der Packer kroch mit einer Geschwindigkeit von zwei Meilen pro Stunde dahin und brachte uns lange nach Anbruch der Nacht in das südliche Nachbardorf von Kurkurast. Dort hieß man uns, wie überall, willkommen, gab uns zu essen und bot uns ein Obdach für die Nacht; am folgenden Tag gingen wir zu Fuß weiter. Wir befanden uns jetzt auf der Landseite der Küstenberge, die die Hauptwucht des Nordsturmes von der Guthen-Bucht ablenken, in einer dichter besiedelten Gegend, und brauchten daher nicht mehr von Lagerplatz zu Lagerplatz marschieren, sondern von Herd zu Herd. Ein paarmal nahm uns ein Motorschlitten mit, einmal sogar dreißig Meilen weit. Die Straßen waren trotz häufiger, starker Schneefälle festgepackt und gut markiert. Wir hatten immer Lebensmittel in unserer Traglast, die unsere Gastgeber der letzten Nacht uns zugesteckt hatten; es gab am Ende jeden Tages ein Dach über dem Kopf und ein wärmendes Feuer für uns.

Und doch waren diese acht oder neun Tage unbeschwerten Wanderns oder Skilaufens durch ein gastfreies Land die schwersten und trostlosesten der ganzen Reise, schlimmer noch als der Aufstieg auf den Gletscher, schlimmer als die letzten Tage des Hungerns. Denn die Saga war vorüber; sie gehörte dem Eis. Wir waren sehr müde. Wir gingen in die falsche Richtung. Es war keine Begeisterung mehr in uns, kein Ziel.

»Manchmal muß man gegen die Richtung gehen, in der sich das Rad dreht«, sagte Estraven. Er war so ausgeglichen wie eh und je, doch in seinem Gang, in seiner Stimme, in seiner Haltung war Energie der Geduld, Gewißheit hartnäckiger Entschlossenheit gewichen. Er war sehr still und unterhielt sich auch kaum in der Gedankensprache mit mir.

Wir kamen nach Sassinoth. Eine Stadt mit mehreren tausend Einwohnern, hoch auf den Bergen über dem zugefrorenen Ey: weiße Dächer, graue Mauern, von Wald und zutage tretenden Felsen schwarz getupfte Berge, weiße Felder, weißer Fluß. Auf der anderen Seite des Flusses das heißumkämpfte Sinoth-Tal — weiß in weiß…

Wir kamen praktisch mit leeren Händen. Den größten Teil dessen, was uns von unserer Marschausrüstung geblieben war, hatten wir an die verschiedenen, freundlichen Gastgeber verschenkt, und jetzt hatten wir nichts mehr als den Chave- Ofen, unsere Skier und die Kleider, die wir auf dem Leib trugen. So schlugen wir uns mit leichtem Gepäck, immer wieder nach dem Weg fragend, zu unserem neuen Ziel durch: keiner Stadt, sondern einer weit abseits liegenden Farm. Es war eine armselige Farm, die zu keiner Domäne gehörte, sondern direkt der Sinoth-Talverwaltung unterstand. Als Estraven vor langer Zeit ein junger Sekretär in diesem Verwaltungsdistrikt gewesen war, hatte er mit dem Besitzer Freundschaft geschlossen und ihm diese Farm vor ein oder zwei Jahren gekauft, damals, als er geholfen hatte, die Leute auf das Ostufer des Ey umzusiedeln, weil er hoffte, auf diese Weise eine Auseinandersetzung um den Besitz des Sinoth- Tales zu vermeiden. Der Farmer öffnete uns persönlich: ein stämmiger, untersetzter Mann in Estravens Alter. Sein Name war Thessicher.

Estraven hatte sich bei dem Marsch durch dieses Gebiet die Kapuze tief heruntergezogen, damit man sein Gesicht nicht sehen konnte. Er fürchtete, hier von irgend jemandem erkannt zu werden, aber das war doch sehr unwahrscheinlich. Man brauchte schon sehr scharfe Augen, um in dem mageren, wettergegerbten Landstreicher den ehemaligen Außenminister Harth rem ir Estraven zu erkennen. Thessicher musterte ihn immer wieder verstohlen, weil er nicht glauben konnte, daß er tatsächlich der war, der er zu sein behauptete.

Thessicher nahm uns auf, und seine Gastfreundschaft entsprach der Norm, obwohl seine Mittel äußerst spärlich waren. Doch ich merkte sofort, unsere Anwesenheit behagte ihm nicht; es wäre ihm lieber gewesen, wir hätten ihn nicht aufgesucht. Das war verständlich. Daß er uns aufnahm, konnte die Beschlagnahme seines Besitzes nach sich ziehen. Da er diesen Besitz jedoch Estraven verdankte und, hätte Estraven nicht für ihn gesorgt, jetzt sicher ebenso mittellos gewesen wäre wie wir, erschien es mir nur gerecht, ihn zu bitten, aus Dankbarkeit ein Risiko einzugehen. Mein Freund erbat seine Hilfe allerdings nicht als Gegenleistung, sondern als einen Freundschaftsdienst; er verließ sich nicht so sehr auf Thessichers Dankbarkeit als vielmehr auf seine Zuneigung. Und tatsächlich taute Thessicher, nachdem sich die erste Angst ein wenig gelegt hatte, allmählich auf. Er begann mit der typisch karhidischen Lebhaftigkeit in wehmütigen Erinnerungen zu schwelgen, saß fast die halbe Nacht hindurch mit Estraven am Feuer und beschwor das Andenken an alte Zeiten und die Erinnerungen an alte Bekannte herauf. Als Estraven fragte, ob er irgendwo ein gutes Versteck für ihn wüßte — irgend eine verlassene oder einsame Farm, auf der ein Verbannter ein bis zwei Monate unterkriechen und abwarten konnte, bis seine Ausweisung rückgängig gemacht wurde -, antwortete Thessicher sofort:»Du kannst bei mir bleiben.«

Estravens Augen leuchteten auf, als er das hörte, aber er erhob Bedenken, woraufhin ihm Thessicher, der zugeben mußte, daß er so nahe bei Sassinoth in Gefahr kommen könne, versprach, einen anderen Unterschlupf für ihn zu suchen. Es werde nicht weiter schwer sein, wenn Estraven einen falschen Namen annehmen und sich als Koch oder Landarbeiter verdingen würde; das wäre vielleicht ein bißchen unangenehm, aber bestimmt weit besser als eine Rückkehr nach Orgoreyn.»Zum Teufel, was willst du in Orgoreyn? Wovon würdest du da leben?«

»Von der Commensalität«, antwortete mein Freund mit einer Spur seines alten Otternlächelns.»Du weißt doch, daß alle Einheiten drüben Arbeit bekommen. Ich sehe da gar keine Schwierigkeit. Aber ich würde natürlich lieber in Karhide bleiben… wenn du wirklich meinst, daß es sich machen läßt…«

Den Chabe-Ofen hatten wir behalten; er war das einzige Stück von Wert, das uns geblieben war, und hatte uns auf die eine oder andere Art bis ans Ende unserer Reise treulich gedient. Am Tag nach unserer Ankunft auf Thessichers Farm nahm ich den Ofen und fuhr auf Skiern in die Stadt. Estraven kam selbstverständlich nicht mit, hatte mir aber in allen Einzelheiten erklärt, was ich dort tun müßte, und alles verlief ganz glatt. Ich verkaufte den Ofen im Stadtkommerz, dann ging ich mit dem beachtlichen Betrag, den ich dafür bekommen hatte, zu dem kleinen Handelscollege auf dem Berg, wo der Radiosender untergebracht war, und kaufte zehn Minuten für eine ›Privatsendung an Privatempfänger‹. Alle Stationen reservierten täglich eine bestimmte Zeitspanne für Kurzwellenübertragungen dieser Art, und da sie meistens von Kaufleuten an ihre Agenten in Übersee oder die Kunden im Archipel, in Sith oder Perunter abgeschickt werden, hat man den Preis zwar ziemlich hoch, aber nicht unvernünftig hoch angesetzt. Auf jeden Fall ist er geringer als der Erlös für einen gebrauchten Chabe-Ofen. Meine zehn Minuten lagen am Spätnachmittag, gleich zu Beginn der dritten Stunde. Ich hatte keine Lust, den ganzen Tag zwischen der Thessicher-Farm und der Radiostation hin und her zu laufen, also trieb ich mich ein wenig in Sassinoth herum und nahm in einer der Garküchen ein reichliches, gutes und billiges Essen ein. Kein Zweifel: die karhidische Küche war wesentlich besser als die in Orgoreyn. Beim Essen fiel mir Estravens Bemerkung darüber ein — damals, als ich ihn gefragt hatte, ob er Orgoreyn haßte; und ich erinnerte mich an seine Stimme, als er gestern abend ganz leise gesagt hatte:»Aber ich würde natürlich lieber in Karhide bleiben…«Ich fragte mich — nicht zum erstenmal -, was Patriotismus eigentlich ist, woraus die Liebe zur Heimat besteht, woher diese sehnsüchtige Loyalität, die meines Freundes Stimme ein wenig zittern ließ, eigentlich kommt: und wie eine so tiefe Liebe so oft auch zu einer törichten und abstoßenden Bigotterie werden kann. Wo und wann kommt sie vom rechten Wege ab?

Nach dem Mittagessen schlenderte ich durch Sassinoth. Das Geschäftsleben der Stadt, die Läden, Märkte und Straßen, trotz Schneetreiben und Temperaturen um achtzehn Grad minus voller Menschen, wirkten auf mich so irreal und verwirrend wie ein unbekanntes Spiel. Ich hatte noch immer nicht ganz aus der Einsamkeit des Eises zurückgefunden. Ich fühlte mich noch immer unbehaglich, wenn ich unter Fremden war, und sehnte mich ständig nach Estravens Gegenwart.

Als es dunkelte, kletterte ich die steile, schneebedeckte Straße zum College hinauf, wurde eingelassen und mit der Bedienung eines für. den Publikumsgebrauch bestimmten Senders vertraut gemacht. Zum festgesetzten Zeitpunkt funkte ich das Wecksignal zu dem Relais-Satelliten hinüber, der sich dreihundert Meilen hoch über Süd-Karhide in stationärer Umlaufbahn befand. Er war als Absicherung für genau diese Situation gedacht: für den Fall also, daß mein Ansible verschwunden war und ich dann Ollul nicht bitten konnte, dem Schiff zu signalisieren, mir aber andererseits sowohl die Zeit als auch die Ausrüstung für einen direkten Kontakt mit dem in der Sonnenumlaufbahn fliegenden Schiff fehlte. Der Sender in Sassinoth war zwar mehr als ausreichend stark für meine Zwecke, doch da der Satellit nicht so eingerichtet war, daß er auf einen Funkspruch antworten, sondern ihn lediglich an das Schiff weiterleiten konnte, brauchte ich nichts weiter zu tun, als das Signal zu senden und anschließend zu warten. Ich wußte nicht, ob der Funkspruch empfangen und an das Schiff weitergeleitet worden war. Ich wußte nicht einmal, ob es richtig gewesen war, ihn abzuschicken. Aber ich hatte gelernt, derartige Ungewißheiten ruhigen Herzens hinzunehmen.

Da es inzwischen sehr stark zu schneien begonnen hatte und ich die Straßen nicht gut genug kannte, um mich in Schnee und Dunkelheit auf den Weg zu machen, mußte ich wohl oder übel die Nacht in der Stadt verbringen. Ich hatte’ immer noch ein wenig Geld, und so erkundigte ich mich nach einem Gasthaus, doch man bestand darauf, daß ich im College blieb. Ich aß mit einer Gruppe fröhlicher Studenten zu Abend und legte mich in einem der Schlafsäle auf ein Bett. Während ich einschlief, empfand ich ein angenehmes Gefühl der Sicherheit, das feste Vertrauen auf Karhides außerordentliche und zuverlässige Freundlichkeit allen Fremden gegenüber. Ich war von vornherein im richtigen Land gelandet, und jetzt war ich zurückgekehrt. Mit diesem Gedanken schlief ich ein. Aber ich erwachte schon sehr früh und machte mich, nach einer unruhigen Nacht voller Träume, die mich ein paarmal hochschrecken ließen, noch vor dem Frühstück auf den Weg zur Thessicher-Farm.

Die aufgehende Sonne stand klein und kalt am strahlenden Himmel, und jede Erhebung, jedes Hügelchen warf einen langen bläulichen Schatten nach Westen. Die Straße lag hell und dunkel gestreift vor mir. Nirgendwo auf den verschneiten Feldern rührte sich etwas; nur weit von der Straße entfernt kam eine Gestalt auf Skiern mit zügigen, weitausholenden Schritten auf mich zu. Schon lange ehe ich das Gesicht erkennen konnte, wußte ich, daß es Estraven war.

»Was gibt es, Therem?«

»Ich muß zur Grenze«, sagte er, ohne anzuhalten, als er bei mir ankam. Er war schon ganz außer Atem. Ich schloß mich ihm an, und gemeinsam jagten wir nach Westen. Ich konnte kaum mit ihm Schritt halten. Dort, wo die Straße nach Sassinoth abbog, verließen wir sie und liefen über die weiten, uneingezäunten Felder. Ungefähr eine Meile nördlich der Stadt überquerten wir den zugefrorenen Ey. Seine Ufer waren steil, und als wir die Kletterei hinter uns hatten, mußten wir beide erst einmal haltmachen und uns etwas ausruhen. Wir hatten nicht mehr die richtige Kondition für eine derartige Gewalttour.

»Was ist denn passiert, Therem? Thessicher?«

»Ja. Ich habe ihn an seinem Funkgerät belauscht. Bei Tagesanbruch.«Estravens Brust hob und senkte sich in den gleichen, keuchenden Atemzügen wie damals, als er neben der Gletscherspalte auf dem Eis gelegen hatte.»Tibe muß einen Preis auf meinen Kopf ausgesetzt haben.«

»Dieser verdammte, undankbare Verräter!«knurrte ich, meinte aber nicht Tibe, sondern Thessicher, der einen Freund verraten hatte.

»Ja, das ist er«, bestätigte Estraven.»Aber ich habe zuviel von ihm verlangt, ich habe einen kleinen Geist überfordert. Hör zu, Genry. Geh du zurück nach Sassinoth.«

»Ich begleite dich wenigstens über die Grenze, Therem.«

»Dort könnten sich Orgota-Wachtposten herumtreiben.«

»Ich bleibe auf dieser Seite. Um Himmels willen…«

Er lächelte. Noch immer heftig atmend, stand er auf, lief weiter, und ich lief mit.

Wir liefen auf unseren Skiern durch kleine, reifüberzogene Wäldchen und über die Hügel und Felder des umstrittenen Tals. Hier gab es keinen Schutz, kein Versteck. Nur einen strahlend blauen Himmel, eine grelle, weiße Welt und dazwischen wir beiden fliehenden Schatten. Hügeliges Gelände verbarg die Grenze vor unseren Blicken, bis wir auf eine Achtelmeile an sie herangekommen waren: dann lag sie jedoch auf einmal vor uns, deutlich durch einen Zaun markiert, dessen Pfahlspitzen bis auf einen halben Meter im Schnee versunken waren. Die Pfahlspitzen waren rot gestrichen. Auf der Orgota-Seite zeigten sich keine Wachen, doch auf der Karhide-Seite entdeckten wir Skispuren und weiter südlich mehrere kleine, sich bewegende Gestalten.

»Auf unserer Seite sind Wachtposten. Du wirst wohl warten müssen, bis es dunkel wird, Therem.«

»Das sind Tibes Inspektoren«, keuchte er bitter und schwang ab.

Wir jagten über die kleine Erhebung zurück, die wir gerade überquert hatten, und gingen so schnell wie möglich in Deckung. Dort, in einer Mulde unter den dicht wachsenden Hemmen-Bäumen, verbrachten wir, von ihren rötlichen, tief unter der Schneelast herabgebogenen Ästen geschützt, den ganzen langen Tag. Wir diskutierten so manchen Plan: an der Grenze entlang nach Norden oder nach Süden zu fahren, um aus dieser besonders gefährlichen Zone herauszukommen; in die Berge östlich von Sassinoth zu fliehen; oder sogar wieder nach Norden in unbewohntes Gebiet zurückzukehren. Doch gegen alle diese Pläne gab es schwerwiegende Einwände. Estravens Anwesenheit hier war verraten worden, daher konnten wir nicht, wie bisher, frei und offen in Karhide herumreisen. Und heimlich kamen wir überhaupt nicht weiter: wir hatten kein Zelt, keinen Proviant und nicht mehr viel Kraft. Es gab keine andere Möglichkeit als eine direkte Flucht über die Grenze; es stand uns kein anderer Weg mehr offen.

Wir kauerten uns tief in die dunkle Grube unter den dunklen Bäumen, duckten uns tief in den weichen Schnee. Wir preßten uns aneinander, um dadurch etwas mehr Wärme zu finden. Gegen Mittag schlummerte Estraven eine Zeitlang ein, ich aber war zu hungrig und zu durchfroren, um schlafen zu können; ich lag in einer Art Stupor neben meinem Freund und versuchte mir die Worte ins Gedächtnis zurückzurufen, die er damals zitiert hatte: ›Zwei sind eins, Leben und Tod, sie liegen beisammen…‹ Es war ein bißchen wie in dem Zelt auf dem großen Eis, nur ohne Obdach, ohne Nahrung und ohne Ruhe: nichts war uns geblieben, als unsere Gemeinsamkeit, und auch die sollte binnen kurzem enden.

Im Laufe des Nachmittags zog sich ein Schleier über den Himmel, die Temperatur begann zu sinken, und sogar in dieser windstillen Mulde wurde es bald zu kalt, um stillzusitzen. Wir mußten uns unbedingt bewegen. Trotzdem wurde ich gegen Sonnenuntergang, genau wie damals, als wir im Gefangenenwagen quer durch Orgoreyn fuhren, von Anfällen krampfartigen Zitterns gepackt und durchgeschüttelt. Der Abend schien ewig auf sich warten zu lassen. Im bläulichen Zwielicht verließen wir die Mulde und schlichen uns, immer wieder hinter Bäume und Büsche geduckt, über den Hügel, bis wir die Reihe der Grenzpfähle — verschwommene dunkle Tupfer auf dem bleichen Schnee — vor uns ausmachen konnten. Kein Licht, keine Bewegung, kein einziger Laut. Weit im Südwesten schimmerte der gelbliche Widerschein einer kleinen Ortschaft, eines winzigen Commensal-Dorfes von Orgoreyn, wohin Estraven mit seinen fragwürdigen Personalpapieren fliehen und wenigstens sicher sein konnte, eine Nacht im Commensal-Gefängnis oder auch auf der nächstgelegenen Commensal-Freiwilligenfarm verbringen zu dürfen. Und plötzlich — jetzt erst, hier, im allerletzten Augenblick — erkannte ich, was meine Selbstsucht und Estravens Schweigen bis dahin vor mir verborgen hatten: wohin er ging, und auf was er sich einließ.»Therem«, sagte ich,»warte doch…«

Er aber war schon auf und davon, in Schußfahrt den Hang hinab: ein großartiger Skiläufer, diesmal brauchte er nicht auf mich zu warten. In langen, flinken Schwüngen schoß er durch die Schatten über den Schnee. Er lief mir davon — direkt in die Gewehre der Grenzwachen hinein. Ich glaube, sie riefen ihm noch eine Warnung oder einen Befehl zum Stehenbleiben nach, aber das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Auf jeden Fall hielt er nicht an, sondern flog weiter auf den Grenzzaun zu, und sie erschossen ihn, bevor er ihn ganz erreicht hatte. Sie schossen nicht mit Schallbetäubungsgewehren, sondern mit dem Streitgewehr, jener uralten Waffe, die mit gewaltiger Beschleunigung einen Hagel von Metallstückchen abfeuert. Sie wollten ihn töten. Als ich ihn erreichte, lag er im Sterben: lang ausgestreckt, die Skier hatte er verloren, einer war abgebrochen und ragte neben ihm aus dem Schnee. Die Metallstücke hatten an mehreren Stellen seine Brust zerfetzt. Er blutete stark. Ich nahm seinen Kopf in die Arme und sprach, mit ihm, aber er antwortete mir nicht mehr. In gewisser Weise antwortete er noch auf meine Liebe zu ihm: Als ihm schon das Bewußtsein schwand, rief sein sterbendes Gehirn klar und deutlich: »Arek!« Sonst nichts. Ich hockte im Schnee und hielt ihn immer noch in meinen Armen, als er schon längst tot war. Sie ließen mich eine Zeitlang gewähren. Dann befahlen sie mir, aufzustehen, und brachten uns beide fort: mich in die eine Richtung, ihn in die andere; mich ins Gefängnis, ihn ins Dunkel.

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