Aus den Archiven des Planeten Hain. Abschrift Ansible-Dokument 01-01101-934-2-Gethen: An den Stabilen auf Ollul: Bericht von Genli Ai, Erster Mobiler auf Gethen/Winter, Hain-Kreis 93, Ökumene-Jahr 1490-97.
Ich werde meinen Bericht schreiben, als wäre er eine Geschichte, denn schon als Kind auf meiner Heimatwelt habe ich gelernt, daß die Wahrheit eine Sache der Einbildungskraft ist. Die nüchternste Tatsache steht und fällt mit der Art und Weise, in der sie berichtet wird: genau wie jenes einzigartig schöne organische Juwel unserer Meere, das strahlender zu leuchten beginnt, wenn es von der einen Frau getragen wird, jedoch den Glanz verliert und zu Staub zerfällt, wenn es die andere trägt. Tatsachen sind genauso fest, klar, rund und real wie Perlen. Doch beide sind überaus empfindlich.
Diese Geschichte gehört nicht ausschließlich mir, und ich werde sie auch nicht allein erzählen. Im Grunde bin ich nicht einmal sicher, wessen Geschichte es ist; das könnt ihr besser beurteilen. Aber es ist eine einzige, zusammenhängende Geschichte, und wenn sich die Tatsachen bisweilen zugleich mit einer anderen Stimme zu verändern scheinen — nun, so könnt ihr euch die Variante heraussuchen, die euch am besten gefällt. Denn keine von ihnen ist falsch, und alles ist eine einzige, zusammenhängende Geschichte.
Sie beginnt am 44. Tag des Jahres 1491 — auf dem Planeten Winter im Land Karhide der Odharhahad Tuwa oder zweiundzwanzigster Tag des dritten Frühlingsmonats des Jahres Eins. Es ist hier immer das Jahr Eins. Nur die Bezeichnung jedes vergangenen und zukünftigen Jahres, die man vom ewigen Jetzt rückwärts und vorwärts zählt, ändert sich mit jedem Neujahrstag. Es war also im Frühling des Jahres Eins in Erhenrang, der Hauptstadt von Karhide, und ich war in Lebensgefahr, wußte es aber nicht.
Ich ging in einem Festzug mit. Direkt hinter den Gossiworen und direkt vor dem König. Es regnete.
Regenwolken über dunklen Türmen, Regen in tiefen Straßenschluchten, eine dunkle, sturmgepeitschte Stadt aus Stein, durch die sich langsam eine Goldader windet. Zuerst kommen die Kaufleute, Potentaten und Handwerksmeister der Stadt Erhenrang; Reihe um Reihe schreiten sie, herrlich gekleidet, so selbstverständlich durch den Regen wie Fische im Wasser. Ihre Mienen sind aufmerksam und gelassen. Sie marschieren nicht im Gleichschritt. In diesem Festzug gibt es keine Soldaten, nicht einmal imitierte.
Dann kommen die Herren, Bürgermeister und Vertreter, je eine Person, fünf, fünfundvierzig oder vierhundert von jeder Domäne und Ko-Domäne in Karhide — eine lange, reich geschmückte Prozession, die sich zu der Musik metallener Hörner und hohler Blöcke aus Knochen und Holz und dem klaren, reinen Klang elektrischer Flöten vorwärtsbewegt. Die Banner der großen Domänen wetteifern in einer regennassen Farben Symphonie mit den gelben Wimpeln, die am Weg entlang aufgereiht sind, und die verschiedenen Gruppen versuchen sich gegenseitig mit ihrer Musik zu übertönen, deren Rhythmen miteinander verschmelzen und laut durch die tiefen Steinschluchten hallen.
Nun folgt ein ganzer Trupp von Jongleuren mit blank polierten Goldkugeln, die sie wie funkelnde Blitze hoch emporwerfen, fangen und wieder hochwerfen, so daß es aussieht wie glitzernde Springbrunnen. Mit einem Mal jedoch versprühen die Goldkugeln, als hätten sie buchstäblich das Licht eingefangen, glashelles Strahlen: Die Sonne bricht durch.
Anschließend vierzig Männer in Gelb, die Gossiworen spielen. Der Gossiwor, der nur in Gegenwart des Königs gespielt wird, erzeugt ein lächerliches, tieftrauriges Gebrüll. Vierzig von ihnen, zusammen gespielt, erschüttern den Verstand jedes Zuhörenden, erschüttern die Haustürme von Erhenrang, schütteln die letzten Regentropfen aus den windgetriebenen Wolken. Wenn dies die königliche Musik sein soll, dann ist es kein Wunder, wenn alle Könige von Karhide wahnsinnig sind.
Jetzt kommt das königliche Gefolge, Leibwächter, Beamte und Würdenträger der Stadt, sowie der Hof, Abgeordnete, Senatoren, Kanzler, Gesandte, adelige Herren des Königreichs, von denen keiner in Reih und Glied oder im Gleichschritt marschiert, sondern die alle mit großer Würde einherschreiten. Mitten unter ihnen König Argaven XV. in weißer Tunika, weißem Hemd und weißen Kniehosen, mit safranfarbenen Ledergamaschen bis zum Knie und einer gelben Schirmkappe. Ein Goldring am Finger ist sein einziger Schmuck, das einzige Zeichen seiner Macht. Hinter dieser Gruppe tragen acht kräftige Burschen die königliche, mit gelben Saphiren besetzte Sänfte einher, ein zeremonielles Relikt aus alter Zeit, in dem seit Jahrhunderten schon kein einziger König mehr gesessen hat. Begleitet wird die Sänfte von acht Wachen mit ›Streitgewehren‹, ebenfalls Relikten einer barbarischen Vergangenheit, die jedoch, im Gegensatz zur Sänfte, keineswegs leer, sondern mit Kugeln aus weichem Eisen geladen sind. Hinter dem König schreitet der Tod. Hinter dem Tod kommen die Angehörigen der Handwerksschulen, der Hochschulen, der Zünfte und der Herde des Königs, lange Reihen von Kindern und jungen Leuten in Weiß, Rot, Gold und Grün. Eine Anzahl sehr leise laufender, langsamer, dunkler Wagen bilden den Schluß des Zuges.
Das königliche Gefolge, ich mitten darunter, versammelt sich neben dem unfertigen Flußtorbogen auf einer Plattform aus frischen Balken. Der Anlaß zu diesem Festzug ist die Vollendung des Bogens, der seinerseits wiederum den neuen Straßen- und Flußhafen von Erhenrang vervollständigt, eine große Anlage, die fünf Jahre eifrigen Baggerns, Bauens und Straßenplanierens gekostet hat und Argavens Regierung in den Annalen von Karhide einen besonderen Glanz verleihen wird. Wir stehen in unserer nassen und recht schweren Kleiderpracht eng gedrängt auf der Plattform. Der Regen hat aufgehört, und jetzt scheint die Sonne auf uns herab — die herrliche, strahlende, tückische Sonne des Planeten Winter. Ich sage zu dem Mann zu meiner Linken:»Es ist heiß. Ungewöhnlich heiß.«
Der Mann zu meiner Linken — ein dunkler, untersetzter Karhider mit glattem, schwerem Haar, der eine schwere, mit Gold verarbeitete grüne Ledertunika, ein schweres, weißes Hemd, schwere Kniehosen und eine Halskette aus schweren, handbreiten Silbergliedern trägt -, dieser Mann, der ebenfalls heftig schwitzt, antwortet mir:»Ja, es ist heiß.«
Rings um uns her, die wir uns auf der Plattform drängen, wogen die emporgewandten Gesichter der Stadtbewohner wie eine Fläche aus braunen, runden Kieseln, besetzt mit Tausenden von glitzernden, aufmerksam zu uns aufblickenden Augen.
Nunmehr erklimmt der König eine Laufplanke aus rohen Brettern, die von der Plattform zum oberen Teil des Bogens hinaufführt, wo die noch nicht miteinander verbundenen Pfeiler hoch über die Menschenmenge, die Werften und den Fluß hinausragen. Während der König immer höher steigt, entsteht eine Bewegung in der Menge, und seine Untertanen murmeln bewundernd:»Argaven!«Er reagiert nicht. Man erwartet auch keine Reaktion. Die Gossiworen blasen einen dröhnenden, unharmonischen Tusch, und verstummen wieder. Schweigen. Die Sonne scheint auf Stadt, Fluß, Zuschauer und König herab. Unten, auf dem Boden, haben die Maurer jetzt eine elektrische Winde in Gang gesetzt, und während der König weiterklettert, schwebt der Schlußstein in seiner Schlinge an ihm vorbei, wird über den Bogen hinausgezogen, herabgelassen und dann, obwohl er eine Tonne wiegen muß, beinahe geräuschlos in die Lücke zwischen den beiden Streben hinabgelassen, so daß er sie zu einer Einheit, zu einer perfekten Wölbung verbindet. Auf dem Gerüst erwartet ein Maurer mit Eimer und Kelle den König; alle anderen Arbeiter klettern, wie ein Schwarm Flöhe, die Strickleitern herunter. König und Maurer knien hoch oben, zwischen Flußlauf und Sonne, auf ihrer schmalen Planke. Der König ergreift die Kelle und beginnt die langen Fugen des Schlußsteines mit Mörtel auszufüllen. Er tut nicht nur so, sondern er macht sich gewissenhaft an die Arbeit. Der Mörtel, den er benutzt, besitzt eine leicht rötliche Farbe und unterscheidet sich dadurch von dem der übrigen Fugen; deswegen frage ich, als ich der emsigen, königlichen Arbeitsbiene fünf oder zehn Minuten zugeschaut habe, den Mann zu meiner Linken:»Werden eure Schlußsteine immer mit rotem Mörtel verfugt?«Denn nicht nur hier, sondern auch rings um den Schlußstein jedes Bogens der alten Brücke, die sich ein Stückchen weiter stromauf in herrlichem Schwung über den Flußlauf spannt, ist diese sonderbare Farbe zu sehen.
Der Mann — ich muß ›der Mann‹ sagen, da ich zuvor ja schon ›er‹ und ›sein‹ gesagt habe — der Mann wischt sich den Schweiß von der dunklen Stirn und antwortet:»In alter Zeit wurde der Schlußstein immer mit einem Mörtel aus gemahlenen Knochen und Blut verstrichen. Aus menschlichen Knochen und menschlichem Blut. Denn sehen Sie, ohne die Blutbindung würde der Bogen einstürzen. Heutzutage nehmen wir Tierblut.«
So spricht er häufig — offen, und dennoch vorsichtig, ironisch, als wäre er sich ständig der Tatsache bewußt, daß ich als Fremder sehe und urteile: ein überaus seltenes Verhalten bei einem Menschen, der einer so isolierten Rasse angehört und einen so hohen Rang bekleidet. Er ist einer der mächtigsten Männer des Landes; über das historische Äquivalent seiner Position bin ich mir nicht ganz im klaren: Wesir, Premierminister oder Kanzler. Das karhidische Wort dafür bedeutet ›Ohr des Königs‹. Er ist Herr einer Domäne und Lord des Reiches, ein Urheber bedeutender Ereignisse. Sein Name lautet Therem Harth rem ir Estraven.
Inzwischen scheint der König mit seiner Maurerarbeit fertig geworden zu sein, und ich bin froh. Er klettert jedoch auf dem spinnwebgleichen Plankengerüst unter dem Bogen hindurch und beginnt an der anderen Seite des Schlußsteines zu hantieren, der letzten Endes ja zwei Seiten hat. In Karhide darf man nicht ungeduldig sein. Die Menschen hier sind zwar alles andere als phlegmatisch, aber sie sind hartnäckig, sie sind ausdauernd, sie bringen das Ausmörteln von Steinfugen zu Ende. Das Volk am Ufer des Sees sieht gern zu, wie sein König arbeitet, ich aber langweile mich, mir ist es heiß. Bislang ist mir auf Winter noch nie heiß gewesen, und es wird mir auch nie wieder heiß werden; trotzdem kann ich diese Tatsache nicht recht genießen. Ich bin für die Eiszeit gekleidet, und nicht für Sonnenschein. Ich trage zahllose Kleiderschichten aus gewebten Pflanzenfasern, Kunstfasern, Pelzen, Leder — eine schwere Rüstung gegen die Kälte, in der ich jetzt jedoch dahinwelke wie ein Salatblatt. Um mich ein wenig abzulenken, betrachte ich die Menge der Neugierigen und die anderen Teilnehmer des Festzuges, die sich um die Plattform drängen. Ihre Domänen- und Clanbanner hängen schlaff und bunt im Sonnenlicht, und ich erkundige mich bei Estraven, welches Banner dieses ist, und jenes, und das da drüben. Er kennt jedes einzelne, nach dem ich ihn frage, obwohl hier Hunderte versammelt sind, darunter einige von weit entfernten Domänen, Herden und Stämmen der Pering- Sturm-Grenze und des Kerm-Landes.
»Ich komme selbst aus dem Kerm-Land«, erklärt er, als ich sein Wissen bewundere.»Außerdem gehört es zu meinen Pflichten, alle Domänen zu kennen. Sie sind Karhide. Will man dieses Land regieren, so muß man seine Herren regieren. Das ist allerdings noch nie geschehen. Kennen Sie das Sprichwort: ›Karhide ist keine Nation, sondern ein Familienstreit‹?«Ich kenne es nicht und hege den Verdacht, daß Estraven es sich ausgedacht hat. Es trägt seinen Stempel.
In diesem Augenblick drängt und schiebt sich ein Mitglied der kyorremy, der Oberkammer oder des Parlamentes, dem Estraven vorsteht, zu ihm durch und beginnt auf ihn einzureden. Es ist der Vetter des Königs, Pemmer Harge rem ir Tibe. Er spricht mit sehr leiser Stimme zu Estraven, seine Haltung ist ein wenig anmaßend, er lächelt häufig. Estraven, der so stark schwitzt wie Eis in der Sonne, bleibt ruhig und kalt wie Eis; er beantwortet Tibes Geflüster laut und in einem Ton, dessen nüchterne Höflichkeit den anderen wie einen Narren dastehen läßt. Ich lausche, während ich dem König beim Mörteln zusehe, verstehe aber nichts außer der Feindseligkeit, die zwischen Tibe und Estraven herrscht. Die Angelegenheit geht mich aber ohnehin nichts an; ich interessiere mich lediglich für das Verhalten dieser Menschen, die ein Volk regieren, und zwar im altmodischen Sinne regieren, die das Schicksal von zwanzig Millionen Menschen lenken. Die Macht, wie sie von der Ökumene ausgeübt wird, ist so subtil und komplex, daß nur ein subtiler Verstand sie zu erkennen vermag. Hier aber ist sie noch immer begrenzt, ist sie noch immer deutlich zu sehen. Bei Estraven, zum Beispiel, hat man das Gefühl, daß die Macht seinen Charakter intensiviert; er kann niemals eine leere Geste machen oder ein Wort sagen, das nicht gehört wird. Das weiß er, und dieses Wissen verleiht ihm mehr Realität als den meisten Menschen: Festigkeit, Substanz, menschliche Größe. Nichts gibt es, das so erfolgreich wäre wie der Erfolg. Ich traue Estraven nicht, denn seine Motive bleiben immer im Dunkeln; ich mag ihn nicht. Aber ich spüre seine Autorität und reagiere auf sie so gewiß wie auf die Wärme der Sonnenstrahlen.
Noch während ich dies denke, verdunkeln Wolken die Sonne, und kurz darauf zieht ein dünner, aber harter Regenschauer den Fluß herauf, durchnäßt die Menschen auf der Uferstraße und trübt den Himmel. Als der König die Laufplanke herunterkommt, bricht die Sonne zum letztenmal durch, so daß sich die weiße Gestalt und der große Bogen einen Augenblick klar und herrlich von dem gewitterdunklen Südhimmel abheben. Dann schließen sich die Wolken endgültig. Ein kalter Wind bläst die Hafen-Palaststraße herauf, der Fluß färbt sich bleigrau, die Bäume am Ufer werden geschüttelt. Der Festzug ist vorüber. Eine halbe Stunde später begann es zu schneien.
Als der Wagen des Königs die Hafen-Palaststraße hinauf davonfuhr und Bewegung in die Menschenmenge kam, wandte sich Estraven abermals an mich und sagte:»Würden Sie heute abend mit mir essen, Mr. Ai?«Eher überrascht als erfreut, nahm ich die Einladung an. Estraven hatte in den vergangenen sechs oder acht Monaten eine Menge für mich getan, ein derartiges Zeichen persönlicher Gunst hatte ich jedoch weder erwartet noch erhofft. Harge rem ir Tibe war immer noch in unserer Nähe und hörte uns zu, und ich hatte das Gefühl, daß er unser Gespräch hören sollte. Verärgert über diese Neigung zu weibischer Intrige stieg ich von der Plattform und verlor mich in der Menge, wobei ich mich allerdings des öfteren ducken mußte. Ich bin zwar nicht viel größer als der Durchschnitts-Gethenianer, doch unter sehr vielen Menschen fällt der geringe Unterschied am stärksten auf. ›Das ist er, seht ihr? Das ist der Gesandte!‹ Gewiß, auch das gehörte zu meiner Aufgabe, aber je weiter die Zeit fortschritt, desto schwieriger wurde es für mich; immer häufiger sehnte ich mich nach Anonymität, nach Gleichheit mit anderen. Ich sehnte mich zutiefst danach, so zu sein wie meine Mitmenschen.
Zwei Blocks weiter die Brauereistraße hinauf bog ich ab zu meinem Quartier und merkte plötzlich, als sich die vielen Menschen allmählich verliefen, daß Tibe an meiner Seite ging.
»Eine perfekte Feier«, sagte der Vetter des Königs lächelnd. Er zeigte dabei seine langen, sauberen, gelben Zähne, die, obwohl er kein alter Mann war, in einem über und über von feinen Runzeln durchzogenen, gelben Gesicht standen.
»Ein gutes Vorzeichen für die Zukunft des neuen Hafens«, entgegnete ich.
»In der Tat.«Wieder die Zähne.
»Diese Schlußsteinsetzung ist eine überaus eindrucksvolle Zeremonie…«
»In der Tat. Eine Zeremonie, die uns aus alter Zeit überkommen ist. Doch das hat Lord Estraven Ihnen gewiß schon erklärt.«
»Lord Estraven ist sehr liebenswürdig.«
Ich versuchte, in meinen Antworten möglichst neutral zu bleiben, doch alles, was ich zu Tibe sagte, schien eine Doppelbedeutung anzunehmen.
»O ja, in der Tat!«bestätigte Tibe.»Lord Estraven ist in der Tat berühmt für seine Freundlichkeit Fremden gegenüber.«Er lächelte abermals, und jeder Zahn schien eine doppelte, vielfältige, zweiunddreißigfache Bedeutung zu haben.
»Nur wenige Fremde sind so fremd wie ich, Lord Tibe. Ich bin überaus dankbar für jede Freundlichkeit.«
»In der Tat, in der Tat! Und Dankbarkeit ist eine edle, doch leider sehr seltene immer wieder von den Dichtern gepriesene Gefühlsregung. Selten vor allem hier in Erhenrang — zweifellos deswegen, weil sie untunlich ist. Wir leben in einem harten Zeitalter, in einem undankbaren Zeitalter. Die Dinge sind nicht mehr so, wie sie in den Tagen unserer Großeltern waren, nicht wahr?«
»Das kann ich kaum beurteilen, Lord Tibe, aber ich habe auf anderen Welten dieselbe Klage gehört.«
Tibe starrte mich minutenlang an, als wollte er prüfen, ob ich den Verstand verloren hätte. Dann ließ er wieder die gelben Zähne sehen.»Ach ja! In der Tat! Immer wieder vergesse ich, daß Sie ja von einem anderen Planeten kommen. Eine Tatsache, die Sie bestimmt nicht vergessen können. Obwohl das Leben hier in Erhenrang zweifellos sehr viel gesünder, einfacher und sicherer für Sie wäre, wenn Sie sie vergessen könnten, wie? In der Tat! Dort steht mein Wagen; ich habe ihn hier, außerhalb des Gedränges warten lassen. Ich würde mich ja gern erbieten, Sie zu Ihrer Insel zu fahren, doch leider muß ich mir dieses Vergnügen versagen, da ich binnen kurzem im Hause des Königs erwartet werde und arme Verwandte, wie das Sprichwort so schön sagt, stets pünktlich sein müssen, nicht wahr? In der Tat!«sagte der Vetter des König und kletterte in seinen kleinen, schwarzen Elektrowagen, während er mir noch einmal die Zähne zeigte und, die Augen hinter einem Netzwerk von Runzeln verborgen, über die Schulter hinweg zulächelte.
Ich ging nach Hause zu meiner Insel, meiner Karhosh[1]. Der Vorgarten lag jetzt, da der letzte Winterschnee geschmolzen war, frei da und die Wintertüren, drei Meter über dem Erdboden, waren für die kommenden Monate verschlossen, bis mit dem Herbst der tiefe Schnee wieder zurückkehrte. Neben dem Haus stand in Matsch und Eis und dem schnell wachsenden, üppigen Frühlingsgrün des Gartens ein junges Paar und plauderte. Die beiden hielten sich an der Hand. Sie waren im ersten Kemmer-Stadium. Die großen, weichen Schneeflocken umtanzten sie, während sie barfuß in dem eisigen Matsch standen und nur noch Augen füreinander hatten. Frühling auf Winter.
Ich nahm die Nachmittagsmahlzeit in meiner Insel ein und war, als die Gongs des Remny-Turms die vierte Stunde schlugen, zum Abendessen im Palast. Die Karhider essen am Tag vier kräftige Mahlzeiten: Frühstück, Mittagessen, Nachmittagsessen und Abendessen. Zwischendurch gibt es dann noch eine Menge Nascherei. Auf Winter existieren keine großen Säugetiere, und daher auch keine Säugetierprodukte wie Milch, Butter und Käse; die einzigen protein- und kohlehydratreichen Nahrungsmittel sind die verschiedenen Ei- Sorten, die Fische, die Nüsse und das heimische Getreide. Eine magere Kost für dieses unfreundliche Klima, und man muß häufig neuen Brennstoff zu sich nehmen. Ich hatte es mir angewöhnt, alle paar Minuten etwas zu essen. Erst später in jenem Jahr entdeckte ich, daß die Gethener nicht nur die Technik perfekt beherrschten, sich ununterbrochen vollzustopfen, sondern auch endlos hungern konnten.
Der Schnee fiel immer noch; es war ein leichter Frühlingsblizzard, wesentlich angenehmer als der harte Eisregen der gerade vergangenen Schmelze. In der Lautlosigkeit und dem bleichen Dunkel des Schneefalls suchte und fand ich meinen Weg zum Palast und innerhalb des Palastes, ohne mich mehr als ein einzigesmal zu verlaufen. Der Palast von Erhenrang ist eine Stadt in der Stadt, eine ummauerte Wildnis von Palästen, Türmen, Gärten, Höfen, Klöstern, überdachten Brückengängen, offenen Tunnelpfaden, kleinen Wäldchen und Verliesen, das Produkt einer jahrhundertelangen Paranoia gigantischen Stils. Und über allem erheben sich die finsteren, roten, kunstvollen Mauern des Königshauses, das zwar ständig benutzt, aber außer dem König von keinem anderen Menschen bewohnt wird. Die Diener, die Angestellten, die Lords, Minister, Parlamentarier, Wachen und so weiter schlafen alle in einem anderen Palast, Fort, Wachhaus, Kasernenkomplex oder Gebäude innerhalb der Mauern. Estraven bewohnte — als Zeichen der hohen Gunst, in der er beim König stand — das rote Eckgebäude, 440 Jahre zuvor für Harmes, dem innigst geliebten Kemmering Emrans III. erbaut, dessen Schönheit noch immer gefeiert wird, und der von Söldlingen der Innerlandpartei entführt, verstümmelt und zum Wahnsinn getrieben wurde. Emran III. starb vierzig Jahre später. Er übte bis zuletzt Vergeltung an seinem unglückseligen Land: Emran, der Schicksalsgeschlagene. Diese Tragödie ist so alt, daß ihr Schrecken verblaßt ist und nur noch eine unbestimmte Atmosphäre von Trostlosigkeit und Melancholie in den Steinen und Schatten der Gemäuer nistet. Der Garten war klein und von einer Mauer umgeben; Serembäume neigten sich über einen felsigen Teich. Im matten Licht, das aus den Fenstern des Hauses fiel, sah ich Schneeflocken und die fadenartigen, weißen Sporenträger der Bäume zusammen auf das dunkle Wasser sinken. Estraven erwartete mich, barhäuptig und ohne Mantel in der Kälte stehend, und beobachtete diesen lautlosen, unaufhörlichen Fall von Schnee und Samen in der Nacht. Er begrüßte mich ruhig und führte mich in sein Haus. Weitere Gäste kamen nicht.
Ich war darüber ein wenig verwundert, aber wir gingen sofort zu Tisch, und beim Essen redet man nicht von Geschäften. Außerdem staunte ich gleich darauf weit mehr noch über das auserlesene Mahl, waren doch sogar die ewigen Brotäpfel von einem Koch, dessen Kunst ich begeistert pries, zu einer köstlichen Speise verarbeitet worden. Nach dem Essen saßen wir am Kamin und tranken heißes Bier. Auf einer Welt, auf der ein kleines Gerät zum Aufbrechen des Eises, das sich zwischen den einzelnen Schlucken auf jedem Glas bildet, zum üblichen Tischbesteck gehört, lernt man heißes Bier sehr bald schätzen.
Bei Tisch hatte Estraven liebenswürdig mit mir geplaudert; jetzt, mir gegenüber vor dem Feuer sitzend, war er sehr still. Obwohl ich schon zwei Jahre auf Winter lebte, war ich noch lange nicht in der Lage, die Planetenbewohner so zu sehen, wie sie sich sahen. Immer wieder versuchte ich es, doch meine Bemühungen endeten alle damit, daß ich die einzelnen Gethenianer unbewußt zuerst als Mann und dann als Frau sah, und sie somit in eine jener Kategorien zwang, die für sie so irrelevant, für mich dagegen so wesentlich sind. So dachte ich jetzt, als ich mein dampfendes, herbes Bier schlürfte, das Estravens Verhalten bei Tisch ganz und gar weiblich gewesen war, ganz Charme, Takt und Oberflächlichkeit, liebenswürdig und gewandt. War es vielleicht sogar diese sanfte, subtile Weiblichkeit, die ich an ihm nicht mochte, und der ich mißtraute? Denn es war unmöglich, in ihm, in dieser dunklen, ironischen, machtvollen Persönlichkeit neben mir in der vom Feuer erleuchteten Dunkelheit, eine Frau zu sehen, und dennoch spürte ich, sobald ich in ihm einen Mann zu sehen versuchte, etwas Unechtes, einen Betrug: in ihm, oder in meiner eigenen Einstellung zu ihm? Seine Stimme war weich und volltönend, doch keineswegs tief, bestimmt keine ausgesprochene Männerstimme, doch ebensowenig eine Frauenstimme… Aber was sagte er da gerade?
»Es tut mir leid, daß ich mir das Vergnügen, Sie in mein Haus zu laden, so lange versagen mußte«, erklärte er.»Und mindestens ebensosehr freue ich mich, daß die Frage der Protektion für uns beide erledigt ist.«
An dieser Bemerkung rätselte ich eine Weile herum. Bis jetzt war er tatsächlich bei Hof mein Protektor gewesen. Sollte dies nun bedeuten, daß mich die Audienz, die er mir für morgen beim König erwirkt hatte, mit ihm auf eine Stufe hob?»Ich glaube, ich kann Ihnen da nicht folgen«, sagte ich.
Er schwieg, offensichtlich ebenfalls verwundert.»Hm, ja… Sie müssen verstehen, da Sie in meinem Hause sind…«, begann er schließlich.»Sie müssen verstehen, daß ich jetzt beim König natürlich nicht mehr Ihr Fürsprecher sein kann.«
Er tat, als schäme er sich für mich und nicht für sich selber. Es lag auf der Hand, daß seine Einladung und meine Annahme der Einladung eine Bedeutung besaßen, die mir entgangen war. Aber mein Schnitzer betraf lediglich die Manieren, der seine dagegen die Moral. Zuerst konnte ich nur daran denken, daß ich von Anfang an recht getan hatte, Estraven nicht zu vertrauen. Er war nicht nur geschickt, und nicht nur mächtig, sondern er war treulos. Während all dieser Monate in Erhenrang war er es gewesen, der mir zugehört, der meine Fragen beantwortet, der mir Ärzte und Ingenieure geschickt hatte, damit sie die Fremdartigkeit meiner Körperbeschaffenheit und meines Schiffes bestätigten, er, der mir die Leute vorgestellt hatte, die ich kennenlernen mußte, er, der mich nach und nach von meinem Status als überaus fantasiebegabtes Ungeheuer, den ich im ersten Jahr innegehabt hatte, zu meiner augenblicklichen Stellung als anerkannter, wenn auch geheimnisvoller Gesandter, der binnen kurzem vom König empfangen werden sollte, verholfen hatte. Und nun, da er mir zu dieser gefährlichen Prominenz verholfen hatte, verkündete er mir plötzlich und eiskalt, daß er mir seine Unterstützung entziehe.
»Aber Sie haben mich veranlaßt, zu glauben, ich könnte mich auf Sie verlassen…«
»Das war falsch.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie, nachdem Sie diese Audienz arrangiert hatten, sich dem König gegenüber nicht zugunsten meiner Mission ausgesprochen haben, wie Sie…«Ich war noch klug genug, das Wort ›versprachen‹ herunterzuschlucken.
»Es ist mir leider unmöglich.«
Ich war erzürnt, er jedoch schien weder Zorn zu empfinden noch eine Entschuldigung für sein Verhalten mir gegenüber zu haben.
»Würden Sie mir bitte sagen, warum?«
Nach einer Pause antwortete er:»Ja.«Dann schwieg er wieder. Währenddessen überlegte ich, daß ein begriffsstutziger und hilfloser Fremder eigentlich keine Begründung seiner Entscheidungen von dem Premierminister eines Königreiches erwarten dürfe, vor allem dann nicht, wenn der Fremde die Grundlagen der Macht und die Arbeit der Regierung jenes Königreiches weder versteht noch möglicherweise jemals verstehen wird. Zweifellos war all dieses eine Angelegenheit des shifgrethor — des Prestiges, des Gesichts, der Stellung, des Stolzes, des unübersetzbaren, aber alles regierenden Prinzips der gesellschaftlichen Bedeutung in Karhide und allen anderen Ländern auf Gethen. Und wenn das der Fall war, dann würde ich dieses Problem nicht begreifen.
»Haben Sie gehört, was der König heute, bei der Zeremonie, zu mir gesagt hat?«
»Nein.«
Estraven beugte sich vor, nahm den Bierkrug aus der heißen Asche der Feuerstelle und füllte meinen Trinkkrug auf. Er sprach nicht weiter, darum ergänzte ich:»Der König hat in meiner Gegenwart überhaupt nicht mit Ihnen gesprochen.«
»In meiner auch nicht«, sagte er.
Endlich begriff ich, daß mir schon wieder ein wichtiger Punkt entgangen war. Innerlich auf seine Umständlichkeit fluchend, fragte ich:»Wollen Sie mir damit sagen, daß Sie beim König wegen mir in Ungnade gefallen sind, Lord Estraven?«
Jetzt wurde er, glaube ich, doch ärgerlich, zeigte es aber nicht, sondern sagte nur:»Ich will Ihnen gar nichts sagen, Mr. Ai.«
»Bei Gott, ich wünschte aber, Sie täten es!«
Er musterte mich mit einem seltsamen Ausdruck.»Nun gut, dann möchte ich es so ausdrücken: Es gibt bei Hof einige Personen, die beim König, um es mit Ihren Worten auszudrücken, in Gnade sind, die aber weder Ihre Anwesenheit hier noch Ihre Mission gutheißen.«
Und darum hast du es eilig, dich ihnen anzuschließen, mich fallen zu lassen, damit du deine eigene Haut retten kannst, dachte ich. Aber es war sinnlos, das auszusprechen. Estraven war ein Höfling, ein Politiker, und ich ein Narr gewesen, ihm blindlings zu vertrauen. Sogar in einer bisexuellen Gesellschaft ist der Politiker nicht selten alles andere als ein ganzer Mann. Daß Estraven mich zum Essen eingeladen hatte, bewies seine Überzeugung, ich würde seinen Verrat ebenso leicht hinnehmen wie er ihn begangen hatte. Das Gesicht zu wahren, war für ihn zweifellos wichtiger als seine Integrität. Deswegen zwang ich mich jetzt zu sagen:»Es tut mir leid, daß Ihre Freundlichkeit mir gegenüber Ihnen Ungelegenheiten bereitet.«Feurige Kohlen. Ganz flüchtig genoß ich ein Gefühl moralischer Überlegenheit, doch nicht sehr lange; er war zu unberechenbar.
Er lehnte sich zurück, so daß der Feuerschein rötlich auf seinen Knien und seinen feinen, kräftigen, kleinen Händen mit dem Silberbecher lag, sein Gesicht jedoch im Schatten blieb: ein dunkles Gesicht, stets überschattet von seinem dichten, tief in die Stirn wachsenden Haar, den schweren Brauen und Wimpern und einem etwas düsteren, aber gelassenen Ausdruck. Kann man im Gesicht einer Katze, eines Seehundes, eines Otters lesen? Einige Gethenianer, so dachte ich, gleichen tatsächlich diesen Tieren: mit tiefen, glänzenden Augen, die beim Gespräch keinerlei Ausdruck zeigen.
»Die Ungelegenheiten habe ich mir selber bereitet«, antwortete Estraven,»und zwar aufgrund von Dingen, die nichts mit Ihnen zu tun haben, Mr. Ai. Sie wissen wohl, daß Karhide und Orgoreyn sich um eine Grenzstrecke im oberen Nord Fall bei Sassinoth streiten. Argavens Großvater beanspruchte das Sinoth-Tal für Karhide, die Commensalen aber haben diesen Anspruch nie anerkannt. Viel Schnee aus einer einzigen Wolke, und es kommt noch dicker. Ich habe einigen karhidischen Bauern, die oben im Tal leben, geholfen, sich über die alte Grenze nach Osten zurückzuziehen. Ich glaube nämlich, die Angelegenheit würde sich von selbst regeln, sobald man das Tal einfach den Orgota, die dort seit mehreren Jahrtausenden leben, überläßt. Ich bin vor mehreren Jahren in der Verwaltung des Nord Fall tätig gewesen und habe dabei einige der dortigen Bauern kennengelernt. Die Vorstellung, daß sie im Streit fallen oder in Orgoreyn auf eine Freiwilligenfarm geschickt werden könnten, ist für mich unerträglich. Warum also den Zankapfel nicht einfach aus der Welt schaffen?… Doch das ist eine unpatriotische Einstellung. Mehr noch, es ist die Einstellung eines Feiglings und gefährdet den shifgrethor des Königs persönlich.«
Seine ironische Erklärung und das Hin und Her dieses Grenzstreits mit Orgoreyn interessierten mich nicht im geringsten. Also kam ich auf das Thema zurück, das uns beide anging. Ob er nun mein Vertrauen verdiente oder nicht — für einige meiner Pläne konnte ich ihn immer noch gut gebrauchen.»Es tut mir leid«, sagte ich daher,»aber ich finde es höchst bedauerlich, daß das Problem einiger, weniger Bauern den Erfolg meiner Mission beim König gefährden soll. Hier geht es schließlich um mehr als ein paar Meilen nationaler Grenze.«
»Ganz recht, um sehr viel mehr. Aber vielleicht hat die Ökumene, die sich von einer Grenze zur anderen über hundert Lichtjahre erstreckt, noch ein wenig Geduld mit uns.«
»Die Stabilen der Ökumene sind sehr geduldige Männer, Sir. Sie werden auch noch hundert oder fünfhundert Jahre warten, bis Karhide und die anderen Länder von Gethen sich beraten und entschlossen haben, ob sie sich mit der übrigen Menschheit zusammentun wollen oder nicht. Ich spreche hier nur meine persönlichen Hoffnungen aus. Und meine persönliche Enttäuschung. Ich muß zugeben, daß ich gedacht hatte, mit Ihrer Unterstützung…«
»Ich ebenfalls. Nun ja, die Gletscher sind auch nicht über Nacht entstanden…«Er liebte es offenbar, sich in Gemeinplätzen auszudrücken, in Gedanken aber war er ganz woanders. Er brütete über irgend etwas. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er mich mit den anderen Bauern auf dem Schachbrett seiner Machtspiele hin und her schob.»Sie sind zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt in unser Land gekommen«, sagte er schließlich.»Alles verändert sich; wir schlagen neue Wege ein. Oder vielmehr, wir folgen dem Weg, den wir eingeschlagen haben, zu weit. Ich hatte gedacht, daß Ihre Anwesenheit, Ihre Mission verhindern könnte, daß wir den falschen Weg einschlagen, daß sie uns ganz neue Möglichkeiten eröffnen würde. Allerdings nur zur rechten Zeit und am rechten Ort. Im Augenblick ist alles äußerst riskant, Mr. Ai.«
Ungehalten über seine unklare Ausdrucksweise, sagte ich:»Sie wollen andeuten, daß dies nicht der richtige Zeitpunkt ist. Raten Sie mir, die Audienz abzusagen?«
Auf Karhidisch war dieser Schnitzer, den ich gemacht hatte, sogar noch schlimmer, doch Estraven lächelte weder, noch zuckte er zusammen.»Ich fürchte, das zu entscheiden müssen Sie dem König überlassen«, erwiderte er ruhig.
»O Gott, natürlich! So hatte ich es nicht gemeint.«Bestürzt vergrub ich einen Augenblick das Gesicht in den Händen. In der freien, weit offenen Gesellschaft der Erde aufgewachsen, würde ich das Protokoll und die Gelassenheit, die von den Karhidern so sehr geschätzt werden, niemals erlernen. Natürlich wußte ich, was ein König war — die Geschichte der Erde wimmelt auch von absoluten Herrschern -, aber ich hatte, aus Mangel an Erfahrung, kein Gefühl für Vorrechte, keinen Takt. Ich nahm meinen Becher und goß einen großen, heißen Schluck Bier hinunter.»Nun gut, ich werde nicht alles sagen, was ich zu sagen beabsichtigte, als ich noch auf Ihre Hilfe zählen konnte.«
»Gut.«
»Warum gut?«wollte ich wissen.
»Nun, Mr. Ai, Sie sind nicht verrückt. Ich bin nicht verrückt. Aber wir sind beide auch keine Könige… Ich nehme an, daß Sie Argaven — logischerweise — mitteilen wollten, Ihre Mission hier sei ein Versuch, Gethen zu einer Allianz mit der Ökumene zu bewegen. Und — ebenso logischerweise — weiß er bereits davon, denn wie Sie wissen, habe ich es ihm mitgeteilt. Ich habe bei ihm für Sie plädiert, habe versucht, sein Interesse zu wecken. Das war nicht gut, der Zeitpunkt war schlecht gewählt. Da ich persönlich zu interessiert an der Sache war, vergaß ich, daß er ein König ist und die Dinge nicht logisch sieht, sondern als König. Alles, was ich ihm sagte, bedeutete für ihn nichts weiter, als daß seine Macht eingeschränkt, sein Königreich nur ein Staubkorn im Weltraum, sein Königstum ein Witz für jene Männer ist, die über hundert Welten herrschen.«
»Aber die Ökumene herrscht nicht, sie koordiniert. Ihre Macht ist nicht mehr und nicht weniger als die Macht ihrer Mitgliedstaaten und -welten. Durch eine Allianz mit der Ökumene wird Karhide weit weniger gefährdet und weit bedeutender sein als es jemals gewesen ist.«
Eine Zeitlang antwortete Estraven nicht. Er starrte ins Feuer, dessen Flammen tanzten und von dem Becher und der breiten, glänzenden Silber-Amtskette, die schwer auf seinen Schultern lag, reflektiert wurden. Das alte Haus rings um uns her lag schweigend. Beim Essen waren wir zwar von einem Diener versorgt worden, doch die Karhider, die weder die Institution der Sklaverei noch die der Leibeigenschaft kennen, engagieren Bedienstete, nicht Dienstboten, und daher hatten sich die Angestellten inzwischen längst in ihre Wohnungen zurückgezogen. Allerdings mußte ein Mann wie Estraven irgendwo Leibwachen haben, denn Attentate sind sehr beliebt in Karhide, doch ich hatte weder Wachen gehört noch gesehen. Wir waren allein.
Ich war allein mit einem Fremden innerhalb der Mauern eines düsteren Palastes in einer fremden, vom Schnee beherrschten Stadt inmitten der Eiszeit einer fremden Welt.
Und plötzlich kam mir alles, was ich jemals gesagt hatte — heute abend und überhaupt, seit ich auf Winter eingetroffen war — dumm und unglaubhaft vor. Wie konnte ich von diesem Mann und seinen Landsleuten erwarten, daß sie meine Berichte über andere Welten, andere Rassen und eine wohlmeinende Regierung irgendwo im fernen Weltraum glaubten? Alles Unsinn. Ich war in Karhide mit einem sehr sonderbaren Schiff gelandet und unterschied mich körperlich in verschiedener Hinsicht von den Gethenianern; dafür verlangten sie Erklärungen. Doch meine eigenen Erklärungen waren lächerlich. Im Augenblick glaubte nicht einmal ich selber an sie.
»Ich glaube Ihnen«, sagte der Fremde, der mit mir allein war, und meine Anwandlung von Selbstentfremdung hatte mich so überwältigt, daß ich verwirrt zu ihm aufblickte.»Und ich fürchte, daß Argaven Ihnen ebenfalls glaubt. Aber er traut Ihnen nicht. Zum Teil, weil er mir nicht mehr traut. Ich habe Fehler gemacht, bin unvorsichtig gewesen. Und auch von Ihnen kann ich kein Vertrauen mehr erwarten, denn ich habe Sie in Gefahr gebracht. Ich habe vergessen, was ein König ist, vergessen, daß der König in seinen eigenen Augen Karhide ist, vergessen, was Patriotismus heißt, und daß er selbst notwendigerweise der perfekte Patriot sein muß. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, Mr. Ai: Wissen Sie aus eigener Erfahrung, was Patriotismus ist?«
»Nein«, antwortete ich, verstört durch die Ausstrahlung dieser starken Persönlichkeit, die sich auf einmal ganz auf mich konzentrierte.»Ich glaube nicht. Es sei denn, Sie meinen damit die Liebe zum Heimatland, denn was das ist, weiß ich sehr gut.«
»Nein, wenn ich Patriotismus sage, meine ich nicht Liebe, sondern Furcht. Die Furcht vor dem anderen. Und ihre Ausdrucksformen sind nicht poetischer, sondern politischer Natur: Haß, Rivalität, Aggression. Sie wächst in uns, diese Furcht. Sie wächst Jahr um Jahr. Wir sind unserem Weg zu lange gefolgt. Und Sie, der aus einer anderen Welt zu uns kam, aus einer Welt, die über Nationen schon vor Jahrhunderten hinausgewachsen ist, Sie, der kaum weiß, wovon ich spreche, Sie, der uns einen neuen Weg zeigt…«Er brach ab. Nach einer Weile erst, als er die Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte, fuhr er kühl und höflich fort:»Die Furcht ist der Grund, warum ich mich weigere, Ihre Sache jetzt vor dem König zu vertreten. Aber nicht etwa Furcht um meine eigene Person, Mr. Ai, sondern aus Furcht unpatriotisch zu handeln. Es gibt schließlich noch andere Nationen auf Gethen.«
Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte, war aber überzeugt, daß er auf keinen Fall das meinte, was er zu meinen schien. Von allen dunklen, undurchsichtigen, rätselhaften Charakteren, die ich in dieser trostlosen Stadt kennengelernt hatte, war er der geheimnisvollste. Ich dachte nicht daran, sein seltsames Spiel mitzumachen. Ich antwortete nicht. Nach einer Weile fuhr er sehr vorsichtig fort:»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dient eure Ökumene hauptsächlich den allgemeinen Interessen der ganzen Menschheit. Die Orgota nun haben Erfahrung darin, örtliche Interessen einem allgemeinen Interesse unterzuordnen, während Karhide darin nicht die geringste Erfahrung besitzt. Überdies sind die Commensalen von Orgoreyn fast alle zwar nicht besonders intelligente, aber vernünftige Männer, während der König von Karhide nicht nur wahnsinnig ist, sondern darüber hinaus auch noch dumm.«
Anscheinend kannte Estraven überhaupt keine Loyalität. Leicht angewidert sagte ich:»Wenn dem so ist, dann muß es recht schwierig sein, ihm zu dienen.«
»Ich kann gar nicht mal mit Sicherheit sagen, ob ich dem König jemals gedient habe«, erwiderte der Premierminister des Königs.»Oder jemals die Absicht dazu hatte. Ich bin niemands Diener. Ein Mann muß seinen eigenen Schatten werfen…«
Die Gongs im Remny-Turm schlugen die sechste Stunde — Mitternacht: für mich ein geeigneter Vorwand, mich zu verabschieden. Während ich in der Vorhalle den Mantel anzog, sagte Estraven:»Für den Augenblick ist mir die Möglichkeit dazu wohl versagt, denn wie ich annehme, werden Sie Erhenrang verlassen«- warum nahm er das an? -,»aber ich hoffe, daß ich Ihnen eines Tages wieder Fragen stellen kann. Es gibt so vieles, was ich noch gern wissen möchte. Vor allem, was Ihre Gedankensprache betrifft. Sie hatten ja kaum Gelegenheit, sie mir zu erklären.«
Seine Neugier wirkte, als wäre sie ernst gemeint. Er besaß die Unverfrorenheit der Mächtigen. Auch seine Versprechungen, mir zu helfen, hatten gewirkt, als wären sie ernst gemeint. Ich antwortete, ja, selbstverständlich, jederzeit, und damit war der Abend zu Ende. Er begleitete mich noch in den Garten hinaus, auf dem im rötlich-braunen Licht von Gethens großem, düsteren Mond eine dünne Schneedecke lag. Ich fröstelte, denn die Temperatur war weit unter den Gefrierpunkt gesunken, und Estraven fragte mich höflich verwundert:»Frieren Sie?«Für ihn war es natürlich eine milde Frühlingsnacht.
Ich war müde und niedergeschlagen.»Ich friere, seit ich auf Ihre Welt gekommen bin«, sagte ich.
»Wie heißt sie, diese Welt, eigentlich in Ihrer Sprache?«
»Gethen.«
»Sie haben ihr keine eigene Bezeichnung gegeben?«
»Doch, die ersten Investigatoren schon. Sie nannten sie Winter.«
Wir waren am Tor des ummauerten Gartens stehengeblieben. Draußen ragten die Palastgebäude auf wie ein dunkles, schneebedecktes Durcheinander, nur hier und da in verschiedenen Höhen von einem schwachen Goldschimmer aus den Fensterschlitzen durchbrochen. Ich stand unter dem schmalen Torbogen, blickte hinauf und überlegte, ob auch dieser Schlußstein mit zermahlenen Knochen und Menschenblut eingemauert worden war. Estraven wünschte mir eine gute Nacht und kehrte ins Haus zurück; er war bei Begrüßungen und beim Abschied nie von besonderer Höflichkeit. Ich schritt durch die stillen Höfe und Gassen des Palastes davon; meine Stiefel knirschten auf dem dünnen, mondbeschienenen Schnee, und während ich durch die tiefen Straßenschluchten der Stadt zu meiner Wohnung zurückkehrte, fühlte ich mich kalt, unsicher, verfolgt von Treulosigkeit, Einsamkeit und Angst.