Supermärkte sind für kinderreiche Familien konzipiert. Supermärkte, die rund um die Uhr geöffnet sind, für Misanthropen.
Kein normaler Mensch begibt sich mitten in der Nacht zum Einkaufen in ein riesiges Shoppingzentrum. Die Flasche Wodka zur Verlängerung des Besäufnisses kriegt man in einem kleinen Laden an der Metro leichter. Wer um zwei Uhr nachts einen Einkaufswagen vollpackt, der träumt davon, auf einer einsamen Insel zu leben.
Ich stand vor dem Regal mit Milchprodukten und musterte die endlosen Joghurtreihen. Der Appetit war mir vergangen, außerdem gab es keinen Ort, an den ich meine Einkäufe bringen könnte. Doch ich musste mir meinen Platz in der Zivilisation bewahren, und zwar inmitten ihrer vulgärsten, nämlich materiellen Erscheinungsform. Fressalien und Schnaps, Heimelektronik, billige Klamotten. Leise Musik aus unsichtbaren Lautsprechern. Wenige Kunden, die lautlos durch das Geschäft trotteten.
Ein junger Mann belud einen Wagen mit Milchpackungen und Eierkartons. Was das wohl für einer war? Ein verrückter Omelettvertilger? Der Manager des Restaurants ›Milch und Eier‹? Der Entdecker einer neuen Wunderdiät?
Und wer war dieser schlicht gekleidete Mann, der so konzentriert die Zeitschriften für teure Immobilien studierte? Ein exzentrischer Millionär, der ein Anwesen in der Rubljowka suchte, diesem Idyll der Neureichen westlich von Moskau? Ein armer Architekt, der nicht den Anschluss an die neusten Entwicklungen im Bereich des Designs verlieren wollte? Ein Masochist, der erpicht auf einen Einblick in das Leben der Durchsetzungsfähigen dieser Welt war?
Dagegen warf das Pärchen, das zwei Flaschen Sekt, einen Kasten Konfekt und an der Kasse ein Päckchen Gummis kaufte, keine Fragen auf. Nur der begleitende Kauf einer Rolle Klopapier nahm sich in ihrem Korb komisch und fehl am Platz aus.
Als Erstes besorgte ich mir ein neues Aufladegerät fürs Handy - als ob mir auch die nötige Steckdose zur Verfügung stünde. Ferner legte ich eine Flasche billigen Kognaks aus Dagestan in meinen Wagen. Nach kurzer Überlegung fügte ich eine Tafel Schokolade sowie eine Flasche Mineralwasser hinzu. Ich könnte die ganze Nacht in diesem Einkaufsparadies zubringen, der Objektschützer würde mir vermutlich keine Aufmerksamkeit schenken. In der integrierten kleinen Cafeteria gab es eine Toilette, die ich schon aufgesucht hatte, um mir gründlich die Blutspritzer von den Händen zu waschen. Doch welchen Sinn hätte es hierzubleiben? Viel einfacher wäre es, ein Bänkchen vor dem Supermarkt mit Beschlag zu belegen und sämtlichen Problemen auf die traditionelle russische Weise den Kampf anzusagen ...
Ich konnte nirgendwo hingehen. Niemanden anrufen. Nicht einmal meine Eltern. Sie hatten keinen Sohn namens Kirill mehr, da hegte ich keinen Zweifel.
Langsam bewegte ich mich auf die Kasse zu. Meine Kreditkarte war noch intakt, nutzte mir ohne meinen Ausweis jedoch gar nichts. Immerhin hatte sich mein Bargeld noch nicht in Luft aufgelöst. Wenn das nicht Bände sprach: Entgegen allen geflügelten Worten stellte sich das Geld als zuverlässigster Freund heraus!
Während ich die Scheine zählte, klingelte das Handy.
Heutzutage, wo ein Mobiltelefon mit jeder denkbaren Musik - von Beethoven bis Umaturman - loslegte, nahm sich nichts so originell aus wie ein schlichtes »Dring, dring«. Es hört sich wie damals in den alten Telefonen an, als es noch keine Mikrochips gab und nur ein kleiner Hammer auf die Klingelschellen einschlug.
Ich holte das Handy heraus und schaute aufs Display. »Nummer unbekannt.«
Im Grunde besagte diese Mitteilung überhaupt nichts. Da musste mich keinesfalls der Präsident oder ein anderes hohes Tier anrufen, dessen Nummer normale Sterbliche nicht wissen sollen. Die Anzeige konnte einfach versagt haben.
»Hallo«, meldete ich mich.
»Kirill.«
Das war nicht als Frage intoniert, sondern eher als Bestätigung. Eine kräftige Männerstimme, die in Maßen machtvoll und zudem wohlwollend klang.
»Ja.«
»Merk dir den Weg! Metro Alexejewskaja. Wenn du aus der Metro rauskommst, sofort nach links. Die Treppe runter. Dort verläuft ein Pfad zwischen den Häusern.«
»Wer ist denn da?«, rief ich aus. »Was wollen Sie von mir?«
»Merk dir den Weg!«
»Ich gehe nirgendwo hin ...«
»Wie du willst.«
Mein unsichtbarer Gesprächspartner hüllte sich in Schweigen.
»Hallo?«, brachte ich schüchtern heraus.
»Merk dir den Weg! Metro Alexejewskaja ...«
Ich strich die Segel. »Nennen Sie mir doch bitte einfach die Adresse!«
»Merk dir den Weg!«
Ich wüsste nicht zu sagen, welchen Verlauf dieses Gespräch genommen hätte, wenn ich stehen geblieben wäre. Vielleicht hätte ich Widerstand geleistet, mich geweigert, weiß Gott wohin zu fahren. Doch ich lief einfach immer weiter - vorbei an der Kassiererin, wie mir dann auffiel. Gleichmütig sah die junge Frau durch mich hindurch.
Ich machte einen weiteren Schritt, mit dem ich den Einkaufswagen durch die Alarmanlage schob. Diese heulte los. Die Kassiererin zuckte zusammen und heftete den Blick auf mich.
»Sie sollten nicht schlafen«, ermahnte ich sie, während ich den Wagen zurückzog und meine Einkäufe aufs Band legte. Danach wandte ich mich noch einmal meinem Gesprächspartner zu. »Warten Sie bitte kurz. Ich stelle das Aufnahmegerät ein.«
Nur mit großer Mühe gelang es mir, ein Auto anzuhalten. Entweder wollte mitten in der Nacht und bei dem abermals losplatternden kalten Regen niemand einen Fahrgast mitnehmen, oder man hatte inzwischen ganz aufgehört, mich wahrzunehmen. Ging ich vom Verhalten der Kassiererin im Supermarkt aus, traf Letzteres zu.
Schließlich hielt ein alter Shiguli an, zur Abwechslung mal mit einem russischen Fahrer. Der Wunsch, sich etwas Geld zuzuverdienen, so dachte ich bei mir, überwindet jede Teufelei.
Mit den letzten einhundertundfünfzig Rubeln gelangte ich zur Metrostation Alexejewskaja. Ich nahm die Unterführung unter dem Prospekt Mira, die selbst um zwei Uhr nachts recht belebt war. Ein paar leicht bekleidete und grell geschminkte Frauen drängten sich in einem kleinen Grüppchen zusammen. Die Menschen, die mit den letzten Zügen gekommen waren, eilten nach Hause. Ich marschierte auf die Station zu. Der Eingang war bereits geschlossen, vereinzelt tröpfelten jedoch noch immer Menschen heraus.
Die Treppe hinab und zwischen den Häusern ...
Je weiter ich mich von der Metro entfernte, desto einsamer wurde es. Selbst an warmen Sommerabenden sind nur wenige Menschen um drei Uhr nachts unterwegs. Was sollte man da in einer kalten, verregneten Herbstnacht erwarten?!
Im Gehen holte ich immer wieder das Handy heraus, um die Aufzeichnung anzuhören. Meine Fähigkeit, mich in der Stadt zurechtzufinden, hatte ich nie sonderlich hoch eingeschätzt, aber die Wegbeschreibung erwies sich als erstaunlich klar. Links das Gebäude der Miliz, an ihm gehen wir vorbei, dann biegen wir ...
Was für ein verrückter Tag!
Noch heute Morgen hatte ich an eine vernünftige Erklärung der Ereignisse geglaubt. Am Abend hatte ich dann einsehen müssen, dass sich die Situation nicht auf das Werk gewöhnlicher Schurken zurückführen ließ.
Dann hatte die mutmaßliche Hochstaplerin ihrem Leben ein Ende gesetzt. Ich war von den völlig zu Recht empörten Bürgern und unseren tapferen Ordnungshütern zusammengeschlagen worden - nur um danach wieder freigelassen zu werden.
Mich hatte Gott weiß wer angerufen, jetzt lief ich mitten in der Nacht sonst wohin.
Machte ich mich damit vollends zum Idioten?
Die nächste Portion von Orientierungshinweisen führte mich zu einem lang gestreckten Stalinbau. Falls ich es richtig verstanden hatte, sollte dahinter ein kleiner Bahnhof einer kaum noch genutzten Eisenbahnstrecke liegen. Mein letzter Anhaltspunkt.
Bemerkenswerterweise empfand ich überhaupt keine Angst. Verprügelt hatte man mich heute bereits, und mich nach dem ganzen Aufwand, den man bereits betrieben hatte, umzubringen wäre einfach dumm. Denn obwohl ich mich selbst sehr liebte, war mir durchaus klar, dass weder mein Leben noch mein Besitz solche Anstrengungen wert waren.
Insofern weckte das Ganze eher meine Neugier.
Und am meisten ärgerte ich mich über den Regen, der mit neuer Kraft eingesetzt hatte und jetzt eisig kalt herunterprasselte.
Nachdem ich das Haus umrundet und den Bahnhof erreicht hatte, waren meine Schuhe völlig durchnässt, während meine Jacke triefte und schwer an mir hing und die Jeans meine Beine wie kalte Kompressen umspannte.
Was konnte mich hier schon Gutes erwarten? Das war nicht mal ein richtiger Bahnhof, sondern nur ein Haltepunkt. Der winzige Fahrkartenschalter war geschlossen, über seiner Tür schimmerte matt ein Lämpchen. Außerdem gab es noch zwei kleine Geschäfte, beide grell beleuchtet. Das eine brüstete sich damit, rund um die Uhr geöffnet zu haben, doch die Tür war verschlossen, und hinter der Glasscheibe hing ein Schild: ›15 Minuten Pause‹.
Ein letztes Mal spielte ich die Aufnahme ab und presste mir das Handy gegen das Ohr.
»Stell dich mit dem Gesicht zum Laden, der vierundzwanzig Stunden geöffnet hat. Wende dich nach rechts. Geh dreißig Schritte«, teilte mir eine unbekannte höfliche Stimme mit.
Ich stellte mich hin, wendete mich nach rechts und ging los - und fand mich in einem Streifen spärlichen Waldes wieder, der den Bahndamm entlang wuchs. An meinen Sohlen pappte aufgeweichter Lehmboden, von den nackten Zweigen tropfte es kaskadengleich herab. In der Dunkelheit zeichnete sich ein kleiner Ziegelturm ab. An Eisenbahnstrecken gibt es immer etliche solcher alten Wassertürme. Vermutlich hatte man sie noch zur Zeit der Dampflokomotiven gebaut und aus ihnen die riesigen Kessel gespeist.
An diesem Turm wies weißer Ziegelstein sogar die Jahreszahl aus: 1978. Dampflokomotiven fuhren da schon nicht mehr. Allerdings hatte mir mal ein Freund erzählt, bis heute stünden Dampflokomotiven im Depot, prophylaktisch, da es im Krieg oder bei vergleichbaren Katastrophen kein zuverlässigeres Transportmittel gebe.
»Holla!«, rief ich leise. »Wer hat mich denn hierherbestellt?«
Mir antwortete Stille. Vom Himmel rieselte kalter Regen, die rechtschaffenen Bürger schliefen in ihren Betten, die Alkoholiker und Intelligenzler tranken in den Küchen, die Obdachlosen wärmten sich, einen streunenden Hund im Arm, in Kellern und auf Dachböden.
Was normale Menschen halt so tun. Nur ich stand hier, allein, in durchweichten Hosen, auf der Suche nach Abenteuern.
Niemand antwortete mir. Niemand kam mir entgegengestürmt, um mir zu erklären, was mir da widerfuhr. Oder um mir einen Knüppel über den Schädel zu ziehen.
Ich ging zum Turm. In die solide Mauer aus rotem Ziegel war eine kleine Eisentür eingelassen. Gab es in Wassertürmen Türen? So genau hatte ich sie mir nie angesehen ... Entgegen allen Gewohnheiten sicherte diese Tür nicht einmal ein Vorhängeschloss. Es handelte sich schlicht um eine Tür mit einer metallenen Klinke in der fensterlosen Mauer. Eine Zeitlang starrte ich auf die Tür und stellte mir vor, wie ich sie öffnete und entdecke ...
Was?
Was auch immer!
Was auch immer die Kollegen des Schriftstellers Melnikow hinter Türen wie diesen bereithielten! Das Schlaraffenland. Welten, in denen muskulöse Helden ins Kriegshorn blasen, um sich mit schwerem spitzen Schwert böser Monster zu erwehren. Verschlafene Provinzstädtchen, die von erbarmungslosen Außerirdischen okkupiert werden. Einen Zugang zum Geheimlabor einer Sondereinheit. Das alte Russland in verschiedenen Stadien der Vergoldung, je nachdem, wie beschlagen der Autor in der Geschichte war. »Wäre ich Cholopow, wären Sie in unterirdische Katakomben geraten ...«, vermeinte ich förmlich die muntere Stimme Melnikows zu hören.
In meinem einen Schuh platschte das Wasser. Ohne wirkliche Überzeugung zog ich an der Klinke.
Und erstarrte.
Was erwartest du wohl, wenn du im kalten Herbstregen die Metallklinke eines verlassenen Gebäudes anfasst?
Eben. Nassen Rost, eisiges Metall, überall Dreck, etwas durch und durch Ungemütliches. Und genauso erging es mir.
Aber gleichzeitig ...
Es war ein Gefühl, als käme ich im Winter nach Hause, wo ich in andere Sachen schlüpfte, ein altes, abgetragenes Hemd und Hosen, die du unterwegs nicht mehr trägst, die aber bequem sind, in denen du dich wohlfühlst; wo ich mir einen großen Becher starken heißen Tees einschenkte und ein neues Buch meines Lieblingsschriftstellers aufschlug. Wo ich einige Seiten las und befriedigt zur Kenntnis nahm, wie viele Seiten mir noch bevorstanden.
Wärme, Ruhe und die Vorfreude auf etwas Gutes...
Ich riss die Hand von der Türklinke. Meine Finger überzog feuchter, rostiger Schmutz.
Das Gefühl von Wärme verflüchtigte sich allerdings nicht.
Ebenso wenig wie der Vorgeschmack eines Festtags.
Als ich die Tür zu mir zog, ließ sie sich so leicht öffnen, als seien die Scharniere kürzlich geschmiert worden. Ich trat in die Dunkelheit. Eine Sekunde blieb ich zögernd stehen.
Hier war niemand. Das wusste ich so sicher, als hätte ich das gesamte Gebäude aufmerksam durchsucht.
Mit einer Bewegung, die mir vertraut war, als käme ich nach Hause, tastete ich mit der linken Hand an der Wand lang, fand den Lichtschalter und drückte darauf. Das Licht ging an.
Vor mir lag ein geräumiges fünfeckiges Zimmer. In jeder Wand, so bemerkte ich, war eine Tür eingelassen. Alles erstrahlte in Sauberkeit, Spuren von hier nächtigenden Obdachlosen oder von Teenagerpartys entdeckte ich nicht. Die Ziegelwände waren unverputzt, der Betonfußboden eben, von der niedrigen Decke hingen, schirmlos, schlicht am nackten Kabel befestigt, einige Glühbirnen. In der Mitte des Raums strebte eine Leiter senkrecht nach oben zur Decke, direkt zu einer offen stehenden Luke.
Das hier war keine Wohnung.
Eher eine Flugzeughalle oder eine Garage.
Bestimmt aber kein Wasserturm.
Etwas Mysteriöses.
Ich machte die Tür hinter mir zu. Als ich einen Riegel entdeckte, legte ich ihn kurzerhand vor. Anschließend ging ich von einer Wand zur nächsten, um an den anderen Türen zu rütteln. Sie alle waren verschlossen, mit einem Riegel von innen und allem Anschein nach auch von außen.
Bei Zehnjährigen rufen solche Gebäude Begeisterung hervor. Warum sonst liebten Kinder es so, auf Baustellen zu spielen, sehr zum Entsetzen ihrer Eltern und zum gerechten Verdruss der Arbeiter? Ein Erwachsener vermag ihnen jedoch nichts abzugewinnen.
Gleichwohl wich das behagliche Gefühl, der Eindruck, ich gehöre hierher, nicht von mir. Ich ertappte mich dabei, wie ich in hausherrlicher Manier missbilligend auf die Dreckspuren guckte, die meine Füße hinterlassen hatten.
Gut, sah ich mir also mal den ersten Stock an.
Ich kraxelte die Leiter hoch, wobei meine Schuhe immer wieder auf den unbequemen, aus Röhren zusammengeschweißten Sprossen abglitten. Im ersten Stock hörte die Leiter zwar noch nicht auf, aber die Luke in den zweiten Stock war verschlossen und widersetzte sich all meinen Kraftanstrengungen. Der erste Stock stellte sich als leicht verkleinerte Kopie des Erdgeschosses heraus, nur gab es hier anstelle der Türen dicht mit eisernen Läden versperrte Fenster. Als ich den Schalter fand und Licht machte, entdeckte ich zudem Möbel, genauer zwei Stühle, einen Tisch sowie ein Holzbett mit Matratze, Kissen und Decke, aber ohne Bettzeug. All das sah sauber und neu aus, als käme es direkt aus dem Geschäft. Die Möbel waren schlicht, wirkten selbst gezimmert: glatt gehobelte Bretter, fest eingedrehte Schrauben. Die Augen erfreut das nicht, aber stabil ist so etwas.
»Was wollen Sie denn nun von mir?«, fragte ich laut.
Sollte mir tatsächlich jemand nachspionieren, hegte dieser Jemand ganz eindeutig nicht die Absicht, mir zu antworten.
Neben dem Lichtschalter befand sich auch eine Steckdose. Ich steckte das Handy ins Ladegerät und stellte den Wecker auf acht Uhr. Meine Einkaufstüte aus dem Supermarkt landete auf dem Tisch. Dann ging ich wieder hinunter, um das Licht im Parterre auszuschalten. Wieder oben angelangt, löschte ich auch im ersten Stock das Licht. Zu meiner Verblüffung fand ich das Bett selbst in absoluter Dunkelheit ohne Schwierigkeiten. Erleichtert befreite ich mich von den nassen Schuhen, zog mich aus und hing die durchweichten Sachen über die Stühle.
Dann legte ich mich zu Bett.
Morgen, da würde es losgehen. Keine Ahnung, was genau, aber die Nacht gehörte noch mir.
Eine Zeitlang lag ich reglos da und lauschte dem Plattern des Regens. Irgendwann schlief ich ohne jedes Grübeln ein. Falls ich etwas träumte, erinnerte ich mich nicht mehr daran.
Nicht der Wecker riss mich aus dem Schlaf, sondern ein Hämmern. In den ersten glückseligen Sekunden wusste ich nicht, wo ich mich befand und was mir passiert war. Dann fiel mir alles wieder ein. Schlagartig. Cashew, der mich verbellte, Melnikow, der schöne Reden schwang, der Ausweis, der sich in Nichts auflöste, das Blut an meinen Händen, die Stimme im Telefon ...
Ich schlug die Augen auf und setzte mich im Bett hoch. Anscheinend schlossen die Läden vor einem der Fenster nicht dicht ab, sodass die schwache Morgensonne ins Zimmer fiel. Das Licht wirkte erstaunlich hell, fast wie im Winter. Fröstelnd, denn es war kühl, trat ich ans Fenster. Gestern Abend hatte ich nicht versucht, die Läden aufzumachen, was sich jetzt jedoch als überraschend leicht erwies. Zunächst öffnete ich die Fensterflügel, dann löste ich die Haken von den wie vernickelt funkelnden Läden und klappte sie auf.
Frische kalte Luft wogte ins Zimmer. Und Licht. Viel Licht. Das Fenster ging nicht zu den Gleisen hinaus, sondern auf eine Gasse voller alter fabrikartiger Ziegelbauten, die fast keine Fenster aufwiesen. All das überzog sauberer, im Licht der aufgehenden Sonne rosa schimmernder, noch unberührter Schnee. Der Schatten des Turms fiel auf den Schnee, um dann an der Brandmauer des Nachbargebäudes hochzukriechen. Diese Bauten glichen noch am ehesten Fabriken aus dem 19. Jahrhundert, die geschäftstüchtige Menschen noch nicht in eine Disco oder einen Nachtclub umgewandelt hatten.
Voller Vergnügen atmete ich die nächsten Minuten einfach durch, im grellen Licht leicht blinzelnd. Woher kam dieses Fabrikviertel? Im alten Bezirk Samoskworetschje gab es davon etliche, auch im Stadtteil Ismailowo mangelte es nicht daran. Aber niemals hätte ich gedacht, solche Viertel mitten in der Stadt zwischen den Metrostationen Rishskaja und Alexejewskaja anzutreffen, sobald man sich ein paar Schritt vom Prospekt Mira entfernte.
Ich schloss das Fenster - inzwischen war es eiskalt - und zog mich geschwind an. Meine Jeans waren trocken, das Hemd ebenfalls, aber die Schuhe waren noch feucht. Hm, der Winter brach früh an. Und meine Kleidung taugte bei diesem Wetter überhaupt nichts.
Von unten klang ein Klopfen herauf, und ich erschauderte, als mir der Grund meines Erwachens wieder einfiel. Hören wir doch mal, wer da hämmert. Der Postbote ja wohl gewiss nicht.
Binnen einer halben Minute hatte ich mich komplett angezogen, das Handy in die Tasche gesteckt und eilte über die Wendeltreppe hinunter.
Bis fast nach unten. Auf der letzten Stufe hielt ich inne und klammerte mich an das hölzerne Geländer. Ein leichter Schauder durchrieselte mich - der wahrlich nicht auf die Kälte zurückging.
Wo zum Teufel kam diese Wendeltreppe her?
Gestern führte hier noch eine Art metallene Feuerleiter nach oben. Ein dämliches, ungeeignetes Ding.
Jetzt schlängelte sich eine anderthalb Mal gewundene Treppe durch den Raum. Sie war komplett aus Holz gearbeitet, mit einem Geländer, Stufen und einer Mittelsäule ausgestattet. Da war jemand am Werke gewesen, der was von seiner Sache verstand, denn die Stufen waren rau, nicht rutschig, das Geländer genau in der richtigen Höhe, sodass die Hand sich wie von selbst darauf legte.
Mir fiel wieder ein, wie ich in meiner alten Wohnung nach Hinweisen auf eine Renovierung gesucht hatte. Wie naiv! Hier hatte es jemand fertiggebracht, eine ganze Wendeltreppe einzubauen, während ich schlief.
Und nicht nur eine Treppe! Gestern Abend war der Fußboden im Erdgeschoss noch aus Beton gewesen. Heute aus Holz. Breite, dicht aneinander gefugte Dielen lagen hier, die nicht lackiert waren wie Parkett, sondern gleichsam mit dunklem Öl behandelt zu sein schienen. Ein höchst geschmackvoller Anblick, ohne Frage.
Die Glühbirnen unter der Decke schmückten sich jetzt mit einem Gitterschirm aus Metall. Das erinnerte ein wenig an Straßenlaternen, machte aber eigentlich ebenfalls etwas her.
Meine häuslichen Bedingungen, das musste ich zugeben, hatten sich nach einem kurzfristigen Sturz extrem verbessert. Vorgestern Morgen hatte mir noch eine kleine Einzimmerwohnung gehört, dem gestrigen Abend hatte ich als Obdachloser entgegengesehen, weshalb ich mich in einem aufgegebenen Turm an einem Eisenbahngleis schlafen gelegt hatte. Nun nannte ich ein zweigeschossiges Apartment mein Eigen, dessen Einrichtung eines gewissen Luxus nicht entbehrte.
Das Klopfen riss nicht ab, und mittlerweile erkannte ich auch, an welcher Tür es pochte. Falls ich meine räumliche Orientierung nicht völlig verloren hatte, handelte es sich nicht um die, durch die ich hereingekommen war.
Ich ging zur Tür, wo ich kurz zögerte. Dann schob ich den Riegel entschlossen zur Seite und riss die Tür auf.
O nein, durch diese Tür war ich nicht hereingekommen. Diese Seite des Turms führte in die verschneite Gasse mit den Fabriken. Und dort im Schnee stapfte ein Mann in mittleren Jahren von einem Fuß auf den anderen. Er trug eine Uniform aus grauem Tuch, deren Brust eine große Kupferplakette zierte, Stiefel, eine Fellmütze - und eine pralle Umhängetasche. Die Ungeduld in seinem Gesicht wich bei meinem Erscheinen der Freude.
»Blas mir doch den Schuh auf«, entschlüpfte es mir.
»Was?«, fragte der Mann ganz kopfscheu. Er ließ den Blick schweifen und zuckte verständnislos die Schultern. »Was ist denn mit Ihrem Schuh?«
»Nichts ... Vergessen Sie’s. Äh ... was gibt’s?«
»Guten Morgen. Ein zauberhafter Tag, nicht wahr? Ihre Post.« Der Mann schlug gegen seine Tasche. Dann beäugte er mich mit einem Hauch von Misstrauen.
»Ach ja, natürlich. Guten Morgen. Das hab ich mir schon gedacht.«
»Ihre Post«, wiederholte der Mann. »Zwei Päckchen und ein Brief.«
Die Päckchen waren rechteckig und schwer. Bei dem Brief handelte es sich um einen profanen weißen Umschlag, der weder frankiert noch adressiert oder mit einem Absender versehen war.
»Vielen Dank«, sagte ich, während ich meine Sendungen entgegennahm. Der Postbote lüpfte formvollendet die Mütze. Keine Ahnung, wie er das anstellte, doch die Geste wirkte durch und durch natürlich. »Sch... schulde ich Ihnen etwas?«
»Nein, nein, es ist bereits alles bezahlt«, antwortete der Postbote höflich. »Alles Gute.«
Damit drehte er sich um und verschwand hinterm Turm. Ich wartete ein paar Sekunden ab, um dann, einer irrwitzigen Vermutung folgend, hinter ihm herzustürzen.
Ich stieß weder auf Stalinbauten noch auf einen Wall neben den Gleisen oder einen asphaltierten Weg.
Stattdessen entdeckte ich Fabriken, eine schmale verschneite Straße, die zwischen ihnen hindurchführte, und die Kutsche, die auf den Postboten wartete. Natürlich war das eigentlich keine Kutsche. Aber woher sollte ich denn wissen, wie diese zweirädrige offene Equipage hieß, vor die ein Pferd gespannt war? Char-à-Bancs? Phaeton? Tilbury?
Gemächlich trottete der Postbote auf sein Fuhrwerk zu. Ich rannte im frischen Schnee um den Turm herum - der in keiner Weise mehr an einen Wasserturm erinnerte, sondern eher wie eines der Fabrikgebäude aussah.
Wie ich bereits vermutet hatte, besaß der Turm nur eine Tür, während es im ersten Stock nur ein Fenster gab. Der Turm selbst ließ eine fünfeckige Form erkennen, erhob sich rund fünfzehn Meter in die Höhe und verjüngte sich nach oben hin ein wenig.
Ich eilte zur Tür zurück und hechtete in den Turm, schlug die Tür hinter mir zu. Die beiden Päckchen und den Brief ließ ich auf den Boden fallen, um auf die anderen Türen zuzustürzen, denn im Innern fanden sich ihrer immer noch fünf.
Versperrt.
Versperrt.
Die dritte Tür öffnete sich pflichtschuldig.
Es regnete. Über Moskau hing ein grauer nasskalter Morgen. Der Geruch von Abgasen, Masut und anderem Dreck stieg mir unerwartet scharf in die Nase. In der Ferne ratterten die Räder einer abfahrenden Eisenbahn. Ich trat hinaus, tappte unverzüglich in eine Pfütze, worauf die Schneeflocken von meinen Schuhen fielen und in null Komma nichts schmolzen. Ich drehte mich um.
Ein Turm aus Ziegelsteinen. Ein alter Wasserturm, wie er gewöhnlicher nicht sein könnte. Eine einzige Tür, ein Fenster, das mit verrosteten Eisenläden verschlossen war.
Von den Geschäften drang ein reich mit derben Ausdrücken gespicktes Gespräch zu mir herüber: »Sie ... die reinste Pennerin ... und er säuft sich ... die Hucke voll, pöbelt was ... ihr seid doch alles Nutten ...« Dem grundlos Eingeschnappten antwortete jammernd eine angesäuselte, offenbar jedoch weibliche Stimme.
Sei gegrüßt, meine geliebte Stadt.
Ich trat den Rückzug an und schloss hinter mir die Tür. Sogar den Riegel schob ich vor.
Ach, Melnikow, guter Schriftsteller. Warum hast du mir bloß nicht geglaubt?
Nachdem ich die Päckchen und den Brief vom Boden aufgehoben hatte, begab ich mich in den ersten Stock. Ich öffnete das Fenster, das nach Moskau hinausging. Daraufhin trat ich ein paar Schritte zurück und weidete mich einen ausgedehnten Moment lang an dem erstaunlichen Anblick: ein verregneter grauer Morgen in dem einen Fenster, ein klarer winterlicher Sonnenaufgang im anderen.
Schließlich setzte ich mich an den Tisch und öffnete mit der gebotenen Akkuratesse den Briefumschlag.
Aus dem Kuvert fiel ein schmales gelbliches Blatt Papier, das bei mir Assoziationen mit einer Vorladung oder einem Telegramm heraufbeschwor: die Beschaffenheit des Papiers, die schlecht lesbare Maschinenschrift, die weggelassenen Artikel.
»Kirill Maximow. Glückwunsch zur Ankunft. Leben Sie sich ein. Bei Wunsch fangen Sie mit Arbeit an. Kommission kommt übermorgen. Alles Gute.«
Dieses »Alles Gute« gab mir den Rest. Ich zerknüllte das Blatt, warf es zu Boden. Abermals schaute ich zu den Fenstern hinaus. Regen im einen, Schnee im anderen. Zwei Welten und noch drei geschlossene Fenster. Ich versuchte, den Riegel von einem der geschlossenen Fenster zurückzuschieben, aber er gab nicht nach.
An den Tisch zurückgekehrt, riss ich eines der Päckchen auf. Ihm entnahm ich ein schweres Buch im braunen Ledereinband. Kein Imitat aus Plastik, sondern echtes Leder, das den aromatischen Duft einer neuen Sache verströmte. Aus irgendeinem Grund fiel mir ein, dass Ledergeruch in Asien als einer der widerwärtigsten gilt. Woraus der Einband wohl gefertigt worden wäre, wenn ich ein Chinese oder Koreaner gewesen wäre?
Behutsam schlug ich das Buch auf. Publikationsdaten fehlten natürlich. Das Papier war dick, weiß und von guter Qualität, das Druckbild klar. Die erste Seite hielt ein Inhaltsverzeichnis bereit:
MoskauZum Export zugelassene WarenS. 3Nicht zum Export zugelassene WarenS. 114Zum Import zugelassene WarenS. 116Nicht zum Import zugelassene WarenS. 407
Ich klappte die Seite einhundertundvierzehn auf. Eine mehr als überschaubare Liste:
Sklaven (Personen, die zum Eigentum eines Mitmenschen geworden sind und uneingeschränkt dessen Gewalt unterstehen). Massenvernichtungswaffen (Waffen, die dazu bestimmt sind, der Bevölkerung massenhafte Verluste beizubringen).
Daraufhin blätterte ich vor zum Anfang. Aus dieser Seite erfuhr ich, dass die Zollgebühr für das zur Ausfuhr zugelassene eine Kilogramm Pfeffer (schwarzer, roter, weißer oder grüner) dreitausendundachtzehn Rubel und sechs Kopeken betrug. Dafür erhob man auf Pantoffeln nur sieben Rubel pro Paar. Für Pergament galt es sechsundneunzig Rubel und drei Kopeken pro Quadratmeter zu entrichten, für Pfauen (Feder) zwei Rubel und siebzehn Kopeken pro zehn Zentimeter.
»Komm von der Barkasse runter, Wereschtschagin«, zitierte ich die Aufforderung an den Zöllner aus dem Film Die weiße Sonne der Wüste. Ich setzte mich hin und betrachtete eingehend die kleine, gut lesbare Schrift. Ich schlug die Seite vierhundertundsieben auf.
Von Sklaven und Massenvernichtungswaffen abgesehen war es verboten, Pflanzen oder keimfähige Samen, Narkotika oder Tiere, mit Ausnahmen von einheimischen, nach Moskau einzuführen. Eine Weile dachte ich darüber nach, ob Kamele für Moskau als einheimisch gelten durften. Oder Delphine. Oder Eisbären.
Schließlich gab es die alle im Zoo.
Mir schoss das Bild durch den Kopf, wie schwer mit gebündelten Haschpflanzen bepackte Eisbären durch die verschneite Gasse auf den Turm zutrotteten, gejagt von Sklaven, die mit Rucksack-Atombomben ausgerüstet waren. Ich selbst stand stolz an der Tür, fuchtelte mit meinem Buch und ließ die Fracht nicht nach Moskau hinein.
Ich trat sogar an jenes Fenster, hinter dem die verschneiten Fabriken schlummerten, und spähte achtsam die menschenleere Straße hinunter.
Womit hatte ich es hier zu tun? Mit einem Loch im Raum? Vermutlich nicht. Dagegen sprachen die Architektur der Gebäude und das Pferdefuhrwerk des Postboten. Eher ein Loch in der Zeit.
Oder im Raum und in der Zeit.
Oder es handelte sich um eine Parallelwelt, dieses ewige Kleinod der einschlägigen Schriftsteller: Es kommt ein Mensch daher, er macht eine Tür in der Wand auf ...
Lächerlich!
Schließlich öffnete ich das zweite Päckchen. Ihm entnahm ich ein identisches Buch, ebenfalls in Leder gebunden, diesmal allerdings in schwarzes. Auch hier wies das Inhaltsverzeichnis vier Kapitel auf.
Über diesen stand jedoch nicht Moskau, sondern der geheimnisvolle Name Kimgim.
In diesem Wort schwang etwas von sibirischen Ortsnamen mit. Oder von asiatischen. Sicher wusste ich jedoch eins: Nie zuvor hatte ich etwas von dieser Stadt gehört.
Ging es hier tatsächlich um einen Durchlass zwischen verschiedenen Welten?
Aber was hatte ich dann damit zu schaffen? Und warum vergaßen mich alle meine Freunde? Warum bemerkten mich nicht einmal mehr die Bullen? Woher kam diese Natascha Iwanowa? Warum hatte sie sich mir nichts, dir nichts ins Messer gestürzt? Wer hatte mich angerufen und zu diesem Turm beordert, der mit zwei Seiten zu zwei unterschiedlichen Welten hinausging (und, daran hegte ich keinen Zweifel, der noch in drei andere führen konnte)? Wer hatte mir diesen Brief und die Handbücher mit den Zollbestimmungen geschickt?
Hm. Im Grunde stellte ich nicht die richtigen Fragen. Wollte Unwichtiges wissen. Es kam gar nicht darauf an, den Grund für all diese Ereignisse herauszukriegen. Zuallererst musste ich über mein eigenes Tun nachdenken.
Meine Kleidung war noch immer klamm. Außerdem taugte sie bei dem Wetter ohnehin nicht viel. An Proviant verfügte ich nur über eine Tafel Schokolade und eine Flasche Mineralwasser. Mir war keine Kopeke geblieben, und bislang hatte ich nicht einmal die Möglichkeit, Zollgebühren einzutreiben.
Doch hat jede Münze ihre zwei Seiten. Wenn mich die Kassiererinnen nicht bemerken und die Miliz mich nach einer Verhaftung am Tatort wieder auf freien Fuß setzt ...
Grinsend legte ich die Zollbestimmungen beiseite.