Neun

Es existiert ja die Auffassung, das widerwärtigste Verbrechen auf der Welt sei der Mord an Kindern. Die Ermordung von Alten ruft Verachtung und Empörung hervor, weckt indes nicht dieses infernalische Entsetzen. Auch die Ermordung von Frauen wird äußerst missbilligend aufgenommen - und zwar sowohl von Männern (weshalb mordet jemand Frauen?) wie auch von Frauen (alle Männer sind Schweine!).

Dagegen betrachtet man den Mord an einem Menschen männlichen Geschlechts, der die Kindheit längst hinter sich gelassen, der greisenhaften Tattrigkeit jedoch noch nicht anheimgefallen ist, als eine durch und durch alltägliche Erscheinung.

Dem ist nicht so?

Dann lasse man sich doch bloß mal folgende Sätze auf der Zunge zergehen: »Er holte seine Parabellum heraus und erschoss das Kind.« - »Er holte seine Parabellum heraus und erschoss den Alten.« - »Er holte seine Parabellum heraus und erschoss die Frau.« Und schließlich: »Er holte seine Parabellum heraus und erschoss den Mann.« Ist nicht deutlich zu spüren, wie das Widerwärtige abnimmt? Der erste Typ arbeitet mit Sicherheit als Kommandant in einem Konzentrationslager und ist ein SS-Mann. Der zweite gehört einem Strafkommando an und brennt jeden Morgen ein kleines Dorf nieder. Der dritte ist ein Wehrmachtsoffizier, der eine Partisanin mit einem Kanister Petroleum und einem Päckchen Streichhölzer neben dem Waffenlager erwischt hat.

Der vierte könnte, selbst wenn er aus einer Parabellum schießt, ohne Weiteres einer unserer Spione sein, der mit gutem Grund einen der drei vorgenannten Dreckskerle tötet.

Die Typen in Schwarz hatten sich weiß Gott nicht um ihr Renommee geschert. In dem kleinen Raum - insgeheim speicherte ich ihn als Raucherkabinett ab - entdeckte ich drei reglose Körper. Eine Alte, eine junge Frau und einen Jungen oder Teenager.

Für alles gibt es seinen Ort und seine Zeit. Und gemartert wird in den Folterkammern dunkler Kellergewölbe. Umgeben von weichen Sesseln, kleinen Sofas (selbst wenn diese ledern und nicht aus rosafarbener seidiger Chenille sind) und Beistelltischchen mit kristallenen Aschenbechern auf starre blutige Körper zu stoßen ist besonders scheußlich.

Die Mischung aus guten Tabakgerüchen und frischem Blut lässt dich einfach würgen ...

Dem Instinkt, die Schwachen zu beschützen, folgend, trat ich als Erstes an den Jungen heran, der mit nacktem Oberkörper an einen Sessel gefesselt war. Er mochte vierzehn oder fünfzehn Jahre sein, ging also nur unter Vorbehalt als unschuldiges Kind durch. Trotzdem ... Gefesselt war er auf eine sehr auffällige Weise: So banden dämliche Schurken junge mutige Helden in Kinderfilmen fest, wobei sie zehn Meter dicker Schnur verschwendeten und dennoch kein Resultat garantieren konnten. Die Beine waren an den Füßen des Sessels festgezurrt, die Hände an den Armlehnen, ergänzt wurde das Ganze durch einige Schlingen um die Taille und eine um den Hals.

Alles schwamm in Blut. Die sackartigen Hosen des Jungen aus dunkelbraunem Stoff klebten von Blut, sein pickliges Gesicht ebenfalls. Von frischem Blut. Allerdings sickerte keins mehr aus den zahllosen Schnitten im Gesicht, an den Armen und am Oberkörper.

Behutsam legte ich dem Jungen die Finger an die Halsschlagader. Ich spürte ein schwaches, seltenes Pochen.

»Er lebt noch«, sagte ich erstaunt.

»Was?« Kotja stand noch immer in der Tür. »Aber er hat doch schon alles Blut verloren!«

»Der Junge lebt noch!« Ich erhob mich. »Jede Menge kleiner Schnitte, aber keine ernsthaften Verletzungen. Bind ihn los und leg ihn aufs Sofa.«

Inzwischen ging ich zu der Frau. Hier bot sich das gleiche Bild: oberflächliche Schnittwunden und Striemen. Sie hatte viel Blut verloren, mir schien, als gebe sogar der Teppich unter meinen Füßen schmatzende Geräusche von sich. Aber auch sie lebte.

»Welcher Idiot hat denn diese Knoten gemacht?«, schimpfte Kotja, während er den Jungen von den Fesseln befreite. »Du brauchst die Schnur ja bloß abzuziehen ...«

»Sie sind nicht nur dumm, sondern auch sehr keusch«, bemerkte ich mit einem Blick auf die Frau. »Sie haben ihr nicht mal die Kleidung ausgezogen ...«

Natürlich bin ich in Folterfragen schlichter Laie. Aber wenn ich jemanden quälen und mit einem Messer bearbeiten wollte, dann hielte ich es für sinnvoll, das Opfer zunächst zu entkleiden. Zum einen um mir das Resultat meiner Arbeit anzusehen. Zum anderen, weil ein nackter Mensch von vornherein verschreckt und gedemütigt ist.

Aber hier! Dem Jungen hatten sie nur das Hemd ausgezogen, bei der Frau hatten sie es erst gar nicht gewagt, sie eines Kleidungsstücks zu entledigen.

Der Alten - sie war mindestens sechzig Jahre - maß ich ebenfalls den Puls. Von den Dreien gab sie vermutlich die imposanteste Erscheinung ab. Bei dem Jungen handelte es sich um einen typischen Teenager, dem man mal ein Mittel gegen Akne empfehlen sollte, während die Frau einer durchschnittlichen Hausfrau um die vierzig entsprach. Die Alte dagegen erinnerte an eine gefeierte Schauspielerin in vorgerücktem Alter. Das beziehe ich nicht auf ihr Äußeres, sondern auf jenen seltenen Typ charismatischer Frauen, die mit den Jahren ihre äußerliche Schönheit einbüßen, dafür jedoch innere Stärke gewinnen. Die Alte vor mir war von kräftiger Statur, ihr Gesicht faltig, aber ausdrucksvoll, die Haare, wiewohl grau, dicht und gut gepflegt. Dieser Typ ist unter russischen Frauen nur selten anzutreffen, werden diese doch in der Regel entweder zu verhuschten Greisinnen oder zu fauchenden Drachen. Bei den Frauen im Westen sieht es nicht besser aus, allerdings verwandeln die sich meistens in muntere Touristinnen mit Shorts und Fotoapparat.

Vorsichtig zog ich meine Hand zurück und trat nachdenklich vom Sessel weg.

Die Alte war am wenigsten von allen gequält worden. Ein paar blaue Flecken, als habe man ihr schwungvoll, aber ungeschickt ins Gesicht gehauen. Einige Schnittwunden am Hals, die aussahen, als hatten die Angreifer sie einschüchtern wollen, indem sie ihr ein Messer an die Kehle pressten. Das prachtvolle (vorsorglich hochgeschlossene) Kleid aus meerfarbener Seide zeigte nicht einmal Flecken.

»Komisch«, bemerkte Kotja plötzlich. »Wie in diesem Witz.«

»In welchem?«

»Na, in dem, wo eine alte Oma Junkies anheuert, damit sie die Schweine schlachten ... Die kommen dann aus der Scheune heraus und verkünden: ›Geschlachtet haben wir sie nicht, aber ordentlich angeritzt!‹«

»Zieh mal eine Leiche her«, bat ich.

»Was?« Kotja erschauderte. »Was soll ich machen?«

»Bring mal eine Leiche her. Das ist doch nicht zu schwer, oder?«, sagte ich. »Ich will die hier nicht allein lassen ... Oder soll ich gehen, und du passt auf die Drei auf?«

Kotja schluckte. Er starrte auf die drei reglosen Körper, das überall vergossene Blut. Dann ging er in den großen Saal zurück.

Während ich die Fesseln der Alten löste (auch sie war mehrfach, aber nicht sehr solide mit einem Seil umwickelt), schleifte Kotja recht munter eine Leiche, am Bein gepackt, herein. Da der Mann kein Blut verloren hatte, musste es sich um denjenigen handeln, dem ich das Genick gebrochen hatte.

»Danke«, sagte ich. Ich wandte mich von der bewusstlosen Alten ab, um mich über die Leiche zu beugen und ihr die Tarnkappe vom schlackernden Kopf zu ziehen.

Ein Mensch ohne besondere Kennzeichen, ließ man außer Acht, dass es ein Mann war, den ich getötet hatte. Er zählte zur Gattung der Europiden und mochte zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt sein. Ein grobes, unauffälliges Gesicht. Am Hals prangte an der Stelle, wo ich ihm den Schlag versetzt hatte, eine bordeauxfarbene Strieme. Puls gab es selbstverständlich keinen mehr. Ich zog ihm die Lider hoch, besah mir die Augen und erhob mich.

»Die sind tot«, versicherte ich Kotja. »Ich hatte mich bereits gefragt, ob hier alle ...«

In dem Moment stöhnte die Alte im Sessel auf und bewegte sich. Wir wandten uns ihr gerade rechtzeitig zu: Sie schlug die Augen auf.

»Wir sind Freunde!«, erklärte ich rasch. »Keine Angst.«

Die Alte sah erst mich an, dann Kotja. Danach noch einmal mich. Sie heftete den Blick auf mich, als wolle sie etwas erkennen, was ich nicht auszumachen vermochte.

»Woher sind Sie, guter Mann?«, brachte sie heiser hervor. »Ich habe schon geglaubt, unser Ende sei gekommen ...«

Schwerfällig erhob sie sich aus dem Sessel und drehte sich um.

»Sie sind alle noch am Leben«, beruhigte ich sie. »Bewusstlos, aber am Leben.«

Die Alte ließ sich in den Sessel zurückfallen. Sie nickte dankbar. Mit einem Mal ging mir auf, was mir an ihr so seltsam vorkam: In der Regel magern die Menschen im Alter entweder ab oder gehen tüchtig in die Breite. Diese Oma hatte es jedoch ungeachtet all ihrer Falten geschafft, sich eine normale, beinahe sportliche Figur zu bewahren. Ihre momentane Schwäche rührte wohl einzig von den Qualen her - und dürfte eben keine Folge des Alters sein.

»Vielen Dank, Nachbar«, sagte die Oma und reichte mir die Hand. Einen kurzen Augenblick lang zögerte ich, dann ergriff ich sie - einen Handkuss erwartete die Alte anscheinend nicht. Ihr Händedruck stellte sich als kräftig heraus.

»Keine Ursache.« Mit Mühe verbiss ich mir hinzuzufügen: ›Jeder an meiner Stelle hätte so gehandelt.‹

»Weiß«, brachte die Alte mit Nachdruck hervor.

»Wie bitte?«

»Weiß, Rosa Dawidowna. Die Besitzerin dieses Hotels.«

Kotja stieß einen Pfiff aus und fing an, nervös zu kichern.

»Kirill Danilowitsch Maximow«, stellte ich mich vor. »Und dieser Bursche hier heißt Konstantin Tschagin. Wie lautet dein Vatersname?«

»Igorewitsch«, blaffte Kotja. »Das könntest du dir auch mal merken.«

»Sehr angenehm.« Rosa Weiß nickte. Sie schielte zu dem reglosen Körper in Schwarz hinüber und nickte mitleidig, wenn auch ohne jede Spur von Zweifel im Gesicht. »Diese Dummköpfe ...«

»Wer sind sie?«, fragte ich.

»Ich weiß es nicht, Kirill Danilowitsch. Ich weiß es nicht. Sie haben das Hotel gesehen und konnten eintreten, folglich müssen sie über gewisse Fähigkeiten verfügen. Aber sie gehören nicht zu uns.«

Kotja und ich blickten uns an.

»Und was wollten die?«

»Ich glaube, das wussten sie selbst kaum«, schnaubte Rosa. »Sie haben bei mir nach einem Gast gesucht. Im Moment habe ich aber gar keine. Schließlich haben wir keine Saison, das liegt doch wohl auf der Hand, oder? Kostja, mein guter Junge, bringen Sie mir doch bitte etwas Wasser. Die Zunge klebt mir am Gaumen. Aber bitte nicht aus der Leitung. In der Küche steht eine weiße Emailschüssel mit Trinkwasser. Füllen Sie mir bitte gleich eine ganze Karaffe ab.«

Eilfertig verschwand Kotja aus dem Raucherkabinett.

»Was für ein freundlicher junger Mann.« Rosa nickte wohlwollend. »Wie schön, dass Sie immer noch Freunde unter den Menschen haben.«

»Ist das denn so erstaunlich?«

»Haben dich deine Verwandten und Freunde denn nicht vergessen?«, antwortete Rosa mit einer Frage. »Das ist eben unser Schicksal ...«

Plötzlich drang aus dem Saal das Geräusch eines umfallenden Stuhls herüber. Und ein Schrei. Rosa Dawidowna erhob sich aus dem Sessel. »Du hast sie doch alle umgebracht?«

»Wie viele waren es denn?« Noch während ich antwortete, begriff ich, dass die Antwort nicht ›vier‹ lauten würde.

»Sieben ... oder sechs? Nein, ich glaube ...«

Auf eine Klärung dieses Problems konnte ich durchaus verzichten. Ich schnappte mir den Knüppel, den ich auf einen Beistelltisch gelegt hatte, und stürzte zur Tür.

Sie mussten noch im ersten Stock gesteckt haben. Einer hielt Kotja bei den Haaren gepackt, riss ihm den Kopf nach hinten und presste ihm ein Messer an den Hals. Kotja trug eine große Glaskaraffe mit Wasser in den Händen. Zwei weitere Gestalten in Schwarz, ebenfalls mit Messern bewaffnet, pirschten sich vorsichtig an das Raucherkabinett heran.

Mein Auftauchen bereiteten ihnen ganz offenkundig keine Freude. Ein paar Sekunden blieben sie wie erstarrt stehen.

»Lasst ihn los«, verlangte ich.

Derjenige, der Kotja gepackt hielt, quittierte das mit einer unzweideutigen Geste, indem er das Messer direkt an die Kehle seines Gefangenen schob.

»Rühr ihn nicht an!« Eine der schwarz gekleideten Gestalten riss sich unversehens die Tarnkappe vom Kopf. Zu meiner Überraschung handelte es sich um eine Frau von etwa zwanzig Jahren mit kurz geschnittenem Haar, leichten Schlitzaugen und einem dunkelhäutigem Gesicht. Keine reine Asiatin, aber mit einem gehörigen Schuss asiatischen Bluts. »Wer bist du?«

»Das spielt keine Rolle«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. »Lasst meinen Freund los!«

Die Frau zögerte. Anscheinend hatten diese Typen hier von der letzten Auseinandersetzung weder etwas gehört noch gesehen. Allerdings lagen die Ergebnisse zu ihren Füßen.

»Wenn wir ihn freilassen, lässt du uns dann abziehen?«

Kotja schickte mir einen flehenden Blick herüber. Der bescheidene Vertreter der Boulevardpresse musste heute außerordentliche Abenteuer bestehen.

Ehrlich gesagt, stand für mich außer Frage, dass ich auch mit diesen Dreien noch fertig werden würde. Außerdem war ich mir fast sicher, dass Kotja keinen Schaden nehmen würde.

Ich würde einfach die Hand hochreißen, und zwar so schnell, dass sie gar nicht mehr reagieren konnten. Dann würde ich den Knüppel schleudern, der ganz gerade fliegen würde, so als sei es ein Wurfgeschoss, und den Schwarzgewandeten, der Kotja festhielt, hart an der Stirn träfe. Prompt würde der Kerl hintüber kippen, tot oder bewusstlos. Schon würde ich nach vorn springen, dabei den gegen mich geschleuderten Messern ausweichend, diesen Stahlblitzen, die jetzt nur noch hilflos die Luft zu zerschneiden vermochten, um endlich der Gestalt mit der schwarzen Tarnkappe den Hals umzudrehen, abermals dieses gedehnte Schmatzen zu vernehmen, der Frau erst in den Magen zu boxen und ihr anschließend einen Schlag ins Genick zu verpassen, sodass sie zwar bewusstlos zu Boden ging, aber ohne Weiteres noch von mir in die Mangel genommen werden könnte ...

So dürfte sich das Szenario wohl gestalten.

Natürlich nur, falls jene unerklärliche Kraft, die mir gegen meine bewaffneten Feinde half, imstande war, jemanden am Leben zu lassen.

»Gebt ihn frei, und ihr könnt gehen«, sagte ich.

»Der lügt«, warf der Schwarzgewandete, der Kotja hielt, prompt ein. Der Stimme nach zu urteilen, sprach da ein junger Mann - der sich an der Grenze zur Hysterie bewegte. »Der bringt uns um. Ein Polizistenfunktional lässt uns niemals laufen ...«

»Er ist Zöllner, du Idiot!«, schrie die Frau. »Gehen wir! Geben wir seinen Freund frei und hauen ab!«

Sie öffnete die Faust, worauf das Messer zu Boden fiel. Nach sekundenkurzem Zaudern ließ auch ihr Kumpan das Messer fallen. Im Rückwärtsgang bewegten sie sich zum Ausgang.

Kotjas Bewacher nahm widerstrebend die Hand mit dem Messer vom Hals seines Gefangenen und gab ihm einen leichten Tritt. Mit komischen Tippelschritten rannte Kotja auf mich zu, wobei er immer noch die Karaffe hielt. Ich trat vor, um Kotja mit meinem Körper zu decken. »Bring Rosa Dawidowna das Wasser«, befahl ich.

Nichts schützt so gut gegen Panik wie einfache praktische Handlungen. Mit einem Nicken huschte Kotja ins Raucherkabinett.

Die drei unversehrt gebliebenen Angreifer nahmen die Beine in die Hand. Als Erste schlüpfte die Frau zur Tür hinaus, dann ihr Spießgeselle. Den Abschluss bildete derjenige, der Kotja festgehalten hatte.

Genau in dem Moment beging ich eine Dummheit. Buchstäblich für eine Sekunde nur drehte ich den Kopf weg, um zu sehen, was im Raucherkabinett vor sich ging. Da geschah im Grunde nichts Besonderes: Die Alte trank im Stehen gierig direkt aus der Karaffe, Kotja schielte verängstigt zur Tür hinüber.

Ein schneidender Schmerz fuhr in meinen linken Oberarm. Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um den letzten Schurken zu erblicken, der sich gerade anschickte, durch die Tür zu verschwinden. Aus meinem Oberarm ragte der Griff eines Metallmessers heraus.

Ich holte aus, der Knüppel sauste durch die Luft und traf den Kerl im Nacken. Selbst durch den riesigen Saal hindurch bekam ich mit, dass der Schlag den Schädel zermalmte - wie ein Fausthieb einen reifen Apfel. Der Schwarzgewandete breitete die Arme aus und krachte in der Türfüllung zu Boden.

Da hast du, du Idiot!

Plötzlich schlug die Tür und ging von selbst zu, den Körper dabei in den Flur hinausschiebend. An der geschlossenen Tür polterte es, der schwere Riegel legte sich vor. »So wird es ruhiger sein«, vernahm ich Rosas Stimme.

Ich packte das Messer und zog es aus meinem Arm. Äußerlich ließ sich nichts als eingerissener Stoff erkennen. Aber unter meiner Jacke strömte das Blut, das erstaunlich dick und heiß war. Weh tat das nicht, es brannte und pulsierte bloß, machte sich noch in den Fingern bemerkbar.

Ich stolperte ins Raucherkabinett. Das blutige Messer warf ich auf den Tisch, dann setzte ich mich, eine Hand auf die Wunde pressend, hin. Entsetzt starrte Kotja mich an.

»Ist bloß’n Kratzer«, sagte ich.

»Ich ... ich werde dir das verbinden ...«, murmelte Kotja. »Kirill, was ist mit dir? Du siehst hundselend aus ...«

Der Mensch ist doch ein erstaunliches Phänomen. Da hatte ich fünf Personen umgebracht. Doch die, wollte man den Schriftstellern glauben, obligatorischen Gewissensbisse und innere Pein durchlitt ich nicht. Aber eine einzige Wunde, die logischerweise nicht mal gefährlich war - und schon packte mich Panik. Schon ballte sich in meiner Brust ein kalter Klumpen zusammen.

»Lassen Sie mich das mal sehen, junger Mann!«

Mit sicheren Bewegungen half Rosa mir, mich der Jacke und des Pullovers zu entledigen, und knöpfte mir das Hemd auf. Der Ärmel war blutgetränkt. Mit gerunzelter Stirn zog ich den Arm aus ihm heraus.

»Es dauert nur einen Moment«, versicherte Rosa. In ihren Händen tauchte ein feuchtes Tuch auf, mit dem sie das Blut sorgsam abtupfte. Ich schaute auf meinen Oberarm. Eine Schramme, überzogen von einer roten Schorfkruste.

»Für Sie ist das neu, oder?« Rosa sah mir in die Augen.

Ich nickte.

»Sie werden sich schon daran gewöhnen.«

Die Alte drehte sich um und blickte unverwandt auf die reglos daliegende Frau. »Klawdija!«, rief sie. »Klawa, wach auf!«

Langsam und zögerlich richtete sich die Frau ein wenig auf. Sie musterte erst Rosa, dann uns.

»Siehst du, es ist alles gut«, sagte Rosa. »Wir haben Hilfe bekommen. Fühlst du dich jetzt besser?«

»Ja, Rosa Dawidowna.«

»Schön.«

Die Frau beugte sich über den Jungen und rüttelte ihn an der Schulter, bis er sich hochrappelte. Klawdija griff nach der halb leeren Kanne, trank ein paar Schluck und reichte sie an den Jungen weiter. Gierig begann dieser zu trinken. Das Wasser rann ihm übers Gesicht und wusch das Blut fort. Nachdem er die leere Kanne abgestellt hatte, rieb sich der Junge mit den Händen das Gesicht trocken. Seine Haut zeigte keinen einzigen Schnitt mehr.

Nur die Pubertätspickel zierten es noch.

»Begrüß unsere Gäste, Petja«, befahl Rosa. »Und bedank dich bei dem Herrn Zöllner. Es gehört nicht zu seinen Pflichten, uns zu retten.«

»Pjotr«, stellte sich der Junge gehorsam vor. »Vielen Dank.«

»Macht euch frisch und kümmert euch dann ums Hotel«, sagte Rosa. »Reinigt die Möbel und Teppiche.«

»Und wo sollen wir mit denen hin, Rosa Dawidowna?«, fragte die Frau, den Blick auf den Körper eines der Angreifer gerichtet.

Diese Frage, schoss es mir durch den Kopf, stellt sich den Helden in SF- und Fantasy-Romanen niemals. Die zahlreichen getöteten Feinde bleiben einfach an Ort und Stelle, wo sie irgendwann von selbst verschwinden. Gut, wir dürfen wohl davon ausgehen, dass im offenen Gelände Vögel und Raubtiere ihren Nutzen aus ihnen ziehen. Aber in Gebäuden? Körper müssen beerdigt werden. Vermutlich liegt neben jedem noch so kleinen Dorf, an dem die Helden dieser Epen, mit ihren spitzen Schwertern fuchtelnd, vorbeiziehen, ein spezieller Friedhof für die Feinde.

»Bringt sie zum Meer. Schmeißt sie aber nicht ins Wasser, sondern legt sie einfach am Strand ab«, entschied Rosa nach kurzem Nachdenken. »Vielleicht kommt noch jemand und möchte sie beerdigen.«

Mit einem neugierigen Blick in unsere Richtung, jedoch ohne irgendeine Frage zu stellen, verließen Klawdija und Petja das Raucherkabinett.

»Mutter und Sohn«, unterrichtete Rosa mich. »Ich habe sie vor drei Jahren eingestellt, sie kommen von uns, aus Russland. Den hiesigen Einwohnern traue ich nicht, müssen Sie wissen ... Klawas Mann ist Alkoholiker, der Sohn ist deshalb etwas ... äh ... schlicht. Das Leben hielt für die beiden nichts Gutes bereit. Daher sind sie mir sehr dankbar. Schade, dass sie gewöhnliche Menschen sind und zu gegebener Zeit sterben werden.«

»Und wir?«, fragte ich.

Da ich mit dem Fingernagel an dem braunen Schorf herumpolkte, kratzte ich die Wunde wieder auf. Das Resultat ist jedem von klein auf bekannt: Purpurrot würde das Blut herausperlen.

Doch unter dem Schorf trat unverletzte glatte Haut zutage.

Ich zog mich wieder an.

»Wir? Wer weiß das schon ... Die Wunde hat lange gebraucht, um zu verheilen«, bemerkte Rosa. »Sie sind wohl erst seit kurzem im Dienst?«

»Einen Tag.«

»Verstehe«, meinte Rosa. »Tüchtig. Sie begreifen sehr schnell.«

Ich ließ den Blick durch den Saal schweifen. Der wortkarge Junge Petja stapelte die Leichen auf einen Haufen. Es schien ihn keine Mühe zu kosten, gleichsam als verberge sich unter der schwarzen Kleidung eine aufblasbare Puppe, kein totes Fleisch.

»Sie wirken gar nicht wie normale Menschen. Ihre Wunden sind sofort verheilt, dann diese Kraft ...«

»Sie befinden sich auf meinem Territorium«, sagte Rosa in einem Ton, als erkläre sie damit alles. »Hier lege ich bestimmte Regeln fest. Leider gehört die Kampfkunst nicht zu den Dingen, die mir zu Gebote stehen.«

»Rosa Dawidowna!« Kotja konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Wir verstehen wirklich rein gar nichts. Wer sind Sie? Und was ist das hier für eine Welt?«

»Dann will ich Ihnen alles erklären«, erwiderte Rosa freundlich. »Da in dem kleinen Schrank sind Kognak und Zigarren. Hier ist es allerdings ein wenig unaufgeräumt ... Gehen wir! Und nehmen Sie den Kognak und die Zigarren bitte mit.«

»Ich rauche nicht«, brummte Kotja, fing aber dennoch an, im Schrank herumzukramen. Einer Holzschatulle entnahm er Zigarren, er entdeckte die flache Kognakflasche und drei elegante versilberte Gläser.

Im Schlepptau der Alten verließen wir den Saal, in dem Klawdija, bewaffnet mit einem Eimer und unzähligen Lappen, die dunklen Flecken von den Teppichen beseitigte, und nahmen die Treppe in den ersten Stock. Von einem kleinen Vorraum gingen an zwei Seiten schmale Gänge ab. Rosa wies jedoch mit einer Kopfbewegung auf ein kleines Sofa und ein paar Sessel am Fenster.

»Wir warten hier, bis geputzt ist. Vielleicht wollen Sie doch eine Zigarre? Sind Sie sicher? Ich hingegen würde mit Ihrer Erlaubnis ... Verzeihen Sie mir diesen ordinären Zug ...«

Sie biss das Ende der dicken braunen Zigarre ab. Auf dem Couchtisch vor dem Sofa stand ein Aschenbecher, lagen Streichhölzer. Rosa legte den Zigarrenkopf in den Ascher und zündete mit einem der langen Streichhölzer gekonnt die Zigarre an.

Ein seltsamer Anblick, eine Frau mit einem ordentlichen ›Kolben‹. Das ruft sofort Empörung seitens der Männer hervor. Freud hätte in diesem Zusammenhang sicherlich auch ein Wörtchen mitzureden. Ich setzte mich neben sie und sah mich um. Der Raum erinnerte an das Foyer eines kleinen Hotels. Die Wände zierten Lampen. Gaslampen! Im kalten Kamin fanden sich akkurat aufgeschichtete Holzscheite.

»Das ist ein Hotel«, informierte Rosa uns. »Eine Herberge. Ein Gasthof. Ganz wie Sie wollen.«

Schweigend nickte ich.

»Ich wurde im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig geboren«, erklärte Rosa feierlich und bedachte uns mit einem herausfordernden Blick. »Ich habe nicht die Angewohnheit, ein Geheimnis aus meinem Alter zu machen.«

»Sie haben sich gut gehalten«, sagte Kotja. Er setzte sich nicht, sondern blieb am Fenster stehen. »Und nun erzählen Sie. Wir glauben Ihnen jetzt alles.«

Ich zauderte kurz, dann griff ich nach der Flasche. Armenischer Prasdnitschny. Laut Etikett noch zu Sowjetzeiten hergestellt. Ich schenkte drei Gläser ein, obwohl Rosa den Kopf schüttelte.

»Seit meiner Jugend habe ich im Hotelgewerbe gearbeitet«, berichtete sie. »Zunächst im Hotel meines Vaters, in Samara ... Dann bin ich nach Petersburg gefahren. Alles kann ich hier nicht aufzählen, aber bei Ausbruch der Revolution war ich im Europa angestellt, als Assistentin des Direktors. Ich habe dort gearbeitet, als die Bolschewiki ein Heim für Straßenkinder daraus machten und als während der NÖP-Zeit wieder Ordnung ins Hotel einkehrte. Bis ich dann 1925 verurteilt wurde.«

»Als Politische?«, fragte ich.

»Nein, ich habe gestohlen«, antwortete Rosa gelassen. »Sie müssen sich das vor Augen halten, die Zeiten damals ... Jeder hat so gut es ging ums eigene Überleben gekämpft. Gegen mich wurde ein Verfahren eröffnet. Für eine Flucht war es in meinem Alter schon zu spät. Wenn ich als Mann auf die Welt gekommen wäre, hätte ich mich erschossen, das war damals sehr modern. Emanzen konnte ich allerdings noch nie leiden. Sollte ich mit einem Loch im Kopf im Leichenschauhaus rumliegen? Ich bitte Sie! Und Gift schlucken? Das ist etwas für hysterische Mädchen. So harrte ich also des natürlichen Laufs der Dinge. Und plötzlich setzte eine Teufelei ein, die es in sich hatte! Ich gehe zur Arbeit und habe nur eins im Kopf: Heute holen sie dich zum Verhör. Oder morgen. Und mit einem Mal erkennt mich niemand mehr! ›Wo willst du denn hin, Großmütterchen? Wir haben keine Zimmer frei.‹«

Sie lachte leise vor sich hin. Ich nickte.

»Also gehe ich nach Hause. Mein Mann, Gott hab ihn selig, guckt mich komisch an. Sagt aber nichts. Wir essen und gehen zu Bett. Am Morgen wacht er auf - und fängt an zu zetern! Wer ich bin, was ich in seinem Bett zu suchen habe ... Er ist doch wirklich ein Narr, oder etwa nicht? Da findet er eine Frau in seinem Bett, na gut, sie ist nicht mehr ganz jung - aber trotzdem könnte er die Gelegenheit doch beim Schopfe packen! Ich schreie ihn an: ›Hast du den Verstand verloren, du alter Brummkopf? Ich bin deine Frau!‹ Aber er heult los, seine Frau sei vor fünfzehn Jahren verstorben, liege auf dem Friedhof, er sei ein anständiger Witwer und lasse sich von einer alten Hexe nicht sein Zimmer wegnehmen ... Ich spucke ihm ins Gesicht für diese Worte - und stürze aus dem Haus. Drei Tage lang streife ich durch Piter. Ich schlafe auf der Straße, bettle und grübele darüber nach, ob ich verrückt geworden bin. Plötzlich spricht mich ein Briefzusteller an. Mitten auf der Straße. Können Sie sich das vorstellen? Er händigt mir ein Telegramm aus. Das enthält eine Adresse im Litejny Prospekt und fordert mich auf, dorthin zu kommen. Da ich nichts zu verlieren habe, begebe ich mich zu der Adresse. Neben dem Offizierscasino entdecke ich ein kleines Geschäft. Ich guck mir das Schaufenster an - und falle fast in Ohnmacht. In welchen Zeiten lebten wir denn damals?! Aber hinter der Scheibe ballte sich der reinste Luxus! Roter und weißer Fisch, lebende Krebse, roter und schwarzer Kaviar, Wein und Champagner, frisches Filet, eingelegtes Gemüse, Oliven in Salzlake, glasierte Früchte, Schokolade ... In den besten NÖP-Jahren hatte ich dergleichen nicht gesehen. Nur unter dem Zaren, aber da auch nicht in allen Geschäften ... Und die Leute laufen einfach dran vorbei! Als ob sie all das nicht bemerkten! Mir will das einfach nicht in den Kopf! Schließlich betrat ich den Laden!«

Sie musterte Kotja und mich, gleichsam als wolle sie sich vergewissern, ob wir ihr glaubten oder nicht. Sie sog an ihrer Zigarre und fuhr dann fort: »Irgendwann taucht der Besitzer auf, ein gepflegter junger Mann, sieht mich durchdringend an und sagt: ›Sie fallen ja gleich vor Hunger in Ohnmacht, verehrte Dame ...‹ Daraufhin bewirtet er mich mit Speisen und Getränken, mit allem Drum und Dran. Er sagt weiter: ›Vermutlich haben alle Sie vergessen? Auf der Arbeit weiß man nicht, wer Sie sind? Ihre Familie erkennt Sie nicht mehr?‹ Ich nicke. Daraufhin erklärte er mir alles ... genau das, was ich jetzt Ihnen erklären werde.«

»Nein, solche Wunder gibt es nicht«, meinte Kotja finster. »Wir werden nichts mehr zu hören kriegen. Entweder bricht gleich ein Feuer aus oder ein Erdbeben.«

»Dieser Kaufmann hat mir also erzählt, dass ich eine Auserwählte bin.«

Kotja schnaubte.

»Das Leben ist kurz. Sie können das noch nicht verstehen, aber mit sechzig Jahren sind auch Sie davon überzeugt, falls Sie so alt werden. Wie heißt es doch so schön im Volksmund: Ob Zar, ob Zimmermann - jeden holt der Sensenmann. Aber ...« Rosa hob belehrend den Finger. »... das ist das Schicksal der normalen Menschen! Ganz anders verhält es sich, wenn man in seinem Metier die Höhe wahrer Meisterschaft erreicht hat.«

»Zum Beispiel im Hotelgewerbe?«, fragte Kotja in ironischem Ton.

»Ja, zum Beispiel«, bestätigte Rosa. »Oder im Zimmermannshandwerk. Oder in der Malerei. Oder in der Kriegskunst. Diese Menschen sterben nicht. Sie werden Meister. Und fallen aus dem Leben heraus!«

Ich erschauderte.

»Einfache Menschen vergessen dich«, fuhr Rosa mit einem Hauch von Mitleid fort. »Sowohl Verwandte als auch Freunde. Deine Papiere zerfallen. Dein Platz im Leben verödet, als seist du nie geboren worden oder schon vor langer Zeit gestorben. Dafür avancierst du zum Meister und kannst ewig leben. Manchmal in deiner eigenen Welt. Manchmal in einer anderen. Eben da, wo du am dringendsten gebraucht wirst.«

»Freimaurer«, sagte Kotja. »Und Parallelwelten.«

Rosa stimmte ein leises, nachsichtiges Gelächter an. »Glauben Sie doch der Boulevardpresse oder billigen Schreiberlingen nicht, junger Mann ... Was haben die Freimaurer damit zu tun? Ganz normale Menschen, die es in ihrem Beruf zu wahrer Meisterschaft gebracht haben, beginnen ein neues Leben, werden zu Meistern ...«

»Oder zu Funktionalen?«, warf ich ein.

»Ja, manche bezeichnen uns so«, bestätigte Rosa. »Aber wir Russen sollten die Sprache nicht derart verschandeln. Meister! Das ist ein schönes, ein stolzes Wort! Ich bin ein Meister in meinem Fach, im Hotelgewerbe. Sie sind, wie ich sehe, als Zöllner ein Meister. Wie außergewöhnlich, dass Sie das bereits in so jungen Jahren geschafft haben.«

»Ich bin kein Zöllner«, widersprach ich.

»Ich bin doch nicht blind!« Rosa lächelte. »Sie sind einer von uns. Sie sind ebenfalls ein Auserwählter!«

»Hier gibt’s keine Feuerzeuge«, bemerkte Kotja und nahm Rosa gegenüber Platz.

»Wie bitte? Was für Feuerzeuge?«

»Achten Sie nicht weiter auf mich ...« In Kotja erwachte jetzt sein professionelles journalistisches Interesse. »Dann leben Sie also schon achtzig Jahre hier? Ohne älter zu werden ...«

»Sie sehen es ja.«

»Ist das denn nicht die Erde?«

»Das ist Kimgim.« Rosa sprach das Wort weich, fast mit einem ukrainischen Akzent, aus. »Die geografischen Gegebenheiten sind hier etwas anders, aber diese Stadt liegt etwa da, wo sich bei Ihnen Stockholm befindet. Aber für diese Dinge habe ich mich nie sonderlich interessiert.«

»Und wie sind Sie an dieses Hotel gekommen?«

»Jeder Meister, junger Mann, erhält einen Ort, an dem er seine Talente entfalten kann. Als ich hierhergekommen bin - durch das Zollamt am Nikolajewski-Bahnhof - stand an dieser Stelle eine halb verfallene Scheune. Aber ich habe gespürt, dass sie mir gehört. Mit jeder Nacht, die ich in dem Gebäude zubrachte, veränderte es sich. So lange, bis es genau meinen Wünschen entsprach.« Nach kurzem Stocken fügte Rosa hinzu: »Wenn ich meiner Phantasie freien Lauf gelassen hätte, wäre hier ein Hotel entstanden, das größer als das Europa wäre. Andererseits haben mir immer die kleinen, anheimelnden Hotels gefallen.«

»Sie altern also nicht ... Ihnen wurde die Möglichkeit geboten, Ihrem geliebten Beruf nachzugehen, und Sie haben ein Hotel an die Hand bekommen, das ganz Ihren Wünschen entspricht ... Außerdem verfügen Sie über bestimmte übermenschliche Fähigkeiten ... Ihre Wunden verheilen im Nu... Gibt es sonst noch etwas?« Während Kotja all diese Dinge aufgezählt hatte, hatte Rosa bestätigend genickt. »Sie ... Sie sind sozusagen kein Mensch?«

»Ich bin ein Meister«, stellte Rosa klar.

»Gibt es viele von Ihrer Sorte? Leben Sie in mehreren Welten und reisen von einer zur anderen? Gibt es all das schon lange? Jahrzehnte? Oder Jahrhunderte? Warum weiß niemand etwas von Ihnen?«

»Wieso sollte denn niemand etwas von uns wissen? Sie, Konstantin, sind ein gewöhnlicher Mensch. Aber ihr Freund, der Meister, vertraut Ihnen. Und jetzt wissen Sie etwas über uns. Mit der Zeit werden Sie auch andere Meister entdecken, diese Fähigkeit lässt sich gewissermaßen trainieren. Klawa und Petja können schon lange Meister von gewöhnlichen Menschen unterscheiden.«

Rosa genoss das Gespräch, das ließ sich nicht übersehen. Sicherlich war es ihr nicht allzu oft vergönnt, junge Meister zu belehren. Und sie machte nicht den Eindruck zu lügen.

Nur: Was sollte ich für einen Meister abgeben? Was um alles in der Welt für einen Zöllner? Welche Höhen hatte ich erreicht, dass ich mich unversehens in einen Übermenschen verwandelte?

»Und wer regiert Sie?«, ließ Kotja nicht locker.

»Regiert wird die Masse, junger Mann«, antwortete Rosa schmunzelnd. »Wir sind Meister. Wir sind uns selbst genug.«

Ich hätte sie daran erinnern können, dass noch vor einer halben Stunde ein selbstgenügsamer Meister des Hotelgewerbes an einen Sessel gefesselt dasaß, beherrschte mich jedoch. »Dann wissen Sie also nicht, wer Sie überfallen hat?«, fragte ich stattdessen.

»Welche von hier«, antwortete Rosa knapp. »Allem Anschein nach gehörte zu denen auch ein Mensch, der über uns Bescheid wusste. Da haben sie Jagd auf ...«

Plötzlich kniff sie die Augen zusammen und drückte die Zigarre energisch im Aschenbecher aus. Der beißende Geruch ließ mich das Gesicht verziehen.

»Die sind Ihretwegen gekommen, Kirill Danilowtisch! Doch, ja ... ganz bestimmt! Sie wussten, dass Sie mich aufsuchen würden, und wollten Sie gefangen nehmen. Freilich haben sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Sagen Sie, meine jungen Freunde, weshalb sind Sie eigentlich zu mir gekommen?«

»Jemand hat uns darum gebeten«, antwortete Kotja kleinlaut. »Eine Da... ein W... eine Frau. Sie hat einen Zettel für uns zurückgelassen, wonach wir eine weiße Rose suchen sollten, dann würden wir Antwort auf all unsere Fragen erhalten. Wir haben geglaubt, wir sollten eine Blume finden. Erst später ist uns klar geworden, dass es sich um das Hotel handeln musste ...«

»Man hat Sie in eine Falle gelockt! Aber die haben sich alle verrechnet!« Rosa schlug die Händen überm Kopf zusammen. Diese Ungeheuerlichkeit steigerte das theatralische Gebaren der Alten noch. »Wie niederträchtig! Ich werde mich mit dem hiesigen Meisterwachmann in Verbindung setzen ... Sie haben Ihre Nachbarn vermutlich noch nicht kennengelernt?«

Ich schüttelte den Kopf. Im Unterschied zu Kotja verspürte ich keinerlei Enttäuschung. Allerdings konnte ich mir den Zusammenhang zwischen der Nachricht für uns und diesem Hinterhalt beim besten Willen nicht erklären.

»Wir müssen jetzt zurück«, sagte ich. »Wir machen uns dann mal besser auf den Weg.«

»Sind Sie denn noch bei Trost!« Missbilligend schüttelte Rosa den Kopf. »In diesem Schneesturm? Weshalb? Übernachten Sie hier. Überzeugen Sie sich selbst davon, was die Gastfreundschaft eines Meisters heißt! Und Klawa kocht ganz vorzüglich, Sie werden erstaunt sein, was sie für eine exzellente Köchin ist...«

»Wir sollten besser in den Turm zurückkehren«, beharrte ich. »Sie ... Sie müssen das doch verstehen. So von einem Meister zum anderen.«

Das half. »Ja, natürlich«, meinte die Alte. »Ja, das verstehe ich ... Sie wohnen also auch in einem Turm?«

»Wieso auch?«

»Wenn Sie wüssten«, erklärte Rosa, während sie sich erhob, »wie leicht die Phantasie von Männern vorherzusehen ist. Die Hälfte der Meister zieht es vor, in einem Turm zu leben.«

Kotja quittierte das mit einer unzufriedenen Miene, sagte jedoch kein Wort. Wir gingen nach unten, wo inzwischen fast alle Spuren des Kampfs beseitigt waren. Petja schrubbte Flecken von den Wänden, seine Mutter klapperte in der Küche laut mit Geschirr.

»Jetzt haben wir Winter«, brachte Rosa traurig hervor. »Sie müssen mich im Sommer besuchen. Dann sind viele Gäste hier, fröhliches Gelächter erschallt, in den Vasen stehen Blumen. Ich lade Musiker aus der Stadt ein, jemand spielt Klavier ...«

»Und warum ist jetzt niemand hier?«, wollte Kotja wissen. »Gut, es ist Winter. Aber trotzdem? Die Uferstraße liegt verlassen da, nur die Laternen brennen, die Häuser sind verrammelt.«

»Na ja ... es ist halt keine Saison ...«, wiederholte Rosa. Unvermerkt schlichen sich Wehmut und Verlegenheit in ihren Blick. »Da kann man nichts machen. In kleinen Hotels am Meer ist das immer so. Und die Ortsbewohner ... die fliegen ebenfalls aus.«

Kotja sah mich an. »Wir sollten wirklich aufbrechen«, sagte er. »Es war sehr ...« Er heftete den Blick auf Petja, der geistesabwesend den Putzlappen im Waschbecken ausspülte. Der Lappen färbte das Wasser rot, und Kotja brachte, das Wort ›angenehm‹ verschluckend, nur noch hervor: »... Sie kennenzulernen.«

In dem Moment klopfte es an der Tür. Rosa Dawidowna fuhr zusammen. Petja ließ den Lappen fallen und verharrte mit offenem Mund, Klawdija spähte zur Küchentür heraus.

»Wenn die zurückgekommen sind ...«, setzte Rosa an. »Aber Sie können uns doch beschützen, nicht wahr, Kirill Danilowitsch?«

Ich zuckte mit den Achseln.

Rosa lugte kurz zum Lüster hinauf - der daraufhin prompt erstrahlte. Mit stolz erhobenem Kopf ging sie zur Tür, um sie weit aufzureißen.

In die Diele wogte Nebel, flogen ein paar Schneeflocken. Vor der Tür stand ein Mann in einem grauen Kapuzenmantel, Stiefeln und Fellmütze. Er mochte vierzig oder etwas älter sein. Und er trug ein höchst alarmiertes Gesicht zur Schau. Erst als er mich hinter Rosa bemerkte, stahl sich Erleichterung in seinen Blick.

»Meister?«, brachte Rosa verwundert hervor. »Oh ... guten Abend.«

»Hinter dem Hotel liegen fünf Leichen«, sagte der Mann, ohne Zeit mit der Begrüßung zu verlieren.

»Das war schrecklich, Felix!« Rosa faltete die Hände vor der Brust. »Irgendwelche verrückten Menschen haben das Hotel überfallen! Sie haben den jungen Meister gesucht ...«

»Sie haben mich gesucht«, schnitt ihr Felix das Wort ab. »Gehen wir, junger Mann. Du bist nicht allein?«

»Ein Freund hat mich begleitet.«

»In Ordnung, dann könnt ihr beide mitkommen ...«, meinte Felix stirnrunzelnd, bevor er sich wieder der Alten zuwandte. »Rosa Dawidowna, ich bitte Sie, besser aufzupassen. Sie wissen doch, wie sehr Sie uns fehlen würden, falls etwas nicht Wiedergutzumachendes geschähe.«

»O Felix...«

Warum auch immer, aber ich wollte mich nicht streiten oder Zeit verlieren. Ich packte Kotja am Ärmel und zog ihn hinter mir her. Petja sah uns mit naiver Neugier nach, Klawa bekreuzigte sich rasch und flüchtig, Rosa Weiß schickte Felix einen Blick voll stummer Vergötterung nach.

Wir traten in das Schneegestöber hinaus.

Die Kutsche wartete direkt vor der Tür. Ein normaler Phaeton, angesichts des Schnees mit hochgeklapptem Verdeck, freilich nicht auf Rädern, sondern auf Kufen. Ihm waren zwei Pferde vorgespannt, deren Zügel an eine unauffällige Säule neben dem Hoteleingang gebunden waren. Eine hell leuchtende Laterne, die an der rechten Seite des Wagenkastens angebracht war. Ihr Licht fiel gerade noch auf die in zehn Meter Entfernung aufgestapelten Leichen, die der Schnee langsam unter sich begrub.

»Hat Rosa Dawidowna euch viele Märchen erzählt?«, erkundigte sich Felix, während er die Tür hinter sich zuzog.

Kotja lachte nervös los.

»Ja«, sagte ich erleichtert. »Dass sie 1867 geboren worden sei ...«

»Dass sie sich immer jünger machen muss«, brummte Felix. »Welche Rolle spielt es schon, ob sie siebenundfünfzig oder siebenundsechzig geboren wurde? Aber sie muss einfach immer schwindeln ... Bestimmt hat sie euch erzählt, sie sei Hoteldirektorin gewesen, oder?«

»Direktionsassistentin.«

»Zimmermädchen war sie. Und das wird sie auch immer bleiben. Ihr Hotel ist nichts anderes als der Traum eines Zimmermädchens. Sauber, warm und kein einziger Gast.« Felix verzog das Gesicht. »Steigt ein, Kinder. Hier können wir nichts mehr tun.«

»Sie hat Sie Meister genannt ...« Ich ließ den Satz unbeendet, aber Felix verstand meine Frage.

»Noch so eine alberne Erfindung. Meister! Darauf muss man erst mal kommen ... Wir sind lediglich Funktionale. Aber darüber können wir uns im Schlitten unterhalten!«

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