Letzten Endes hatte Borges doch unrecht.
Neben den drei großen Sujets gibt es mindestens noch eins, das unsere Aufmerksamkeit verdient.
Das ist der Verrat durch einen Freund und die Untreue der Geliebten.
Es hätte keinen Krieg gegeben, die lustigen griechischen Kleinkönige hätten sich nicht auf die Suche nach Ruhm (doch wenn wir ehrlich sein wollen, nach Reichtum) begeben, Troja nicht belagert, und Odysseus hätte sich auf der Heimfahrt nicht verirrt, wenn Helena nicht mit Paris durchgebrannt wäre. Jim Hawkins wäre nicht in Gesellschaft von Friedensrichter Trelawney und Doktor Livesey Hals über Kopf losgesegelt, um die Schatzinsel zu suchen, die Piraten hätten das Fort nicht gestürmt und der arme Ben Gunn wäre nach all den Jahren doch nicht nach Hause gekommen, wenn Billy Bones seine Kumpane nicht übers Ohr gehauen hätte und mit der Karte abgehauen wäre.
Andererseits wüssten wir ohne die Untreue Helenas nichts von der Treue Penelopes.
Liebe und Freundschaft sind es, um derentwillen wir Untreue und Verrat hinzunehmen haben.
Trotzdem ist es immer hart, verraten zu werden.
Seufzend wandte Kotja den Blick ab. Schuldbewusst zuckte er mit den Achseln. »Du kannst es ja mal ausprobieren ...«, sagte er. »Woher weißt du, dass ich ein Kurator bin?«
»Natalja hat es mir gesagt.«
»Sie hätte dir das gar nicht sagen können.« Kotja schüttelte den Kopf. »Natalja wusste nicht, dass ich ein Kurator bin. Sie hat noch nicht einmal geahnt, dass ich überhaupt ein Funktional bin.«
»Stimmt. Sie hat nur von einem Kurator gesprochen. Dass du das bist, da bin ich selber drauf gekommen. Leider erst zu spät.« Ich konnte mich nicht beherrschen und hob die Stimme. »So was kommt nicht vor, dass in Dateien die Erwähnungen von Funktionalen erhalten bleiben! So was kommt einfach nicht vor! Der Polizist, der ehemalige Historiker, hat sich darüber beklagt, dass nicht einmal jetzt seine Briefe irgendwo eintreffen und die Dateien sich löschen. Wenn euer Ziel darin besteht, die Menschen aus ihrem Leben herauszureißen, sie daran zu hindern, etwas Wichtiges zu unternehmen, dann bleiben die Daten nicht erhalten. Dann existieren keine Spuren mehr! Fotos verschwinden, Zeugnisse und Kinderzeichnungen. Und da macht dein Computer plötzlich eine Ausnahme? Pah! Verkauf mich doch nicht für dumm, Konstantin!«
Kotja nickte. »Was willst du?« Er breitete die Arme aus. »So ist das immer. Das alles war doch nur gut gemeint ... Mir hat es ohnehin nicht gepasst, dich in ein Funktional verwandeln zu lassen. Noch dazu durch diese Idiotin! Diese frigide bösartige Versagerin. Mir gefallen die da, die von Arkan, selbst nicht, falls dich das beruhigt!«
»Das heißt, du selbst bist also nicht von dort?«
»Nein, Kirill! So einfach ist das alles nicht. Hast du etwa wirklich geglaubt, man schicke aus Arkan eine Landeeinheit von Hebammen samt Chef hierher - die dann die Welt umgestalten sollen?«
»Ungefähr so habe ich mir das zusammengereimt.« Meine Zähne klapperten in einem fort, was Kotja nicht entging. Seufzend öffnete er seine dicke Jacke, reichte sie mir und stand jetzt selbst nur noch in seinem warmen Pullover da. »Zieh die an!«
»Nein, danke.« Ich schüttelte den Kopf.
»Dann leg sie dir wenigstens über die Schultern! Du bist jetzt ein normaler Mensch, du wirst dich sonst erkälten!«
Ich schaltete nicht länger auf stur, dazu war es einfach zu kalt. Mit einiger Mühe brachte ich es am Ende fertig, die Jacke zu schließen.
»Die Dinge liegen etwas anders«, fuhr Kotja fort. »Die Kraft, über die ein Funktional verfügt, ist nicht von ihm ... nicht nur von ihm allein. Sie gehört auch der Welt, in der er lebt. Zu uns kann niemand aus Arkan kommen und anfangen, die Menschen in Funktionale umzuwandeln. Zunächst müssen die einen Kurator finden. Jemanden, der sich alles selbst beibringt, mit ihrer Hilfe natürlich. Er wird ... drücken wir es mal so aus ... die Kontrolle über die Situation insgesamt behalten. Er wird eine globale Entscheidung treffen und die Verantwortung für alles, was passiert, übernehmen.«
»Also bist du einer von uns?«, fragte ich begriffsstutzig.
»Ja! Stärker von uns geht’s gar nicht!« Kotja brach in schallendes Gelächter aus.
»Wie alt bist du?«
»Na ja ... älter als ich aussehe.« Kotja winkte ab. »Aber ich glaube, die Jugend zeigt sich in der Seele. Oder etwa nicht?«
»Kotja.« Nur schwer fand ich Worte. »Aber wieso? Wozu? Warum erlaubst du ihnen das? Weshalb machen sie das mit uns?«
»Was, weshalb?«, ereiferte sich Kotja. »Glaubst du denn, diese Halbidioten hätten das Paradies auf Erden? Pah! Die haben den technologischen Fortschritt ausgebremst, diese Idioten ... Ein Fädchen aus dieser Welt, ein Fädchen aus jener Welt, und schon ist der Kaftan hergestellt ... Bei ihnen toben beispielsweise in ganz Afrika Kriege. Warum? Weil es keine Sklaverei gab! So kompliziert ist das nämlich auf der Welt eingerichtet! Der ganze Kontinent ist eingekesselt, sie versuchen alle diese Großen Äthiopiens, Sonnigen Sudans und Glücklichen Zululänder zu befrieden. Aber dabei kommt nichts heraus! Dafür treffen Ströme von Flüchtlingen ein. Man kann aus fremden Fehlern nicht lernen, Kirill!«
»Aber das haben sie doch!«
»Das glauben sie. Aber ich bin der Ansicht und werde auch zukünftig dieser Ansicht sein, dass eine Zivilisation ohne Fortschritt in Wissenschaft und Technik in Stagnation verfällt und stirbt. Deshalb habe ich für unser beider Erde den Weg einer forcierten wissenschaftlich-technischen Entwicklung gewählt. Ja, ich habe ihn gewählt! Mir wurden nämlich auch andere Varianten offeriert.«
»Und die Kriege?«, sagte ich stur. »Wir haben doch auch überall Kriege. Und Katastrophen.«
»Das sind unvermeidliche Folgen des Fortschritts«, widersprach Kotja scharf. »Ein Opfer muss man immer bringen. Entweder Epidemien, die ganze Länder auslöschen, oder Menschen, die einander ausrotten. Ich habe für unsere Erde diesen Weg gewählt, Kirill. Das gebe ich offen zu. Aber nur, weil keine würdige Alternative existierte.«
Mein Zorn verpuffte. Schrumpfte in sich zusammen wie ein geplatzter Luftballon. Vielleicht ging das zum Teil auf Kotjas speziellen Charme zurück. Zum Teil lag es jedoch auch an seinen überzeugt vorgetragenen Erklärungen.
»Du brauchst auf meine Worte nichts zu geben«, fuhr Kotja müde fort. »Ich könnte mit den Arkanern einfach etwas arrangieren, mir werden sie das nicht abschlagen. Schlimmstenfalls könnte ich selbst einen Durchgang öffnen. Dazu bin ich nämlich durchaus imstande!«
»Und dann?«
»Dann besuchen wir sie«, erklärte Kotja. »Damit du dich selbst davon überzeugen kannst, ob es ihnen gut geht. Danach kannst du dann entscheiden, ob es nötig ist, ein besseres Schicksal zu suchen als das, was wir auf unserer Erde haben!«
Er trat auf mich zu und fasste nach meinem Ärmel.
»Rühr mich nicht an«, bat ich.
»Warum spielst du die beleidigte Leberwurst, Kirill? Ich durfte dir doch nichts enthüllen! Auch ich habe meine Verpflichtungen und Prinzipien. Wenn du willst, hau mir eins auf die Ohren, auf die sensiblen Punkte! Na, mach schon, ich werde mich nicht wehren!«
»Die haben Nastja ermordet.«
»Woher sollte ich das wissen?«, rief Kotja. »Woher um alles in der Welt hätte ich das wissen sollen? Ich würde Natalja dafür selbst gern einen Kopf kürzer machen, wenn du sie nicht schon umgebracht hättest! Geplant war doch, dass ihr euch einigt. Natalja sollte euch eine Art Hausarrest erteilen - und damit basta! Ich hab’s ja gewusst. Ich hab ja gewusst, dass man einem sexuell unbefriedigten Weib nicht über den Weg trauen darf! Um Nastja tut es mir leid, Kirill! Aber selbst ich kann sie nicht von den Toten auferstehen lassen.«
»Tut es dir wirklich leid um sie?«, fragte ich.
»Ja. Sehr. Ich bin kein Engel. Was ich alles schon miterleben musste - du würdest grau werden und nachts vor Furcht schreien.« Mit einem Mal blickten seine Augen ungewöhnlich hart drein. »Aber wenn eine schöne junge Frau stirbt, leide ich immer mit.«
»Du bist ein Misanthrop, Kotja«, winkte ich müde ab. »Selbst als Kurator.«
»Schon möglich. Aber mach du erst mal zwei Weltkriege und eine Handvoll Revolutionen durch, dann wirst du genauso ... Gehen wir, Kirill! Selbst mir wird es zu kalt! Warum zierst du dich wie eine Achtklässlerin vorm Gynäkologen!«
»Und ordinär.«
»Hab du erst mal tausend Freundinnen ...«
»Ich bin nicht du. Ich bin kein Funktional mehr, mir winken solche Eroberungen nicht mehr.«
»Jetzt hör auf, den Dummkopf zu spielen!« Kotja zog mich jetzt hinter sich her. »Wir werden schon einen Ausweg finden. Als Erstes suchen wir dir eine interessantere Arbeit. Wie wäre es als Hebamme, hä? Dann brauchst du nicht mehr an der Leine zu gehen! Allerdings müsstest du in einer anderen Welt arbeiten, das ist nun mal die Regel ... Aber Kimgim hat dir doch gefallen, oder? Und Orysaltyn ... Kennst du diese wunderschöne Stadt? Ihr Moskau, wenn du so willst ... Ich bin häufig da.«
Mir schwirrte bereits der Kopf von alldem, was in der letzten Stunde geschehen war. Ich wollte mich betrinken. Oder hinlegen und einschlafen. Oder am besten: betrinken und einschlafen.
Aber als Kotja mich zu einem verschämt am Straßenrand stehenden Nissan zog, staunte ich dennoch nicht schlecht. Kein allzu teurer Wagen, aber ich hatte immer angenommen, Kotja könne gar nicht fahren - bei seiner Kurzsichtigkeit.
»Wozu trägst du eine Brille?«, fragte ich, als ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
Kotja ließ den Motor an und schaltete die Heizung ein. Er rieb die Hände gegeneinander und behauchte sie. In der Tat, auch er war durchgefroren.
»Die Brille?« Er warf mir einen belustigten Blick zu. »Damit gefalle ich den Weibern besser. Mit Brille sehe ich naiv und unschuldig aus.«
Ich hüllte mich in Schweigen.
Der Motor lief warm, Kotja fuhr vom Gehsteig auf die Straße. Er lenkte das Auto virtuos, das registrierte ich sofort. Vermutlich tat er alles virtuos. Eben wie ein Kurator...
»Weißt du, am Ende ist es sogar besser so«, bemerkte er nachdenklich. »Natürlich tut es mir um Nastja leid ... Aber dafür brauche ich dir jetzt nichts mehr vorzumachen. Und du bist deine Leine los. Was ist nun? Willst du Hebamme werden? Das ist sehr interessant, glaub mir! Außerdem sollten diese Funktion ohnehin Menschen mit Herz besetzen, mit Empathie ... nicht jemand wie diese Iwanowa ... Ich sterbe vor Neugier, Kirill! Wie hast du sie denn nun kaltgemacht?«
»Das war eigentlich nicht ich. Der Turm.« Seufzend erinnerte ich mich an das seltsame Gefühl, mit dem die unsichtbare Verbindung zu meiner Funktion zerrissen war. »Eine Szene wie aus einem Horrorfilm. Die Decke hat sich gespalten, und ein nacktes Kabel hat sich um Nataljas Hals geschlungen und sie nach oben gezogen. Dann haben sich die Platten wieder zusammengeschoben. Wie Kiefer.«
»Das ist nicht gelogen?«, fragte Kotja.
»Nein. Genauso ist es gewesen.«
Kotja riss das Steuer scharf herum. Wir fuhren gerade aus dem Tunnel heraus auf die Rigaer Brücke zu, aber er bog nicht auf den Prospekt ein, sondern in eine zu dieser frühen Stunde wie ausgestorbene Straße, die uns nach Ostankino brachte. Er hielt am Straßenrand, den Garagen und Flugzeughallen säumten.
»Das ist schlecht, Kirill«, meinte er, den Blick auf mich gerichtet, mit unverfälschter Traurigkeit. »Du machst dir ja gar keine Vorstellung, wie schlecht das ist.«
»Warum? Lebt sie noch?«
Kotja schüttelte den Kopf. »Kennst du den Witz vom Jungen und Väterchen Frost?«
»Welchen?«
»Den, wo der Junge Väterchen Frost sieht und schreit: ›Du lebst ja! Du existierst ja!‹ Daraufhin antwortet Väterchen Frost: ›Ja, ich existiere wirklich. Und jetzt muss ich dich umbringen.‹«
Der Motor knurrte, aus der Heizung blies uns warme Luft entgegen. In der Ferne ratterten die Räder der Eisenbahn. Die Autos fuhren jetzt schon in einem ununterbrochenen Strom über die Brücke. Die Stadt erwachte, die Stadt begann einen neuen Tag.
Kotja sah mich streng und betrübt an.
»Warum, Kotja?«, wollte ich wissen.
»Das braucht dich nicht mehr zu interessieren«, sagte Kotja bitter.
Seine Hand schnellte vor und schloss sich um meine Kehle. Nur die linke Hand - und dennoch glaubte ich, eine Schmiedezange hielte mich gepackt. Mir wurde schwarz vor Augen, die Welt fing an, sich in einem Abschiedswalzer zu drehen.
»Es tut mir sehr leid ...«, drang aus der wattigen Leere Kotjas Stimme zu mir durch.
Mit letzter Kraft, in der es bereits keinen Funken Verstand mehr gab, blind und hilflos schlug ich mit der rechten Hand auf ihn ein, wobei ich auf seinen Kopf oder seinen Hals zielte. Kotja machte eine beiläufige Geste, als vertreibe er eine Fliege - doch ich begriff, dass er mir mit dieser spielerischen Bewegung alle Knochen meiner Hand zu brechen gedachte.
Sie brachen nicht.
Sein Block, gut und solide, stand, aber ich überwand ihn trotzdem. Und meine ungelenk geballte Faust traf Kotja am Kinn.
Es sah aus, als sause eine Abrissbirne durch das Auto, die in diesem Fall jedoch nicht die Mauern der Häuser einriss, sondern Konstantin Tschagin die Fresse polierte. Es fegte seine Hand einfach von meiner Kehle weg. In einem Halbrund aus spritzendem Blut flog Kotja zusammen mit der Tür aus dem Wagen. Glas splitterte, die eingeknautschte Tür legte sich ihm wie ein eisernes Jabot um den Hals. Im Flug verhakte sich sein Fuß am Lenkrad, das er samt Stange herausriss. Das Steuer wurde rund zehn Meter weggeschleudert, wobei sich unterwegs der Airbag aufblies, sodass jenes gänzlich unschuldige Bauteil darauf sanft wie eine Raumsonde im Schnee landete.
Kotja lag da und schüttelte den Kopf. Aus der Tür hagelte es Glassplitter. Insgesamt erinnerte er stark an einen Eisbären, der das Wasser von sich abschüttelt.
Ohne etwas zu begreifen, krabbelte ich aus dem Auto. Irgendwo in den Metallgedärmen des zerbeulten Nissans fiepte die Alarmanlage los - und verstummte wieder, als sei sie zu dem zutreffenden Schluss gelangt, es übersteige ihre Kräfte, die Situation zu ändern.
»Du hast gelogen!«, schrie Kotja. Seine Stimme klang heiser bis zur Unkenntlichkeit, anscheinend hatte seine Kehle Schaden genommen, als der Kopf den ganzen Körper hinter sich hergezogen hatte - wobei einem normalen Menschen der Kopf freilich ganz abgerissen worden wäre.
»Nimm es mir ruhig krumm«, sagte ich.
»Wie hast du ... warum ...« Torkelnd richtete sich Kotja auf. Erschrocken streckte er die Hand in meine Richtung aus. »Bleib stehen! Wir müssen miteinander reden!«
Ich jedoch ging weiter auf ihn zu. Noch verstand ich nicht, warum mir ein Schlag gelungen war, der einem Polizistenfunktional zur Ehre gereicht hätte. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht wusste, ob mir der Trick noch einmal glücken würde.
Stehen bleiben durfte ich jetzt jedoch nicht. Niemals darfst du zeigen, dass du lediglich einen einzigen Trumpf in der Hand hältst, ansonsten aber nur wertlose Karten.
»Wir waren doch mal Freunde ...«, setzte Kotja an und verstummte prompt. Ihm war klar, dass es uns jetzt nicht gelingen würde, miteinander zu reden.
Daraufhin zeichnete er mit einer sanften Bewegung, als dirigiere er ein unsichtbares Orchester, eine Wellenlinie in die Luft. Er zeichnete sie wirklich, denn die Luft im Kielwasser seiner Finger loderte auf und formte ungeläufige Schriftzeichen.
Kotja tat, die Autotür noch immer um den Hals, einen Schritt vorwärts, hinein in die flammende Schrift - und verschwand spurlos.
Das Feuer trübte sich ein und verflüchtigte sich in der Luft zu weißem, schweflig riechendem Rauch.
Ich hockte mich hin und lehnte mich gegen einen der schmutzigen Autoreifen. Ich wischte mir den Hals ab. Wie müde ich war ...
Der vernickelte Ring funkelte an meinem Finger.
»Danke, Nastja«, sagte ich aus irgendeinem Grund. Das klang pathetisch und überflüssig, aber ich musste unbedingt etwas sagen.
Ich wollte rauchen. Meine Zigaretten dümpelten noch irgendwo im Turm vor sich hin. Also musste ich aufstehen und das Handschuhfach des Nissans durchstöbern. Ich fand tatsächlich Zigaretten, einfache LM, die Kotja immer geraucht hatte, und mir unbekannte Treasure in einer ansprechenden quadratischen Schachtel von silberner Farbe. Die waren bestimmt teuer. Ohne falsche Bescheidenheit öffnete ich die Schachtel und steckte mir eine an.
Keine schlechten Zigaretten ... Falls sie nicht mehr als einen Fünfziger kosteten, würde ich mir ab und zu eine gönnen ...
In dem Moment klingelte in meiner Hosentasche das Handy.
Ein paarmal ließ ich es klingeln und genoss den aromatischen Rauch. Dann holte ich das Mobiltelefon heraus. »Hallo«, sagte ich, ohne vorher aufs Display geschaut zu haben.
»Wo steckst du denn, Kirill?«
In meiner Brust bummerte es. »Papa?«, fragte ich, meinen Ohren nicht trauend.
»Mama bestimmt nicht! Deine Mutter ist schon sauer, dass du dich nicht meldest. Und die armen Blumen hast du auch vertrocknen lassen. Wann hast du sie das letzte Mal gegossen?«
»Hä?«
»Wann hast du das letzte Mal die Blumen gegossen?«
»Vor ... fünf Tagen?«
»Rauchst du gerade, Kirill?«, wollte mein Vater misstrauisch wissen.
»Ja.«
»Ich hätte nie geglaubt, dergleichen einmal sagen zu müssen, aber ich hoffe inständig, dass es Tabak ist!«, knallte mir mein Vater entgegen. »Wo treibst du dich rum?«
»Also ... ich bin mal hier, mal da ... Die letzte Zeit war ich meist an der Alexejewskaja. In Kimgim, im Reservat ... in Arkan habe ich auch einmal vorbeigeschaut.«
»Ich hatte gedacht, du seist raus aus dem Discoalter«, seufzte mein Vater. »Was ist? Deine Mutter kocht gerade etwas Leckeres, ich habe einen türkischen Raki kalt gestellt. Komm vorbei, dann spendier ich uns ein Gläschen.«
»Das mach ich«, sagte ich. »Ich komme sofort. Ich habe euch so vermisst. Ich liebe euch sehr. Ich muss nur noch schnell einen Abstecher zum Rigaer Bahnhof machen. Was meinst du, kriege ich da Fahrkarten nach Charkow?«
»Vielleicht«, antwortete mein Vater, von meiner ungewohnten Gefühlsduselei irritiert. »Was treibt dich denn nach Charkow?«
»Ähm ... Geschäfte ...«, erklärte ich nebulös, während ich auf meine Beine in den durchgeweichten dünnen Schuhen guckte. »Ach was ... das erledige ich später. Ist euer Schlüssel von meiner Wohnung noch vorhanden?«
»Was hätte er denn machen sollen? Zu Staub zerfallen?«
»Genau das«, bestätigte ich. Das Handy fiepte warnend, und ich trat die Zigarette im Schnee aus. »Mein Handy ist gleich leer, Papa. Ich mach mich jetzt auf den Weg zu euch.«
Ein Auto anzuhalten erwies sich als nicht ganz so einfach. Niemand wollte vor der Brücke anhalten, noch dazu für einen schmutzigen jungen Kerl in Sommerkleidung und einer Jacke, die ihm viel zu klein war. Schließlich bremste ein zerbeulter Sechser mit einem, typisch für Moskau, Orientalen hinterm Steuer.
»Ich muss nach Perowo...«, sagte ich, als ich die Tür öffnete.
»Oho! Steig ein, mein Guter!« Der Fahrer lächelte mich unvermittelt an. Da erinnerte ich mich, dass ich mit niemand anderem als mit ihm vor nicht mal einer Woche durch die Stadt gekurvt war, in dem Versuch, wenigstens irgendeinen Beweis meiner Existenz aufzutreiben.
»Vielen Dank.« Ich nahm Platz. Dann fing ich an, angestrengt nachzudenken. Mein Umzugsgeld hatte es nicht in diese Welt geschafft. »Hör mal ... die Sache ist die ...«
»Du hast kein Geld?«
»Hm«, brummte ich. »Das heißt nein, wenn wir da sind, leih ich mir was von meinen Eltern ...«
»Du brauchst dir nichts von deinen Eltern zu leihen. Das gehört sich nicht, dass ein erwachsener Mann seine Eltern um Geld bittet«, erklärte der Kaukasier. »Sobald du wieder bei Kasse bist, gibst du mir etwas.«
»Wie denn?«
»Aller guten Dinge sind drei. Und wo ich dich jetzt schon zweimal gefahren habe ...«
Ich ließ mich auf den durchhängenden Sitz plumpsen und beobachtete mit stumpfem, teilnahmslosem Blick, wie der Fahrer, dreist von der äußeren Spur wechselnd, in den dritten Ring einbog. Irgendwann steckte ich die Hände in die Taschen von Kotjas Jacke.
In der linken fand ich sein Portemonnaie, das ich ungeniert öffnete. »Falscher Alarm«, teilte ich dem Fahrer mit. »Ich habe noch Geld.«
Falls er Verdacht schöpfte, kleidete er den nicht in Worte.
In der anderen Tasche entdeckte ich Kotjas Handy.
Neugierig rief ich das Adressbuch auf. Einige Namen sagten mir etwas, andere nicht. Beim Namen Melnikow hielt ich inne. Nach kurzem Überlegen wählte ich die Nummer.
»Hallo«, meldete sich der Schriftsteller mit der höflichen, wiewohl ungeduldigen Stimme eines beschäftigten Mannes.
»Guten Tag, Dmitri Sergejewitsch«, sagte ich. »Ich bin Kirill Maximow, der Freund von Kot... von Konstantin Tschagin. Erinnern Sie sich noch an unseren Besuch vor einer Woche? Ich rufe Sie gerade über sein Handy an.«
»Äh ... ja, ja, ich erinnere mich.« Die Stimme des Literaten verlor ein wenig von ihrem offiziellen Klang. »Sie sind doch der junge Mann, der mir diese Geschichte ... ähm ... Und wie stehen ihre Angelegenheiten? Erkennt man sie?«
»Sie haben sich nicht getäuscht, das war das Sujet eines phantastischen Romans, den ich zu schreiben beabsichtige«, erwiderte ich rasch. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das Ganze als reale Geschichte dargestellt habe. Mir war gleich klar, dass Sie mir das nicht abgenommen haben.«
»Wissen Sie, junger Mann, wenn Sie schon all die Geschichten geschrieben hätten, die ich erfunden habe ...« Der Schriftsteller lachte zufrieden. »Nur zu, schreiben Sie Ihren Roman! Mich interessiert, welche Auflösung Sie zu bieten haben. Und sagen Sie, die Sache mit dem Ausweis ...«
»Chemikalien«, erklärte ich. »In der Schule habe ich mich für Chemie begeistert.«
»Ah ja«, brachte Melnikow mit höchster Genugtuung vor. »Habe ich also auch da richtig gelegen. Das sollte Ihnen eine Lehre sein! Glauben Sie nie wieder, ein Fantasyund SF-Autor habe etwas für Mystik übrig.«
»Falls es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gern noch eine kleine Frage stellen!«, bat ich. »Nur eine einzige. Sagen Sie, wie heißt in der Phantastik normalerweise eine Welt, die parallel zu unserer existiert?«
»Was meinen Sie damit?«, fragte der Schriftsteller begriffsstutzig.
»Also wenn jemand einen Planeten entdeckt, der der Erde weitgehend entspricht. Wie heißt der dann? Erde-2?«
»Vermutlich schon«, bestätigte Melnikow. »Es gibt da zum Beispiel einen exzellenten Schriftsteller, ein Klassiker der amerikanischen ...«
»Und wenn gleich ein Dutzend erdgleicher Planenten entdeckt werden?«
Melnikow sagte kein Wort. »Ja?«, fragte er misstrauisch. »Haben Sie die etwa entdeckt? Und nun?«
»Heißen die auch Erde-2, Erde-3 und so weiter?«
»Ich würde doch annehmen, dass im Prinzip die Nummerierung bei Eins anfinge«, antwortete Melnikow wie aus der Pistole geschossen. »Die Bezeichnung Erde-2 unterstriche die Einzigartigkeit unseres Planeten. Sollte die Zahlenreihe jedoch sehr lang sein, würde die Einmaligkeit der Originalerde durch nichts deutlicher betont als durch das Fehlen einer Nummer.«
»Vielen Dank«, sagte ich aufrichtig. »Diesen Gedanken hatte ich auch schon. Danke!«
Ich unterbrach die Verbindung und sah den Fahrer an.
»Ist was nicht in Ordnung?«, fragte er.
»Irgendwas ist nie in Ordnung.«
»Das stimmt. Meine Reifen sind schon völlig runter. Und die Straße ist die reinste Rutschbahn! Was denkt der Bürgermeister sich eigentlich dabei? Eine Großstadt, die Hauptstadt, viele Autos, viel Geld ...«
Ich saß mit geschlossenen Augen da und lauschte seiner weit ausholenden Klage.
»Was haben die Menschen nicht alles entwickelt - und was nützt ihnen das? Hier führen sie Krieg, da liegen sie sich in den Haaren. Wir haben nur eine Welt, und die können wir nicht teilen. Aber das Glück, das kannten wir früher nicht und kennen es auch heute nicht ...«
»Keine Sorge«, antwortete ich. »Glauben Sie mir, das kommt schon alles noch.«
Das Auto holperte über die löchrige Straße und schlingerte immer wieder mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Ich musste zu meinen Eltern fahren. Und außerdem Fahrkarten kaufen. Cashew suchen. Wenn die Zeit der schlechten Wunder anbricht, muss man in sich den Mut finden, gut zu bleiben. Ich fuhr mit dem Daumen über den kalten Metallring und wiederholte: »Das kommt schon noch.«