Irgendjemand hatte mir einmal erzählt, mehr als die Hälfte der jungen Schriftsteller, die die Verlage mit ihren genialen Werken bombardieren, beginne einen Roman mit einer Szene, in der der Held am Kater leidet. Er reißt die verklebten Augen auf, fasst sich tapfer an den zerspringenden Schädel, erinnert sich an die Menge des konsumierten Alkohols, kaut ein Aspirin und trinkt gierig Unmengen Wasser.
Anschließend setzt er sich mannhaft über die Folgen der eigenen Dummheit hinweg, legt ein Kettenhemd an oder schlüpft in einen Raumanzug, greift zur Aktentasche oder zur Tastatur, verlässt das Haus oder wählt sich ins Internet ein. Das Duell jedoch, das der Held mutig mit der Azidose, den Gefäßkrämpfen und der Dehydrierung auszufechten hat, stellt sich in jedem Fall als praktisch unausweichlich heraus. Vermutlich wollen die jungen Literaten ihr Publikum auf diese Weise dazu bringen, sich mit dem Protagonisten zu identifizieren, schließlich ist es den wenigsten von ihnen bislang vergönnt gewesen, die Galaxis zu retten oder den Schwarzen Lord zu besiegen, während der Kampf gegen den Alkohol fast allen bekannt ist.
Eigentlich hegte ich jedoch so meine Zweifel, ob ein Held, sei er nun ein starker Zwerg oder ein junger Jedi, lange in einem Kampf bestehen würde, sofern er sich am Vorabend betrunken hatte. Mit einem Kater lässt es sich vortrefflich leiden, von einer gesunden Lebensweise träumen und mit stumpfem Blick fernsehen - aber Heldentaten vollbringt man in diesem Zustand nicht.
Ich schlug die Augen auf und wusste sofort, ich würde leiden müssen. Wenn ich so sturzbesoffen gewesen war, dass ich es nicht mal mehr ins Bett geschafft hatte ...
Mein Kopf schmerzte jedoch nicht, ich fühlte mich frisch, munter und voller Kraft. Geschlafen hatte ich ebenfalls fabelhaft. Vermutlich hätte ich mich wirklich in den Schnee vorm Turm legen können, ohne in irgendeiner Weise Schaden zu nehmen.
Außerdem bemerkte ich noch, dass ich zugedeckt war und unter meinem Kopf ein Kissen lag.
Das heißt ...
Nachdem ich in den ersten Stock hochgegangen war, fand ich ein leeres Bett vor. Dafür drangen vom zweiten Stock leise Geräusche herunter. Jemand klimperte mit Geschirr. Was für eine häusliche Idylle! Was gibt’s denn heute zum Frühstück, Schatz?
»Was gibt’s denn heute zum Frühstück, Schatz?«, rief ich munter.
Das Geklapper setzte einen Moment aus, um einem unverständlichen Grummeln zu weichen. Nach einer kurzen Pause - als müsse jemand erst rasch zu Ende kauen und schlucken - vernahm ich: »Verdächtig riechende Wurst und knochentrockenes Brot. Möchtest du etwas?«
»Gern«, antwortete ich, während ich mich nach oben begab.
Nastja sah noch immer ziemlich elend aus, mit ihrem kreidebleichen Gesicht und den dunklen Ringen unter den Augen. Sie stand am Tisch und schnitt Wurst, um belegte Brote zu machen. Sie trug nur ein weißes T-Shirt von mir, das lang genug war, damit ein Foto Nastjas nicht als Aktaufnahme durchging, aber durchaus noch als erotisch angehaucht eingestuft werden durfte. Der Po war bedeckt, bis zu den Knien war es jedoch ein weiter Weg.
»Wie fühlst du dich?«, erkundigte ich mich.
»Schrecklich«, gestand Nastja offen ein. »Ich möchte fressen. Nicht essen, sondern fressen. Ich bin stocksauer. Außerdem würde ich noch gern jemanden umbringen.«
»Schrecklich, das ist gut«, sagte ich. » Umbringen, schon weniger.«
»Haben Sie etwa Erfahrung damit?«, fragte Nastja spöttisch.
»Dank dir, ja. Folgt mir in einer Stunde. Findet die Weiße Rose. Ein Mensch wird auf alle eure Fragen antworten.«
»Ja ... und?« Nastja entglitten die Gesichtszüge. Irritiert und misstrauisch sah sie mich an.
»Ich bin dir gefolgt. In der Weißen Rose, einem Hotel, sind wir in einen Hinterhalt geraten. Den Rest ...«
»Nein!« Die Frau schüttelte energisch den Kopf. »Nein, es ist nicht so, wie Sie denken! Überhaupt nicht!«
Ich setzte mich an den Tisch. Mein Blick wollte immer wieder über das untere Ende des T-Shirts hinausrutschen, doch mit einiger Anstrengung schaffte ich es, Nastja in die Augen zu sehen. Dennoch musste sie meinen Blick aufgefangen oder gespürt haben. Sie setzte sich ebenfalls hin. Jetzt trennte uns der Tisch voneinander.
»Dann erzähl mir alles«, forderte ich sie auf. »Wer bist du überhaupt?«
»Nastja Tarassowa ...« Vielleicht hatte die Mitteilung von dem Hinterhalt sie schockiert, möglicherweise hatte ich auch nur den richtigen Ton getroffen - auf alle Fälle stand sie mir jetzt wie eine Musterschülerin, die ihre Eltern mit einer Zigarette und einer Flasche Bier beim Anschauen eines lesbischen Pornos erwischt hatten, Rede und Antwort.
»Sehr schön. Wie alt bist du?«
»Neunzehn.«
»Hervorragend«, höhnte ich. »Hast du wenigstens die Schule schon beendet?«
»Was? Ich ... ich studiere.«
»Vermutlich Physik und Mathematik«, schnaubte ich.
»Nein, an der Fakultät für Historiker und Archivare ...«
Diese Antwort wollte ich schon als Ironie ihrerseits abtun - doch das Gespür des Zöllners verriet mir, dass Nastja die reine Wahrheit sagte.
»Du studierst also. Gut ...«, sagte ich gedehnt. »Was ist das für ein Kerl, mit dem du durch den Turm gegangen bist?«
»Das geht Sie nichts an!«
»Und ob mich das etwas angeht!« Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und schnappte mir ein belegtes Brot vom Tisch. »Steckst du hinter dem Ganzen? Besser, du legst die Karten jetzt auf den Tisch! Wer ist der Typ?«
»Das ist ... ein Freund.«
»Ein Freund«, wiederholte ich in ironischem Ton.
»Es ist nicht so, wie Sie denken!«
»Anscheinend ist nichts so, wie ich denke! Es interessiert mich nicht, ob du für ihn die Beine breit machst. Wer ist er?«
»Sie lügen«, sagte Nastja plötzlich. »Es interessiert Sie ... Ja, er ist mein Liebhaber! Schließlich bin ich eine erwachsene Frau!«
»Wer ist er?«
»Ein Geschäftsmann. Er ist im ... Investment- und Consultingbereich tätig.«
»Alles klar. Was für eine überaus ehrenvolle Beschäftigung! Woher weiß er etwas von den Funktionalen?«
Weshalb biss ich mich so an ihm fest? War ich am Ende tatsächlich eifersüchtig?
»Ihre Beschäftigung ist natürlich besser - Türen aufund zumachen«, murmelte Nastja. »Er ist ein guter Mensch. Außerdem zahlt er ehrlich seine Steuern, das hat er mir selbst gesagt ...«
»Das sagen sie jetzt alle. Woher weiß er etwas von uns?«
»Ich habe ihn nicht gefragt«, antwortete Nastja achselzuckend. »Er hat mir vor einem halben Jahr davon erzählt ... Am Anfang habe ich geglaubt, er scherze bloß ... Doch dann sind wir immer wieder in Kigim gewesen und auch in anderen Städten ...«
»In Kimgim.«
»Von mir aus auch das, als ob das eine Rolle spielt! Ich bin oft mit ihm mitgegangen, allerdings haben wir andere Zollstellen benutzt. Bis er mich dann angerufen und mir gesagt hat, auf der Vierten gäbe es ein phänomenales Konzert ...«
»Auf der vierten?«
»Ja, auf Erde-4, in Antik ... Von Moskau aus kommt man da nur schlecht hin, einfacher ist es, durch den Turm an der Semjonowskaja in die Neunte zu gehen, dort einen Kilometer zu Fuß zurückzulegen und über einen anderen Turm ganz bequem nach Antik zu gelangen ...«
Mit einem Mal begriff ich, dass die Zollstellen anscheinend eine Affinität zueinander hatten. Wenn sie willkürlich in den Welten verteilt gewesen wären, dürfte es kaum die Möglichkeit geben, mit einem Fußmarsch von einem Kilometer von einer zur anderen zu gelangen. Auch bei mir standen ein Turm in Kimgim und einer in Nirwana ja in Reichweite ... Vermutlich dürfte das für die anderen Moskauer Türme auch gelten.
»Gut, ihr wolltet also nach Antik zu einem Konzert«, fasste ich zusammen. »Weiter.«
»Als ich zu Mischa gefahren bin, hat er mir gesagt, es gebe eine neue Zollstelle, wir könnten über Kimgim gehen, das spare Zeit. Allerdings müssten wir dann noch einmal über die Erde, über Wiesbaden, dann nach Frankfurt, von dort aus würden wir dann ganz bequem nach Antik gelangen ...«
Ich betrachtete die Frau mit neuen Augen. Gewiss, heutzutage kriegt man häufig Sätze wie »Wir sind übers Wochenende auf die Krim geflogen« oder »Wir haben das Wochenende in der Türkei verbracht« zu hören. Selbst Touristen, die ausgefallenere Wege beschreiten - »Wir fliegen nach Frankreich, denn es ist nicht schwer, ein Visum zu bekommen, dort mieten wir ein Auto, fahren nach Italien und verbringen den Rest der Zeit dort« - sind heute in der Mittelklasse gang und gäbe. Vom Trampen und dem Versuch, mit hundert Euro in der Tasche nach Portugal und zurück zu reisen, ganz zu schweigen.
Aber hier ... Für einen Konzertbesuch in einer Welt durch zwei andere zu gehen, um Zeit zu sparen - alle Achtung.
»War das Konzert denn gut?«, fragte ich.
»Das hat sich zerschlagen. Schade. Die Gruppe Rand hat gespielt, Trommel und Flöte, das ist sehr schön ...« Mit einem Mal wurde Nastja verlegen. »Sie haben vermutlich noch nie etwas von ihnen gehört?«
»Wir wollen nicht abschweifen«, sagte ich. Insgeheim dachte ich jedoch über all die unzähligen Gruppen nach, die ich schon gehört hatte, wenn ich irgendwo zu Besuch war oder im Internet chattete. Gruppen, die seltsame Ethnomusik fabrizierten, über die man nichts herausbekam, von Aufnahmen, Links oder der kleinen eingeschworenen Fangemeinde abgesehen, die von Gerüchten und Mythen zehrten. Wie viele dieser Gruppen stammten eigentlich nicht aus unserer Welt? Wie viele Aufnahmen kamen aus Kimgim, Antik oder einer anderen bewohnten Welt, um sich im Ozean der terrestrischen Musik aufzulösen? »Ihr habt also beschlossen, über meine Zollstelle zu gehen. Was hatte dieser Zettel zu bedeuten?«
»Damit habe ich nichts zu tun.«
»Ich habe doch gesehen, wie du ihn hast fallen lassen, Nastja.«
»Stimmt, das habe ich. Mischa hat mich darum gebeten.«
»Was?«
»Mischa. Hat. Mich. Darum. Gebeten«, seufzte Nastja. »Er hat vorgeschlagen, den Zöllner ein bisschen an der Nase herumzuführen, da er quasi noch ein grüner Junge ist, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Wir lassen für ihn einen Zettel fallen, dann wird der Zöllner uns folgen und das Hotel finden, wo die Alte ihm alles erzählt. Wir haben da einmal übernachtet ...«
Sie verstummte und sah mich mit einem ach so ehrlichen Blick aus ihren blauen Kulleraugen an.
»Du hattest Zeit, dich vorzubereiten«, wies ich sie kopfschüttelnd zurecht. »Nastja, ich bin Zöllner.«
»Ja, und?« Nastja breitete die Arme aus.
»Ich spüre eine Lüge. Lass uns auf diese dummen Ausreden verzichten. Weshalb hast du mich in das Hotel gelockt?«
»Wir führten nichts Schlimmes im Schilde ...«
»Ja, ja. Deshalb hat diese Truppe von jungen Idioten auch die Alte und die Hotelangestellten gefoltert. Sogar das Kind. Anschließend haben sie mich angegriffen ...«
»Lebt Illan noch?«, wollte Nastja rasch wissen, sobald ich kurz schwieg.
»Die Frau? Das ehemalige Arztfunktional?« Manchmal begreife ich sehr schnell. »Fragen kannst du nachher stellen. Jetzt will ich erst mal ein paar Antworten hören.«
»Warum eigentlich?« Unversehens schaltete Nastja auf stur.
»Vielleicht weil ich ein Funktional bin?« Ich nahm einen Löffel vom Tisch und verbog ihn akkurat zu einem Knoten. Meine Finger taten mir dabei zwar weh, aber der Knoten gelang nicht übel.
»Ein schöner Sherlock Holmes«, schnaubte Nastja.
»Vielleicht könntest du mir ja auch aus Dankbarkeit antworten?«, schlug ich vor. »Weil du hier sitzt und Tee trinkst und nicht in der entzückenden Gesellschaft irgendwelcher Junkies rumsabberst.«
Sie errötete. »Vielen Dank ... Darüber bin ich wirklich ...«
»Jetzt erzähl«, befahl ich.
Nastja schwankte. Dann schüttelte sie den Kopf, spielte ihre Chancen durch und fügte sich schließlich in das Unvermeidliche. »Ich bin eine Untergrundkämpferin«, platzte sie heraus.
»Schon lange?«
»Seit fünf Jahren.«
»Oh, oh!« Ich staunte nicht schlecht. Anscheinend sprach sie die Wahrheit. »Warst du im Zirkel ›Junge Untergrundkämpfer‹?«
»Ich habe Illan gerettet. Sie hat sich mit ihren ... Leuten überworfen und ist dann in unsere Welt gekommen. Die haben sie gejagt. Ich habe ihr geholfen, sich zu verstecken ... daraufhin hat sie mir alles erzählt.«
»Es ist doch kein Zufall, dass du diesen netten Herrn Mischa kennst«, brachte ich bedächtig hervor. »Der Untergrund hat dir diesen Auftrag erteilt.«
»Das geht Sie nichts an!«, rief Nastja abermals.
»Ist ja schon gut ...«, beschwichtigte ich sie. »Wie du meinst. Dann erzähl mir, diesem bösen Funktional, doch bitte mal, wogegen ihr mutigen und guten Mädchen eigentlich kämpft?«
»Sie brauchen sich gar nicht über uns lustig zu machen«, meinte Nastja. »Unsere Bewegung besteht aus Frauen und aus Männern. Außerdem ... glaube ich nicht, dass Sie böse sind. Es tut mir leid, dass Sie überfallen wurden ... dass alles so gekommen ist.« Plötzlich lächelte sie und fügte überraschend hinzu: »Sie sind sehr nett.«
Das verwirrte mich. »Mit Mischa werde ich ja wohl nicht mithalten können ...«, brummte ich. »Übrigens kannst du mich einfach duzen. Ich bin ja nur ein paar Jahre älter als du.«
»Vor allem nach dem, was gestern Abend passiert ist ...« Nastja lächelte. Ihre Verlegenheit war verschwunden. Vermutlich nachdem sie bemerkt hatte, dass sie mir gefiel.
So ist das doch immer! Eine Frau braucht bloß mitzukriegen, dass sie einem Mann gefällt, schon fängt sie an zu kokettieren und hält sich für Gott weiß wie toll.
»Zu meinem übergroßen Bedauern«, stimmte ich ein Lamento an, »ist überhaupt nichts passiert. Von einer kalten Dusche abgesehen. Was ist jetzt? Willst du mich duzen?«
»Wie du meinst.«
»Ich bin erst seit drei Tagen Funktional, Nastja. Vieles verstehe ich deshalb noch nicht. Außerdem hat mich auch niemand gefragt, ob ich überhaupt eins werden möchte. Aber momentan sehe ich keinen Grund, warum eine nette junge Frau gegen Funktionale kämpfen sollte.«
»Wir kämpfen gegen die Macht der Funktionale.«
»Klopf, klopf, klopf!« Ich hatte mich über den Tisch gebeugt und Nastja gegen den Kopf gestupst. Durcheinander wie sie war, wich sie nicht einmal zurück. »Hallo da im Oberstübchen, ist vielleicht jemand zu Hause? Nein, niemand? Was für eine Macht, bitte schön?«
»In allen Welten haltet ihr Kontakt zur lokalen Elite und seid ihr gefällig!«, ratterte Nastja herunter. »Ihr nutzt Privilegien, die normale Menschen nicht genießen. Ihr habt eine Geheimpolizei. Ihr verschweigt die Möglichkeit, zwischen den Welten hin und her zu reisen.«
»Das sind ja ganz grauenhafte Verbrechen«, befand ich achselzuckend. »Worin besteht denn das Verbrechen, mit der lokalen Elite zusammenzuarbeiten? Erlassen die Funktionale etwa Gesetze? Üben sie Druck auf die jeweilige Regierung aus?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Nastja ehrlich. »Aber ihr seid mit der Macht verbandelt ...«
»Überall auf der Welt ist jemand mit der Macht verbandelt. Poeten preisen Herrscher, Geschäftsleute boxen für sich vorteilhafte Gesetze durch. Aber was haben wir damit zu tun? Wir führen unser eigenes Leben. Wir sind gezwungen, uns den Regierungen vor Ort unterzuordnen, nicht umgekehrt. Insofern dienen wir ihnen natürlich, das stimmt.«
»Eben darum geht es doch! Ihr dient der Macht, nicht dem Volk!«
»Und wie sollen deiner Ansicht nach die Funktionale dem Volk dienen? Auf hunderttausend Menschen kommt ein Funktional. Soll etwa ein Arztfunktional ... hm, tausend Kranke pro Tag untersuchen? Oder ich - soll ich pro Tag zehntausend Sonnenanbeter durch den Turm zum Strand lassen?«
»Warum eigentlich nicht?«, entgegnete Nastja patzig. »Reiß die Tür auf und lass die Leute durch ...«
Ich dachte kurz darüber nach. »Nein«, meinte ich kopfschüttelnd. »Das würde nicht klappen. Ich bin verpflichtet, mit jedem persönlich zu sprechen. Ich muss überprüfen, ob er etwas schmuggelt. Pro Person brauche ich mindestens eine Minute.«
»Woher weißt du das?«
»Das spüre ich«, antwortete ich. »Hm ... Das ist einfach das Wissen in seiner reinen Form. Ich kann nicht alle Türen im Turm sperrangelweit aufreißen, Nastja. So läuft das nicht. So funktioniert das nicht. Ein Mensch muss in den Turm eintreten. Dann schließe ich hinter ihm die Tür. Ich unterhalte mich mit ihm. Um ihn dann in eine andere Welt zu lassen. Kein Funktional kann allen zu Gefallen sein, die das wünschen. So wie nicht alle in ein Flugzeug steigen und übers Wochenende ans Meer fliegen können. Dafür reichen weder die Flugzeuge noch der Treibstoff oder die Flughäfen aus. Und meine Möglichkeiten sind genauso begrenzt. Oder nehmen wir mal ein Friseurfunktional ... Da heißt es, jemand fabriziere ganz hinreißende Frisuren ... die Menschen könnten den Blick gar nicht davon abwenden. Aber auch er schafft nur zwei, drei, vielleicht fünf Kunden am Tag ...«
Anscheinend hatte ich Nastja überzeugt.
»Willst du damit sagen, ihr seid so etwas wie Luxusgegenstände?«, fragte sie spitzfindig.
»Na ja, nicht gerade Gegenstände ... Stell dir einen Sänger vor. Mit einer wunderbaren Stimme. Alle wollen ihn hören. Aber er kann nur ein Konzert pro Tag geben. Was heißt das? Trägt der Sänger die Schuld daran, nicht alle glücklich machen zu können? Oder der Arzt, der sensationelle Operationen durchführt, während Tausende von Kranken ...«
»Schon gut.« Nastja verzog das Gesicht. »Aber warum dient ihr nur der Macht?«
»Was heißt das, der Macht?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. »Zu mir ist ein Satiriker gekommen. Dann ein Sänger ... mit Freunden. Dein Freund ist ein Geschäftsmann. Jeder, der Erfolg hat, erfährt früher oder später von uns und wird zu unserem Kunden. Und weiter im Text. Du hast behauptet, wir würden unsere Fähigkeiten nur zu unserem eigenen Vorteil einsetzen.«
Nastja hüllte sich in Schweigen.
»Du wirst doch schon einmal etwas davon gehört haben, dass eine Hand die andere wäscht, oder? Es wäre doch absurd, wenn wir untereinander nicht unsere Krankheiten behandeln, uns nicht bewirten, uns keine Urlaubsmöglichkeiten zur Verfügung stellen und uns, um das nicht zu vergessen, nicht gegenseitig beschützen würden! So etwas ist undenkbar, Nastja! Außerdem gibt es nirgends auf der Welt hungrige Köche oder obdachlose Hoteliers! Was noch? Die geheime Polizei?«
Nastja nickte.
»Wer soll uns denn sonst beschützen? Soll ich zur Miliz rennen, wenn etwas passiert? Beispielsweise, als deine Freunde die Alte und die beiden unschuldigen Menschen angegriffen haben, die ihr im Hotel helfen? Ihr klagt uns an - aber zu welchen Methoden greift ihr denn selber?«
»Ich wusste nicht, dass es so passieren würde!«, rief Nastja. »Wir wollten ein paar Funktionale gefangen nehmen. Dich, denn du bist noch ganz unerfahren und hattest noch nicht alle Türen geöffnet, und Felix, weil er in Kimgim der Chef ist!«
Kaum begriff sie, dass sie sich verplappert hatte, verstummte sie. Momentan verbiss ich mich jedoch nicht an dieser Aussage. »Und der letzte Punkt«, fuhr ich stattdessen fort. »Du hast gesagt, wir würden die Wahrheit über die Parallelwelten verheimlichen. Gut, lassen wir das einmal gelten. Aber was würde denn passieren, wenn wir die Wahrheit preisgeben würden? Stell dir doch bloß mal vor, wir viele Abenteurer losstürzen, um die neuen Welten zu erobern! Und zwar nicht nur Welten, in denen keine Menschen leben, sondern vor allem in die besiedelten! Wenn wir etwas von den anderen Welten verlauten lassen, aber den Zugang nicht öffnen, wird man uns hassen. Natürlich sind wir stärker als ein Mensch, aber gegen eine ganze Armee dürften auch wir wenig ausrichten können. Außerdem haben wir selbst keine Armeen. Wenn sie Panzer gegen uns einsetzen und ...«
»Einen Turm wie deinen kann man nur mit einer Atombombe zerstören.«
»Ich glaube nicht, dass das irgendjemanden abhalten wird«, entgegnete ich finster. »Versteh doch, Nastja, unsere geringe Zahl zwingt uns dazu, unsere Existenz zu verheimlichen. Wir sind nicht imstande, die ganze Welt ... alle Welten glücklich zu machen. Aber wir helfen den Menschen im Rahmen unserer Möglichkeiten, tragen zum Fortschritt bei ...«
»Du redest schon wie ein Funktional.«
»Ich bin ja auch ein Funktional. Gut, wenn ich mich täusche, dann sag mir doch, worin mein Irrtum besteht.«
»Illan könnte dir das alles erklären.«
»Du weißt ja selbst nicht, warum du gegen uns kämpfst«, warf ich ihr vor.
»Das liegt daran, dass du ... dass du alles irgendwie ganz anders erklärst!« Nastjas Verwirrung ließ sich nicht übersehen. »Es sind die gleichen Dinge, aber wenn du darüber sprichst, hört sich das alles irgendwie völlig normal an.«
»Dann denk halt selbst, mit deinem eigenen Kopf«, sagte ich genüsslich. »Wahrlich eine schöne Heldin des Untergrunds, so eine Partisanenfunkerin ... Was wolltet ihr von mir?«
»Du bist noch neu ... Deine Türen sind noch nicht alle auf. Illan hat gesagt, wir müssten nach Erde-1 gelangen. Das ist die Schlüsselwelt.«
»Existiert die denn?«
»Selbstverständlich!« Nastja bedachte mich mit einem tadelnden Blick. »Unsere Erde ist die zweite. Illan glaubt, die Funktionale kämen von Erde-1.«
»Ich bin aber einer von hier, von Erde-2.«
»Kann schon sein. Aber die ersten Funktionale kamen von Erde-1. Und sie haben ihre Welt gegen alle anderen abgeschottet.«
»Und wer sind die?«
»Das wissen wir nicht. Vermutlich sind es nicht sehr viele.«
»Eine Verschwörungstheorie«, konstatierte ich nachdrücklich. »Weißt du, was das heißt? Dann erklärt man alles mit irgendwelchen Intrigen. Freimaurer, Außerirdische, eine geheime Weltregierung.«
»Das Letztere stimmt ja auch.«
»Quatsch! Nichts davon trifft zu!« Mit der Hand fuchtelnd sprang ich auf. »Alle brauchen meinen armen Turm. Ein Politiker träumt davon, in die Zukunft zu blicken. Ihr sucht Erde-1, die nicht existiert.«
»Wer hat dir das erzählt?«
»Felix.«
Nastja stieß geräuschvoll die Luft aus, sagte jedoch kein Wort.
»Weißt du, was ich dir empfehle, meine verehrte Freundin?«, plusterte ich mich auf. »Geh nach Hause und mach deine Schularbeiten. Bereite deiner Mama und deinem Papa eine Freude, indem du dich anständig benimmst. Spendier dir einen Besuch beim Friseur, damit du hübsch für Onkel Mischa bist, schließlich liebt er schöne Frauen ... Wo ist er eigentlich?«
Mit einem Mal fiel mir auf, dass ich Nastja noch gar nicht gefragt hatte, wie sie nach Nirwana gekommen war.
»Ich weiß es nicht. Wir sind nach Antik gegangen, da haben uns ... zwei Einheimische angesprochen. Ein Polizist und noch jemand.«
»Funktionale?«
»Ja. Sie hatten irgendwoher erfahren, dass ich dem Untergrund angehöre. Deshalb haben sie mich verhört. Ich habe jedoch geschwiegen. Irgendwann habe ich behauptet, ich müsse zur Toilette, und wollte fliehen. Na ja ... sie haben mich gekriegt. Keine Ahnung, was sie mit mir angestellt haben, denn ich bin erst wieder in dem Dorf zu mir gekommen. Ich weiß, was es damit auf sich hat. Jemand hat uns von Nirwana berichtet. Aber ... obwohl ich alles wusste, konnte ich trotzdem nicht aufstehen und abhauen.«
»Und dein Freund?«
Sie hüllte sich in Schweigen.
»Schon verstanden.« Ich nickte. »Du solltest ihm deswegen aber keine Vorwürfe machen.«
»Er hätte mich ganz bestimmt gerettet! Was hätte er denn tun sollen? Sich auf den Polizisten stürzen? Er wäre schon nach Nirwana gekommen, bloß eben später!«
Nastjas Anspannung war unverkennbar, ihre Augen funkelten, im Zweifelsfall würde sie es auf einen Streit ankommen lassen. Deshalb widersprach ich ihr nicht.
»Ja, vermutlich hat er ganz klug gehandelt«, pflichtete ich ihr bei. »Na gut, es hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Nastja. Schön, dass du dich besser fühlst. Schreib mir mal oder schick mir ein Telegramm. Wenn du mal in der Nähe bist, besuch mich.«
»Ich danke dir auch, Zöllner.« Abrupt erhob sich Nastja. »Krieche denen nur weiter in den Hintern, das gelingt dir ganz vortrefflich! Deine Herren werden zufrieden sein!«
Stolz erhobenen Haupts marschierte sie zur Treppe.
»Ich heiße Kirill«, rief ich ihr hinterher. »Willst du etwa so auf die Straße gehen? Nur im T-Shirt?«
Wie angewurzelt blieb Nastja stehen. Der schöne Abgang war ihr vermasselt.
»Na komm ...«
Ich gab ihr eine alte Jeanshose von mir. Sie hing zwar wie ein Sack an ihr, aber nachdem wir ein neues Loch in den Gürtel gebohrt hatten, rutschten sie ihr wenigstens nicht runter. Die Turnschuhe passten dagegen schon besser, waren höchstens eine oder zwei Nummern zu groß. Nastja besaß kräftige Füße.
»Wo wohnst du denn?«
»In der Timirjasewskaja.«
»Hier.«
Ich hielt ihr zwei Hunderter hin. Für das Taxi würde das reichen. Ohne falsche Bescheidenheit stopfte Nastja das Geld in die Hosentasche. Mit einem Mal zeichnete sich auf ihrem Gesicht Unglauben ab. Abermals versenkte sie die Hand in die Tasche und zog mein nicht gerade frisches Taschentuch heraus. Angewidert ließ sie es zu Boden fallen und wischte sich die Hand am Hosenbein ab.
Ich tat so, als wäre mir der Vorfall entgangen. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass es in Moskau nicht regnete. Es war kalt, aber sonnig. Ein bisschen frieren würde sie wohl - denn ich hatte nicht vor, ihr meine Jacke abzutreten.
»Zöllner, wohin ...«
»Kirill.«
»Wohin führt dein neues Fenster, Kirill?«
In der Tat. Es musste ja ein neuer Durchgang entstanden sein!
»Das geht dich nichts an!«, sagte ich. »Tut mir leid, aber deine Erkundungstour ist nun zu Ende. Alles Gute.«
Wortlos begab sich Nastja nach unten. Ich öffnete die Tür, um sie nach Moskau zu entlassen. Fragend sah ich ihr in die Augen. Ob sie schweigend davonziehen würde, um das Gesicht zu wahren?
»Danke«, sagte sie, ohne ihren Widerwillen zu unterdrücken. »Für die Anziehsachen ... und ... überhaupt. Ungeachtet unserer ideologischen Differenzen hast du dich höchst anständig verhalten. Wie ein Mann.«
Daraufhin drehte sie sich um, warf den Kopf hochmütig in den Nacken und stolzierte zur Straße. Erstaunlicherweise sah sie sogar in meinen alten Jeans attraktiv aus.
Seufzend schloss ich die Tür. Woher nahm sie bloß dieses Vokabular? ›Ungeachtet unserer ideologischen Differenzen‹ ... Ob sie in den Zirkel ›Junge Liberale‹ ging?
»Ein nacktes Mädchen lag im Gras, wo ich vorüberschritt«, sagte ich traurig. »Ein andrer hätt’ sie vergewaltigt, ich gab ihr’nen Tritt.«
Ob alle Funktionale solche Probleme mit ihrem Privatleben hatten? Flirteten sie deshalb miteinander? Obwohl: Felix hatte mir ja erzählt, er habe eine Familie, Kinder...
Schluss damit. Was brauchte ich eine Affäre mit einer jungen Abenteuerin? Schließlich lag mir ganz Moskau zu Füßen!
Und obendrein vier weitere Welten. Von denen ich eine noch nicht mal gesehen hatte.
Doch so stark die Versuchung auch sein mochte, als Erstes ging ich die Treppe nach oben, um zu überprüfen, ob inzwischen ein weiteres Stockwerk entstanden war.
Das war der Fall. Ein kleineres rundes Zimmer mit einem einzigen Fensterchen, das nach Moskau ging. An den Wänden zogen sich vom Fußboden bis zur Decke Bücherschränke aus dunklem polierten Holz. Leere gähnte in ihnen. Außerdem gab es noch einen Tisch, neben dem ein gemütlicher tiefer Sessel stand. Und einen Kamin, in dem selbstverständlich kein Feuer brannte, der aber dennoch echt wirkte.
Die leeren Bücherschränke ließen ein seltsames Gefühl in mir aufsteigen. Eine sehnsüchtige, traurige Stimmung. Als ob du irgendwo hinkommst und Berge abgelegter Kleidung, Schuhe und sonstiger Kleinigkeiten entdeckst, aber nirgends Menschen. Als ob sie einfach verschwunden wären.
Na ja, halb so wild. Eine Bibliothek zusammenzutragen, das würde ich schon schaffen.
Ein paar Minuten stand ich da, um die Schränke zu betrachten. Ich malte mir aus, wie lauschig es wäre, an einem kalten Winterabend hier oben zu sitzen, im Kamin ein Feuer zu entfachen, ein Buch aufzuschlagen und, mit einem Blick auf das abscheuliche, matschige Moskau, in aller Ruhe etwas zu lesen. Und ein Pfeifchen zu schmauchen. Es musste unbedingt eine Pfeife sein. Auf dem kleinen Tisch stünde eine Tasse heißen Tees mit Zitrone. Vielleicht auch ein Glas mit einem Tröpfchen eines guten alten Kognaks, gar nicht, um ihn zu trinken, sondern um zwischen den einzelnen Schlucken Tee sein Bouquet zu genießen, bevor ich mich wieder in die Lektüre versenkte.
Ich seufzte - nicht weil ich mich nach einem unerreichbaren Traum verzehrte, sondern in Vorfreude auf jenen Moment, wenn dieser Traum Wirklichkeit würde. Denn das würde er. Ohne jeden Zweifel. Schließlich war ich ein Funktional. Der geborene Zöllner...
Eben! Warum ausgerechnet Zöllner? Warum war ich nicht als Meister des Verkaufs erkannt worden, dem man ein Geschäft zur Verfügung stellte, in dem sich Computer, Fernseher und andere technische Geräte stapelten? Das wäre logisch gewesen.
Achselzuckend begab ich mich in den ersten Stock hinunter. Wenn man erst mal anfängt, überall nachzubohren, vermutet man in der Tat bald überall eine Weltverschwörung. Genau das wollte ich nicht! Sollten sie doch alle zum Teufel gehen! Die Politiker, Untergrundkämpfer und Polizisten! Sollte sich die letzte Tür doch in eine unbewohnte Welt geöffnet haben - mir würde das nur recht sein! Vielleicht war in dieser Welt der Mond irgendwann auf die Erde gefallen, weshalb um den Turm herum Lavaseen lagen und Vulkane brodelten. Oder eine schreckliche Explosion auf der Sonne hatte alles Leben ausgelöscht, und der Turm stünde inmitten von Dünen aus knirschenden Sand, während über ihn ein salpetriger Wind hinwegfegte. Außerdem könnte ich Gefallen daran finden, wenn die Erde sich dort nicht drehte. Es dürfte doch wohl nicht an Katastrophen mangeln, die einen ganzen Planeten unbewohnbar und völlig überflüssig machen! Gegenüber dem Politiker Dima würde ich mit den Schultern zucken, Illan und Nastja zum Teufel schicken und selbst glücklich und zufrieden leben.
Mit diesem Gedanken löste ich die Schrauben vom letzten Fenster.
Im ersten Moment glaubte ich, der Turm stünde im Wald. Das Geäst der Bäume streifte die Fenster. Ein kleines vorwitziges Vögelchen starrte mich durch die Scheibe an. Was denn? Sahen die Tiere den Turm etwa? Die Welt war grün und sonnig, hier hatte der Sommer Einzug gehalten, der normale warme Sommer, nicht dieses grelle Bilderbuch Nirwana, nicht die Tropenpracht, sondern ein ganz gewöhnlicher Moskauer Sommer, ruhig und maßvoll.
Zwischen den Bäumen konnte ich die Spitze des Fernsehturms in Ostankino erkennen.
Also war diese Welt doch bewohnt. Gehörte sie zu den Großen Fünf? Erde-4, Erde-5 oder Erde-6? Oder lag vor mir doch das heiß begehrte Arkan, die Welt, in der alles wie bei uns war - nur schon in der Zukunft?
Oder handelte es sich etwa um die geheimnisvolle Erde-1? Wenn Nastja das gesehen hätte, wäre sie vermutlich nicht freiwillig aus dem Turm gegangen ...
Ich musste diese Welt genauer unter die Lupe nehmen.
Doch als ob ich diesen Moment hinauszögern wollte, trat ich erst vor die übrigen Fenster. Am meisten interessierte mich Erde-17. Ob Kotja sich eines Besseren besonnen hatte und zurückkam? Allein oder mit der Flüchtigen, das war mir egal.
Aber am Strand ließ sich niemand blicken, nur eine leere Bierflasche funkelte im Sonnenschein. Unschön sah das aus. Ich sollte den Müll dort einsammeln.
Das musste jedoch warten. Was auch immer ich mir einzureden versuchte, ich wollte unbedingt in Erfahrung bringen, was ich mit dem letzten Los in dieser Lotterie gewonnen hatte.