Es gibt unterschiedliche Arten von Angst. Man sollte denjenigen, die behaupten, das Schlimmste sei eine unbekannte, unverständliche, sich sonst wo verbergende Gefahr, keinen Glauben schenken. Schrecklicher als alles andere sind die sichtbaren und brutalen Dinge, der kalte Stahl einer Klinge an der Kehle, die unendliche Dunkelheit im Innern eines Pistolenlaufs, der strenge Geruch eines über dich hergefallenen Tiers, das in den Mund strömende Salzwasser, die unter deinen Schritten knirschende Holzbrücke über einem Abgrund.
Erst dann folgen Worte wie: »Ich liebe dich nicht« und »Wir müssen operieren«, erst dann kommt etwas, das in der Dunkelheit schnauft und kauert, kommt der Friedhof in einer Gewitternacht, der erste Sprung mit einem Fallschirm, die Drohung: »Wir werden dich finden, ist das klar?«
Echte Angst ist körperlich, klar und hat dich vollständig im Griff. Du siehst sie, hörst sie, schnupperst sie und spürst sie. Du kannst sie schmecken.
Ein Pistolenlauf riecht nach Pulver und schmeckt nach Eisen. Ein berstendes Brett stinkt verfault. Die vor Angst gespannte Haut am Hals knirscht, wenn die Schneide sie berührt. Die Angst okkupiert all deine Sinnesorgane. Verfügtest du noch über ein sechstes, bemächtigte die Angst sich auch seiner.
Insofern hatte ich noch Glück. Ich stand neben dem Denkmal und betrachtete die Ruinen - die schmerzhaft bekannten Ruinen eines Turms. Ein Turm, genau wie meiner, versteckt zwischen Bäumen, hundert Meter von mir entfernt. Sogar ein Ausschnitt des Flachreliefs war noch erhalten, das Kaninchen im Käfig und die nach ihm ausgestreckte Kinderhand. Die Ziegelmauern waren verkohlt und wirkten abgeschmolzen, es gab keine einzige scharfe Kante, ganz wie bei einem Stück Würfelzucker, das man einen Moment lang in kochendes Wasser getaucht hat.
So sah eine zerstörte Funktion aus.
Langsam fuhr mein Blick über die Stele, den Berg von Blumen, die schwarze Marmorplatte und die Bronzetafel mit der Inschrift: Zum Gedenken an den Moskauer Meteoriten, der am 17. Mai 1919 auf der Erde aufschlug. Die ewige Dankbarkeit der Moskauer gilt allen Astronomen und Gen. Kulik persönlich, der das Nahen des Himmelskörpers bemerkte und die Bürger rechtzeitig vor der Gefahr warnte! Ewiges Gedenken den Genossen, die bei der Katastrophe den Tod fanden!
Etwas darunter und aus irgendeinem Grund nicht mehr in der Tafel, sondern schlicht im Marmor, prangte in bronzenen Großbuchstaben eine weitere Inschrift: BEIM ABSTURZ DES MOSKAUER METEORITEN STARBEN 314 MOSKAUER.
Gewiss, das war keine geringe Zahl. Aber letzten Endes hätte man mit dem Zehnfachen, wenn nicht gar mit dem Hundertfachen rechnen müssen. Selbst angesichts der Tatsache, dass im Jahre 1919 dieser Ort nur unter Vorbehalt zu Moskau gezählt werden konnte - so weit am Rand der Stadt, wie er lag. Und Hut ab vor Genosse Kulik und seinen Kollegen. Das musste man sich einmal vor Augen halten: 1919 das Nahen eines Meteoriten zu bemerken, den Punkt des Absturzes zu berechnen, die Menschen zu warnen, sie zur Evakuierung zu überreden ... Hatte wirklich allein dieses Ereignis ausgereicht, damit die Geschichte einen anderen Lauf nahm? Damit Sowjetrussland sich in ein durch und durch zivilisiertes, freundliches und menschliches Land verwandelte? Warum ist unser Meteorit dann an Russland vorbeigeflogen?
»Ja«, sagte nachdenklich jemand hinter mir. »Zweiundfünfzig Jahre sind jetzt vergangen ... Das ist kein Pappenstiel.«
Ich nickte nur, da ich mich lieber nicht auf ein Gespräch einlassen wollte. Doch schon im nächsten Augenblick drangen die Worte zu mir durch. »Wie viele Jahre haben Sie gesagt?«, fragte ich, indem ich mich umdrehte.
Hinter mir stand ein Opa, jener ältere Herr aus dem Autobus mit Stock und Strohhut.
»Das ist jetzt zweiundfünfzig Jahre her«, wiederholte er.
Alles klar. Bei dieser Welt handelte es sich leider wirklich nicht um Arkan. Das hier war das genaue Gegenteil. Eine Welt, die hinter der unseren zurücklag. Ich hatte eine neue bewohnte Welt entdeckt.
Hurra? Hurra! Und sogleich überfiel mich Argwohn. »Sind Sie etwa vor mir hier angekommen? Durch den Wald? Und zu Fuß?«
»So sind wir, immer direkt.« Der ältere Herr lächelte. »Während Sie mit dem Bus den Wald umfahren haben ... sind wir geradenwegs durch ihn hindurch, über kleine Pfade ... Ich komme jeden Monat hierher, ich kenne alle Wege. Zwanzig Minuten, länger brauche ich nicht.«
»Jeden Monat? Ist bei dem Unglück jemand gestorben, den Sie kennen?«
»Der Herr hatte Erbarmen mit mir.« Der Alte bekreuzigte sich. »Aber wie alles gewesen ist, daran erinnere ich mich noch hervorragend. Ja ... ich erinnere mich. Wollen wir uns vielleicht setzen?«
Er streckte die Hand mit dem Stock aus, um auf die Tische des Cafés zu zeigen. Eine komische Sache ist das: Wenn man mit dem Finger auf etwas deutet, gilt das als unhöflich. Aber mit dem Stock, das ist schon eine beinahe elegante Geste. Ob die Affen das auch schon so handhabten? »Zeig da nicht mit dem Finger, du bist ein Vorfahr des Menschen und verfügst über Werkzeuge! Nimm ein Stöckchen!«
»Gern ... aber ...« Ich zögerte. Bei der Busfahrt hatte ich mir das Fahrgeld ja sozusagen sparen dürfen ...
»Haben Sie kein Geld, junger Mann?« Der Alte lächelte. »Dann erlauben Sie mir, Sie zu einem Krug Bier einzuladen.«
Nach dem Spaziergang wollte ich in der Tat gern etwas trinken.
»Das kann ich doch nicht annehmen«, murmelte ich.
»Gehen wir, mein Junge, gehen wir.« Der Alte klackerte mit seinem Stock auf die Steine. »Ich bin auch bestimmt kein alter Lüstling, der darauf erpicht ist, einen kleinen Jungen kennenzulernen. Und ich bin kein Trinker, der bei einem Gläschen seine Märchen erzählt. Keine Sorge!«
Ich willigte ein. In der Sturheit dieses Alten lag etwas ebenso Komisches wie Anrührendes. Selbstverständlich hielt ich ihn weder für einen Lüstling noch für einen Trinker. Allerdings für einen begeisterten Erzähler, der nichts so sehr liebte, wie über das wichtigste Abenteuer in seinem Leben zu berichten ...
Wir setzten uns unter einen beigefarbenen Sonnenschirm, auf den das seltsam vertraute Logo»Kwass-Fass« gedruckt war. Der Tisch war solide und aus Aluminium, der Stuhl leicht und aus Plastik, dafür aber vorsorglich mit einem Sitzkissen aus knalligem Kunststoff ausgestattet. Der Kellner kam auf uns zu, ein ganz junger Mann. Ein Schwarzer.
»Willkommen, Kir Sanytsch«, begrüßte er den Alten lächelnd. Mir spendierte er ein nicht weniger breites und freundliches Lächeln. »Willkommen.«
»Guten Tag«, erwiderte ich. Der Kellner weckte unwillkürlich Sympathie, und man wollte nur zu gern gleich etwas bei ihm bestellen.
»Sei gegrüßt, Roman.« Der Alte nahm den Hut ab und platzierte ihn penibel auf einem freien Stuhl. Den Stock lehnte er, warum auch immer, gegen den Tisch, obwohl es nur natürlich gewesen wäre, ihn über die Rückenlehne eines Stuhls zu hängen. »Wir hätten gern je einen Krug Bier. Schwarzes Moskauer. Nein, bring dem jungen Mann hier besser ein Jauser Gold, ihm macht die Hitze zu schaffen. Und zum Bier einen kleinen Happen. Hat deine Mutter Piroggen gebacken?«
»Sie schiebt sie gerade in den Ofen.« Der Neger Roman erstrahlte förmlich in seinem Lächeln.
»Richte deiner Mutter einen Gruß von mir aus und bring uns dann später Piroggen«, entschied der Alte. Sobald der Kellner gegangen war, drehte sich mein neuer Bekannter mir zu und brachte verschwörerisch hervor: »Es ist kaum zu glauben, aber die besten Kohlpiroggen in ganz Moskau bäckt seine Mutter. Die ihren ersten Kohl in der Sowjetunion gesehen hat.«
Also existierte die Union auch hier ...
»Bemerkenswert«, erwiderte ich, wobei ich keineswegs die kulinarischen Talente der schwarzhäutigen Einwanderin im Blick hatte.
»Machen wir uns doch erst einmal bekannt«, schlug der Alte vor. »Kirill Alexandrowitsch.«
»Kirill. Kirill Danilowitsch.«
»Ein Namensvetter! Sehr angenehm.«
Die Sommertheke mit den Zapfhähnen fürs Bier und großen bunten Glaskegeln - das war doch wohl nicht Sirup für Brause? - stand vor dem Eingang zum Restaurant. Im Handumdrehen kam der Kellner mit zwei Bierkrügen zurück.
Mit einer geschickten Handbewegung verteilte er die Bierdeckel aus Pappe vor uns auf dem Tisch, auf die er die beschlagenen Seidel setzte. Für den Alten ein tiefschwarzes Porter mit üppiger Blume. Mir ein goldgelbes Helles, das jedoch nicht diese ungesunde Blässe aufwies, die einige mexikanische oder südamerikanische Sorten zeigen.
Das Bier erwies sich als gut. Kühl, leicht, ohne sauren Nachgeschmack.
Nach dem Bier brachte uns der Kellner allerlei Nüsse, einen Käseteller und einen kleinen Räucherfisch.
»Die Piroggen kommen gleich.« Roman legte den Finger an das weiße Schiffchen, als salutiere er zum Spaß, und entfernte sich.
»Also«, fing der Alte an seinem Bier nippend an, »es war im Mai ... Seit dem Ersten Mai machten in Moskau Gerüchte die Runde, denen man jedoch nur geringen Glauben schenkte. Sie wissen selbst, in was für Zeiten wir damals lebten. Ständige Unruhen, Hunger ... Am achten Mai fingen sie dann trotz allem an, die Menschen zu evakuieren. Es hieß, ein riesiger Meteorit würde abstürzen. Natürlich weigerten sich die Menschen, die Stadt zu verlassen. Sie glaubten diese Sache nicht. Sie fürchteten um ihre Häuser, um ihr Hab und Gut ...« Nachdenklich schaute er zum Denkmal hinüber. »Dort steht geschrieben, es seien dreihundertundvierzehn Menschen gestorben. Das ist gelogen! Das sind nur diejenigen, die eine Erklärung unterschrieben hatten: Man hat uns gewarnt, aber wir lehnen eine Evakuierung ab. Sie wurden gezählt. Ich vermute aber, genauso viele hat man nie erwischt und folglich nicht warnen können. Diejenigen nämlich, die ihre Tür nicht aufmachten, die sich versteckten, die von der Macht nichts Gutes erwarteten. Prompt tauchten dann auch etliche Taugenichtse und Diebe auf ... durch die Absperrung konnte ja immer jemand durchschlüpfen. Sie raubten die Häuser aus und ließen die Sau raus. Die ganze Nacht brannten Lagerfeuer, das Gejammer der Betrunkenen hallte durch die Straßen, das Stöhnen der Frauen ... Ich stand mit in der Absperrung. Ach, was haben die Rotarmisten gezetert ... ein Gefluche ohne Ende. Und am Morgen schlug der Meteorit ein.«
»Haben Sie gesehen, wie er niedergegangen ist?«, wollte ich wissen.
»Nein, natürlich nicht. Wo denken Sie denn hin, Kirill! Das war ein Einschlag! Ein fürchterlicher Einschlag, den Spasski-Turm vom Kreml hat es weggehauen ... Über die Erde schien Welle um Welle hinwegzugehen. Ein blendendes Licht erstrahlte, greller als tausend Sonnen. Ein Donnern ... wer da nicht aus Angst anfing zu heulen, dem musste das Trommelfell geplatzt sein. Später hieß es, jemand habe eine Feuerkugel gesehen, die vom Himmel gefallen sei. Andere behaupteten, eine Rauchspur bemerkt zu haben ... Nein, das alles ist Unsinn. Der Einschlag, das Licht und der Donner. Das kam alles von da drüben, von dem Punkt da, und hat sich dann ausgebreitet. Im Umkreis von fünfzig Werst fielen die Telegrafenapparate aus ...«
Nickend schielte ich zu den Ruinen des Turms hinüber.
»Ja, hier hat man ein Denkmal errichtet«, fuhr der Alte fort. »Alles war ausgebrannt, lag in Asche. Aber der Turm blieb stehen. Ein Wunder, nicht wahr?«
»Hmm ...« Ich hob den Bierkrug an die Lippen, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
Ein schrecklicher Einschlag. Über die Erde gingen Wellen hinweg. Ein gleißendes Licht. Gedonner. Ein elektromagnetischer Impuls.
»Und die Telegrafenapparate haben versagt?«
»Ganz genau! Angeblich ist sogar auf den Schiffen in der Ostsee der Funk ausgefallen. Aber das kann auch gelogen sein.«
Ich stellte das Glas ab. »Kirill Alexandrowitsch«, meinte ich kopfschüttelnd, »das war kein Meteorit.«
»Selbstverständlich nicht«, stimmte der Alte mir prompt zu. »Was in Dreiteufelsnamen soll das wohl für ein Meteorit gewesen sein? Wie hätte man im Jahre 1919 seine Flugbahn berechnen wollen? Das war eine thermonukleare Explosion!«
»Aber 1919 ...«
»Hier schrieb man das Jahr 1919. Was genau dem Jahr 1954 auf unser beider Erde entsprach. Das Manöver von Totskoje. Aus einem Bomber haben sie eine vierzig Kilotonnen schwere Atombombe abgeworfen. Das war jedoch nur ein Ablenkungsmanöver. Die Thermonuklearbombe ließ sich nämlich nicht transportieren, deshalb ist sie direkt neben dem Turm zusammengebaut worden.« Der Alte nickte zu den verkohlten Ruinen hinüber. »Ein Riesending war das! In dem Moment begriff ich, dass es höchste Zeit war, Fersengeld zu geben ... Der Turm hat es nicht ausgehalten. Die Mauer hat es weggefegt, für eine Millisekunde tat sich zwischen den Welten ein direkter Durchgang auf. Der ganze Schlag wurde von jener Welt ... also von dieser hier absorbiert. Die Erde stellte sich auf die Hinterbeine. Ein einmaliges Experiment zur Veränderung des Landschaftsprofils ist das geworden. Vermutlich dürfte Erde-12 auch etwas abgekriegt haben. Aber um die tut es mir nicht leid. Was soll ich Mitleid mit Spinnen haben?« Der Alte kicherte. »Spinnen haben mir noch nie gefallen, behaarte und große Exemplare schon gar nicht.«
»Sie sind der Zöllner, der die Tür nach Arkan geöffnet hat?!«, rief ich aus.
»Ganz recht, junger Mann. Kirill Alexandrowitsch Jegorow, der einstige Meister und Zöllner, der ehemalige Mitarbeiter des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR, der ehemalige Major, der ehemalige Held der Sowjetunion. Zum Tode verurteilt wegen der Weigerung, eine Spezialeinheit zur Liquidation antisowjetischer Umtriebe nach Arkan durchzulassen.«
»Aber Arkan ist uns zeitlich fünfunddreißig Jahre voraus! Ich habe gedacht ... der Zugang sei zerstört worden, weil man vom Zusammenbruch der Sowjetunion erfahren hatte und der Zöll... und Sie sich geweigert haben, den Durchgang in unsere Welt zu schließen ...«
»Hat man euch alle einer Gehirnwäsche unterzogen? Das ist völliger Humbug, Kollege! Auf Erde-1 ist die Zeit zurück. Der Durchgang wurde zerstört, nachdem die Kaplan 1918 den Genossen Uljanow-Lenin erschossen hat und die Kommunisten in Panik gerieten, nachdem die Macht in Sowjetrussland schon an eine Koalitionsregierung übergegangen war. Stalin verlangte, Truppen nach Arkan zu werfen und die ›Meuterei‹ zu zerschlagen. Ich habe mich geweigert, eine Einheit durchzulassen. Dann kriegte der Schnauzbart einen Schlaganfall oder jemand aus unseren Reihen hat ihn liquidiert ... aber trotzdem gab die Regierung keine Ruhe. Am Ende opferte man mich. Das war das Werk meiner Freunde, der Funktionale. Ich habe lange Widerstand geleistet, der Turm ist ja fast unzerstörbar.« Der Alte lächelte stolz.
»Dmitri ... ein Politiker ... er wollte wissen, wie die Menschen hier leben ... Stellen Sie sich vor, er wollte Arkan zum Vergleich heranziehen, sah darin eine Art Experimentierfeld! Er wollte herauskriegen, was richtig ist und was falsch, um dann die richtige Entscheidung zu treffen ...«
»Kirill, mein Junge ...« Der Alte sah mich mitleidig an. »Ihr Politiker kommt viel zu spät. Das Experimentierfeld ist unser beider gute alte Erde.«
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Ein Puzzleteil fügte sich zum anderen, das Gesamtbild entstand.
Und es gefiel mir ganz und gar nicht.
Arkan. Erde-1.
Arkan war Erde-1.
»Und alle anderen bewohnten Welten dienen ... ebenfalls als Testgelände?«
Kirill Alexandrowitsch nickte. Er trank einen Schluck Bier. »Natürlich«, antwortete er. »Die Arkaner sind sehr gut darin, praktikable Gesellschaftsmodelle zu entwickeln. Nehmen Sie als Beispiel doch nur einmal Antik. Waren Sie schon dort?«
Ich schüttelte den Kopf. Mir stand nicht der Sinn danach, ihm zu erklären, dass ich noch nicht einmal eine Woche lang ein Funktional war.
»Also es entwickelte sich völlig normal. Dort setzte gerade die Renaissance ein, als hier in Arkan ein völlig neuer Gedanke aufkam: Das Glück des Menschen liegt in überschaubaren gesellschaftlichen Verhältnissen und schlichten technischen Hilfsmitteln. Daraufhin wurde die Welt mit gebotener Sorgfalt zurück in die Antike geschickt. Eine recht interessante Schlussfolgerung. Aber keinesfalls zur Nachahmung zu empfehlen. Man behält es im Auge.« Seufzend schaute er auf die Uhr. »Wollen Sie noch ein Bier?«
»Nein, vielen Dank.«
»Ich werde mir mit Ihrer Erlaubnis noch eins spendieren.« Der Alte winkte den Kellner herbei.
»Wie haben Sie mich erkannt?«, wollte ich wissen. »Schließlich hat man Sie ... Oder sind Sie immer noch ein Funktional? Ich habe nichts gespürt.«
»Nur noch ein ganz kleines bisschen«, antwortete der Alte leichthin. »Immerhin habe ich die Verbindung zu meinem Turm nie völlig durchtrennt. Wenn sie ihn ganz zerstört hätten, wäre ich vermutlich gestorben. Auch meine Fähigkeiten hätte ich dann mit Sicherheit eingebüßt! Aber ich hatte Glück, ein winziges Stück des Mauerwerks ist erhalten geblieben. Daher spüre ich andere Funktionale. Auch sonst verfüge ich noch über ein paar Fähigkeiten ... fremde Sprachen verstehe ich mehr oder weniger, mit dem langen Leben ist es jetzt zwar vorbei, aber immerhin werde ich nicht krank.«
Ich blickte auf den Stock.
»Das ist fürs Image.« Kirill Alexandrowitsch lächelte. »Außerdem nimmt es sich nicht gut aus, wenn ein Greis wie ich allzu munter durch die Gegend hüpft. Ein Stock flößt Respekt ein, lässt mich solide erscheinen ... Also, Ihren Turm, den habe ich gespürt. Sobald Sie den Zugang zu uns geöffnet haben, habe ich das bemerkt. Falls irgendwann wieder jemand nach Arkan kommen sollte, dann, das habe ich immer gewusst, an der alten Stelle. Die Barriere zwischen den Welten ist hier immer noch schwach. Eine thermonukleare Bombe ist kein Spaß, Kirill. Wahrlich nicht.«
»Vermutlich gibt es hier noch immer radioaktive Strahlung ...«, murmelte ich. »Dabei benehmen sich alle ganz sorglos ...«
»Nein, es gab keine Strahlung. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wie das zu erklären ist, weiß ich auch nicht, aber die Strahlung ist nicht durchgedrungen.«
Roman servierte das Bier. »Es ist soweit, Kir Sanytsch«, verkündete er. »Die Piroggen sind fertig. Sie müssen nur noch ein wenig abkühlen.«
Kirill Alexandrowitsch nickte. »Sie wollen mich etwas fragen«, wandte er sich an mich. »Nur zu, keine falsche Scham.«
»Kamen die Funktionale ursprünglich von hier, Kirill Alexandrowitsch?«
»Was heißt das, sie kamen? Sie leben noch immer hier. In andere Welten machen sie lediglich Ausfälle. Um die Einheimischen zu ihrer Funktion zu bringen, zum Beispiel.« Er lächelte. »Sie verfolgen, wie sich die Dinge entwickeln. Beobachter, Spione ... Nennen Sie es, wie es Ihnen beliebt. Mich haben sie übrigens sofort gefunden. Dennoch haben sie eine ganze Weile keinen Kontakt mit mir aufgenommen, sondern nur beobachtet, was ich tat. Mir hat es hier auf Anhieb gefallen. Sogar die Revolution ist hier anders verlaufen, Kirill! Fast ohne Blutvergießen. Einen Bürgerkrieg hat es auch nicht gegeben. Unser beider Erde wird schon seit Langem zum Vergleich herangezogen, deshalb hat man die hiesige Revolution auch unter Kontrolle gehabt. Lange Zeit hat man versucht, Uljanow zur Vernunft zu bringen, hat ihm überdies das eine oder andere erzählt und Filme darüber gezeigt, was auf unserer Erde geschehen ist. Dem Revolutionsführer haben diese Enthüllungen völlig den Verstand geraubt. Er wollte den Arbeitern von den Funktionalen berichten, den roten Terror gegen die Unterdrücker beginnen. Daraufhin wurde er schließlich beseitigt. Man hat an das missglückte Attentat in unserer Welt angeknüpft, damit die historische Kontinuität wenigstens ansatzweise gewahrt blieb. Sie haben ihn erledigt. Und haben begonnen, das Land auf eine andere Bahn zu bringen ... Nein, den überzeugenden Ideen hat man nicht abgeschworen, ganz im Gegenteil ... Damals habe ich mich geweigert, die Soldaten durchzulassen ... Im Nachhinein habe ich dann begriffen, welch warmherzigen Empfang man ihnen bereitet hätte ... Das war also, wenn du so willst, mein Empfehlungsschreiben. Als ich dann mit der Wahrheit über die Bombe nicht länger hinterm Berg hielt ... ich hatte nämlich Angst, die Explosion würde in dieser Welt hier erfolgen ... in dem Moment sind die Arkaner an mich herangetreten.«
»Man hat sie abgeworben«, begriff ich.
»Hm ... wenn du so willst.« Kirill Alexandrowitsch runzelte die Stirn. »Wir sind doch alle Funktionale, oder? Was war ich denn im KGB? Ein Funktional. Ein Mann mit Dienstmarke und Pistole, mit besonderen Möglichkeiten und den meinem Status entsprechenden Privilegien. Als ich Zöllner geworden bin, hat sich daran nichts geändert. Wir alle sind ohne jede Ausnahme Funktionale, Kirill. Und wenn diese Welt nun einmal besser ist? Wenn sie ohne all die Fehler und das viele Blutvergießen auskommt, wenn der Zweite Weltkrieg hier überhaupt nicht stattgefunden hat, wenn die Menschen hier satt und nicht verbittert sind, wenn es auf dem Mond drei menschliche Siedlungen gibt - warum soll ich dann bitte schön meinen Kopf für die Kremlführer hinhalten? Oder für Funktionale aus zweitrangigen Welten, die noch im Sumpf dümpeln?«
»Aber diese eine Erde ist unsere Heimat!«
»Kirill ...« Der ehemalige Zöllner vom Atomversuchsgelände in Totskoje seufzte. »Das hier ist genau dieselbe Heimat. Nur eben so, wie sie sein soll. Von Fehlern befreit. Das hier ist die Reinschrift.«
»Wie sollte es auch anders sein, nachdem sie so schön üben konnten? Eine Revolution ohne Blut, Kollektivierung ohne Hunger, keinerlei Repressionen ... so war es doch, oder? Und es gab den Krieg nicht, dafür aber habt ihr Städte auf dem Mond?« Unwillkürlich hob ich die Stimme. »Wie viele Menschen hat dagegen bei uns allein der Zweite Weltkrieg verschlungen! Noch heute streitet man darüber, ob es zwanzig oder vierzig Millionen waren! Eine Rohfassung, ja?«
»Ich habe selbst gekämpft, Kirill«, entgegnete der Alte scharf. »Ich habe den ganzen Krieg mitgemacht.«
»Bei SMERSCh, der Abwehr?«, fragte ich mit einer Bitternis, die mich selbst überraschte.
Einen ausgedehnten Moment lang schauten wir einander verärgert an. »Reg dich nicht so auf, mein Junge«, lenkte der Alte seufzend ein. »Es ist nun einmal so gekommen, dass diese Welt die primäre ist. Deshalb beobachtet man von hier aus auch andere Welten. Übrigens gibt es nicht nur fünf, sondern mehr als zwanzig Menschenwelten! Spiel nicht den Dummen, Namensvetter. Wo nun schon einmal das Wunder geschehen ist und du den Zugang hierher geöffnet hast, muss es in dir gute Anlagen geben. Und dann ist dein Platz ebenfalls hier!«
»Das ist unehrenhaft«, erwiderte ich.
»Wem gegenüber? Ein normaler Mensch von Erde-2 würde deine Möglichkeiten ebenfalls als unehrenhaft bezeichnen! Regst du dich darüber etwa auf? Es gefällt dir doch, ein Funktional zu sein, oder? O nein, sieh mir in die Augen, Namensvetter! Es gefällt dir doch?«, bohrte der Alte in arrogantem Tonfall.
Ich hüllte mich in Schweigen. Und blickte ihm nicht einmal in die Augen.
»Glaub ja nicht, dass wir hier im Schlaraffenland leben«, meinte Kirill Alexandrowitsch mit gedämpfter Stimme. »Was meinst du denn, warum hier so viele Neger leben? Das sind Flüchtlinge aus unseren afrikanischen Protektoraten. Wir alle helfen ihnen. Die Sklaverei in Amerika gab es nicht, wir haben Afrika in die Lage versetzt, sich aus eigenen Stücken zu entwickeln. Dabei ist allerdings auch nichts Vernünftiges herausgekommen, nur Kriege, Krawalle und Rassismus. Zurzeit testen wir ein Modell, bei dem ein Teil der afrikanischen Bevölkerung aus dem Land geholt und assimiliert werden soll. Wir bringen die Kinder hierher und kappen ihre soziokulturellen Wurzeln, um sie in unserem Geist zu erziehen. Kinderheime taugen dafür nicht, wir nehmen nur russische Pflegefamilien. Unser Kellner kam mit sieben Jahren nach Moskau. Ich erinnere mich noch, wie er als kleiner Junge hier herumgeflitzt ist, die Teller eingesammelt hat ... Wir konnten es ihm einfach nicht abgewöhnen, die Reste aufzuessen. Seine Eltern waren in Äthiopien den Hungertod gestorben, er selbst war ein wandelndes Skelett ...«
Ein Gefühl von Gefahr - heftig und alarmierend - durchzuckte mich. Ich hob den Blick und sah den Alten an. Die Augen Kirill Alexandrowitschs verengten sich zu Schlitzen. Auch ihm war sein Lapsus nicht entgangen.
»Und was ist mit seiner Mama, die nie zuvor Kohl gesehen hatte?«, fragte ich. »Nun, Genosse Major? Was ist jetzt mit den ›Piroggen‹? Haben die schon Stellung bezogen?«
»Haben sie«, erwiderte der ehemalige Major und ehemalige Zöllner kalt. »Spiel nicht den Dummkopf, Kirill. Mir wurde erlaubt, den Durchgang zum Zwecke eines Experiments offen zu halten. Dergleichen wird nicht wieder vorkommen.«
»Wollen Sie vielleicht mitten in Moskau eine Wasserstoffbombe zünden?«
»Dein Turm lässt sich auch mit einfacheren Methoden isolieren. Und mit dir ... mit dir werden wir schon fertig.«
»Und wenn ich ablehne? Wenn ich einfach aufstehe und gehe?«
»Dazu wirst du keine Gelegenheit haben«, erwiderte der Alte lakonisch. Er streckte die Hand nach seinem Hut aus und tat so, als wolle er ihn aufsetzen.
»Das rate ich Ihnen nicht, Meister. Davon rate ich ganz entschieden ab«, sagte ich. »Fassen Sie nichts an, stehen Sie nicht auf, halten Sie die Hände ruhig. Rufen Sie ja nicht Roman. Lächeln Sie.«
»Aber mein Bier werde ich doch wohl trinken dürfen?«, fragte der Alte nach kurzem Schweigen.
»Das ja.«
Langsam trank er von seinem Bier. Meiner Meinung nach lief sein Gehirn dabei auf Hochtouren. Genau wie meins.
Wenn ich recht hatte - und ich spürte, dass dem so war -, dann zog sich um mich herum bereits ein Ring aus Häschern zusammen. Die dürften kaum zu den Leuten gehören, die schon vor mir hier gewesen waren. Aber vor Kurzem war ein Bus mit Touristen angekommen ... Ich schielte zu ihnen hinüber. O ja, unter ihnen gab es auffällig viele junge Männer mit kurz geschnittenem Haar, weiße und schwarze gleichermaßen. Und auch einige Frauen litten an einem Übermaß an Muskelmasse und allzu geschmeidigen Bewegungen. Zudem waren sie für den Sommer höchst seltsam gekleidet. Sie alle trugen entweder ein Jackett oder einen Mantel überm Arm. Einige hatten auch Sporttaschen geschultert ...
»Das sind keine Funktionale«, sagte ich erleichtert. »Das sind bloß Einsatzkräfte von Spezialeinheiten. Ihr habt es nicht rechtzeitig geschafft, oder?«
»Wach auf, mein Junge«, konterte der Alte gereizt. »Wenn dich die Gewehrsalven in Hackfleisch verwandeln, werden dich auch deine Fähigkeiten als Funktional nicht retten!«
»Gehaben Sie sich wohl, Kir Sanytsch«, sagte ich nach kurzem Schweigen.
»Wie du meinst.« Auch der Alte antwortete nicht gleich.
Ich erhob mich, den Krug in der Hand. Am klügsten wäre es jetzt, zum Tresen zu gehen, als verlangte es mich so sehr nach einem weiteren Bier, dass ich nicht mehr auf den Kellner zu warten vermochte. Von dieser Position am Restauranteingang aus könnte ich dann in eine Ecke hechten, über die Straße sprinten, im Wald verschwinden - und zurück zu meinem Turm gelangen ...
Mit einer einzigen raschen Bewegung schnappte Kirill Alexandrowitsch sich seinen Stock. Ohne sich zu erheben, wirbelte er ihn in der Hand herum und schleuderte ihn gegen mich.
Im ersten Moment wollte ich nach dem Stock greifen, ihn fassen, um damit meinerseits auf den übergeschnappten Alten einzuschlagen! Stattdessen tauchte ich jedoch ab. Ich stieß den Stuhl um, fuchtelte unbeholfen mit der Hand, die immer noch den schweren Bierkrug hielt, und schaffte es, mich jene Zentimeter vom Fleck zu rühren, die meine Schläfe vor einer näheren Bekanntschaft mit dem Stock bewahrten.
So traf der Stock den Tisch - und zerquetschte das Aluminium, als handle es sich um Plastik.
Etwas in mir fing zu köcheln an. Stieg in einer heißen Welle die Adern hoch. Mein Herz schlug schwer - und dieser eine Herzschlag dauerte und dauerte. Stille trat ein. Die Luft wurde elastisch und rau.
Ich riss dem Alten den Stock aus der Hand. Der war nicht nur solide, sondern unglaublich schwer. Aus Stahl, gegossenes Blei, anders konnte es gar nicht sein. Das verlangte nach einem echten Kraftmaxe.
Die Welt um mich herum erstarrte. Etwas in der Art hatte ich bereits im Hotel Weiße Rose erlebt, aber längst nicht, bei Weitem nicht in diesem Ausmaß. Der Kellner Roman, der uns anschaute, goss roten Sirup in ein Glas mit Sprudelwasser, das kleine Mädchen, das auf ihre Limonade wartete, sprang ungeduldig und vom Wunsch beseelt, hinter die Theke zu schauen, herum - und blieb in der Luft hängen, um dann im Zeitlupentempo nach unten zu gleiten. Nur ich bewegte mich.
Und Kirill Alexandrowitsch.
Ich versuchte, ihm mit dem Stock eins überziehen, erbarmungslos, mit genau der erbitterten Wucht, mit der auch er zugedroschen hatte. Es gelang mir nicht. Der Alte wich aus und packte den Stock nun seinerseits am Griff. Mit unerwarteter Faszination registrierte ich, dass unsere entschlossenen, von außen kaum wahrnehmbaren Gesten sich nicht einmal ansatzweise in unseren Mienen widerspiegelten. Die Gesichtsmuskeln blieben von der Beschleunigung, die unsere Körper erfasst hatte, völlig unberührt. Und ungeachtet des verbissenen Kampfes lag auf unseren Gesichtern nach wie vor ein wohlwollender und gelassener Ausdruck. So müssen Roboter aufeinander losgehen ...
Die nächsten Augenblicke rangen wir beide über dem Tisch um den Stock, doch unsere Kräfte stellten sich als gleich heraus. Seine Funktion, wenn auch halb zerstört, befand sich eben in unmittelbarer Nähe.
Ich begriff das als Erster. Und ließ den Stock los, kurz bevor Kir Sanytsch der gleiche Gedanke in den Sinn kam.
Er verlor das Gleichgewicht nicht, seine Reaktionsfähigkeit überstieg die menschliche ja doch um einiges. Allerdings vermochte er den Drall nicht völlig abzubremsen, weshalb er in komisch anzusehender Weise nach hinten schoss, den Stock in den ausgestreckten Händen vor sich haltend. Schließlich kollidierte Kirill Alexandrowitsch sehr zu meinem Vorteil mit einem Stuhl und fiel hin.
Da ich nicht die Absicht hatte, den Kampf fortzusetzen, drehte ich mich um und stürmte zur Straße. Solange die Zeit noch beschleunigt war, musste ich meine Chance beim Schopfe fassen. Ich spürte, dass mein phantastischer Zustand nicht mehr lange andauern würde.
Die Einsatzleute reagierten jetzt auch allmählich. Jacke um Jacke, Mantel um Mantel segelte auf den Boden, woraufhin kleine kurzläufige Maschinenpistolen zum Vorschein kamen. All das geschah nach menschlichen Maßstäben unvorstellbar schnell, für mich jedoch absurd langsam.
Am meisten gaben mir einige Figuren zu denken, die nicht nach ihren Waffen langten. Sie hoben lediglich die Hände, pressten sie an den Hals und verzogen das Gesicht, als verspürten sie einen kurzen, zu erwartenden Schmerz. Ich lief gerade an ihnen vorbei, als ihre Hände sich wieder öffneten und kleine Einwegspritzen zu Boden fielen. Quasi im selben Moment bewegten sich die gedopten Einsatzkräfte schneller.
Das Ganze erinnerte an einen Albtraum oder an einen Zombie-Film, in denen sich diese Monster erst hölzern und ungelenk bewegen, dann aber, sobald sie einen lebenden Menschen wittern, an Tempo zulegen. Die erste Maschinenpistole feuerte los, noch langsam, mit kurzen Pausen zwischen den einzelnen Schüssen, paff, paff, paff. Über meine linke Schulter ging eine Salve hinweg in die Luft.
Schlecht. Sehr schlecht. Den Kugeln würde ich nicht entkommen. Wunder geschehen nur im Kino, ein menschlicher Körper vermag sich nicht mit einer Geschwindigkeit zu bewegen, die eine Kugel hinter sich ließe.
Ich sprintete zum Café, da ich mich hinter dem Gebäude in Deckung bringen und mich auf einem Umweg zum Turm durchschlagen wollte.
Mir stürmte jedoch der schwarzhäutige Kellner Roman entgegen. Und er stürmte tatsächlich. In einer Hand hielt er ein Tablett, auf dem zwei Bierkrüge standen, in der anderen ein langes, mit einer bunten Borte am Rand gesäumtes Geschirrtuch.
»Du hast deine Rechnung noch nicht bezahlt!«, schrie er aufgebracht.
Er schoss in meinem Tempo auf mich zu! Also war er ebenfalls ein Funktional!
Ein Kellnerfunktional! Worin wohl seine Spezialität bestand?
Darin, angeschickerte Gäste im Zaum zu halten, beispielsweise?
»Aus dem Weg!« Ich versuchte, ihn zu umrunden, aber Roman kreuzte meine Bahn. Er fuchtelte mit der Hand und führte mit dem Gebaren eines Zauberkünstlers das Geschirrtuch durch die Griffe der Bierkrüge. Als er es halb durchgezogen hatte, drehte er es fest ein, eine nie gesehene Waffe, ein aus einem Handtuch gezwirbelter Strick mit zwei Bierkrügen an den Enden. In den Rand des Tuchs mussten irgendwelche Stäbe eingenäht sein - die sich nun in den Griffen spreizten und die Seidel hielten. Die Schaumflocken und Spritzer hüllten Roman in einen trüben bierigen Regenbogen. Indem er die improvisierte Bola kreisen ließ, kam er auf mich zu.
Verflucht aber auch! Auf meinen Rücken zielten zwei Dutzend Maschinenpistolen, vor mir lauerte ein Migrant aus Äthiopien, der willens war, mit seinem Arbeitswerkzeug für die neue Heimat einzustehen!
Meine Entscheidung war so überraschend und untypisch, dass selbst ich nicht gleich verstand, was ich überhaupt schrie: »Gegen wen erhebst du da die Hand? Gegen einen weißen Herrn?«
Ein umwerfender Effekt! Der schwarze Roman, offenkundig nie zuvor mit Rassismus konfrontiert, erstarrte. Seine Hand öffnete sich, und die sich mit dem Geschirrtuch drehenden Bierkrüge stiegen wie ein losgelöster Hubschrauberrotor in die Höhe. Die Einsatzkräfte, die sich jetzt ihrer Instinkte beziehungsweise der Stimulatoren bedienten, quittierten dies mit einer eindeutigen Reaktion: Sie ballerten auf den gen Himmel verschwindenden funkelnden Kreis. Langsam rieselte gläserner Staub auf uns herab, in den sich Bierspritzer und Stofffetzen mischten. Roman stand immer noch wie vom Donner gerührt da, betäubt von meinen Worten, als ich an ihm vorbeilief und hinter einer Ecke verschwand. Gerade noch rechtzeitig, denn die Maschinenpistolen feuerten erneut los, bis die Fenster des Cafés klirrten und die Kugeln in den Putz einschlugen. Diese Idioten! Da drinnen saßen Leute!
Ich raste zur Straße. Dort entdeckte ich die Kinder, die mir unter Mariannas Obhut entgegenkamen.
Wenn ich nicht gerade Roman zusammengestaucht hätte, wäre ich ihnen nicht ausgewichen. Ich wäre weitergerannt, mich im Schutze des Hauses und der schwarzen Kinder haltend. Wenn man mir dann nachschoss, wäre das nicht meine Schuld.
Und wenn diese Kinder weiß oder zumindest gemischt - schwarz, gelb und weiß - gewesen wären, wäre ich ebenfalls unbeirrt weitergelaufen.
Aber nach der Beleidigung, die ich Roman an den Kopf geworfen hatte, konnte ich nicht einfach eine Gruppe schwarzer Kinder als Deckung missbrauchen. Das wäre, als ob ich diesen verbalen Mist, der mir eben als Waffe gedient hatte, zu meiner Lebenseinstellung machte.
Abermals bog ich nach links. Unter dem MPi-Feuer ging ich das Risiko ein, einen Haken zum Wald zu schlagen, damit die einstigen Bewohner der Elfenbeinküste nicht ins Schussfeld gerieten.
Stattdessen geriet ich hinein.
Sie trafen mich, als ich das rettende Dickicht der Bäume bereits erreicht hatte. Die Kugeln prasselten gegen die Äste, Blätter und Holzstückchen segelten herab, ein verdächtiges und unangenehmes Heulen holte mich ein - und in dem Moment stieß mir etwas gegen die Schulter und löste ein weniger schmerzhaftes als vielmehr einem freundlichen Klaps gleichendes Echo aus: »Mach schon, lauf schneller!«
Und das tat ich. Meine Schulter fing zu pulsieren an, doch ich, noch immer beschleunigt, rannte weiter, der Abstand zum Denkmal wuchs, die Kugeln der MPis erreichten mich nicht mehr.
Dafür tauchten am Himmel über dem Wald zwei Hubschrauber auf. Mir blieb keine Zeit, sie näher zu betrachten, ich nahm nur die grau-grüne Armeefarbe wahr - und die beiden Feuerblumen, die sich auf der Aufhängung jedes der beiden Hubschrauber zu voller Blüte entfalteten.
Wenn das bloß keine Raketen waren!
Nein, es handelte sich um Schnellfeuer-MGs! Keine kurzläufigen Knarren, aus denen die Einsatzkräfte auf mich geballert hatten, sondern echtes Kriegsgerät. Vor mir krachte ein kleiner Baum ein, dessen Stamm die Kugeln gehäckselt hatten. Hinter mir fing jemand an zu schreien, entweder aus Angst oder weil er von einem Querschläger verletzt worden war.
Ich versuchte, noch schneller zu rennen, aber das überstieg meine Kräfte. Vermutlich wären mir die Muskeln von den Knochen gerissen, wenn ich meinen Organismus gezwungen hätte, den Befehl auszuführen.
Die zweite Kugel durchschlug mein Bein, als mich nur noch rund zehn Meter vom Turm trennten. Mein Knie zersplitterte, eine Blutfontäne schoss in die Höhe. Ich heulte vor Schmerzen auf, fiel hin und kullerte den Hang hinunter. Der Turm war nahe. Der Turm würde mich retten. Er ließ sich nur mit einer thermonuklearen Explosion vernichten.
Zwei weitere Salven gingen an mir vorbei. Die Hubschrauber hingen in der Luft und feuerten ohne Ende in meine Richtung. Ihnen kam ein dritter zu Hilfe, der es so eilig hatte, dass er bereits aus einer Entfernung von zwei Kilometern das Feuer eröffnete - mit erstaunlicher Zielsicherheit, denn einige Kugeln schlugen in das Ziegelmauerwerk über mir ein. Ich vernahm das weiche Klatschen, mit dem die flachgedrücken Bleigeschosse von der Ziegelmauer abprallten.
Mich auf alle viere hochstemmend, das verletzte Bein nachziehend, öffnete ich schon die Tür, als mich die dritte Kugel erwischte. Etwa in Gürtelhöhe, genau in der Mitte des Rückens, wo sie mir die Wirbel auseinandersprengte, Darm und Harnblase zerfetzte und den gesamten Inhalt des kleinen Beckens in einen Brei aus Blut und Scheiße verwandelte. Wie ein Feuerstrom züngelte der Schmerz die Wirbelsäule hoch, als ob irgendwo in meinem Innern sämtliche Sicherungen, die Belastung nicht mehr aushaltend, durchbrennen würden. Schlagartig verlor sich auch meine Beschleunigung: Der gemächliche Takt der MG-Salven mutierte zum Rattern einer wahnsinnigen Nähmaschine. Meine Beine ertaubten. Ich spürte nichts mehr, nur meine Hände rührten sich noch in kaum wahrnehmbarer Weise.
Auf ihnen schleppte ich mich dann auch in den Turm, eine Blutspur und Klumpen des eigenen Fleischs hinter mir zurücklassend. Mit letzter Kraft stieß ich die Tür zu, die leicht ins Schloss fiel. Ob ich den Riegel vorlegen musste? Oder diente der nur zur Zier, während der Turm aus eigener Kraft den Eingang schützte?
Ich wusste es nicht. Und ich wollte es auch gar nicht wissen. Ich konnte ihn ohnehin nicht mehr vorlegen.
Denn ich starb gerade.