Kapitel Acht Die Verführung der nicht gänzlich Unschuldigen

Ohne ein Wort des Abschieds verschwand Onkel James, und die Luft strömte herbei, um den Platz auszufüllen, wo er gewesen war. Ich hätte ihm von dem Elbenpfeil erzählen sollen, der meine Rüstung durchdrungen hatte, aber er hatte mir keine Chance gegeben, und sowieso stand ich noch immer unter Schock. Meine Familie wollte meinen Tod! Nach allem, was ich für sie getan hatte, nach zehn langen Jahren, in denen ich in ihrem Namen den guten Kampf gekämpft hatte, war das mein Lohn: zum Vogelfreien erklärt zu werden! Zum Verräter. Zum Ausgestoßenen. Ich mochte nicht immer einer Meinung mit ihnen gewesen sein, aber sie waren dennoch meine Familie. Ich hätte sie niemals verraten. Von zu Hause fortzulaufen ist eine Sache; eine ganz andere hingegen gesagt zu bekommen, dass man nicht zurückkann, weil man sonst auf der Stelle getötet wird. Ich betrachtete das mit Blei ausgeschlagene Behältnis, in dem die Seele Albions hätte sein sollen, starrte in sein leeres rotes Plüschinneres, als ob es ein paar Antworten für mich hätte. Hatte es nicht, also warf ich es weg.

Ich ging zurück zum Hirondel und schob mich unter Schmerzen wieder hinters Lenkrad. Ich mochte alle erdenklichen Schmerzen haben, aber ich war immer noch ein Profi, also ließ ich die Verteidigungssysteme des Wagens eine vollständige Diagnose durchführen, um sicherzugehen, dass sich nicht noch mehr Wanzen oder Aufspürvorrichtungen an Bord befanden - oder irgendwelche anderen bösen und möglicherweise tödlichen Überraschungen. Das Auto murmelte ein bisschen vor sich hin und stellte sich dann eine Unbedenklichkeitsbescheinigung aus. Ich entspannte mich ein wenig und warf den Motor an. Auch nach allem, was er mitgemacht hatte, sprang der Hirondel sofort und ohne Stottern an, bereit, mich überall hinzubringen, wo ich wollte. Es tat gut zu wissen, dass es noch ein paar Dinge in meinem Leben gab, die mich nicht hängen lassen würden.

Ich lenkte den Hirondel über die M4 zurück, weg vom Süden, wieder auf London zu. Heimatlicher Boden. Falls sie wegen mir kamen, wollte ich mich auf vertrautem Gelände bewegen. Ich fuhr an Leichen und Fahrzeugtrümmern vorbei, an lodernden Feuern und schwarzem Rauch und dem ganzen anderen Schaden, den ich angerichtet hatte. Es schien ziemlich viel davon zu geben. Arme Vollidioten, zu sterben für nichts und wieder nichts, für einen Preis, der nie da gewesen war. Und falls es darin Parallelen dazu gab, wie mein Leben sich gestaltet hatte, so versuchte ich, nicht darüber nachzudenken. Der Hirondel kam nur schwer voran, sträubte sich, hohe Geschwindigkeiten zu erreichen, aber ich hatte es ohnehin nicht eilig. Die Fernwahrnehmer der Familie konnten mich nicht sehen oder aufspüren, solange ich den Torques trug. Langsam kristallisierte mein Schock zu Wut und dann zu etwas Kälterem und Entschlossenerem. Ich wollte Antworten. Meine ganze Welt war gerade auf den Kopf gestellt worden, und ich musste wissen, warum! Laut James war ich offiziell für vogelfrei erklärt worden, deshalb würde auch keins der anderen Familienmitglieder draußen in der Welt mit mir reden. Verdammt, die meisten von ihnen würden mich im selben Moment, wo sie mich zu Gesicht bekamen, zu töten versuchen! Droods haben kein Erbarmen mit Verrätern.

Was bedeutete, dass es nur noch eine Möglichkeit gab, um Antworten zu bekommen, um die Wahrheit herauszufinden: zu den Leuten zu gehen, gegen die ich mein Leben lang gekämpft hatte: zu den Bösen.

Ich verließ die M4 an der ersten Auffahrt, an die ich kam. Ich musste mich auf Landstraßen und Nebenwegen verlieren, bevor die Spürhunde der Familie sich an meine Fersen hefteten. Ich hatte die Autobahn noch keine halbe Meile hinter mir gelassen, als ich gezwungen war, langsamer zu machen und an einer Barrikade der Polizei anzuhalten. Es war keine besonders eindrucksvolle Barrikade; nur ein paar Reihen Plastikkegel, unterstützt durch die Gegenwart zweier uniformierter Beamter und eines Streifenwagens. Eine lange Schlange stehender Fahrzeuge wartete auf der Gegenspur, und eine kleine Schar ungeduldiger Fahrer hatte sich auf der anderen Seite der Kegel versammelt und schalt abwechselnd die Polizisten lauthals aus. Sie schauten sich alle um, als ich mich mit dem Hirondel näherte, und sie schienen alle ziemlich überrascht zu sein, mich zu sehen. Ich hielt den Wagen in respektvoller Entfernung an, und die Polizeibeamten kamen herüber, um mit mir zu reden. Ich glaube, es war ihnen nicht unrecht, dass ich ihnen mit meiner Anwesenheit eine Entschuldigung lieferte, von den anderen Fahrern wegzukommen. Sie mussten beide zweimal hinschauen, als sie den Zustand meines Autos bemerkten, blieben in respektvoller Entfernung von mir stehen und forderten mich auf, den Motor abzustellen und auszusteigen. Ich lächelte und tat wie geheißen. Sie hatten Antworten, ob sie es wussten oder nicht.

Ich setzte mich auf die Motorhaube des Hirondel und wartete darauf, dass sie zu mir kamen. Sie näherten sich vorsichtig, wobei sie einander auf die Einschusslöcher und die zertrümmerte Windschutzscheibe hinwiesen. Etwas Derartiges auf Verkehrsdienst zu sehen, hatten sie nicht erwartet. Einer fing an, das Kennzeichen von meinem Nummernschild in sein kleines Notizbuch zu schreiben, was immer ihm das auch bringen mochte, während sein Kollege nach vorn kam, um mich zu befragen. Ich schenkte ihm ein nettes, freundliches Lächeln.

»Wieso ist dieser Abschnitt der Autobahn gesperrt?«, fragte ich unschuldig, indem ich meine Frage anbrachte, bevor er mich auffordern konnte, mich auszuweisen, wonach mir absolut nicht der Sinn stand.

»Scheint, als habe es einen Unfall mit Chemieverseuchung gegeben, Sir. Sehr ernste Sache, ist mir gesagt worden. Sind Sie sicher, dass Sie nichts gesehen haben, Sir? Dieser ganze Abschnitt der M4 ist offiziell zur Gefahrenstelle erklärt worden.«

»Nun, ja«, meinte ich und gestattete mir ein erneutes Lächeln. »Stellenweise habe ich es tatsächlich als recht gefährlich empfunden …«

Dem Polizeibeamten gefiel das Lächeln gar nicht. »Ich denke, Sie sollten besser eine Weile hier bei uns bleiben, Sir. Ich bin sicher, meine Vorgesetzten werden Ihnen auf dem Revier ein paar detailliertere Frage stellen wollen. Und die Gefahrgutleute werden sich davon überzeugen wollen, dass Sie nichts Gefährlichem ausgesetzt gewesen sind.« Er hielt inne: Ich war wieder am Lächeln. Er blickte mich frostig an. »Dies ist eine sehr ernste Angelegenheit, Sir. Bitte treten Sie von Ihrem Fahrzeug weg. Ich muss Ihren Ausweis sehen.«

»Nein, müssen Sie nicht«, sagte ich. Ich zog meinen Repetiercolt aus dem Schulterhalfter. Sofort streckte der Polizeibeamte beide Hände in die Luft, die Handflächen nach außen, um zu zeigen, dass sie leer waren. Sein Kollege stürzte nach vorn, und ich hob den Revolver ein kleines bisschen.

»Bleib, wo du bist, Les, und sei kein Narr!«, sagte der andere Beamte. »Denk an deine Ausbildung!«

»Es könnte eine Nachbildung sein!«, erwiderte Les, blieb aber zurück, nicht ohne mich weiter finster anzublicken.

Ich zielte beiläufig auf den Streifenwagen, und der Colt schoss alle vier Reifen platt. Die kleine Schar der Fahrer bei den Kegeln schrie erschrocken und beunruhigt auf. In England sind die Leute nicht an Feuerwaffen gewöhnt, was ich im Großen und Ganzen gutheiße. Ich bedeutete den beiden Polizeibeamten, die Pylonen von der Straße zu entfernen, und langsam und widerwillig gehorchten sie. Dabei behielt ich sie scharf im Auge und sorgte dafür, dass sie dicht zusammenblieben, sodass ich sie beide mit dem Colt in Schach halten konnte. Ich hatte nicht vor, irgendjemanden zu erschießen, aber das brauchten sie nicht zu wissen. Die Menge der Fahrer fing an, unruhig zu werden. Ich musste los, bevor einer auf den Gedanken kam, den Helden zu spielen und eine Dummheit machte. Unschuldige Zuschauer können einem manchmal ganz schön auf die Eier gehen. Ich wich zurück und schob mich hinter das Lenkrad des Hirondels. Ich brach gerade die erste Regel des Frontagenten: Ich fiel auf. Deshalb im Zweifelsfall die Sache verworren gestalten.

»Richten Sie Ihrer dekadenten Regierung aus, dass die Tasmanische Separatistische Allianz in Bewegung ist!«, verkündete ich bombastisch. »Die Unterdrücker werden gezwungen sein, sich vor unserem erhabenen Dogma zu verneigen! Alle Delfine sollen befreit und kein Pinguin mehr gezwungen werden, Zigaretten zu rauchen!«

Was ihnen Stoff zum Nachdenken geben sollte. Bis sie sich darauf einen Reim gemacht und dann noch mehr Zeit damit vergeudet hätten, eine Terroristengruppe (und ein Nummernschild) aufzuspüren, die in Wirklichkeit gar nicht existierten, sollte mir Zeit im Überfluss bleiben, um unterzutauchen. Den Hirondel würde ich aufgeben müssen. Er war zu sichtbar, zu auffällig geworden. Missmutig brachte ich den Motor auf Touren und brauste an den Polizeibeamten, der Fahrerschar und der langen Schlange wartender Fahrzeuge vorbei. Ich musste nach London, und das schnell. Einige Leute beugten sich aus ihren Autofenstern und versuchten, mich mit ihren Handys zu fotografieren. Ich lächelte ihnen entgegenkommend zu, sicher in dem Wissen, dass mein Torques mich vor sämtlichen Formen der Überwachung, ob wissenschaftlicher oder magischer Natur, verbarg. Wie sonst könnten Agenten im Außendienst wie ich in einer Welt operieren, in der einen ständig jemand beobachtet?

* * *

Ich ließ die Schlange hinter mir und verschwand schnell in Umgehungs- und Nebenstraßen. Ich hatte einen geheimen Zufluchtsort am Stadtrand von London, einen von mehreren, die ich für Notfälle unterhielt. Der, an den ich dachte, war nichts Besonderes, nur eine gemietete Garage in einer völlig ehrbaren Wohngegend. Aber er besaß alles, was ich brauchte, um abzutauchen. Um unsichtbar zu werden. Ich hielt meine Verstecke immer auf dem neuesten Stand und mit nützlichen Sachen bestückt, für jene raren, aber unvermeidlichen Gelegenheiten, wenn meine Tarnung aufflog und ich in aller Eile verschwinden musste. Ich konnte in jedes meiner Schlupflöcher als ein Mann hineingehen und als ein vollkommen anderer herauskommen, komplett mit ganz neuem Aussehen und neuer Identität. Die Familie wusste nichts von diesen Orten. Sie wusste nichts über die Art und Weise, wie ich operierte. Sie hatten es nie wissen wollen.

Ich erreichte die Außenbezirke Londons ohne Zwischenfall, obwohl ich den größten Teil des Wegs über steif und angespannt über meinem Lenkrad gekauert hatte, in Erwartung einer Schwierigkeit oder eines Angriffs, die nie Tatsache wurden. Der ramponierte und von Kugeln durchlöcherte Hirondel zog viele erstaunte Blicke auf sich, doch tat oder sagte niemand etwas. Das hier war schließlich England. Ich fuhr in die ehrbare Wohngegend hinein, und meine sehr ehrbaren Nachbarn sahen mit offenem Mund zu, wie ich den Wagen vor meiner gemieteten Garage zum Stehen brachte. Ich nickte und lächelte allen miteinander zu, und sie sahen schnell in die andere Richtung. Meinen Ruf hier hatte ich ruiniert, aber das spielte keine Rolle: Ich würde nie mehr wiederkommen. Mit einem Handflächenabdruck, einer Netzhautabtastung und einem gemurmelten Wort öffnete ich das Garagentor und fuhr den Hirondel hinein. Ich stieg aus und verschloss das Tor hinter mir, und erst dann erlaubte ich mir endlich, zu entspannen.

Gute zehn Minuten verbrachte ich damit, einfach nur auf der Motorhaube zu sitzen und mich selbst fest zu umklammern, zu fertig, um mich auch nur zu bewegen. Ich war müde, zum Umfallen müde, und hatte alles satt. So viel war in so kurzer Zeit passiert, und fast alles davon war schlecht. Aber schließlich zwang ich mich zum Aufstehen. Den Luxus einer Ruhepause konnte ich mir nicht gestatten, nicht einmal ein ordentliches Gegrübel. Meine Familie hatte sicher schon Leute draußen, die nach mir suchten. Schlaue Leute, talentierte Leute. Gefährliche Leute. Ich war jetzt der Feind, und nicht von ungefähr wusste ich, wie die Droods mit ihren Feinden umgingen.

Ich schälte mich aus meiner blutverschmierten Jacke und dem Hemd, um nach meiner Schulterwunde zu sehen. Der Erste-Hilfe-Klecks war fast eingetrocknet, ein verschrumpeltes und runzliges Gebilde, das die Wunde nur noch eben so bedeckte. Ich zog ihn vorsichtig ab und stellte fest, dass das Loch jetzt von einem neuen Knoten aus Narbengewebe abgedichtet wurde. Der Klecks hatte sein Pseudoleben aufgebraucht, um mich zu heilen und wiederherzustellen, und nun war er nur noch ein Klumpen undifferenzierten Protoplasmas. Ich ließ ihn auf den Boden fallen und sagte das richtige Wort, und er zerfloss zu einem schmierigen Fleck auf dem nackten Beton. Erste Regel eines Agenten: kein Beweismaterial zurücklassen. Nützliche Dinger, diese Kleckse. Ich hätte mich wohler gefühlt, wenn ich noch ein paar gehabt hätte, aber wenn man erst mal anfängt, sich Sachen zu wünschen … Vorsichtig bewegte ich meine Schulter hin und her: Sie war steif und tat immer noch dumpf weh, schien aber ansonsten hinlänglich gesund. Meine Hände wanderten nach oben, um den goldenen Ring um meinen Hals zu befühlen. Meine Rüstung machte mich nicht länger unverwundbar. Des Schutzes und der Sicherheit, die ich mein Leben lang so leichthin hingenommen hatte, war ich beraubt worden, in einem einzigen Moment. Ich fragte mich, ob ich mich wohl je wieder sicher und zuversichtlich fühlen würde.

Ich setzte mich vor den Computer in der Ecke, warf ihn an und stellte eine Liste mit Adressen und ungefähren Aufenthaltsorten verschiedener alter Feinde zusammen, die etwas darüber wissen mochten, was vor sich ging. Einige von ihnen würden sich vielleicht bereit erklären, mir zu helfen, gegen das richtige Entgelt. Oder die richtige Einschüchterung. Es gibt nie einen Mangel an Bösen in und um London herum, aber nur einige wenige Auserwählte konnten unter Umständen Zugang zu der Art von Information haben, auf die ich es abgesehen hatte. Und die meisten davon waren sehr einflussreiche Leute, oft mit allem Grund, mich beim ersten Anblick zu erschießen, sobald ich enthüllte, wer ich war. Ich arbeitete an der Liste, strich hier und da einen Namen durch, wo das Risiko einfach zu groß war, und endete schließlich bei einem Dutzend infrage kommender Kandidaten. Ich druckte die überarbeitete Liste aus, schaltete den Computer aus und saß dann eine Weile lang einfach nur da und nahm meinen Mut zusammen. Selbst mit meiner Rüstung in voller Stärke waren das hier immer noch sehr gefährliche Leute. Daniels Gang in die Löwengrube war nichts im Vergleich zu dem, was mir bevorstand.

Aber ich musste in die Gänge kommen. Meine sehr ehrbaren Nachbarn hatten inzwischen bestimmt schon die Polizei gerufen. Also rief ich auf meinem Handy ein gewisses wohlbekanntes Taxiunternehmen an; anonyme schwarze Droschken, deren Fahrer mich überall hinfahren und keine unbequemen Fragen stellen würden. In meiner Branche lernt man, wie man solche Unternehmen findet. Sie waren verlässlich, aber teuer, und zum ersten Mal wurde mir klar, dass Geld zum Problem werden würde. Die Familie hatte mittlerweile mit Sicherheit meinem ganzen Guthaben ein Ende bereitet und meinen Namen überall sonst auf die schwarze Liste setzen lassen. Alles, was ich hatte, war das Bargeld in meiner Brieftasche. Zum Glück bin ich schon immer paranoid gewesen und denke voraus. In einem kleinen Metalltresor im hinteren Teil der Garage lagen ein halbes Dutzend gefälschter Ausweise und zehntausend Pfund in gebrauchten Scheinen. Genug, um mich eine Zeit lang am Leben zu halten.

Ich zog mir frische Kleider an. Sie rochen ein bisschen muffig, weil sie so lange in der Garage gehangen hatten, aber sie waren hübsch anonym. Genau genommen so typisch und durchschnittlich, dass jeder Zeuge in schwere Bedrängnis geriete, wenn er irgendetwas Besonderes daran beschreiben sollte. Ich warf meine alten, blutbeschmierten Kleider auf einen Haufen auf den Boden und zerbrach anschließend eine Säurekapsel darüber. Ein Jammer; ich hatte diese Jacke wirklich gemocht. Noch ein Fleck auf dem Boden.

Traurig betrachtete ich den Hirondel. Nie wieder würde ich dieses fantastische alte Auto fahren dürfen. Er war zu auffällig, zu bekannt geworden, und in profane Hände konnte ich ein solches Auto, mit all den Extras des Waffenschmieds, nicht fallen lassen. Ich lächelte grimmig. Auch nach allem, was passiert war, schützte ich immer noch die Sicherheit der Familie. Dem Hirondel Lebewohl zu sagen, war wie einen alten Freund zu verlassen oder ein treues Ross, aber es musste getan werden. Ich tätschelte einmal die ihrer Farbe beraubte Motorhaube und sprach dann die Worte, die die Selbstzerstörung des Wagens auslösen würden. Selbstverständlich nichts so Plumpes und Kapriziöses wie eine Explosion; einfach eine kontrollierte elementare Brandstiftung, die nichts Brauchbares zurücklassen und die Garage von sämtlichen Beweisen reinigen würde. Die Spurensicherung der Polizei könnte sich die Finger wund arbeiten und würde trotzdem nichts finden, was sie zu mir zurückverfolgen konnte.

Ich bin paranoid, ich denke voraus, und ich bin sehr gründlich.

Ich verließ die Garage, schloss das Tor hinter mir ab, und tatsächlich, das Taxi ohne Namen wartete schon auf mich. Ich ging zu ihm hin und stieg ein, ohne auch nur einmal zurückzublicken. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit eines Agenten im Außendienst: in der Lage zu sein, jeden Augenblick von

allem und jedem wegzugehen und nie zurückzublicken.

* * *

Das Taxi brachte mich zurück ins eigentliche London und setzte mich an der ersten U-Bahn-Station ab, an die wir kamen. Ich fuhr mit den Zügen hin und her und wechselte wahllos von einer Linie zur anderen, bis ich sicher war, dass mir niemand folgte. Es war ausgeschlossen, dass meine Familie - oder sonst jemand - mich so schnell aufgespürt haben konnte, aber ich musste Gewissheit haben. In der Oxford Street stieg ich aus und ging nach oben und hinaus an die frische Luft. Es war mittlerweile früher Abend, und Menschenmengen wogten durch die Straße und gingen ihren alltäglichen Beschäftigungen nach wie an jedem anderen Tag auch. Zumindest das war normal und beruhigend.

Der erste Name auf meiner Liste waren die Liebenden Chelseas. Sehr heimlichtuerisch und sehr schwer zu finden. Sie wechselten ihre Geschäftsräume alle vierundzwanzig Stunden, und das mit gutem Grund. Die Liebenden Chelseas waren gehasst und gefürchtet, wurden angebetet und verehrt, bestürmt und verachtet. Und die einzige Möglichkeit, sie zu finden, war die Karten zu lesen. Also ging ich lässig die Oxford Street entlang, bis ich zu den Reihen der öffentlichen Telefonzellen kam, und überprüfte dort das Angebot an Nuttenkarten, mit denen die Zellen innen bepflastert waren. Nuttenkarten sind Geschäftskarten, die von Prostituierten in den Telefonzellen zurückgelassen werden und auf denen sie ihre Dienste anpreisen. Manchmal tragen sie ein Foto (bei dem man sicher sein kann, dass es wenig oder gar keine Ähnlichkeit mit der wirklichen Frau hat), häufiger ein anzügliches Kunstwerk, das von einer kurzen, kessen Mitteilung und einer Telefonnummer begleitet wird.

Die Karten haben eine lange Geschichte, die bis in viktorianische Zeiten zurückreicht, und über die Jahre ihre ganz eigene Sprache entwickelt. Ein Mädchen, dass sich beispielsweise mit exzellenten Kenntnissen des Griechischen brüstet, wird nicht wirklich akademische Qualifikationen besitzen; allerdings wäre ein Besuch bei ihr an sich betrachtet fast sicher ein Bildungsgang. Doch unter all den Euphemismen und Zweideutigkeiten existiert noch eine andere, geheimere Sprache, für die, die sie lesen können. Eine ganz andere Botschaft, die in der Anordnung verschiedener Buchstaben und Wörter zu finden ist und dem Eingeweihten verrät, wie er die augenblicklichen Stätten für dunklere und gefährlichere Freuden finden kann. Ich arbeitete die Mitteilung dieses Tages heraus und wählte die angezeigte Nummer, und eine Stimme am anderen Ende, die männlich oder weiblich sein mochte, beides oder keins von beiden, gab mir eine Adresse kurz hinter Covent Garden und sagte mir, ich solle nach dem Kit Kat Club fragen. Schön zu wissen, dass es noch Leute mit Sinn für Humor gab.

Das Lokal war nicht schwer zu finden. Von außen sah es nur wie ein Gebäude unter vielen aus, hinter einer langweiligen, anonymen Fassade. Keine Reklame, keine Hinweise. Entweder man wusste genau, dass dies der Ort war, oder man hatte hier nichts verloren. Während Leute nichts ahnend an mir vorbeigingen, betrachtete ich das Äußere nachdenklich. Der Kit Kat Club war nicht die Art von Lokal, in die man einfach hineinstürzte. Vorher musste man sich seine geistigen Lenden gürten.

Die Liebenden Chelseas waren eine Gruppenehe allerlei geheimnisvoller Spinner, die sich den dunkleren Bereichen der tantrischen Sexzauberei verschrieben hatten, kanalisiert durch innovative Computertechnologie. Sie organisierten Orgien, die rund um die Uhr dauerten und unter deren Teilnehmern ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Mit der Art von mystischer Energie, die zu erzeugen sie in der Lage waren, hätten sie das ganze London hochheben und ein paarmal herumwirbeln können, bevor sie es wieder fallen ließen. Nur machten sie das nie, weil … na ja, offenbar weil sie mit etwas weitaus Wichtigerem beschäftigt waren. Was das sein mochte, wusste niemand so genau, und die meisten hatten Angst zu fragen. Die Liebenden Chelseas hatten Verbindungen zu jedem Nekrotech-, Psychofetisch- und Ritualsexclub in der Stadt und waren berühmt dafür, Dinge zu wissen, die sonst niemand wusste oder wissen wollte. Sie finanzierten sich, indem sie wichtige Leute - Prominente, Politiker und dergleichen - in die Falle lockten und dann erpressten.

Weshalb die Liebenden Chelseas allen Grund hatten, Edwin Droods Tod zu wollen. Vor einem Jahr oder so hatte die Familie mich hineingeschickt, um die Zentralcomputer der Liebenden Chelseas und sämtliche Dateien zu zerstören, nachdem sie den Fehler gemacht hatten, jemanden unter Druck setzen zu wollen, der dem Schutz der Familie unterstand. Also hatte ich hochgerüstet, mir gewaltsam Zutritt verschafft und ihre Rechner mit einer maßgeschneiderten Logikbombe ausgeschaltet, die ich aus einer der Spezialpistolen des Waffenschmieds abschoss. Die Computer machten so schnell schlapp, dass von ihnen nichts als eine Siliziumpfütze auf dem Boden übrig blieb.

Mein wahres Gesicht bekamen sie nie zu sehen, nur die goldene Maske. Also hatten sie keinen Grund, Shaman Bond zu verdächtigen. Außer natürlich, dass die Liebenden Chelseas jeden in Verdacht hatten, und das auch völlig zu Recht. Sie ärgerten die Leute.

Ich ging zu der völlig gewöhnlichen Vordertür hin und klopfte höflich. Ein verborgenes Schiebefach öffnete sich und ein finsteres Augenpaar musterte mich schweigend. Ich gab ihm das Passwort, das ich aus der Telefonzelle hatte, und das genügte, um Einlass zu erhalten. Das Schiebefach wurde zugeknallt und die Tür öffnete sich gerade weit genug, um mich hereinzulassen. Ich musste mich zur Seite drehen, um mich durchzuzwängen, und hinter mir wurde die Tür sofort wieder verschlossen.

Der Wachmann beugte sich über mich. Er war groß wie ein Schrank und hatte Muskeln auf den Muskeln. Das konnte ich erkennen, weil er völlig nackt war, abgesehen von so viel Stahlpiercings an schmerzhaften Stellen, dass es bei einem Gewitter gefährlich gewesen wäre, sich in seiner Nähe aufzuhalten. Er wollte, dass auch ich meine Kleider aus- (Hausordnung) oder mich wenigstens einem gründlichen Filzen unterzog. Ich bedachte ihn mit meinem besten strengen Blick, und er beschloss, die Angelegenheit nach oben weiterzureichen. Ich sagte ihm, dass ich hier sei, um das Gründungsquartett zu sprechen, und er zog eine gepiercte Augenbraue hoch. Ich gab ihm ihre richtigen Namen, was ihn beeindruckte, und nach einem Moment bedächtigen Nickens schleppte er sich von dannen, um sie zu suchen.

Ich blieb an der Tür stehen und rührte mich nicht vom Fleck. Ich war mir nicht ganz sicher gewesen, was ich erwarten sollte. Ich meine, ich bin herumgekommen, das bringt die Arbeit mit sich, aber die Liebenden Chelseas waren ein völlig neues Gebiet der Verderbtheit für mich. Das ganze Gebäude war dergestalt ausgehöhlt worden, dass es einen großen, offenen und kavernenartigen Raum bildete. Beleuchtet wurde der Kit Kat Club von rotierenden bunten Lichtern, die der Szenerie eine kaleidoskopartige Atmosphäre verliehen, die an einen Drogenrausch erinnerte. Sehr passend für eine Gruppe, deren Ursprünge in den Sechzigern lagen. So ziemlich überall, wo ich hinschaute, waren nackte Leute oder Leute, die in der Art von dramatischem Fetischaufzug steckten, die einen noch nackter als nackt aussehen lässt. Leder und Gummi, Plastik und flüssiger Latex, Halsbänder und Ketten, Stacheln und Masken und alle Arten von Freiheitsbeschränkungen, über die man lieber nicht nachdenken möchte. Mauerblümchen gab es hier keine; jeder hatte mit jemand oder etwas zu tun. Sie bewegten sich gewandt gemeinsam, überall in dem ganzen riesigen Raum, Fleisch, das sich hob und senkte, Haut, die über schweißnasse Haut rutschte. Es gab keine Worte, nur Stöhnen und Seufzen und die Laute einer Sprache, die älter ist als die Zivilisation. Die Gesichter, die ich sehen konnte, hatten einen mit sich selbst beschäftigten, animalischen Ausdruck, die Augen aufgerissen, die Zähne gebleckt.

Männer und Frauen überall, ineinander verheddert auf dem Boden, an den Wänden und an der Decke, ja sogar schwebend in der Luft. Die Luft war geschwängert von Sex in einer penetranten Präsenz, heiß und verschwitzt und mit Pheromonen vollgepumpt. Ich konnte Schweiß und Parfums und einen ganzen Haufen psychotroper Substanzen riechen. Ich machte mir keine Sorgen; mein Torques würde sie herausfiltern. Auch wenn sie ruhend um meinen Hals lag, so beschützte mich meine Rüstung dennoch.

So viel Nacktheit, so viel Sex, so viel angespannte Leidenschaft; doch ich konnte nicht sagen, dass ich es erregend fand. Es war gruselig. Sie arbeiteten hier mit Zauberei, beschworen seltsame und mächtige Energien, die von Leuten hervorgebracht wurden, die sich willentlich selbst um jegliche Beherrschung gebracht hatten, Leute, die alles tun, alles zulassen würden, und denen es völlig schnuppe war. Hier gab es keine Liebe, keine Zärtlichkeit; nichts als Zügellosigkeit und Überschreitung.

Der weitläufige, höhlenartige Raum schien viel zu groß, als dass er in dem Gebäude hätte Platz finden können. Das war räumliche Zauberei, mit Brennstoff versehen durch die tantrischen Energien. Der Raum dehnte sich aus, um die Leidenschaft darin aufnehmen zu können. Wände, Boden und Decke hatten ein aufgeblähtes, organisches Aussehen angenommen. Lauter rosa, violette und blutige Schattierungen, durchzogen von langen Flechtwerken pulsierender Adern. Die mir am nächsten liegende Wand war am Schwitzen, als ob sie der unaufhörliche Sex anmachte. Der Kit Kat Club war lebendig und Teil der Handlung. Wo Männer und Frauen an Boden oder Wände oder Decke stießen, sanken sie in die fleischige Umarmung wie in die Arme eines weiteren Partners.

Ich trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, und der Boden unter mir federte leicht, als ob ich auf einem Wasserbett stünde. Leute trieben auf mich zu und streckten forschende Hände nach mir aus. In ihren Gesichtern lag etwas, das nicht völlig menschlich war - oder vielleicht auch mehr als menschlich. Verändert von einem Gefühl oder Verlangen, das so extrem war, dass ich keinen Namen dafür hatte. Es ging weit über meinen Horizont. Also setzte ich selbstverständlich meine zuversichtlichste Miene auf und ließ sogar ein kleines spöttisches Lächeln um meine Lippen spielen, so als hätte ich das alles schon vorher gesehen und sei schon da nicht beeindruckt gewesen. Ich starrte jeden, der mir zu nahe kam, wütend an, und sofort verloren sie das Interesse und wandten sich ab.

Als meine Augen sich an die flackernden Farben und Lichter gewöhnt hatten, begann ich, Gesichter in der brodelnden Menge zu erkennen: Prominente, Fußballer, Politiker, sogar ein paar ehrbare Geschäftsleute aus der City, deren Anwesenheit an einem Ort wie diesem der gute prüde Matthew vermutlich mit Entsetzen konstatiert hätte. Ich nahm die Gesichter im Geist zu den Akten, für zukünftige Erwägungen. Und vielleicht für ein bisschen Erpressung, falls das Geld knapp werden sollte.

Der wandelnde Kleiderschrank kam mit den vier Gründungsmitgliedern der Liebenden Chelseas zurück. Sie schlenderten mit beinah übernatürlicher Anmut durch die wogenden Massen, die sich vor ihnen öffneten und hinter ihnen schlossen, ohne mit dem, was sie taten, aufzuhören oder auch nur langsamer zu machen. Die vier Gründer gingen auf Luft, Herrscher ihres eigenen Raums, und berührten nichts als einander. Unaufhörlich wanderten ihre Hände über das nackte Fleisch der anderen. Langsam sanken sie herab und blieben vor mir schweben, und der Rausschmeißer ging wieder an seine Tür zurück. Die vier ursprünglichen Liebenden Chelseas: Dave und Annie, Stuart und Lenny. Zwei Männer und zwei Frauen, aber inzwischen weit über etwas so Menschliches hinaus; stattdessen waren sie so fremdartig und anders wie nur irgendetwas, dem ich jemals aus einer anderen Dimension begegnet war. Sie mussten in den späten Sechzigern sein, doch hatten sie immer noch die glatten Körper von Zwanzigjährigen. Vollkommen wie Statuen, mager und hungrig, glühend vor unnatürlichen Energien, angetrieben von einem ewigen Appetit, der nichts mit Essen zu tun hatte.

Sie sahen mehr oder weniger genauso aus, wie es bei ihrem ersten Zusammentreffen in Chelsea der Fall gewesen sein musste, damals in den Swinging Sixties, als London wie ein Pendel swingte. Zwei junge Pärchen, damals, unterwegs in der Stadt und begierig nach neuen Erfahrungen. Sie entdeckten etwas, oder es entdeckte sie, und danach waren sie nie mehr dieselben. Sie eröffneten ihren ersten Club in einem kleinen Lokal unweit der Carnaby Street, und was sie taten, schockierte selbst die abgebrühtesten Seelen der tabufreien Generation. Seitdem hatten die Liebenden Chelseas das Licht des Tages nicht mehr erblickt. Sie zogen von Standort zu Standort, bekannt nur den Eingeweihten, bereisten die geheimen unterirdischen Wege unter den Straßen der Stadt, huschten schweigend durch die Schatten der Stadt unter der Stadt mit ihren antiken römischen Gewölbebögen, wo alle üblen Wesen sich versammeln, des Spaßes und des Profites wegen. Nichts kam jemals mit den Liebenden Chelseas in Berührung: Schon damals waren sie viel zu gefährlich.

Sie standen vor mir, die Haut wie Kreide, die Augen wie Pisslöcher im Schnee. Farbloses, lose fallendes Haar, violette Lippen und unaufhörliches Lächeln, das nichts bedeutete, rein gar nichts. Sie waren völlig nackt, unberührt von Piercings oder Tätowierungen oder derlei Schnickschnack. Solche niederen Dinge waren nichts für sie. So, wie sie einfach vor mir in der Luft hingen, stumm und einladend, waren sie dennoch die eklatantesten sexuellen Geschöpfe, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Sie hatten die volle heftige Wirkung der ersten Nacktfotos, die man je gesehen hatte, des ersten Objekts der Begierde, des ersten Jungen oder Mädchens, die man je begehrt hatte, und der ersten Liebe, die man je verloren hatte. Ich begehrte sie und ich hatte Angst vor ihnen, und Gott allein weiß, was ich getan hätte, wenn mein Torques nicht da gewesen wäre und mich vor ihrem ärgsten Einfluss beschützt hätte.

Ich kannte die vier Namen, wusste aber nicht, welcher zu wem gehörte. Ich glaube nicht, dass das noch irgendjemand wusste - vielleicht nicht einmal mehr sie selbst. Eine der Frauen sprach mich an; ihre Stimme klang, als habe sie Eis in ihren Adern und ein Fieber im Kopf.

»Was willst du hier? Was ist deine Befriedigung?«

Ich musste mich räuspern, bevor ich reden konnte, und selbst dann war meine Stimme nicht so fest, wie ich sie mir gewünscht hätte. »Ich muss Ihre Computer zu Rate ziehen. Ich brauche Informationen, von der Art, wie sie vielleicht nur Sie besitzen.«

»Was bietest du als Bezahlung an?«, fragte einer der Männer. Seine Stimme war gelassen, vergnügt, vertraulich und in etwa so menschlich wie eine Spinne, die einem über den Arm krabbelt. »Informationen im Gegenzug vielleicht, oder Geld, oder deinen Samen? Du wärst überrascht zu sehen, was wir aus deinem Samen machen könnten, wenn er willig gegeben wird.«

»Informationen«, sagte ich schnell. Mein Mund war ganz trocken und meine Beine zitterten. »Erstens den geheimen Aufenthaltsort eines Drood-Frontagenten am Stadtrand von London.« Und ich gab ihnen die Adresse der Garage, die ich gerade aufgegeben hatte. »Zweitens den Namen des Drood-Frontagenten, der gerade für vogelfrei erklärt worden und hier in London auf der Flucht ist: Edwin Drood.«

Die Aussicht, einen neuen vogelfreien Drood in die Finger zu bekommen, den ersten seit Jahren, ließ die vier tatsächlich vor Wonne erschauern. Sie hoben und senkten sich in der Luft, lautlos lachend, und ihre kreidebleiche Haut schimmerte hell. Wenn sie den Vogelfreien verführen und zu ihrer Sache korrumpieren könnten, hätten sie Zugang zu Geheimnissen und Informationen, die sonst niemand hatte. Sie befahlen mir, ihnen zu folgen, und schwebten fort, auf die Mitte des Raums zu, wobei sie langsam herabsanken, bis sie auf den Körpern gingen, die sich unaufhaltsam unter ihnen bewegten. Ich glitt und rutschte auf schweißnassen Körpern aus, während ich mich hinter ihnen herkämpfte. Ich hielt den Blick starr geradeaus gerichtet - man kann nicht die ganze Zeit nach unten schauen und sich in einem fort entschuldigen. Und endlich, exakt im Zentrum des höhlenartigen Raums, drängten die vier Gründer der Liebenden Chelseas geschäftsmäßig die Leute zur Seite und legten eine große, faltige Öffnung im Boden frei. Auf ihre Gebärden hin erweiterte und öffnete sie sich, doch enthüllte sie nichts als Dunkelheit und einen stechenden Geruch in der Luft, die plötzlich mit Zimt überladen zu sein schien. Nacheinander schwebten die vier hinab in das, was unter dem Boden lag, verschwanden in der Dunkelheit, bis nur noch ich zaudernd am Rand stand. Am Ende sprang ich ihnen einfach schulterzuckend hinterher. Schließlich war es das, weswegen ich hergekommen war.

Und fand mich unvermittelt in einer hell erleuchteten Hightech-Umgebung wieder, die das genaue Gegenteil von allem darüber war. Es handelte sich um ein kreisrundes Zimmer von höchstens sieben Metern Durchmesser, vollgepackt mit dem Neuesten, was es an Computerausrüstung gab. Aber die Computer waren aufgeplatzt, ihr Siliziuminhalt ergoss sich wie Früchte tragende Masse ins Freie, überzog Wände und Decke wie silbernes Efeu, tröpfelte sogar in Verkrustungen herab wie Siliziumstalaktiten. Die Computer hier waren lebende Wesen, wachsende Wesen, genährt von den sexuellen Energien über ihnen. Selbstbezogen, selbsterhaltend. Die Klimaanlage blies wie schwerer Atem, und die Monitore rings um mich hätten Augen oder Münder oder andere Körperöffnungen sein können. Im Zentrum des Ganzen standen die vier Liebenden Chelseas und blickten mich erwartungsvoll an.

»Es heißt, dass es einen Verräter in der Drood-Familie gibt«, sagte ich. »Ich will alles erfahren, was Sie darüber wissen.«

Sie nickten in unheimlichem Einklang, und einer von ihnen ließ liebkosend die Hand über eine Computerkonsole gleiten. Es war die langsame, sinnliche Berührung eines Liebhabers. Ich spürte, wie mir Schweißperlen auf die Stirn traten. Normale Leute waren nicht dafür vorgesehen, Wesen wie den Liebenden Chelseas ausgesetzt zu sein. Allein ihre Gegenwart war giftig für gewöhnliche Menschen. Die Computer summten nachdenklich vor sich hin. Die Liebenden Chelseas standen zusammen, in derselben Haltung, atmeten sogar im Einklang. Ihre Augen blinzelten nicht, als sie mich betrachteten. Ich konnte eine Präsenz wahrnehmen, einen Druck, der sich in dem Zimmer aufbaute. Ein Verlangen, ein Bedürfnis, eine körperliche Notwendigkeit …

»Wozu dient das Ganze?«, fragte ich abrupt. »Das Ganze hier, meine ich. Die Liebenden Chelseas. Der Kit Kat Club. Die Sexmagie und die Computer. Was ist der Zweck von all dem?«

»Apokalypse«, sagte eine der Frauen, und das Lächeln aller wurde ein wenig breiter. »Die wirkliche sexuelle Revolution, endlich gekommen. Wir wollen die ganze Welt anmachen. Indem wir Sexmagie, Computermagie, Ritual und Leidenschaft, Instinkt und Logik, Fleisch und Silizium, zusammengeschweißt auf unvorstellbare Arten, benutzen, um einen Gezeitenwechsel in der Realität selbst herbeizuführen. Wir werden die ganze Welt sexuell machen. Alles darin zum Fetisch erheben, das Lebende und das nicht Lebende, die ganze Welt mit einer Leidenschaft und einem Verlangen überziehen, die niemals enden werden. Eine großartige, freudvolle sexuelle Apokalypse, die Klimax der Geschichte. Der Knall der Urknalle. Unaufhörliche Sinneswahrnehmungen, unaufhörliches Vergnügen … Und wir werden alle dem neuen Fleisch huldigen, für immer und ewig und ewig …«

Sie brach in ihrer Rede plötzlich ab, als auf allen Bildschirmen gleichzeitig ein Gesicht erschien. Die Computer hatten die Identität des neuen vogelfreien Drood ermittelt, und es war ich. Mein Gesicht war auf jeder Wand, und darunter stand mein richtiger Name. Die Familie hatte der Welt meine wahre Identität enthüllt. Wie ein Mann drehten sich die Liebenden Chelseas um, um sich auf mich auszurichten. Sie lächelten nicht mehr. Sie streckten jeder eine Hand nach mir aus, und Sex traf mich wie eine Faust. Ich schrie auf, krümmte mich hilflos, als die Leidenschaft wie ein Fieber in mir brannte, wie die Albträume, die man hat, wenn die Temperatur steigt und einem das Blut im Gehirn kocht. Ich wollte zu ihnen hingehen, notfalls auf Händen und Knien, und ihr Fleisch mit meinem eigenen anbeten. Ich hätte gebettelt, wäre gestorben für die leiseste Berührung, für die Freude ihrer Gunst.

Aber es war gerade noch genug Drood-Ausbildung und -Stolz in mir vorhanden, um sie abzuwehren, gerade genug für mich, um stumm die Worte zu sprechen, und meine Rüstung blitzte um mich herum auf, golden und prächtig, und schirmte mich vor allen Angriffen ab. Ich wankte zurück, plötzlich wieder ich selbst, wie ein Mann, der jäh vom Rand einer Klippe zurücktaumelt. Die Liebenden Chelseas schrien mit einer einzigen schrecklichen Stimme auf, voller Wut beim Anblick der Drood-Rüstung. Ich sprang, die Kraft meiner Beine vergrößert durch meine Rüstung, und schnellte durch die Öffnung hoch und zurück nach oben in den Kit Kat Club.

* * *

Ich platzte wieder in jenen fleischigen, höhlenartigen Raum hinein, und die Leute wichen schreiend und kreischend vor mir zurück. Ich hatte ihnen die Stimmung verdorben, oder die Liebenden Chelseas waren es gewesen. Ich lief auf die Tür zu, und urplötzlich, in Reaktion auf irgendein ungehörtes Signal, wogten alle im Raum vorwärts, um mich anzugreifen. Von allen Seiten kamen Schläge und Tritte, wenngleich ich sie durch die Rüstung nicht spüren konnte, und nackte Menschen packten mich an Armen und Beinen und versuchten, mich zu Boden zu ziehen. Ich lief weiter, stieß und trat Leute aus dem Weg, und keiner von ihnen konnte mich aufhalten oder bremsen. Sie griffen nach mir mit endlosen Händen und drängten sich vor mich und versperrten den Weg zur Tür mit ihren nackten Körpern. Ich konzentrierte mich darauf, mich einfach vorwärtszubewegen und nicht zuzuschlagen, obwohl sämtliche Instinkte in mir nach Kämpfen schrien. Mit der Kraft meiner Rüstung konnte ich diese Leute töten, und das wollte ich nicht. Anders als manchen in meiner Familie bedeuteten mir (größtenteils) unschuldige Umstehende immer noch etwas.

Ein Stück weiter vorn konnte ich die Tür ausmachen. Der riesige Rausschmeißer kam auf mich zu, um mich aufzuhalten, und seine riesigen Hände öffneten und schlossen sich begierig. Ich schlug ihn einmal, und er fiel nach hinten, Blut flog durch die Luft, und die geballte Masse der Nackten, die immer noch vorwärtsdrängte, trampelte über ihn hinweg. Eigenartige Kräfte knisterten in der Luft um mich herum, Sexmagie und Computerenergien aus dem Zimmer darunter, krabbelten über meine Rüstung, versuchten sich einen Weg hinein zu erzwingen. Inzwischen waren rings um mich schreiende Gesichter, verzweifelte Menschen, die gierig nach mir griffen, ihre Arme um meine Beine schlangen, ihre Hände von der Decke aus ausstreckten und sie nutzlos gegen meinen goldenen Kopf prasseln ließen. Nackte Männer und Frauen krabbelten überall über mich und bremsten mich durch das schiere Gewicht und die Masse der Körper.

Ich langte durch meine gepanzerte Seite und zog meinen Nadelrevolver. Ich hatte ihn noch. Streng genommen hätte ich ihn dem Waffenschmied übergeben müssen, aber irgendwie war ich bei dem ganzen Hin und Her nicht dazu gekommen. Es waren nur noch ein paar Nadeln übrig. Ich richtete den Revolver auf die Wand und feuerte eine Weihwassereisnadel in die nächstgelegene Ader. Die ganze Wand verzerrte sich krampfartig, wie ein großes, fleischiges Erdbeben. Überall fielen nackte Männer und Frauen von mir ab, griffen sich an die Köpfe, schrien vor Schrecken und Entsetzen auf. Mich vergaßen sie völlig, als der Raum erzitterte, und ich rannte auf die Tür zu.

Ich zog die Tür weit auf, und Tageslicht strömte herein. Noch mehr Schreie, der Wut ebenso wie der Angst. Ich schaute zurück: Der ganze Raum lag jetzt in spasmischen Zuckungen, und in den austrocknenden Wänden taten sich große Risse auf. Leute stürzten aus der Luft, als die Zauber zerfielen, nicht länger getragen von der endlosen Orgie. Männer und Frauen schrien und heulten und schlugen aufeinander ein. Ich hatte die Stimmung ruiniert. Ich nickte befriedigt. Ich mochte hier vielleicht nichts Brauchbares erfahren haben, aber wenigstens würde sich die Nachricht verbreiten: dass, auch wenn ich nicht länger die Unterstützung meiner Familie hatte, ich noch immer eine Macht war, mit der man rechnen musste.

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