Kapitel Einundzwanzig Eine Familie im Krieg

Es gab nur eine Möglichkeit, die Familie entscheidend zu schwächen, ihre Gewalt über die Welt zu brechen: Ihr die Macht wegzunehmen, die sie stark machte, die sie unantastbar machte - ihre ruhmreiche goldene Rüstung. Und die einzige Möglichkeit, das zu tun, war die Quelle der Rüstung zu zerstören: das Herz. Noch vor ein paar Tagen hätte ich das für undenkbar gehalten - Teufel auch, ich hatte mein Leben riskiert, um das verdammte Ding vor einem Angriff von außen zu schützen! Aber Schritt für schmerzlichen Schritt war ich zu diesem Ort, zu diesem Moment getrieben worden, war ich gezwungen worden, mich von allem abzukehren, woran zu glauben ich gelehrt und erzogen worden war. Alles, was mir jetzt noch übrig blieb, war jene eine Sache zu zerstören, die vor allem anderen zu verehren und zu beschützen man mir beigebracht hatte. Das verderbte, korrupte, lügnerische Herz der Droods.

Das Leben ist manchmal beschissen.

Ich wog den Eidbrecher in der Hand. Eigentlich bloß ein Stock; ein langer, hölzerner Stecken, in den Symbole geschnitzt waren, die ich nicht einmal lesen konnte. Er machte nicht viel her, sah nicht so aus, als ob er einen Eindringling aus einer anderen Dimension vernichten und jahrhundertelange Lügen beenden könnte. Aber wie bei so vielen anderen Dingen, die meine Familie betrafen, trog auch hier der Schein. Ich brauchte den Eidbrecher bloß mit meinem Blick zu betrachten, um eine Macht zu sehen, so groß, so entsetzlich, dass ich wegschauen musste, oder es hätte mir die Augen aus dem Kopf gesprengt. Der Eidbrecher war uralt und schrecklich, speziell erschaffen, als die Welt jung war, um Wesen zu vernichten, deren Existenz nicht geduldet werden konnte. Es gab Geschichten, die besagten, dass der Eidbrecher seinerzeit alte Götter getötet und Städte und Kontinente so gründlich niedergeworfen hatte, dass sich niemand mehr auch nur an ihre Namen erinnerte.

Mir kam der Gedanke, dass ich mit der Zerstörung des Ursprungs der Rüstung der Familie vielleicht mein eigenes Todesurteil unterschrieb - und das von jedem sonst in der Familie. Ich hatte gesehen, wie der Torquesschneider meinen Onkel James tötete, indem er seinen Halsreif durchtrennte. Es war möglich, dass kein Drood überlebte, wenn ich ihnen ihre Rüstung wegnahm. Aber ich war jetzt zu weit gekommen, um eine Umkehr auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Familie, die sich den mörderischen Forderungen des Herzens so lange gebeugt hatte, die sich dafür entschieden hatte, die Menschheit zu regieren, statt sie zu beschützen, die sich die skrupellosen Ziele der Null-Toleranz auf ihre Fahnen geschrieben hatte … war, keine Familie mehr, die ich anerkannte. Alles, was mir blieb, war, die Ehre der Familie zu retten oder sie für immer von ihren Qualen zu erlösen.

Und zum Teufel damit - mit mir ging es sowieso zu Ende!

Wenn das Herz vernichtet war, bestand immerhin die Chance, dass all die geopferten Seelen, die im Innern des mächtigen Diamanten in der Falle saßen, endlich freikamen, um ins Leben nach dem Tode überzugehen, das ihnen so lange versagt worden war. Vielleicht würden sie an den Himmels- oder Höllenpforten für mich sprechen und darum bitten, dass ich für all meine Sünden und Verbrechen nicht zu streng gerichtet werden möge, zu meinen Gunsten vorbringen, dass ich zumindest ein gutes Werk in meinem Leben vollbracht hatte.

»Die einzige Art, den Eidbrecher zu benutzen«, sagte ich zu Molly, »ist von Nahem und eigenhändig. Das heißt, dass wir ins Sanktum, den am strengsten bewachten Raum im Herrenhaus, kommen und vors Herz selbst treten müssen.«

»Augenblick mal!«, sagte Molly. »Selbst wenn wir einmal davon ausgehen, dass wir dahin kommen können, was ich nicht tue, aber nur damit wir uns mal drüber unterhalten, besteht da nicht die winzig kleine Möglichkeit, dass die Vernichtung einer außerirdischen Lebensform wie dem Herzen extrem verflucht gefährlich sein könnte? Ich meine, du setzt eine unbekannte Waffe wie den Eidbrecher gegen ein unbekanntes andersdimensionales Wesen wie das Herz ein, und Gott allein weiß, welche Arten von Energien und Kräften da freigesetzt werden könnten! Du könntest das ganze Haus in die Luft jagen. Verdammt, du könntest das ganze Land in die Luft jagen!«

»Weshalb so bescheiden denken?«, entgegnete ich. »Wir könnten die ganze Welt in die Luft jagen! Aber weißt du was, Molly? Es kümmert mich nicht mehr. Das hier ist etwas, was ich tun muss, und es ist etwas, was ich tun werde - koste es, was es wolle. Du musst nicht mit mir kommen, wenn du nicht willst …«

»Ach, scheiß drauf!«, antwortete Molly energisch. »Ich bin nicht so weit gekommen, um dann zu verpassen, wie die Macht der Droods ein für alle Mal gebrochen wird! Dies ist es, wozu ich mich verpflichtet habe, Eddie, und schreib dir das hinter die Ohren: Rache an der Familie zu nehmen, die meine Eltern ermordet hat!«

»Die Familie hat auch meine Eltern umgebracht«, sagte ich. »Allerdings würde sie das nie zugeben. Deshalb nehme ich an … dass dies auch meine Rache ist.«

»Außerdem«, fügte Molly hinzu, »würdest du es allein wahrscheinlich sowieso vergeigen. Du brauchst mich, Eddie.«

Ich lächelte sie an. »Danke«, sagte ich. »Für alles.«

»Nicht um alles in der Welt hätte ich das verpassen wollen!«, antwortete sie und erwiderte mein Lächeln.

»Wir haben einen langen Weg zusammen zurückgelegt«, sagte ich. »Die ganzen Jahre, die wir vergeudet haben, indem wir versuchten, uns gegenseitig umzubringen …«

»Werd mir jetzt nicht gefühlsduselig, Eddie! Wir haben etwas zu erledigen. Vielleicht ist später Zeit für … andere Dinge.«

»Falls es ein Später gibt.«

»Hey, betrachte es doch mal positiv: Höchstwahrscheinlich wird deine Familie uns töten, lange bevor wir auch nur in die Nähe des Herzens kommen.«

Wir lachten leise zusammen, und dann nahm ich sie in die Arme und hielt sie nah an mich. Ich konnte sie nicht festhalten - die Schmerzen in meiner linken Seite waren zu stark -, aber sie verstand. Sie hielt mich, als ob ich das Kostbarste in ihrem Leben sei, das einen Sprung bekommen hatte und zerbrechen könnte, wenn man zu grob damit umging, und barg ihr Gesicht an meiner Schulter. So standen wir eine Zeit lang, und dann zwangen wir uns dazu, loszulassen. Mehr Zeit durften wir uns nicht füreinander nehmen. Wir küssten uns, schnell, und dann traten wir zurück und setzten wieder unsere professionellen Mienen auf. Der vogelfreie Drood und die wilde Hexe, entschlossen, alles zu riskieren oder bei dem Versuch zu sterben - und wahrscheinlich beides.

»So«, meinte Molly, wieder ganz geschäftsmäßig. »Kennst du noch irgendeine Abkürzung, die wir von hier zum Sanktum nehmen könnten? Vorzugsweise eine, bei der man nicht von einer Horde hungriger Spinnen mit ernsthaften Drüsenproblemen gejagt wird?«

»Leider nein«, antwortete ich. »Das Sanktum ist vom Rest des Herrenhauses durch wirklich mächtige Kräfte abgeschottet; teils um das Herrenhaus vor einem Angriff von außen zu schützen, teils um die Familie vor den verschiedenen Energien und Emissionen des Herzens zu schützen. Man kann nur ins Sanktum gelangen, indem man sich ihm über den einzigen offiziell genehmigten Weg nähert; alles andere löst die inneren Sicherheitsreaktionen des Herrenhauses aus … und das wollen wir wirklich nicht. Falls dir die Verteidigungsmittel draußen in den Anlagen heftig vorgekommen sind - sie sind nichts, verglichen mit dem, was im Herrenhaus selbst ist. Der Tod könnte noch das Angenehmste sein, was uns widerfahren würde.«

»Mein Gott, in deiner Gesellschaft ist es manchmal echt deprimierend!«, sagte Molly. »Der offizielle Weg ist doch inzwischen bestimmt schwer bewacht?«

»Selbstverständlich. Und nenn mich nicht -«

»Untersteh dich!«

»'Tschuldigung. Drohende Gefahr und naher Tod kehren immer die respektlose Seite in mir hervor. Nein, wir werden uns durch eine ganze Armee gepanzerter Droods kämpfen müssen, nur um zum Sanktum zu gelangen.«

Aus einer verborgenen Tasche ihres Kleides zog Molly den Torquesschneider hervor und betrachtete die hässliche Schere mit finsterem Blick. »Sie werden die Gänge wahrscheinlich mit Kanonenfutter vollstopfen, mit allen unerfahrenen, entbehrlichen Droods. So würde ich es jedenfalls machen. Wie viele weitere Familienmitglieder bist du bereit sterben zu sehen, Eddie?«

»Es hat schon einen Tod zu viel in der Familie gegeben. Es muss einen anderen Weg geben …«

Molly wartete geduldig, während ich angestrengt nachdachte, mit Plan um Plan aufwartete und alle verwarf. Die Familie konnte sich einer jahrhundertelangen Erfahrung rühmen, was das Zurückschlagen aller möglichen Versuche anging, die Gänge im Sturm zu nehmen. Die Gänge … Ich sah Molly an und grinste plötzlich.

»Wenn ich in der Rüstung stecke, bin ich stärker, schneller, mächtiger. Weitaus stärker, als die zerbrechliche Welt, in der ich mich bewege. Warum also durch die Gänge ziehen und in diese und jene Richtung gehen, wenn es einen viel schnelleren Weg gibt? Warum nicht in gerader Linie zum Sanktum gehen, indem ich alles in Stücke schlage, was mir im Weg ist?«

»Klingt nach einem Plan für mich«, meinte Molly mit funkelnden Augen.

Ich steckte den Eidbrecher hinten in meinen Gürtel und rüstete hoch. Mein Blick zeigte mir die gerade Linie von meinem Standort zum Sanktum, die ich brauchte. Ich drehte mich zu der getäfelten Wand zu meiner Linken um und schlug ein großes, gezacktes Loch in das massive Teak; ich zog meine goldene Hand zurück, und eine ganze Tafel löste sich. Ich steckte beide Hände in die Lücke und nahm die Wand mit der Kraft der Rüstung auseinander. Das schwere Holz riss, als ob es aus Papier sei. Molly sprang auf und ab, jubelte und klatschte entzückt in die Hände. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Wand in den Raum dahinter, und Molly kam mir eilig nach.

* * *

Das Zimmer war voller Liegesofas und kleinerer Sofas für zwei aus verschieden Stilepochen, alle angenehm bequem und gemütlich: Der perfekte Ort, um sich zu entspannen und stiller Versunkenheit zu frönen. Ich ging mit weit ausgreifenden Schritten durch den Raum, trat die schweren Möbel aus dem Weg und steuerte die nächste Wand an. Molly folgte mir und murmelte: »Typisch Mann …«, gerade laut genug, dass ich es hören konnte. Und dann sprang die Tür auf und ein Dutzend gerüsteter Droods stürmte in den Raum, wobei der Türrahmen zersplitterte, weil sie versuchten, sich alle zugleich hineinzuzwängen. Ihre Hast und Unbeholfenheit ebenso wie die planlose Weise, in der sie sich vor mir gruppierten, machten es offensichtlich, dass keiner von ihnen irgendwelche Kampferfahrung besaß. Vermutlich nur Haus-Droods, die zum Kriegsdienst gepresst worden waren; mir in den Weg geworfen, um mich zu verlangsamen, bis erfahrenere Kämpfer hierhergelangen konnten. Arme Schweine! Noch mehr Unschuldige, die für das Wohl der Familie geopfert wurden. Ich musterte sie, wie sie sich nervös in einem Halbkreis vor mir formierten, glänzend und golden, und dann einfach dastanden und mich ansahen. Offenbar wollte keiner derjenige sein, der den ersten Schritt machte.

»Geht mir aus dem Weg!«, forderte ich sie auf, und es war überhaupt nicht schwer, kalt und gemein und gefährlich zu klingen.

Man musste es ihnen hoch anrechnen, dass keiner zurückwich; ein Drood brachte sogar einen Schritt vorwärts zustande. Seiner Stimme nach zu urteilen war er noch jung, aber obwohl er die Hosen gestrichen voll haben musste, war sein Ton entschlossen und fest.

»Wir können Sie nicht vorbeilassen. Sie sind vogelfrei. Wir kämpfen für die Ehre der Familie.«

»Ich auch«, sagte ich. »Wenn ihr nur wüsstet! Tritt zur Seite! Du weißt, dass du mich nicht aufhalten kannst: Ich habe Frontausbildung.«

Der junge Drood rührte sich nicht. »Alles für die Familie!«

Bedächtig nickte ich ihnen allen verständnisvoll und anerkennend zu. »Natürlich. Was immer geschehen mag, ich bin stolz auf euch alle.«

Ich stürmte vorwärts und drosch den jungen Drood mit einem einzigen Schlag meines Handrückens, der ihn von den Füßen riss und durchs Zimmer fliegen ließ, aus dem Weg. Die anderen Droods zögerten, vor Schreck und Unsicherheit erstarrt, und schon war ich mitten unter ihnen. Auch Haus-Droods müssen, wenn sie Kinder sind, eine Grundausbildung durchlaufen, aber die meisten heben in ihrem ganzen Leben keine Hand im Zorn, weder in noch ohne Rüstung. Sie hatten keine Chance. Ich schlug sie nieder und trat sie weg, hob sie hoch und warf sie hierhin und dahin. Sie konnten sich in ihrer Rüstung nicht wehtun, aber es kaufte ihnen den Schneid ab. Ein paar versuchten, einen Kampf daraus zu machen, und gingen mit den Fäusten auf mich los. Ich hob sie hoch und schleuderte sie gegen Wände, und sie krachten durch das Balkenwerk. Molly setzte ihre Zauberei ein, um die Wände über ihnen einstürzen zu lassen, und das Gewicht der Trümmer nagelte sie auf dem Boden fest. Sie würden sich zwar irgendwann herausgraben, aber bis dahin wären wir längst verschwunden.

* * *

Ich krachte durch die gegenüberliegende Wand ins nächste Zimmer, dann durch die nächste Wand ins nächste Zimmer oder den nächsten Gang, immer weiter, immer in gerader Linie durch das Herrenhaus. Wenigstens befand sich das Sanktum im zentralen Teil des Gebäudes und nicht in einem der Flügel, sonst hätte ich womöglich Stunden gebraucht. Mauern, die jahrhundertelang gestanden hatten, fielen unter meiner gepanzerten Kraft und meiner kalten, kalten Wut, und obwohl mehr Droods kamen und mir entgegentraten, in und ohne Rüstung und mit allen möglichen Waffen, gelang es keinem auch nur ansatzweise, mich aufzuhalten.

Ab und zu wurde die Übermacht ein bisschen groß, wenn Familienmitglieder ein ganzes Zimmer vor mir füllten, aber noch immer hatte keiner von ihnen Fronterfahrung, und schneller als sie zu schalten und sie auszumanövrieren war ein Kinderspiel. Ich hätte viele von ihnen töten können, aber ich tat es nicht. Es war nicht nötig. Manchmal legte ich sie rein und brachte sie dazu, gegeneinander zu kämpfen - eine goldene Gestalt sieht wie die andere aus. Manchmal begrub ich sie unter Möbelhaufen oder wickelte sie in wertvolle Wandbehänge ein, die sie nicht zu zerreißen wagten. Einmal hielt Molly eine ganze Schar auf, indem sie damit drohte, eine Schauvitrine voll feinem Porzellan umzuwerfen, und ein Dutzend Stimmen schrie in entsetztem Protest auf.

»Diese Stücke sind unersetzlich!«, rief eine gequälte Stimme, als Molly die Vitrine langsam kippte, sodass die Porzellanteile ruckweise über die Bretter rutschten. »Sie sind von unschätzbarem Wert! Historische Schätze!«

»Warum hortet ihr sie dann für euch selbst?«, fuhr Molly sie an. »Warum sind sie nicht in einem Museum, sodass sich jeder daran erfreuen kann? Zieht euch verdammt noch mal zurück, oder ich mache euch ein Porzellanpuzzle, wie ihr es noch nie gesehen habt!«

»Wir ziehen uns zurück, wir ziehen uns zurück!«, riefen die Droods. »Barbarin! Philisterin!«

In größter Eile machten sie uns Platz. Molly und ich hoben die Vitrine hoch und trugen sie durch den Raum, und die Droods zerstoben vor uns und beschworen uns jammernd, wir sollten doch vorsichtiger sein. Ich schlug ein Loch in die Wand und trat hindurch, und Molly zog die Vitrine in die richtige Lage, sodass sie das Loch verstopfte. Wir lachten und wiegten uns in der Gewissheit, dass die Droods Ewigkeiten damit zubringen würden, die Vitrine ganz vorsichtig herauszuziehen, um nicht zu riskieren, dass ihr kostbarer Inhalt beschädigt wurde.

* * *

Mehr Droods im Korridor dahinter. Und die schließlich hatten anscheinend wenigstens eine rudimentäre Frontausbildung genossen. Sie stellten sich geschickt an, alle zehn, und schwärmten so aus, dass sie keine Grüppchen bildeten und damit kein leichtes Ziel abgaben. Ich verschwendete keine Zeit damit, mit ihnen zu reden; ich konzentrierte mich und wendete an, was ich von James gelernt hatte: Ich ließ übernatürlich scharfe Krallen an meinen goldenen Händen wachsen. Das Erste, was ein Frontagent lernt, ist, dass jeder Trick ein fairer Trick ist, wenn er bedeutet, dass man selbst gewinnt und der Gegner verliert. Ich nahm sie auseinander, einen nach dem anderen, persönlich und im Nahkampf. Meine Krallen schlitzten ihre Rüstungen auf und sie schrien, vor Schmerz ebenso wie vor Schreck. Ihr Fleisch wurde zerrissen und sie bluteten in ihren Rüstungen, und das hatte es noch nie gegeben. Einige drehten sich einfach um und rannten; die Übrigen wichen zurück, zerstreuten sich, und Molly und ich gingen geradewegs durch sie hindurch.

Ein paar sahen in Molly ein leichteres Ziel. Sie gingen auf sie los und streckten ihre goldenen Hände nach ihr aus, und sie lachte ihnen in die mienenlosen Gesichter. Sie beschwor einen heulenden Sturm herauf, der durch den engen Korridor tobte, die Droods erfasste, mit sich fortriss und wieder fallen ließ, bis sie hilflos wie weggeworfenes Spielzeug über den gesamten Gang verstreut lagen.

Die restlichen Droods gingen mich alle auf einmal an, brachten mich aus dem Gleichgewicht und warfen sich, als ich krachend hinfiel, auf mich und versuchten, mich durch das schiere Gewicht ihrer gepanzerten Körper am Boden festzunageln. Eine gute Taktik. Hätte wahrscheinlich bei jemandem, der nicht fronterfahren und gewohnt war, um die Ecke zu denken, auch funktioniert. Ich brach den Boden unter uns mit einem scharfen Hieb eines goldenen Ellbogens auf, und unser vereintes Gewicht ließ ihn vollends einstürzen. Ein großes Loch tat sich auf, und wir fielen alle durch, wobei die anderen Droods den ganzen Weg nach unten in den Raum unter uns um sich traten und schrien und nach einander griffen. Ich natürlich ergriff einfach mit einer Hand den Rand des Lochs und zog mich wieder hoch und heraus. Die Droods unter mir waren so unerfahren, dass ihnen wahrscheinlich nicht mal in den Sinn käme, dass sie mit der gepanzerten Kraft ihrer Beine wieder hochspringen konnten. Oder wenigstens nicht, ehe Molly und ich schon wieder weiter waren.

* * *

Der nächste Raum war eine Falle.

Ich erkannte den Ort im selben Moment, als ich ihn betrat. Das Zimmer wurde Auszeit genannt und war voller reich verzierter Uhren und Zeitmesser aus zahlreichen Jahrhunderten, von Wasseruhren bis Atomgeräten, die alle vier Wände einnahmen. Ich hatte Auszeit noch nie gemocht; der Ort war mir immer unheimlich vorgekommen, als ich jung war, erfüllt vom Ticken einer Unmasse von wahnsinnigen Uhren. In diesem Raum konnte die Zeit selbst verlangsamt werden, gestreckt werden. Hier drin konnte ein Tag zwischen dem Tick und dem Tack einer Uhr draußen verstreichen. Ursprünglich war Auszeit damals im neunzehnten Jahrhundert gebaut worden, um die Beobachtung gewisser heikler wissenschaftlicher und magischer Experimente zu ermöglichen, aber dieser Tage wurde er hauptsächlich von Studenten benutzt, die für eine nahe bevorstehende Prüfung Stoff wiederholen und büffeln wollten.

Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, noch bevor ich den Raum zur Hälfte durchquert hatte. Die ganzen schweren Ticks und Tacks um mich herum hatten einen merkwürdigen, verhallenden Klang angenommen, und die Luft war dick wie Sirup. Ich blickte zurück zu Molly, die noch in dem Loch in der Wand steckte, das ich gemacht hatte: Sie bewegte sich nur wenig schneller als im Schneckentempo. Mit ihr war alles in Ordnung - es war das Zimmer. Die Zeit verlangsamte sich, schloss mich in das Zimmer ein wie ein Insekt in Bernstein. Wie einen Gefangenen in eine Zelle mit unsichtbaren, nicht greifbaren Gittern. Ich hätte den Raum in ein paar Sekunden durchqueren können, nur um dann feststellen zu müssen, dass außerhalb davon Tage verstrichen waren und die ganze Familie darauf wartete, gegen mich anzutreten.

Ich erhob meinen Blick, und rings um mich schien die Luft zu schimmern, dick vor langsam gerinnenden Kräften. Das war nichts, wogegen ich mit meiner Rüstung kämpfen konnte; ihre ganze Stärke und Schnelligkeit bedeuteten nichts angesichts der unerbittlichen Macht der Zeit. Von überall um mich herum kam das langsamer werdende, unbarmherzige Ticken der Unmasse wahnsinniger Uhren, nagelte mich fest wie ein Insekt in einem Schaukasten, das von einer Stecknadel aufgespießt war.

Ich schlug nach der Standuhr neben mir, und das schwere Holzgehäuse explodierte unter der Wucht des Schlages. Ich riss die Ketten und das Perpendikel heraus und warf sie beiseite, und die große alte Uhr war zum Schweigen gebracht. Und der wachsende Einfluss der Zeit auf mich schien zu zögern … Ich ergriff eine Reiseuhr aus dem siebzehnten Jahrhundert und zerquetschte sie in meiner goldenen Hand, und Zahn- und Hebnägelräder flogen heraus. Der Griff der Zeit schien sich ein wenig von mir fortzustehlen. Ich konnte es fühlen. Ich lachte laut und wütete im Zimmer herum, zerschmetterte alle Uhren, zerstörte alles, was mir in die Finger kam, bis plötzlich Molly mit großen Schritten durch den Raum auf mich zukam und wissen wollte, was zum Teufel ich da eigentlich machte. Sie hatte nichts gemerkt. Ich hörte auf, schwer atmend, und schaute mich um: Das Zimmer war ein einziges Durcheinander. Und die Zeit verstrich normal, tickte und tackte dahin, als ob nichts geschehen wäre. Mit einem Kopfschütteln an Mollys Adresse ging ich

auf die andere Wand zu. Es war sinnlos, das erklären zu wollen. Es war nicht genug Zeit.

* * *

Ich krachte durch die Wand, als ob sie aus Pappe wäre, und trat auf den Gang dahinter. Meine Füße schossen unter mir heraus, und ich stürzte plötzlich durch die Länge des Korridors; verzweifelt suchte ich an den Wänden nach Halt, während sie an mir vorbeirauschten. Jemand hatte die Richtung der Schwerkraft geändert, sodass die Stirnwand am anderen Ende des langen Korridors jetzt der Boden war und die beiden Längswände die Seitenwände eines echt langen Falls. Hilflos purzelnd fiel ich die ganze Strecke bis zum Boden, bis die Stirnwand wie eine Fliegenklatsche auf mich zugeflogen kam. Ich rollte mich zu einem Ball zusammen, bekam die Füße unter mich und benutzte meine gepanzerten Beine, um die Wucht des Aufpralls zu schlucken.

Zum Glück war es eine wirklich stabile Wand; alter Stein, dick und robust. Ich schlug hart auf, und der Stein bekam von der Decke bis zum Boden Sprünge, aber er hielt. Es dauerte einen Moment, bis ich wieder bei Atem war. Über mir erstreckte sich endlos der Korridor, die Wände wie Berghänge. Weit oben konnte ich Molly ausmachen, die aus dem Loch, das ich gemacht hatte, besorgt zu mir nach unten spähte. Ich schrie ihr zu, sich nicht vom Fleck zu rühren. Ich dachte angestrengt nach, während meine Herzfrequenz sich zögerlich wieder in Gefilde der Normalität begab. Der Familie musste klar sein, dass der Sturz allein mich nicht umbringen würde. Das hier war bloß eine weitere Verzögerungstaktik. Es war alles, was sie hatten.

Ich zwängte mich aus der kaputten Mauer, wobei ich sie noch mehr beschädigte, und sah zu Molly hoch. »Bleib, wo du bist! Ich komme zu dir hochgeklettert!«

»Ich könnte dich mit meiner Zauberei hochholen!«, schrie sie zurück. »Vielleicht sogar die Schwerkraftumkehrung rückgängig machen!«

Sie sah wirklich ganz schön weit weg aus. Vielleicht fummelte hier, genau wie an der Gravitation, auch jemand am Raum rum. Oder standen die sowieso in Zusammenhang? Mein letzter Naturwissenschaftsunterricht lag lange zurück.

»Nein!«, schrie ich nach oben. »Unternimm gar nichts! Deine Magie könnte die inneren Verteidigungsanlagen des Herrenhauses auslösen!«

»Willst du damit sagen, dass das kein -«

»Zum Teufel, nein! Das hier ist bloß das Werk irgendeines schlauen kleinen Scheißkerls, der sein Querdenken anbringt.«

Ich schlug ein Loch in die Wand links von mir, die ursprünglich der Boden gewesen war, zog meine goldene Hand vorsichtig wieder heraus und machte dann ein zweites Loch. Ich schlug weiter Löcher in die Wand, bis ich genug Halt für Hände und Füße hatte, um loszuklettern, und dann bestieg ich die Wand und machte mich auf den Weg zurück zu Molly. Ich wurde schneller, als ich den Dreh rauskriegte und in einen guten Rhythmus kam, und bald huschte ich wie eine Riesenspinne an der Wand hoch. (Bei diesem Gedanken zuckte ich zusammen, und ich schob ihn entschlossen weg.) Schnell erreichte ich das Loch, wo Molly wartete, und sie half mir, mich wieder hindurchzuziehen. Wir schauten beide auf den langen, lotrechten Abfall unter uns und auf die gegenüberliegende Wand.

»Was jetzt?«, fragte Molly.

»Im Zweifelsfall empfiehlt sich der Einsatz von Ignoranz und roher Gewalt«, antwortete ich. »Steig auf meinen Rücken!«

Sie warf mir einen strengen Blick zu, machte es aber schließlich und hielt sich fest, während ich zurück durch das Zimmer ging, durch das wir gerade gekommen waren. Dann nahm ich ordentlich Anlauf, um Geschwindigkeit aufzubauen, sprang durch das Loch über den Korridorschacht und durchschlug die gegenüberliegende Wand in den Raum dahinter. Molly sprang von mir herunter und klopfte sich Staub und Splitter von Haaren und Schultern.

»Das will ich nicht wieder machen müssen - nie wieder!«, sagte sie bestimmt. »Nächstes Mal werde ich uns rüberfliegen!«

Ich blickte sie an. »Ich wusste gar nicht, dass du fliegen kannst.«

»Du weißt eine ganze Menge Sachen nicht über mich. Du solltest mal sehen, was ich mit einem Pingpongball machen kann!«

* * *

Ich schaute mich in dem Zimmer um, und wieder erkannte ich es. Ich hatte die lange, schmale Kammer immer als Andenkenraum betrachtet. Sie war vollgestopft mit Trophäen und Erinnerungsstücken und einem ganzen Haufen im Grunde genommen interessanten alten Zeugs, das meine verschiedenen Vorfahren von ihren Reisen durch die Welt mitgebracht hatten. Bücher und Landkarten, Objekte und Artefakte und einige sonderbare und obskure Gegenstände, die vermutlich einmal irgendjemand irgendetwas bedeutet hatten, deren Geschichten aber inzwischen verloren und vergessen waren. Für einen jungen Drood wie mich waren sie alle herrlich interessant und faszinierend, lag in ihnen doch die Andeutung einer viel größeren Welt außerhalb des Herrenhauses. Ich hatte als Kind viel Zeit hier verbracht, in den Büchern geblättert und mit den Sachen gespielt - zumindest teilweise deshalb, weil ich wusste, dass ich es nicht sollte. An vielen Ausstellungsstücken hing ich immer noch, darum achtete ich darauf, nichts kaputt zu machen, als ich durch das Zimmer ging. Ich machte Molly auf einige meiner Lieblingsstücke aufmerksam.

»Das hier ist der Schädel eines Vodyanoy aus dem präsowjetischen Russland. Hier sind echte Thug-Würgeseile aus dem Hindukusch. Das klumpig aussehende haarige Ding da ist ein schlecht ausgestopfter Chupacabra aus Chile. Der, sofern das überhaupt möglich ist, tot noch schlimmer stinkt als lebendig. Und die ganzen Exponate in der Vitrine da drüben sind feine Schnitzereien aus den Knochen eines großen weißen Wals.«

»Ihr solltet Eintritt fürs Herrenhaus verlangen«, meinte Molly. »Mit dem Sommergeschäft könntet ihr ein Vermögen machen.«

Die Tür vor uns wurde aufgerissen, und meine Großmutter Martha Drood, die Familienmatriarchin höchstpersönlich, schritt in den Raum, um mir gegenüberzutreten, begleitet wie immer von ihrem Gemahl Alistair. Ich blieb abrupt stehen und sah sie an, und sie hielten an, wo sie waren, in vorsichtiger Entfernung. Molly stellte sich dicht neben mich und beruhigte und unterstützte mich mit ihrer Gegenwart. Ich war froh, dass sie da war. Auch nach allem, was passiert war, nach allem, was ich herausgefunden hatte … war Martha immer noch die Matriarchin, Wille und Autorität der Droods. Und früher einmal wäre ich lieber gestorben, als sie zu enttäuschen.

Die Matriarchin trug ihre Rüstung nicht. Natürlich nicht; das hätte als Eingeständnis der Schwäche ausgelegt werden können, und Marthas Arroganz würde ihr nie gestatten, mich als ernsthafte Bedrohung zu betrachten - nicht einmal nach all dem, was ich getan hatte. Dass ein Vogelfreier den Sieg über den Willen der Familie errang, war undenkbar.

Also rüstete ich auch herunter - nur um meine Geringschätzung zu zeigen.

»Hallo, Großmutter«, sagte ich. »Alistair. Woher wusstet ihr, wo ihr mich finden würdet?«

Alistair lächelte affektiert. »Dir den Weg abzuschneiden war nicht eben schwierig, Edwin. Wir brauchten nur der Zerstörung und den Trümmern zu folgen, eine Gerade zum Sanktum zu ziehen und dich dann hier abzufangen.«

»Du warst immer sehr direkt, schon als Kind«, sagte die Matriarchin. »Deshalb habe ich diesen Raum gewählt für unsere … kleine Plauderei. Wie viele Male musste ich jemanden schicken, um dich hier rauszuzerren, weil du nicht da warst, wo du sein solltest … Du warst immer solch eine Enttäuschung für mich, Edwin.«

Molly schaute mich an. »Es ist deine Familie, Edwin. Wie willst du damit umgehen?«

»Ganz vorsichtig«, sagte ich. »Meine Großmutter wäre mir hier nicht ohne ernst zu nehmende Unterstützung entgegengetreten, wenn sie sich nicht sicher wäre, dass sie ein paar echt fiese Karten zum Ausspielen hat.«

»Das ist die Drood-Matriarchin?«, fragte Molly. »Holla, jetzt bin ich aber schwer beeindruckt! Die Oberschlampe der Familie, die die ganze Welt leitet! Eine alte Kuh mit Charakterkopf, was?«

Die Matriarchin beachtete sie nicht, sondern fixierte mich mit ihrem kalten Blick. »Wo ist James?«, fragte sie schroff. »Was hast du James angetan?«

»Ich … ich habe ihn getötet, Großmutter«, sagte ich.

Da schrie sie kurz auf; ein verlorener, zutiefst erschütterter Laut. Sie sackte in sich zusammen, als ob ich sie geschlagen hätte, und wäre vielleicht sogar gestürzt, wenn Alistair nicht da gewesen wäre und sie gestützt hätte. Sie drückte das Gesicht an seine Brust und kniff die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten. Alistair funkelte mich über ihren gebeugten Kopf hinweg wütend an. Ich hatte sie leiden sehen wollen für das, was sie mir angetan hatte, uns allen angetan hatte, auch Onkel James, aber am Ende war es beunruhigend und sogar traurig mitanzusehen, wie so eine legendäre Fassade direkt vor mir bröckelte und auseinanderfiel. Ich hatte es vorher noch nie erlebt, dass sie in der Öffentlichkeit irgendwelche echten Gefühle gezeigt hatte.

»Du hast meinen Sohn getötet«, sagte sie schließlich und stieß sich von Alistair weg. »Meinen Sohn … deinen Onkel … Er war der Beste von uns! Wie konntest du, Edwin?«

»Du hast ihn in den Tod geschickt, Großmutter«, erwiderte ich unbeirrt. »Genau wie du versucht hast, mich auf der Autobahn in den Tod zu schicken. Erinnerst du dich noch daran?«

Ich machte einen Schritt nach vorn, um ihr all die anderen Dingen entgegenzuhalten, die ich zu sagen hatte, doch zu meiner Überraschung trat Alistair vor, um mir die Stirn zu bieten, und stellte sich zwischen seine Frau und den Vogelfreien, der sie bedrohte. Groß und stolz stand er da und gab sich alle Mühe, mich mit seinen Blicken einzuschüchtern, und zum ersten Mal sah er tatsächlich wie ein Drood aus.

»Geh mir aus dem Weg, Alistair!«, forderte ich ihn auf.

»Nein.« Seine Stimme war hoch, aber fest. Er hatte keine Autorität, keine Macht, und das wusste er, doch mit seiner Weigerung, sich aus der Schusslinie zu entfernen, besaß er endlich eine Art von Würde. »Ich werde nicht zulassen, dass du ihr weiter wehtust.«

»Ich will ihr nicht wehtun«, sagte ich fast schon abgedroschen. »Ich will niemandem wehtun. Deshalb bin ich nicht zurückgekommen. Aber ich muss etwas Wichtiges tun, und ich habe nicht viel Zeit dafür. Bring sie hier raus, Alistair!«

»Nein! Dies endet hier!«

»Ich habe den Eidbrecher«, setzte ich ihn ins Bild. »Und Molly hat den Torquesschneider. Nicht einmal der Graue Fuchs konnte dagegen etwas ausrichten.«

»Du hast den Torquesschneider gegen deinen eigenen Onkel eingesetzt?« Alistair sah mich entsetzt an. »Du lieber Gott, was ist nur aus dir geworden, Edwin?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Vielleicht bin ich mir all der Lügen und Verrätereien bewusst geworden … Es ist Zeit, der Familie ihr verderbtes Herz herauszuschneiden.«

»Ich habe auch eine Waffe«, sagte Alistair plötzlich, und auf einmal lag eine altmodische Pistole in seiner rechten Hand. Sie hätte primitiv, ja Mitleid erregend auf mich gewirkt - hätte ich sie nicht erkannt. Hätte ich nicht gewusst, wofür sie war. Alistair nickte grimmig, als er die Erkenntnis in meinen Augen sah. Selbst Martha wurde beim Anblick der Waffe aus ihrem Kummer aufgerüttelt.

»Alistair! Wo zum Teufel hast du die her? Die kannst du nicht benutzen! Ich verbiete es!«

»Ich werde tun, was immer nötig ist, um dich zu beschützen, Martha.« Alistair blickte mich an, aber die Pistole war unverwandt auf Molly gerichtet. »Du bleibst ganz ruhig stehen, Edwin, oder ich werde deiner Frau wehtun, so wie du meiner wehgetan hast. Ich weiß, dass keiner von euch mich jemals als richtiges Mitglied der Familie betrachtet hat. Ihr habt nie geglaubt, dass ich es in mir hätte, wie ihr Übrigen den guten Kampf zu kämpfen. Aber ich liebe diese Familie und alles, wofür sie steht, genau wie ich dich immer geliebt habe, Martha. Und dies ist der Augenblick, wo ich es beweisen werde.«

»Bitte, Alistair!«, redete Martha auf ihn ein und war bemüht, ihre Stimme ruhig und vernünftig klingen zu lassen. »Steck die Waffe weg! Lass mich die Sache handhaben!«

»Wie kannst du die Familie lieben«, fragte ich Alistair, »bei allem, was du über das Herz weißt? Über den Preis, den wir zahlen, um zu sein, was wir sind?«

Er runzelte die Stirn und schien plötzlich verunsichert. »Martha? Wovon redet er?«

Ich schaute Martha an. »Er weiß es nicht, nicht wahr, Großmutter? Du hast es ihm nie gesagt! Hast ihm nie erzählt, wieso er niemals den goldenen Torques tragen kann!«

»Er ist kein Mitglied des Rats«, sagte sie gleichgültig. »Er brauchte es nie zu wissen, also habe ich es ihm nie gesagt. Es wäre … grausam gewesen. Du warst immer zu weichherzig, Alistair.«

»Nicht hier, nicht jetzt!«, entgegnete er. »Nicht wenn er es wagt, dich und die ganze Familie zu bedrohen. Du weißt, was es mit dieser Pistole auf sich hat, nicht wahr, Edwin? Natürlich weißt du das! Wieso erzählst du deiner kleinen Hexenfreundin nicht, was es damit auf sich hat?«

»Ja, Eddie«, meinte auch Molly. »Du weißt, dass ich es hasse, ausgeschlossen zu sein.«

»Dies ist … eine Salem Special«, sagte ich. »Es ist ein Hexenkiller. Sie schießt Flammen, die aus der Hölle selbst heraufbeschworen sind; zumindest behaupten das die Aufzeichnungen. Seit Jahrhunderten hat niemand mehr das schreckliche Ding benutzt.« Ich starrte Alistair wütend an. »Ich kann es nicht glauben, dass du auch nur mit dem Gedanken spielst, eine Salem Special zu benutzen! Du setzt deine Seele aufs Spiel, wenn du sie nur in die Hand nimmst!«

»Ich werde dich aufhalten, und das ist alles, worauf es ankommt«, entgegnete er. Über seine Miene flackerte ein nervöses Lächeln. »Feuer mit Feuer bekämpfen, was? Oh, ich weiß, dass sie dich nicht verletzen wird, Edwin! Aber mit deiner hübschen Freundin wird sie entsetzliche Dinge anstellen … Du wirst also ganz ruhig stehen bleiben, Edwin, bis der Rest der Familie hier eintrifft, euch die Waffen wegnimmt und euch unter Arrest stellt, sonst werde ich deine Frau vor deinen Augen verbrennen!«

»Sei kein Narr, Alistair!«, herrschte Martha ihn an, die etwas von ihrer alten Autorität zurückgewonnen hatte. »Du bist kein Frontagent! Ich habe dich vor all dem beschützt!«

»Ich habe dich nie darum gebeten, beschützt zu werden, Martha!«

»Er wird dich umbringen!«

»Du hast noch nie Vertrauen zu mir gehabt«, sagte Alistair. »Aber heute werde ich euch allen beweisen, dass ihr euch geirrt habt. Du dachtest, du könntest ihn mit deiner Autorität aufhalten, dachtest, du könntest ihn so einschüchtern, dass er einfach aufgibt. Das habe ich nie geglaubt. Er hat sich sein ganzes Leben lang nicht durch Autorität einschüchtern lassen! Aber schau ihn dir jetzt an! Aus Angst vor mir rührt er keinen Muskel!«

Er wandte seinen Blick von mir ab, um sie triumphierend anzufunkeln, und mehr brauchte ich nicht. In diesem Moment der Ablenkung riss ich den Eidbrecher aus dem Gürtel und brachte ihn in einem schnellen Bogen herum. Er schickte sich an, wieder in Mollys und meine Richtung zu sehen und die Salem Special zu heben, aber der lange Eisenholzstock löste die Bindezauber an der alten Pistole und sie explodierte, und das ganze aufgespeicherte Höllenfeuer brach auf einmal aus. Übernatürlich helle Flammen verzehrten Alistairs Hand und Arm und verbrannten binnen Augenblicken das Fleisch bis auf die Knochen. Der Gestank nach Schwefel und verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Heulend und kreischend wich Alistair zurück; wild ruderte er mit dem Arm, als ob er die Flammen abschütteln könnte. Was von seiner rechten Hand noch übrig war, löste sich von seinem Unterarm, als das Höllenfeuer die kleinen Verbindungsknochen in seinem Handgelenk verzehrte. Es fiel auf den Boden, wo es liegen blieb, immer noch das umklammernd, was von der Salem Special noch übrig war.

Alistair brüllte entsetzlich, während die Flammen hochsprangen und seine rechte Schulter ergriffen. Martha schlug mit bloßen Händen nach ihnen, und obwohl sie vor Schmerzen schrie, versuchte sie zu helfen. Ich rüstete hoch und ging schnell zu Alistair hin, um die Flammen mit meinen goldenen Händen zu ersticken, aber auch wenn die Flammen mich nicht verbrennen konnten, ausschlagen konnte ich sie nicht. Am Ende trat Molly vor und rasselte etwas auf Latein herunter, und im Nu waren sämtliche Flammen verschwunden. Alistairs Schreie wichen schockiertem Stöhnen, und plötzlich setzte er sich auf den Boden und starrte dumpf auf das Wenige, was von seinem rechten Arm noch übrig war. Martha setzte sich neben ihn, nahm ihn in die Arme und versuchte, ihn zu trösten. Ich rüstete herunter und sah Molly an.

»Das war Höllenfeuer … Wie hast du -«

»Bitte!«, schnitt sie mir das Wort ab. »Vergiss nicht, mit wem du sprichst!«

Alistairs Stöhnen hörte auf, als ihn endlich eine gnädige Ohnmacht umfing. Weniger als die Hälfte seines rechten Oberarms war noch übrig, verkohlt bis auf die geschwärzten Knochen. Heilen würde er nie; er würde abgenommen werden müssen. Martha wiegte ihn hin und her und summte ihm wie einem schlafenden Kind vor. Sie weinte. Ich hatte sie vorher noch nie weinen gesehen. Ich versuchte, Mitleid für Alistair aufzubringen, aber das hier war das, was er meiner Molly angetan hätte, wenn ich ihn nicht daran gehindert hätte.

»Martha …«, setzte ich an.

»Nicht! Tu nicht so, als ob es dich kümmerte, du abnormes Kind!«

»So viele Tränen«, sagte ich. »Für Onkel James, für Alistair. Aber wie viele Tränen hättest du über meinen Tod vergossen, Großmutter, wenn ich auf jener Autobahn gestorben wäre? Oder wenn Onkel James mich getötet hätte, wie er den Befehl von dir hatte? Hast du meinen Zwillingsbruder beweint, als er dem Herzen geopfert wurde? Auch er war dein Enkel - wie hast du zwischen uns gewählt? Eine Münze geworfen vielleicht? Oder hast du es einfach dem Herzen überlassen, damit du dich nicht verantwortlich fühlen musstest?«

Doch sie hörte nicht zu. Alles, worum sie sich sorgte, war ihr Alistair und was ich ihm angetan hatte. Sanft zog Molly mich weg.

»Wir müssen gehen, Eddie. Du weißt, dass noch mehr kommen werden.«

Ich ließ sie ans andere Ende des Zimmers vorangehen. Ich hatte immer gedacht, am Ende würde Alistair sich als der Verräter in der Familie entpuppen. Weil er nie wirklich einer von uns gewesen war. Ich wollte, dass er der Verräter war. Aber am Ende … hatte er gut gekämpft und die Frau, die er liebte, tapfer vor meinem Zorn beschützt. Ich bewunderte ihn dafür. Der arme verdammte Narr! Die nächste Wand brauchte ich nicht zu zertrümmern; ich öffnete einfach die Tür und betrat das nächste Zimmer und ließ Martha und Alistair zurück.

* * *

Das nächste Zimmer war riesig: vom Boden bis zur Decke glänzend weiß gekachelt, die hygienisch sauberen Oberflächen vollgepackt mit Computern und anderer fortschrittlicher Technologie, das Ganze in einer streng kontrollierten Umgebung. Ein ganzer Raum voller Maschinen, nur um die Bedingungen im Innern des Sanktums zu überwachen und zu regulieren. Sie schützten das Herz vor allen äußeren Einflüssen und diejenigen, die im Herrenhaus lebten, vor den verschiedenartigen zerstörerischen Energien und gefährlichen Kräften, die vom Herzen ausgingen. Normalerweise wäre in dem gewaltigen Raum ein halbes Hundert Techniker verstreut gewesen, die sorgfältig die Apparaturen bedienten und ständig kleine, aber notwendige Veränderungen und Einstellungen am empfindlichen Gleichgewicht des Herzens vornahmen … aber der Raum lag wie ausgestorben da. Vermutlich hatten sie ihn evakuiert, sobald klar war, dass ich hierherkommen würde. Ich schlängelte mich durch die sperrigen Maschinen und steuerte die Tür am anderen Ende an. Hinter dieser Tür lag das Sanktum, und das Herz, und meine Rache.

Molly und ich waren fast da, als die Tür plötzlich aufging und Matthew und Alexandra hindurchtraten. Ich blieb abrupt stehen, und Molly stellte sich wieder dicht neben mich. Matthew sah aalglatt und todschick wie immer aus, der Liebling der Familie in seinem tadellosen Armani-Anzug. Er lächelte mich strahlend an. Alexandras Lächeln war kalt, und dasselbe traf auf ihre Augen zu. Ich nickte beiden knapp zu und tat mein Bestes, gänzlich unbeeindruckt zu wirken.

»Matthew!«, sagte ich. »Ich hätte mir denken können, dass du aufkreuzt. Du konntest es noch nie ertragen, etwas Wichtiges zu verpassen. Aber dass ich erwartet hätte, dich wiederzusehen, Alex, kann ich ehrlich nicht behaupten.«

»Gerade du müsstest wissen, dass ich nicht so leicht aufgebe.« Alexandras Stimme war scharf und schneidend. »Und Matty und mich hier zusammen anzutreffen, damit hättest du nun wirklich rechnen können. Aber du warst ja noch nie besonders schnell, wenn es darum ging, zu kapieren, was tatsächlich los ist, stimmt's nicht?«

Ich blickte zuerst sie und dann Matthew finster an. An ihrem Lächeln, ihrem ungezwungenen Selbstvertrauen, ihren Mienen war so etwas von Ich weiß etwas, was du nicht weißt. Irgendetwas war mir entgangen. Und ich konnte es mir nicht leisten, Fehler zu machen - nicht nachdem ich dem Herzen und seiner Zerstörung so nahe gekommen war … Was konnte ich übersehen haben? Weder Matthew noch Alexandra trugen die Rüstung, obwohl sie beide guten Grund hatten, mich als Bedrohung anzusehen. Hier ging etwas von Bedeutung vor sich, das konnte ich spüren. Sie mussten irgendetwas vorhaben … Ich riskierte einen schnellen Blick mit meinem Blick: Sowohl Matthew als auch Alexandra trugen versteckte Waffen, die enorme Mengen an Macht ausstrahlten, aber das taten Molly und ich auch. Ich überprüfte den Raum um uns herum: keine Sprengfallen, keine versteckten Mörder. Nur Matthew und Alexandra mit ihrem kalten, berechnenden Lächeln. Ich sah Alexandra direkt an.

»Was hast du dem Waffenschmied angetan, Alex?«

Sie zuckte lässig die Schulter. »Du hast doch nicht wirklich geglaubt, man könnte mich so leicht ausschalten, oder? Ich unterhalte einen ständig auf dem neuesten Stand befindlichen Schutz gegen alle Arten von Giften - eine elementare Sicherheitsmaßnahme. Und er hätte wirklich nicht so dumm sein dürfen, mir den Rücken zuzukehren … Aber er ist alt und weich geworden, wie heutzutage so viele in der Familie. Das alles werden wir ändern.«

Und mit diesem wir fiel endlich der Groschen. »Du und Matthew … ihr seid Teil der Null-Toleranz-Fraktion! Die Hardcore-Familienfanatiker, die alles ändern wollen! Bringt alle Bösen um und scheißt auf die Konsequenzen!«

»Jawohl«, bestätigte Matthew, »das sind wir. Nur dass wir es vorziehen, uns Manifestes Schicksal zu nennen.«

Ich muss wohl ein bestürztes Geräusch von mir gegeben haben, denn ihr Lächeln wurde breiter. Molly ergriff meinen guten Arm und hielt ihn ganz fest; vielleicht dachte sie, ich würde die beiden angreifen. Ich war zu verblüfft. Matthew und Alexandra lachten über den Ausdruck in unseren Gesichtern.

»Truman glaubt nur, dass er die Sache leitet«, erklärte Alexandra unbeschwert. »Aber er ist nur unser Strohmann, unser öffentliches Gesicht, damit der Rest der Welt nicht merkt, dass es in Wirklichkeit die Droods sind, die das Manifeste Schicksal aus ihren eigenen Beweggründen finanzieren und führen. Und es auch nicht merken wird, bevor es viel zu spät ist.«

»Aber … du hast gegen ihre Truppen gekämpft!«, sagte ich zu Matthew. »Ich habe dich gesehen, in London …«

Er zuckte die Achsel. »Eine notwendige Täuschung. Und gelegentlich müssen die Truppen in ihre Schranken verwiesen werden. Es hält Truman davon ab, zu anmaßend zu werden, wenn wir ihm ab und zu ordentlich eins auf die Nase geben.«

»Es war schon immer die Art der Droods, hinter den Kulissen zu wirken«, sagte Alexandra, »lieber Königsmacher als Könige zu sein. Null-Toleranz ist der einzige Weg nach vorn für die Droods, Eddie. Die Familie ist sehr altmodisch geworden, sehr starr in ihren Methoden - und viel zu selbstgefällig. Zu zufrieden damit, wie es in der Welt zugeht … Die meisten aus den jüngeren Generationen folgen uns inzwischen, brennen darauf, die Welt zum Besseren zu verändern statt ihr Leben zu riskieren, nur um den Status quo aufrechtzuerhalten. Und schließlich, warum sollten sie das auch? Sieh dich doch um! Der Status quo ist echt beschissen! Es ist Zeit, dass wir die Führung übernehmen, alle Bösen ein für alle Mal ausrotten und eine bessere Welt für alle schaffen!«

»Aber wem bleibt es überlassen zu entscheiden, was besser ist?«, fragte ich. »Den Droods? Dem Manifesten Schicksal? Euch?«

»Die Familie wird es entscheiden«, antwortete Matthew. »Und wer wäre dafür besser geeignet? Wir sind die Einzigen, die wissen, was wirklich in der Welt vor sich geht.«

»Ich dachte eigentlich, gerade du müsstest das verstehen, Eddie«, sagte Alexandra. »Du warst immer der große Rebell … der berühmte Freidenker der Familie. Du hast mir die Augen geöffnet, hast mir gezeigt, dass das Leben nicht nur aus Pflicht und Verantwortung besteht. Nachdem du uns verlassen hattest, wartete und wartete ich darauf, dass du etwas unternimmst … irgendetwas. Aber du hast dich damit zufriedengegeben, bloß ein weiterer Frontagent zu sein. So eine Enttäuschung!«

»Komisch, Alex«, erwiderte ich, »genau das Gleiche habe ich über dich gedacht. Ich dachte eigentlich, du wärst klüger. Matthew war ja noch nie der Hellste, aber du … Du bist exakt zu dem geworden, wogegen diese Familie sich immer gestellt hat: Eine weitere Möchtegern-Diktatorin mit Größenwahn.«

»Oh, es ist kein Wahn!«, widersprach Matthew. »Nicht mehr. Wir haben Anhänger, Waffen und weitreichende Pläne. Dies ist unsere Zeit, unser Schicksal. Das Morgen gehört uns!«

»Die Familie hat viel zu viel Zeit mit dem Kampf gegen das Übernatürliche verbracht«, sagte Alexandra lebhaft. »In ihren zahllosen geheimen Kriegen unsere Leben vergeudet, bloß um ihren ach so kostbaren Status quo aufrechtzuerhalten. Die Zeit ist gekommen, all diesen Kriegen ein Ende zu setzen, indem wir ein für alle Mal den Sieg davontragen. Wir werden alles ausrotten, was nicht menschlich ist, nicht natürlich ist. Keine Zauberei mehr, nur verlässliche, rationale Wissenschaft. Wir werden aus der Welt einen saubereren, einfacheren Ort machen. Eine menschliche Welt, in der das menschliche Schicksal nur von Menschen bestimmt wird.«

»Keine Zauberei mehr?«, fragte Molly. »Keine Wunder mehr, keine geflügelten Einhörner mehr, kein Tanzen auf Mondstrahlen oder Lachen in den wilden Wäldern mehr?«

»Oh, ein paar von euch werden wir wahrscheinlich behalten«, meinte Matthew. »Als Haustiere.«

»Und die Drood-Familie führt die Aufsicht«, riet Molly.

»Selbstverständlich«, bekräftigte Alexandra. »Wir werden unser Licht nicht mehr im Schatten verstecken und Gutes nicht mehr nur aus der Entfernung tun. Wir haben uns unsere Zeit im Rampenlicht verdient! Wir planen das schon so lange … Doch dann bist so schrecklich nah daran gekommen, alles zum Scheitern zu bringen, Eddie.«

»Bin ich das?«, fragte ich. »Das sieht mir ähnlich!«

»Wir waren es, die den Karma-Katecheten ausfindig gemacht und neu programmiert haben«, führte Matthew aus. »Wir hatten vor, sein angesammeltes Wissen im kommenden Krieg einzusetzen. Nur dass der Prozess schieflief … Weißt du, er ist im Lauf der Jahre durch so viele Hände gewandert; so viele verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten und Zielen. Ich kann dir sagen, Eddie, sein Schädelinneres war ein einziges Chaos. Also lieferten wir den armen Burschen klammheimlich ins Saint Baphomet ein, damit dort seine Gesundheit wiederhergestellt werden sollte - von gewissen medizinischen Fachleuten, die der Sache des Manifesten Schicksals wohlwollend gegenüberstehen.«

»Und dann kamst du daher«, fuhr Alexandra fort. »Was hattest du in diesem Zimmer überhaupt verloren, Eddie? Das war nicht Teil deines Auftrags! Du hättest nicht einmal auf diesem Stockwerk sein sollen! Aber man konnte sich ja noch nie darauf verlassen, dass du einfach nur deine Arbeit machst … Wir durften es nicht darauf ankommen lassen, ob er dir etwas über uns und unsere Pläne erzählt hatte oder nicht. Er kannte unsere Namen, wusste alles. Und uns war klar, dass du bei dem, an dessen Verwirklichung wir alle so hart gearbeitet hatten, nicht einfach mitmachen würdest. Also raunten wir der Matriarchin ins Ohr, erzählten ihr, du habest den Karma-Katecheten absichtlich umgebracht, weil du ein Teil des Manifesten Schicksals seist. Es war wirklich nicht besonders schwer, sie zu überzeugen; du warst schon immer das schwarze Schaf der Familie. Ein Einzelgänger in jeder Beziehung bis auf den Namen. Wir überzeugten sie davon, dass du eine eindeutige und akute Bedrohung für die Familie darstellst, und, Eddie … sie unterschrieb dein Todesurteil ohne mit der Wimper zu zucken. Schreckliches altes Weib!«

Matthew grinste breit. »Wir wussten schon immer, dass der Weg zur Macht über sie führt. Also haben wir sie … bearbeitet. Ihre Paranoia genährt. Wir mochten keine Ratsmitglieder sein, aber wir waren viele Jahre lang ihre Lieblinge, und sie verheimlichte uns nichts.«

»Er hatte mir überhaupt nichts erzählt«, sagte ich schroff. »Der Karma-Katechet. Vorher hat er sich umgebracht. Das hier … alles, was passiert ist … es war alles völlig unnötig. Alles umsonst!«

Alexandra zuckte die Schulter. »Wir gaben ihm den Giftzahn und programmierten ihn so, dass er ihn benutzt, wenn er sich irgendwie gefährdet sieht. Vielleicht hätten wir ihm keinen Stecher an das Ding machen sollen. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Tatsächlich warst du sehr nützlich für uns, Eddie, denn du hast einen so wunderbar sichtbaren Sündenbock abgegeben, der die Aufmerksamkeit der Familie gefangen hielt, während wir still und heimlich unsere Pläne in die Tat umsetzten.«

»Wir hätten die Familie zuerst destabilisieren und schwächen müssen, bevor wir die Kontrolle übernehmen konnten«, ergriff Matthew wieder das Wort. »Aber jetzt hast du das für uns gemacht! Du hast die Familie demoralisiert, die meisten ihrer einflussreichen Persönlichkeiten ausgeschaltet und die Matriarchin vernichtet, indem du ihren geliebten Alistair vernichtet hast. James ist tot, Jack ist tot -«

»Du hast ihn umgebracht? Du hast den Waffenschmied umgebracht?«, fragte ich Alexandra erschüttert, und sie zuckte zusammen bei dem, was sie in meiner Stimme hörte.

»Er war uns im Weg«, sagte sie. »Er hätte sich schon vor langer Zeit zur Ruhe setzen sollen.«

»Ich werde dafür sorgen, dass ihr dafür in der Hölle brennt«, sagte ich, und meine Stimme war kalt genug, um beide einen Moment lang aus der Fassung zu bringen.

»Du warst schon immer eine sentimentale Person«, sagte Alexandra.

»Im Moment gibt es ein Machtvakuum im Zentrum der Familie«, sagte Matthew. »Und wer wäre besser dafür geeignet, in die Bresche zu springen, als die anerkannten Lieblinge der Matriarchin? Besonders wo wir eine so große und entschlossene Gefolgschaft innerhalb der Familie haben?«

»Der Rat wird nicht wissen, was ihn getroffen hat«, erklärte Alexandra, »bis es viel, viel zu spät ist.«

»Wisst ihr über das Herz Bescheid?«, fragte ich. »Über den Handel, der eingegangen wurde, und den Preis, den wir immer noch für unsere Rüstung und unsere Stärke zahlen?«

»Ach das!«, meinte Matthew. »Davon hat uns die Matriarchin schon vor langer Zeit erzählt. Sie hielt nichts davon, Geheimnisse vor ihren geliebten Favoriten zu haben. Es hat mir schon in gewisser Weise die Augen geöffnet, das gebe ich zu, aber wie Lexxy schon sagte, in einer Familie, die es zu etwas bringen will, ist für Sentimentalitäten kein Platz. Wir müssen eine Welt in Ordnung bringen! Was sind angesichts dessen schon ein paar Leben? So sind die Dinge eben.«

»Ihr könnt nicht den Moralapostel spielen mit dem Blut von Unschuldigen an euern Händen!«, sagte ich.

»Dann sieh uns mal zu!«, erwiderte Alexandra.

»Oder auch nicht, ganz wie es dir gefällt«, ergänzte Matthew. »Es liegt wirklich ganz bei dir, Eddie: Strecke die Waffen vor uns und diene dem Manifesten Schicksal (nach einem angemessenen Maß an Gehirnwäsche und Neuprogrammierung natürlich), oder stirb hier und jetzt.«

Ich lachte ihm ins Gesicht. »Der Waffenschmied hat den Armageddon-Kodex für mich geöffnet. Ich habe den Eidbrecher.«

Alexandra und Matthew sahen einander scharf an, und zum ersten Mal bekam ihr Selbstvertrauen Risse. Dies war nicht Teil ihres Plans gewesen. Aber sie glaubten immer noch nicht daran, dass sie scheitern könnten, nachdem sie so weit gekommen waren, und blickten mich überheblich an.

»Dieser Holzstecken soll der mächtige und legendäre Eidbrecher sein?«, sagte Matthew. »Das nehme ich dir nicht ab!«

»Du hättest gar nicht den Mumm, den Eidbrecher zu benutzen«, meinte Alexandra. »Er ist zu groß, zu mächtig für einen kleinen Mann wie dich!«

»Wir haben Waffen!«, prahlte Matthew. »Richtige Waffen. Furchtbare Waffen! Und den Willen, sie zu benutzen!«

Alexandra hielt die rechte Hand hoch, und plötzlich lag ein langes Skalpell darin, das übernatürlich hell glänzte. »Dies ist Zergliederer, das ultimative Skalpell, erschaffen vom ultimativen Chirurgen, Baron Frankenstein. Es kann durch alles schneiden, so sauber, wie man sich nur wünschen kann. Mit einem bloßen Gedanken kann es dich aufschneiden und in deine Einzelteile zerlegen. Wenn du diesen widerlichen alten Stock auch nur berührst, Eddie, nehme ich dir die Hand am Handgelenk ab. Vielleicht schlitze ich auch nur deiner kleinen Hexe die Kehle auf.«

»Du fängst echt an, mir auf den Geist zu gehen!«, sagte Molly.

»Du warst schon immer eine rachsüchtige Person, Alex«, sagte ich.

»Und ich habe Dominator«, verkündete Matthew mehr als nur ein bisschen großspurig. Er schnalzte gebieterisch mit den Fingern, und ein aus purem Silber gearbeiteter Lorbeerkranz erschien auf seinem Kopf. »Mit ihm werden meine Gedanken deine Gedanken, meine Wünsche deine Wünsche. Ich werde es genießen, dich vor mir knien zu sehen, Eddie!«

»Tatsächlich?«, fragte ich. »Ich habe immer gehört, deine Vorlieben gingen in die andere Richtung!«

»Ergib dich oder stirb!«, sagte Alexandra scharf. »Kein Gerede mehr! Diesmal ist dein feiner Onkel Jack nicht da, um dich mit seinen sicheren Worten zu retten.«

Matthew gluckste abstoßend. Um seinen Kopf herum bildete sich bereits ein Halo aus psychischen Energien.

Ich konzentrierte mich auf Alexandra und versuchte, mit der Ehrlichkeit in meiner Stimme zu ihr durchzudringen. »Tu das nicht, Alex! Um der alten Zeiten willen … für das, was wir füreinander waren … Du darfst es nicht tun! Das ist deiner oder der Familie nicht würdig!«

»Was weißt du schon von der Familie?«, entgegnete sie mit ausdrucksloser Stimme. »Du bist seit zehn Jahren kein Teil mehr davon. Genau genommen weiß ich gar nicht, ob du das je warst. Musstest immer deinen eigenen Weg gehen, dein eigenes Leben leben, hast uns Übrige zurückgelassen, damit wir uns weiter unter dem Joch abmühen konnten … bis wir selbst einen Ausweg fanden. Und wie kannst du von der Würde der Familie reden, wenn du das Geheimnis des Herzens kennst? Den Pakt mit dem Teufel, den unsere Vorfahren vor so langer Zeit geschlossen haben? Wir sind nicht das, was wir zu sein glaubten, Eddie - waren es nie. Es war alles eine Lüge. Das Manifeste Schicksal ist die einzige Wahrheit.«

»Ihr könnt nicht verbotene Waffen einsetzen, verbotene Methoden anwenden, um die Welt zu retten«, redete ich auf sie ein. »Bei dem Versuch, sie so zu verändern, wie ihr sie haben wollt, werdet ihr sie zerstören.«

»Was soll's?«, meinte sie. »Was hat die Welt jemals für uns getan, außer uns zu belügen? Besser frei zu sterben, als auch nur noch einen Tag länger eine Lüge zu leben. Wir werden dafür sorgen, dass die Welt Sinn ergibt, ob sie will oder nicht - koste es, was es wolle. Dies ist unser Moment, unser Schicksal, und nichts kann uns aufhalten!«

»Falsch - wie gewöhnlich!«, sagte eine vertraute Stimme hinter mir.

Wir drehten uns alle jählings um, und dort, hinter uns, stand, schwankend auf seinen eigenen zwei Beinen, der Waffenschmied, Onkel Jack höchstpersönlich. Über seinem Laborkittel trug er einen schlichten Brustharnisch aus einem mir unbekannten scharlachroten Metall. Verkrustetes Blut überzog eine ganze Seite seines Gesichts; es stammte von einer scheußlichen Kopfhautverletzung auf seiner Glatze. Er nickte Molly und mir knapp zu und grinste dann Matthew und Alexandra fies an. Während sie dastanden und ihn mit offenen Mündern anglotzten, sprach er zwei sichere Worte in einer Sprache, die ich nicht einmal erkannte, und Zergliederer verschwand aus Alexandras Hand, während Dominator von Matthews Stirn verschwand. Sie fuhren beide überrascht zusammen und starrten den Waffenschmied mit aufgerissenen Augen an.

»Ich dachte, du seist tot!«, sagte Alexandra laut. »Verdammt, wieso bist du nicht tot?«

Der Waffenschmied prustete. »Ich war zwanzig Jahre lang Frontagent, schon vergessen? So leicht sterbe ich nicht, Mädchen!«

»Wir haben noch andere Waffen!«, sagte Matthew zu laut. »Eine ganze Armee ist auf dem Weg hierher, bewaffnet bis an die Zähne!«

»Seht ihr diesen Brustharnisch?«, erwiderte der Waffenschmied. »Dies ist die Moloch-Arbeitsmontur. Ja, genau die, aus dem Kodex. Schafft eure Waffen und eure Armee getrost her - es wird euch nichts nützen. Eddie, mach du weiter, Junge! Auf dich wartet Arbeit.«

»Horch!«, sagte Alexandra. »Hörst du diese rennenden Füße? Das ist unsere Verstärkung! Es sind Dutzende! Du kannst uns nicht alle aufhalten, alter Mann!«

Und das war der Moment, als der Geist des alten Jacob Drood erschien. Endlich aus seiner Kapelle draußen, sah er zum ersten Mal wirklich furchteinflößend aus. Wir wichen alle zurück, als er sich mit einem brausenden Wind, der kalt wie der Tod selbst war, vor uns in der Luft manifestierte. Er sah jetzt nicht mehr wie ein mürrischer alter Vorfahr aus; er sah jetzt aus wie das, was er war: ein toter Mann, der sich mit einem entsetzlichen Willensakt am Leben festhielt. Eine krasse, gespenstische Gestalt, mehr eine Präsenz als eine Person, das Gesicht voller Höhlungen und Schatten, die Augen brennend mit unirdischen Feuern. Sein bloßer Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren und umfing mein Herz mit kalter Hand. Wir waren jetzt in der Gegenwart des Todes, schonungslos und schrecklich und äußerst unerbittlich.

Zeit für mich, mitzumischen, sagte der Geist des alten Jacob mit einer rauen und fürchterlichen Stimme, die im Innern meines Schädels widerhallte. Das war es, worauf ich all die Jahre gewartet habe. Auch wenn ich es manchmal jahrelang vergessen habe, trotzdem habe ich darauf gewartet, genau hierauf. Bringt eure Armee herbei, Matthew und Alexandra, und ich werde ihnen all die schrecklichen Dinge zeigen, die ich seit meinem Tod gelernt habe. Er blickte mich an, und unwillkürlich zuckte ich zusammen. Geh zum Herzen, Eddie! Dort sind sämtliche Antworten. Und tu, was immer du tun musst.

Jacob und der Waffenschmied bewegten sich auf Matthew und Alexandra zu, und diese wichen rasch zurück und gaben den Weg zur Tür des Sanktums frei. Molly und ich eilten nach vorn. Eine Tür zu unserer rechten wurde aufgerissen, und eine ganze Schar von gepanzerten Droods stürmte herein. Sie sahen den Waffenschmied und den entsetzlichen Geist des alten Jacob und kamen stolpernd zum Stehen. Molly und ich öffneten die Tür zum Sanktum und liefen hindurch und zogen sie hinter uns zu.

Und während die Tür sich schloss, setzte das Schreien ein.

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