Kapitel Fünf Fernwahrnehmung

Als der Seneschall mich endlich suchen kam, standen Onkel James und ich vor einer alten Karikatur von Boz, die den guten alten Jacob im besten Mannesalter zeigte, wie er sich vor dem Parlamentsgebäude an einer Unterhaltung zwischen Gladstone und Disraeli beteiligte. (Einer dieser beiden verehrten Premierminister war in Wahrheit ein Drood mütterlicherseits, aber ich kann mir nie merken, welcher.) Gott allein weiß, was die drei da besprachen, aber den Mienen Disraelis und Gladstones nach zu urteilen erzählte ihnen Jacob fast sicher einen seiner berühmt schmutzigen Witze. Jacob konnte einer Nonne den Schlüpfer aus vierzig Schritt Entfernung wegschocken. Sowohl James als auch ich hörten den Seneschall kommen, behielten jedoch unsere Aufmerksamkeit bewusst auf das Kunstwerk gerichtet, bis der Seneschall gezwungen war, seine Gegenwart mit einem etwas würdelosen Hüsteln kundzutun. James und ich drehten uns ohne Eile um und sahen ihn naserümpfend an.

»Nun?«, sagte James gedehnt mit jener aufreizend versnobten Stimme, derer er sich bisweilen befleißigte. Es war bekannt, dass er schon Kneipenschlägereien mit weniger vom Zaun gebrochen hatte. Diesmal gab er sogar noch eine hochgezogene Augenbraue drein. »Gibt es schon irgendwelche Informationen bezüglich dessen, wie ungeachtet all unserer legendären Sicherheitssysteme ein derart erschreckender Überfall auf das Herz stattfinden konnte?«

Man musste dem Seneschall Gerechtigkeit widerfahren lassen: Der Mann starrte bloß ungerührt zurück. »Eine Untersuchung der Sicherheitsverletzungen ist im Gange, Sir.«

»Das hieße dann also nein. Sonst noch etwas?«

Der Seneschall warf James einen bedeutungsvollen Blick zu, und der nickte, wissend, dass er den Bogen so weit gespannt hatte, wie er durfte. Er drehte dem Seneschall den Rücken zu und lächelte mich herzlich an. »Es ist Zeit, dass ich mich auf den Weg mache, Eddie. Die Gottlosen harren meiner, und es wird Prügel setzen. Ein neues aufregendes Abenteuer liegt vor mir in den zotigen und pöbelhaften Seitengassen und Kneipen des fabelhaften Schanghais!«

»Ich könnte heulen!«, sagte ich voll Gefühl. »Solche Aufträge kriege ich nie! Ich nehme an, es wird sich alles um guten Alk, lasterhafte Frauen und jede Menge unnötige Gewalt drehen?«

»Ja, ja«, bestätigte James. »Immer dieselbe Leier, immer dieselbe Leier!«

Wir lachten, er zerquetschte meine Hand in seiner, und weg ging er, mit großen Schritten, würdevoll die Galerie hinunter, auf der Suche nach Gefahr und Zerstreuung, wie der Erzabenteurer, der er war. Der Graue Fuchs war schon immer der Beste von uns gewesen. Der Seneschall erinnerte mich mit einem weiteren gewichtigen Hüsteln an seine Gegenwart, und widerstrebend gestattete ich ihm, mich zurück

durchs Herrenhaus zu führen, um die Familienmatriarchin zu treffen.

* * *

Es stellte sich heraus, dass sie unten im Lageraum, der Kommandozentrale der Familie, war, wo sie wieder das Schicksal der Welt entschied; also mussten wir den größten Teil des Nordflügels durchwandern, um die massiv verstärkte Stahltür im rückwärtigen Teil dessen zu erreichen, was einmal der alte Ballsaal gewesen war. Es dauerte drei Passwörter, eine Netzhautabtastung und ein nicht völlig unkameradschaftliches Filzen, bevor dem Seneschall und mir erlaubt wurde, uns der Tür auch nur zu nähern, aber schließlich öffnete sie sich, und wir stiegen eine sehr elementare Treppe hinunter, die in die Steinmauer selbst gehauen war, kein Geländer hatte, aber dafür auf der anderen Seite einen offen gestanden beängstigend ungehinderten Blick in die Tiefe bot. Die elektrische Beleuchtung war von fast schmerzhafter Helligkeit, und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen waren bereits getroffen, sodass leuchtende Kraftfelder und schimmernde, geheimnisvolle Schutzschirme sich vor uns öffneten, als sie unsere Torques wahrnahmen, und anschließend hinter uns wieder hermetisch schlossen. Die üblichen Wachgoblins waren auf ihren Posten und hockten in ihren Steinnischen: untersetzte und hässliche Geschöpfe mit Gesichtern wie Bulldoggen, die auf einer Wespe herumkauen. Sie waren nicht viel größer als ein Fußball, mit langen, spindeldürren Armen und Beinen, aber sie konnten ziemlich spektakulär bösartig werden, wenn sie aufgebracht waren. Ich habe mal gesehen, wie ein Goblin einen Werwolf zur Strecke brachte und ihn dann bei lebendigem Leibe fraß, und solche Sachen vergisst man so schnell nicht wieder.

Während sie auf eine günstige Gelegenheit warteten, ihren äußerst gemeinen und boshaften Naturen Ausdruck zu verleihen, vertrieben sich die Goblins die Zeit mit Kreuzworträtseln aus der Times. Goblins lieben Buchstabenspiele. Einer von ihnen hielt mich an, um mich nach einem Vierzehn-Buchstaben-Wort für schlechte Regierung mit M am Anfang zu fragen, und war echt ziemlich verstimmt, als ich schlagartig Misswirtschaft antwortete. Dem armen Kerl war nicht klar, dass er das Kreuzworträtsel von gestern machte.

Am Fuß der Treppe mussten wir beide die Hände auf einen elektronischen Scanner legen, bevor wir in das große Kellergewölbe durften, in dem der Lageraum der Familie untergebracht war. Der Seneschall führte mich hinein und bestand dann darauf, dass ich an der Tür stehen blieb und mich nicht vom Fleck rührte, während er ging, um die Matriarchin davon in Kenntnis zu setzen, dass ich eingetroffen war. Ich verschränkte steif die Arme vor der Brust und schnitt ihm eine höhnische Grimasse hinterher, aber dabei ließ ich es bewenden. Neben der Tür kauerte eine Gorgo, den Kopf gesenkt, eingehüllt in ledrige Schwingen wie in einen schützenden Umhang. Sie sah aus, als ob sie schliefe, aber ich wusste, dass sie das nicht tat, auch wenn einige der Schlangen einen lahmen Versuch machten zu schnarchen. Den Lageraum zu betreten, ohne einer streng umrissenen Verfahrensordnung zu folgen, würde dazu führen, dass die Gorgo die Augen öffnete und einen ansah und die Familie anschließend eine weitere überrascht aussehende Statue für die hinteren Gärten hätte.

Der Lageraum war ein riesengroßer Zuschauerraum, der aus massivem Fels herausgemeißelt war. Hier drin sahen wir alles - oder jedenfalls alles, worauf es ankam. Alle vier Wände waren voll von dem neusten Stand der Technik entsprechenden Bildschirmen, die jedes Land auf der Welt zeigten, mit kleinen blinkenden Lichtern, die die Städte und anderen Orte anzeigten, wo Familienmitglieder gerade bei der Arbeit waren. Grüne Lichter für einen erfolgreich durchgeführten Auftrag, blaue für gewisse Individuen, die zurzeit auf der Abschussliste der Familie standen, und hier und da wies ein violettes auf einen größeren Pfusch und dessen gleich große Vertuschungsoperation hin. Potenzielle Unruheherde waren mit gelben Lichtern gekennzeichnet, aktuelle Bedrohungen mit roten. Es leuchtete eine verdammte Menge Gelb und Rot quer über die ganze Welt und viel mehr Rot als Gelb, verglichen mit vor zehn Jahren. Teufel auch, sogar Litauen hatte ein rotes Licht!

Die Familie saß in langen Reihen und konzentrierte sich auf ihre Bildschirmarbeitsplätze, ungeachtet des hektischen Treibens rings um sie. Dutzende von Weithersagern liebkosten Kristallkugeln oder schauten angestrengt in Wahrsagebecken, studierten die Probleme der Welt von Weitem und murmelten unterdessen ihre Erkenntnisse leise in Headsets. Techniker bedienten ihre Computer und extrahierten mit Fingern, die in schwindelerregendem Tempo über Tastaturen huschten, brauchbare Daten. Agenten mögen allein an der Front operieren, aber jeder Einzelne von uns wird von einem Mitarbeiterstab von Hunderten unterstützt. Und das nicht nur im Lageraum. Unaufhörlich sind im Nachrichtenzimmer (von denen, die ihre Acht-Stunden-Schicht in dem fensterlosen Loch absitzen, als ›die Grube‹ bezeichnet) Informationswiedergewinnungsexperten bei der Arbeit, sichten die Medien der ganzen Welt und vergleichen die offiziellen Versionen mit dem Berg von Informationen, der jeden Tag aus unserem weltweiten Netzwerk von Spionen und Informanten hereinkommt. Die Familie verlässt sich auf diese einsatzfreudigen Forscher sowohl, um entstehende Schwierigkeiten zu orten, bevor sie außer Kontrolle geraten, als auch, um sich über gewisse Personen auf dem Laufenden zu halten, die gerne glauben, sie könnten durch die Welt ziehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Diese Forscher konnten einem genau sagen, wo in einem Heuhaufen eine Nadel zu finden war, und eine ziemlich gute Schätzung abgeben, in welche Richtung sie zeigte. Sie wussten alles über die Welt, was es zu wissen gab, außer wie es war, in ihr zu leben. Sie waren viel zu wertvoll, als dass ihnen jemals hätte erlaubt werden können, das Herrenhaus zu verlassen.

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt operieren Hunderte von Droods in Krisenherden auf der ganzen Welt. Und sie arbeiten allein, weil Agenten im praktischen Einsatz aus der Ferne nicht gesehen werden können. Ihre Torques verbergen sie vor uns ebenso wie vor unseren Feinden. Das ist der Grund, weshalb nur den Zuverlässigsten in der Familie überhaupt erlaubt wird, Agenten im Außendienst zu werden. Und weshalb ich immer an so einer kurzen Leine gehalten werde. Der Lageraum muss darauf warten, dass Frontagenten auf traditionellem Wege ihren Bericht erstatten, häufig auf der Flucht, und sie dann mit so viel Informationen und Unterstützung versorgen wie möglich. Jeder Agent wird von Tausenden von Forschern, Beratern, Fachleuten in den arkaneren Bereichen von Wissenschaft und Zauberei und einem Rund-um-die-Uhr-Nachrichtentechnikerstab unterstützt.

Agenten im Außendienst sammeln Informationen, entschärfen Druckpunkte und handeln, wenn nötig. (Wir ziehen es zwar vor, mit einem leisen Wort und einer subtilen Drohung zu arbeiten, aber die Familie ist auch noch nie davor zurückgeschreckt, sich die Hände schmutzig zu machen.) Jeder von uns weiß jedoch, dass es die Unterstützung der Leute im Herrenhaus ist, die unsere Arbeit erst ermöglicht.

Die Familie hat die Fernwahrnehmung in all ihren Formen zu einer Art Kunst erhoben. Und da wir schon immer Wissenschaft und Zauberei als nur zwei Seiten derselben nützlichen Münze betrachtet haben, arbeiten wir hart, um bei allen neuesten Fortschritten in vorderster Reihe zu bleiben. Genau genommen arbeiteten unsere Forschungslabore pausenlos und unermüdlich, damit wir todsicher immer die Nase vorn haben. Wir haben Waffen hervorgebracht und Antworten auf Waffen, von deren Existenz große Teile der Welt nicht einmal träumen. Wir benutzen, was immer wir müssen, damit die Welt ein sicherer Ort bleibt.

Ich war überrascht und ein klein wenig beunruhigt darüber, wie viele Katastrophenalarme zu sehen waren; Warnungen vor schwerwiegenden Bedrohungen, die bisher noch nicht auf ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Person oder Gruppe eingegrenzt waren. Und wenn ich schwerwiegende Bedrohung sage, dann meine ich damit eine offensichtliche und gegenwärtige Gefahr für die Welt. Ich hatte den Lageraum noch nie so geschäftig erlebt, mit Leuten, die sich um jede Anzeige, jeden Computer, jeden aktenübersäten Tisch scharten. Da war ein allgemeines Säuseln gemeinschaftlich murmelnder Stimmen, fast als ob man sich in einer Kirche befände. (Gehobene Stimmen werden missbilligt; sie erzeugen Unruhe.) Fortwährend eilten Boten ein und aus und überbrachten Aufzeichnungen und Berichte und hochwichtige Aktualisierungen. Und Kannen frischen Tees. Die Familie läuft mit Tee. Und mit Jaffa Cakes.

Keiner warf auch nur einen Blick in meine Richtung.

Die Matriarchin saß, mit steifem Rücken und gelassen aufmerksam wie immer, am größten Tisch und studierte eine endlose Reihe dringender Berichte, so wie sie ihr gerade gereicht wurden. Manche zeichnete sie ab und stimmte damit Maßnahmen zu; andere ließ sie zurückgehen für mehr Einzelheiten. Boten standen Schlange und warteten auf eine Gelegenheit, eine Akte vor sie zu schieben oder ihr vertraulich ins Ohr zu flüstern, ehe sie mit neuen Instruktionen davoneilten. Die Matriarchin gestattete es sich nie, gehetzt oder besorgt zu wirken, und nie wurde sie laut. Falls einmal ein besonders penetranter Bote den Bogen überspannte, indem er eine Einzelheit infrage stellte oder die Wichtigkeit seiner Botschaft nachdrücklich betonte, so genügte ein Blick aus den kalten grauen Augen der Matriarchin, und der Bote brach sich förmlich das Kreuz, während er katzbuckelnd von ihr wegeilte.

Der Seneschall setzte die Matriarchin von meiner Ankunft in Kenntnis, und sofort drehte sie sich um und sah mich an. Ich erwiderte ihren Blick gelassen und machte mir nicht einmal die Mühe, die gekreuzten Arme vor der Brust wegzunehmen. Sie winkte mich gebieterisch zu sich her, und ich durchquerte gemächlich den Lageraum, um mich zu ihr zu gesellen, und ließ mir dabei bewusst Zeit. Die Matriarchin bedeutete den Umstehenden mit einer knappen Geste, sich zurückzuziehen, und alle nahmen einen gebührenden Abstand ein, damit sie und ich unter vier Augen miteinander reden konnten. Der Seneschall schien tatsächlich empört, mit allen anderen in einen Topf geworfen zu werden, aber er ging. Man diskutierte nicht mit der Matriarchin. Sie stand auf, um mich zu begrüßen, wobei sie ihre übliche kalte und missbilligende Miene zur Schau trug.

Die Familienmatriarchin, Martha Drood. Groß, elegant und königlicher als jede Königin. Sie war inzwischen in den Mitsechzigern und kleidete sich wie eine Landadelige, lauter aufeinander abgestimmte Tweedsachen, Perlen und unauffälliges Make-up. Ihr langes graues Haar thronte zu einer Skulptur aufgeschichtet auf ihrem Kopf. Zu ihrer Zeit war sie schön gewesen, und ihr kräftiger Knochenbau sorgte dafür, dass sie auch jetzt noch bemerkenswert war. Wie bei der Eiskönigin aus dem Märchen, die einem einen Splitter ihres Eises ins Herz treibt, wenn man noch jung und hilflos ist, so hat man keine andere Wahl, als sie für immer zu lieben. Sie bot mir keine Hand zum Schütteln an, und ich bot nicht an, sie auf die Wange zu küssen. Ausgleich in puncto Ehrerbietungen. Ich nickte ihr zu.

»Hallo, Großmutter.«

Die Familie wird von jeher von einer Matriarchin geführt; es ist ein Überbleibsel unseres druidischen Erbes. Martha stammt von einer langen Reihe von Kriegerköniginnen ab, und das sieht man. Ihr Wort ist Gesetz. Als ich ein Kind war, legte ich im Unterrichtsfach Familiengeschichte dem Lehrer dar, dass, wenn sie unsere Königin war, wir Übrigen nur ihre Drohnen waren. Dafür wurde ich viel angeschrien. Rein formal hat die Matriarchin uneingeschränkte Macht über die Familie; in der Praxis steht ihr ein Rat, der sich aus zwölf der herausragendsten Familienmitglieder zusammensetzt, sehr eng zur Seite. Man muss schon etwas wirklich ganz Bemerkenswertes für die Familie vollbringen, um auch nur in die engere Wahl zu kommen. Matriarchinnen, die nicht auf ihren Rat hören oder hören wollen, haben nicht die Tendenz, es lange zu machen. In extremen Fällen hat man schon Unfälle erlebt, und eine neue Matriarchin übernahm das Ruder. Die Familie kann außerordentlich skrupellos sein, wenn es sein muss.

Marthas zweiter Mann, Alistair, stand schüchtern neben ihr, wie immer, bereit für was auch immer sie von ihm verlangen mochte. Er war groß und kräftig und kleidete sich wie ein vornehmer Bauer; die Sorte, die sich ihre teuren Stiefel niemals schmutzig macht. Er war zehn Jahre jünger als Martha und hinlänglich gut aussehend, nehme ich an, auf eine irgendwie schwache und unfertige Art; wie der Investitionsmakler, der einem versichert, dass das Geschäft, das er vorschlägt, einen absolut garantiert reich machen wird. Ich nickte ihm kurz zu.

»Hallo, Alistair.«

Er war Prinzgemahl durch lange Tradition, aber der Teufel sollte mich holen, wenn ich ihn Großvater nannte. Mein richtiger Großvater, Marthas erster Mann, Arthur, starb im Kampf in der Kiew-Verschwörung von 1957. Ich habe ihn nie kennengelernt.

Alistair und ich sind nie miteinander ausgekommen. Offiziell war seine Funktion innerhalb der Familie die des persönlichen Beraters der Matriarchin, aber das war nur etwas, um ihn zu beschäftigen, damit er nicht merkte, dass er nur ein besserer Laufbursche war. In seinem ganzen Leben hatte er nie einen Außeneinsatz gehabt, zu seiner Erleichterung ebenso wie zu der aller anderen. Vor seiner Hochzeit mit Martha war er etwas in der Londoner Geschäftswelt, aber nur dank einer Erbschaft. Es hieß, die Londoner Geschäftswelt war froh, ihn los zu sein. Die ganze Familie wusste, dass er nutzlos war, aber Großmutter liebte ihn, daher sagte aus Achtung vor ihr nie jemand etwas. Wohingegen man geflissentlich dafür sorgte, dass Alistair nie in die Nähe von etwas Wichtigem gelassen wurde. Oder von etwas Zerbrechlichem. In jeder Familie gibt es einen wie Alistair.

Martha musterte mich kalt. »Es ist eine ziemliche Weile her, seit du uns mit deiner Gegenwart beehrt hast, Edwin.«

Ich zuckte die Achsel. »Ich bin gern beschäftigt. Und es ist ja auch nicht so, als ob es hier irgendetwas gäbe, was mir fehlen würde.«

»Nach all dieser Zeit gibst du immer noch der Familie die Schuld am Tod deiner Mutter und deines Vaters«, sagte Martha. »Du solltest stolz auf ihr Opfer sein.«

»Bin ich«, erwiderte ich. »Aber mich wird niemand jemals in den Tod bei einer Operation schicken, die nicht ordentlich geplant war. Ich leite meine Missionen selbst.«

»Du dienst der Familie«, sagte Alistair, indem er sich an Marthas frostigem Ton versuchte, ohne ihn jedoch zustande zu bringen.

»Ich diene der Familie«, sagte ich. »Auf meine eigene Weise.«

»Die Personen, die für die unzulängliche Planung dieser Mission verantwortlich waren, wurden schon vor langer Zeit bestraft«, sagte Martha. »Du musst es dabei bewenden lassen, Edwin. Sie war auch meine Tochter.« Sie unternahm eine bewusste Anstrengung, das Thema zu wechseln. »Was hast du da überhaupt an, Edwin? Ist das wirklich das Beste, was dir bei deinem ersten Besuch im Herrenhaus seit zehn Jahren möglich war?«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Aber vor Kurzem hat man bei mir eine Modeintoleranz diagnostiziert. Ich kann nichts Gutes tragen, sonst kriege ich Stil.«

Sie blickte mich an. »Du weißt, dass ich Humor nicht komisch finde, Edwin. Und steh gerade! Willst du Hängeschultern bekommen? Und wann wirst du endlich heiraten und der Familie Kinder schenken? Wie alle anderen hast du die Pflicht, die Familie mit frischem Blut zu versorgen, um uns stark und vital zu erhalten. Wir haben dir mehrere Listen mit völlig respektablen Kandidatinnen aus geeigneten Familien vorgelegt. Jede davon wäre eine gute Partie für sich. Du bist allmählich ein bisschen zu alt, um so wählerisch zu sein.«

»Das ist noch etwas, was ich selbst entscheide«, erklärte ich mit Bestimmtheit.

»Was war denn mit der guten Stephanie Mainwearing nicht in Ordnung?«, wollte Martha wissen. »Ein entzückendes Geschöpf, dachte ich.«

»Ach, komm schon, Großmutter! Ein kleines bisschen mehr Inzucht, und sie wäre ihre eigene Schwester gewesen!«

»Alice Little?«

»Lebt in ihrer eigenen Welt und kommt nur zu den Mahlzeiten raus. Vielen Mahlzeiten.«

»Penelope Creighton?«

»Du machst wohl Witze! Sie hat mit mehr Frauen geschlafen als ich! Betreibt ihr Leute eigentlich nicht mal mehr Grundlagenforschung?«

»Nun, hast du wenigstens im Moment jemand im Auge, Edwin?«

Ich zog in Erwägung, ihr von Silikon Lily zu erzählen, war aber über die Versuchung erhaben. »Niemand Besonderes, Großmutter«, sagte ich.

»Ich hoffe, du bist … vorsichtig, Edwin«, sagte Alistair mit einer noch versnobteren Stimme als sonst. »Du weißt, welche Ansichten die Familie über uneheliche Kinder hat.«

Ich schaute ihn einen Moment lang an, dann sagte ich: »Ich bin immer vorsichtig, Alistair.«

»Letzten Endes«, sagte Alistair, »egal wem du dich schließlich zuwendest, sie muss für die Familie akzeptabel sein.«

»So wie du, Alistair?«, fragte ich.

Erneut beschloss Martha, das Thema zu wechseln. »Du bist ins Herrenhaus zurückgerufen worden, Edwin, weil ich einen sehr wichtigen und sehr dringenden Auftrag für dich habe.«

»Etwas in der Art hatte ich mir schon zusammengereimt«, meinte ich. »Dürfte ich mal fragen, was so wichtig sein könnte, dass ich den ganzen Weg hierhergeschleift werden musste, nur um es zu besprechen? Was ist los mit den üblichen Kanälen?«

»Es ist eine Frage der Sicherheit«, erklärte Martha. »Und du musst es sein, weil alle anderen beschäftigt sind - beschäftigter denn je. Du siehst ja die Anzeigen: Die ganze Familie ist gefordert bis an ihre Grenzen. Und du hast gesehen, was gerade im Sanktum passiert ist. Einst wäre ein solcher Angriff undenkbar gewesen, doch nun ist die ganze Familie bedroht. All unsere größten Bemühungen müssen gegenwärtig der Verteidigung der Familie und der Identifikation der Aggressoren gelten. Der Auftrag, den ich jetzt für dich habe, Edwin, ist deine Chance, endlich deinen Wert zu beweisen und in den Schoß der Familie zurückzukehren. Führe diese Mission erfolgreich durch, und du hast dir einen Sitz im Rat verdient.« Sie hielt inne und überlegte sich ihre Worte sorgfältig. »Einige von uns sind zu der Überzeugung gelangt, dass es einen Verräter geben muss, vielleicht im innersten Kern der Familie. Ich bin nicht mehr sicher, wem ich vertrauen kann. Selbst mein eigener Rat ist in letzter Zeit … uneins und streitsüchtig. Als Außenseiter siehst du vielleicht Dinge, die uns Übrigen verborgen bleiben. Beweise dich mit dieser Mission, Edwin! Ich wüsste deine Stimme in meinem Rat zu schätzen.«

Ich stand bloß da und schaute sie an. Das hatte ich wirklich nicht erwartet! Der Rat war der Ort, wo über die Familienpolitik bestimmt wurde. Wo alle Entscheidungen getroffen wurden, auf die es ankam. Es war mir ehrlich nie auch nur in den Sinn gekommen, dass ich eines Tages darin landen könnte. Ich war nicht einmal sicher, ob ich so eine Ehre wollte, oder so eine Verantwortung, aber ich muss gestehen, dass ich versucht war. Wenn auch nur, um meine neue höhere Stellung dazu benutzen zu können, andere wie mich in der Familie zu erkennen und ihnen zu helfen.

»Wie lautet der Auftrag?«, fragte ich mit ausdrucksloser Stimme.

Zum ersten Mal lächelte die Matriarchin kurz. »Dein Auftrag lautet, die Seele Albions nach Stonehenge zurückzubringen und sie wieder unter dem Hauptopferaltar zu vergraben, wo sie hingehört. Wenn sie erst einmal wieder am richtigen Platz ist, wird die Seele wieder sicher sein; die Steine werden sie beschützen. In den falschen Händen könnte die Seele England zu Fall bringen - und vielleicht sogar die Droods.«

Noch während sie sprach, nickte ich: Darum musste sich die Diskussion gedreht haben, die Jacob und ich in seinem toten Fernseher gehört hatten.

Martha wendete sich an ein halbes Dutzend bewaffneter Wachen, die daraufhin eine große Eichentruhe nach vorn brachten, die mit massiven Silberriegeln und Kalteisenvorhängeschlössern fest verschlossen war. Obendrein knisterte die ganze Truhe förmlich vor Schutzzaubern. Die Wachen hätten nicht respektvoller damit umgehen können, wenn sie bis zum Rand mit Nitroglyzerin gefüllt gewesen wäre. Sie stellten die Truhe ganz behutsam zu Marthas Füßen ab und zogen sich dann so schnell zurück, dass sie fast übereinander stolperten. Martha bedachte sie mit einem ihrer besten eisigen Blicke und öffnete dann mit einem Wort die Bänder und Vorhängeschlösser. Sie schnappten auf, eins nach dem anderen, und augenblicklich begannen die Verteidigungszauber warm zu laufen, bis Martha sie mit einer schnellen Geste stilllegte. Der Truhendeckel klappte von selbst auf, und Martha griff hinein und förderte eine kleine Schmuckschatulle aus Silber zutage, die nicht größer als ihre Hand war.

Sie drehte den zierlichen Schlüssel in seinem Schloss herum, und die Schatulle öffnete sich und enthüllte eine Unterlage aus rotem Plüschsamt und auf dieser die Seele Albions: Eine geschliffene Kristallkugel, nicht größer als mein Daumen, die mit übernatürlichem Feuer leuchtete. Sie war unglaublich, atemberaubend schön, fast schmerzhaft für die Augen, wie das platonische Ideal jedes Edelsteins oder Juwels oder wertvollen Steins, die je existiert hatten. Quer durch den Lageraum hörten Leute auf mit dem, was sie gerade machten, und blickten sich um, weil sie die Anwesenheit von etwas Neuem und Wundervollem in ihrer Mitte spürten.

Es wird angenommen, dass die Seele vor etwa dreitausend Jahren von den Sternen auf die Erde fiel, aber über die Seele gibt es mehr Legenden als Verse in Paradise Lost. Entsetzlich schön, unglaublich mächtig, für immer an das Land gebunden, in das sie fiel. Martha klappte den Deckel der Schmuckschatulle zu und schnitt das funkelnde Licht ab, und wir atmeten alle wieder ein wenig leichter. Wenn ihr Licht strahlte, war es fast unmöglich, an etwas anderes als an die Seele zu denken. Martha warf einen ärgerlichen Blick in die Runde, und alle begaben sich schnell wieder an die Arbeit. Sie verschloss die Schatulle und reichte sie mir. Ich nahm sie behutsam entgegen. Sie fühlte sich merkwürdig leicht, fast substanzlos in meinen Händen an. Ich ließ sie in meine Jackentasche gleiten und nahm die Hand so schnell wie möglich von der Schatulle weg. Alles in allem, denke ich, hätte ich mich mit einer Atombombe auf dem Rücken, deren Zeitzünder bereits tickte, sicherer gefühlt.

»Solange die Seele Albions in dieser Schatulle bleibt, ist sie von mächtigen Verschleierungszaubern geschützt«, erklärte Martha. »Und die Bleiauskleidung dürfte dich vor dem Großteil der zerstörerischen Strahlung der Seele abschirmen.«

»Oh, prima!«, sagte ich. »Jetzt fühle ich mich gleich viel besser.«

Vor langer, langer Zeit, so langer Zeit, dass Historie zu Legende und Mythos wird, benutzte jemand die Seele, um einen mächtigen Zauber zu wirken, und jetzt ist England gefeit gegen alle Gefahren feindlicher Invasion, solange die Seele Albions an ihrem festgesetzten Platz in dem großen Ring stehender Steine ruht, der Stonehenge heißt. (Es gibt eine andere Legende über drei Königskronen Angliens, aber die diente immer nur der Ablenkung.) König Harold grub die Seele aus und nahm sie 1066 mit nach Hastings, weil er glaubte, sie würde ihm helfen, sich Wilhelm von der Normandie vom Leib zu halten - der Narr. Nach der Schlacht beaufsichtigte Wilhelm der Eroberer persönlich die Rückkehr der Seele nach Stonehenge, und seitdem hatte sie niemand mehr bewegt.

Bis jetzt.

»Ich muss das jetzt mal fragen«, sagte ich: »Wer zum Teufel hielt es für eine gute Idee, die Seele Albions überhaupt erst den ganzen Weg hierher zu bringen? Und hat man dem- oder denjenigen auch ordentlich den Hintern versohlt?«

Alistair rümpfte die Nase und tat sein Möglichstes, um blasiert auf mich herabzublicken. »Es geht hier um Politik, Edwin. Das brauchst du nicht zu wissen. Es genügt wohl, wenn ich sage … es waren Sicherheitsfragen involviert.«

»Jedoch«, sagte Martha schnell, »in Anbetracht der jüngsten Angriffe auf das Herrenhaus und jetzt auf das Herz selbst, ist beschlossen worden, dass die Seele an ihre rechtmäßige Stelle zurückgebracht werden soll, und zwar je schneller desto besser. Ursprünglich war dein Onkel James für diese Mission ausersehen; aus diesem Grund haben wir ihn aus dem Amazonasdschungel zurückbeordert. Aber wir glauben alle, dass … unter den gegenwärtigen Umständen … die Bewegungen eines bedeutenden Agenten wie dem Grauen Fuchs zwangsläufig schärfer überwacht werden als sonst. Sollte irgendeiner unserer Feinde herausfinden, dass er nach Stonehenge unterwegs ist, könnten daraus einige sehr präzise Schlussfolgerungen gezogen werden. Ein völlig unbedeutender, quasi für sich allein arbeitender Agent wie du andererseits könnte durchaus unter dem Radar unserer Widersacher hindurchschlüpfen und unbemerkt operieren.«

»Jetzt mal zum Mitschreiben den Haken bei der Sache!«, forderte ich sie auf. »Nur damit ich sicher sein kann, dass ich alles richtig verstanden habe.«

»Ich hätte gedacht, das sei offensichtlich«, entgegnete Martha und erwiderte meinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wenn du bemerkt wirst und man Rückschlüsse auf deine Mission zieht, dann wird wahrscheinlich jedes böse Geschöpf auf der Welt auf dich losgehen und unbedingt die Gelegenheit beim Schopf ergreifen wollen, die legendäre Seele Albions in die Finger zu bekommen.«

»Und dann wird aus meiner Mission ein Himmelfahrtskommando«, ergänzte ich und nickte bedächtig. »Kein Wunder, dass du es für nötig gehalten hast, mich mit einem Sitz im Rat zu bestechen. Alles spricht dafür, dass du mich in den Tod schickst.«

»Aber wirst du es tun?«, fragte die Matriarchin. »Für die Familie, und für England?«

»Na klar!«, sagte ich. »Alles für England!«

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