8


Anderthalb Stunden später - also mithin beinahe zweieinhalb Stunden, nachdem sie Skytown verlassen hatten - kehrten Charity, Skudder und Hartmann zu der Himmelsstadt zurück. Der Kampf um Euro-Base eins hatte nicht mehr allzu lange gedauert, und er hatte so geendet, wie nach der Vernichtung des Störsenders nicht anders zu erwarten gewesen war: Mit der Zerstörung fast aller gegnerischen Schiffe und dem Tod der meisten gelandeten Bodentruppen. Die wenigen überlebenden Angreifer hatten in Panik die Flucht ergriffen, als ihnen plötzlich klar wurde, daß ihre bis dahin wehrlosen Gegner von einer Sekunde auf die andere wieder in der Lage waren, sich zu verteidigen.

Trotzdem war Charity alles andere als siegessicher, als sie sich dem riesigen schwelenden Rad näherten, als das Skytown über der Erde hing. Skudder, Hartmann und sie waren nicht allein. Dem schweren Kampfgleiter, den sie nach dem Eintreffen der Verstärkung übernommen hatten, hatten sich noch nahezu zwanzig gleichartige Maschinen angeschlossen. Sie waren vor zweieinhalb Stunden allein und in einem unbewaffneten Shuttle aufgebrochen, aber zurück kamen sie mit einer Armee.

»Sie scheinen keine Verstärkung bekommen zu haben.« Hartmann hob den Blick nicht von den Kontrollen des Jet, während er sprach, und seine Stimme klang sehr besorgt. Er sah nicht so aus wie ein General nach einer siegreich verlaufenen Schlacht, und er hörte sich auch nicht so an.

»Wozu sollten sie auch Verstärkung bekommen?« fragte Skudder achselzuckend. »Sie waren nur Kanonenfutter für uns. Trotzdem...« Er begann nervös mit den Fingerspitzen auf dem Kontrollpult vor sich zu trommeln. Es hörte sich an wie Regen, der auf ein Blechdach fiel. »Ich hätte gerne noch ein oder zwei Dutzend von ihnen erwischt.«

»Hast du immer noch nicht genug?« fragte Charity.

Sie hätte in diesem Moment nichts lieber gehabt als ein Bett, in dem sie sich ausstrecken und einfach die Augen schließen konnte. Sie fühlte sich noch immer wie gerädert. Jeder einzelne Knochen im Leib tat ihr weh, und sie hatte sich mindestens eine Rippe gebrochen. Jeder Atemzug wurde zu einer Qual, und die Luft, die sie einatmete, schmeckte nach Blut. Nachdem sie aus dem Raumanzug herausgekommen war, war es nicht besser geworden, sondern schlimmer.

»Genug? Du hast mir ja kaum was übrig gelassen - typisch. Immer willst du den ganzen Spaß für dich allein.« Skudder grinste sie an, doch in seinen Augen lag ein Ausdruck, der sein Grinsen Lügen strafte.

Skudder brannte auf den Kampf. Nicht weil er das Töten liebte - diese Zeiten waren lange vorbei; den ehemaligen Shark, der Gewalt, Tod und Vernichtung brauchte, um zu leben, gab es schon lange nicht mehr -, sondern weil er sich zu gut an die schrecklichen Bilder erinnerte, die sich ihnen an Bord der EXCALIBUR geboten hatten. Er wollte Rache.

Charity konnte ihn verstehen. Früher einmal hatte sie anders gedacht. Hineingeboren und aufgewachsen in einer Welt, in der Luxus und Sicherheit die Normalität bedeuteten, hatte auch sie Toleranz und Vergebung auf ihre Fahne geschrieben. Ihre Eltern hatten ihren Namen nicht von ungefähr gewählt. Doch mit dem Überfall der Moroni auf die Erde hatte sich eine Menge geändert. Heute war sie eine überzeugte Anhängerin alttestamentarischer Gerechtigkeit.

Auge um Auge. Blut gegen Blut.

»Da sind sie.« Hartmann deutete auf einen der asymmetrischen Monitore, die einem für menschliche Logik nicht zu durchschauendem System folgend in das Kommandopult vor ihm eingelassen waren. Die dreidimensionale Abbildung zeigte einen Teilausschnitt der Himmelsstadt: Die große Zentralschleuse, deren Tore weit offen standen. Das Landungsschiff der Fremden lag wie ein gestrandeter Wal in dem riesigen Raum. Charity konnte sehen, daß sich die großen Türen geöffnet hatten. Gestalten in schwarzen Schutzanzügen hasteten auf das Schiff zu und verschwanden darin. »Sie versuchen zu fliehen«, sagte Charity. »Kannst du das Schiff flugunfähig schießen, ohne es gleich in die Luft zu sprengen?«

Die Frage galt Skudder, der sie auf seine ganz eigene Art beantwortete. Er aktivierte die Waffensysteme des Jet, ließ für einen Moment ein filigranes, silberfarbenes Fadenkreuz über dem Abbild des fremden Raumschiffes erscheinen und feuerte. Ein giftgrüner Lichtblitz zuckte aus den Laserbänken des Jet, traf mit verheerender Wucht das Heck des Landungsschiffes und verwandelte seine Triebwerke in glühenden Schrott.

»Meinst du ungefähr so?«

Charity antwortete nicht, doch sie sah, daß Hartmann kurz aufblickte und Skudder einen Blick zuwarf, in dem sich Wut und Erschrecken mischten. Statt irgend etwas zu Skudder zu sagen, stellte Charity mit einem Handgriff eine Verbindung zu den übrigen Schiffen ihrer kleinen Flotte her.

»Hier spricht Captain Laird«, sagte sie. »Sie haben keine Feuererlaubnis. Ich wiederhole: keine Feuererlaubnis. Ich will diese Männer lebend.«

»Wenn es Männer sind«, fügte Skudder grollend hinzu. »Ich hoffe, sie sind zu unseren Leuten auch so rücksichtsvoll.«

»Sie haben keine Chance«, sagte Hartmann. »Ganz gleich wer sie sind - sie werden einsehen, daß sie nicht mehr gewinnen können.«

Irgend etwas in seiner Stimme alarmierte Charity. Sie vermied es, Hartmann direkt anzusehen, warf aber Skudder einen beinahe beschwörenden Blick zu, und nach einer Sekunde las sie in seinen Augen, daß er verstanden hatte. Hartmann war in diesem Moment nicht nur Soldat und General. Er dachte an seine Familie, die noch immer in Skytown war.

Auf dem Monitor vor ihnen blitzte es grell auf. Charity blinzelte geblendet, sah aber trotzdem, wie einer der Jets plötzlich in gleißendem Licht erstrahlte und sich hastig zurückzog. Die Schutzschirme loderten noch einen Moment in grellen Farben und brachen dann zusammen, doch der Pilot brachte sein Fluggerät außer Reichweite, ehe er ein zweites Mal getroffen werden konnte.

Hartmann wandte sich dann mit einem fast geschrienen Befehl an die gesamte Flotte: »Nicht zurückschießen! Ich wiederhole: Feuer nicht erwidern!«

»Das waren unsere eigenen Geschütze«, sagte Skudder düster. »Sie haben die Laserbatterien übernommen.«

Und vermutlich nicht nur die, fügte Charity in Gedanken hinzu. Sie war ziemlich sicher, daß die Angreifer mittlerweile die gesamte Himmelsstadt in ihre Gewalt gebracht hatten. Was sie alle nicht wußten war, wie viele Opfer dieser Kampf gekostet haben mochte. Sie konnte nur hoffen, daß Barnes die Überlegenheit der Angreifer möglichst schnell erkannt und jeden Widerstand aufgegeben hatte. Die schrecklichen Bilder von Bord der EXCALIBUR waren ihr noch allzu gut in Erinnerung.

»Okay«, sagte sie. »Versuchen wir es!«

Hartmann deutete ein Nicken an. Der Jet löste sich langsam aus der Formation der kleinen Flotte und glitt auf die offenstehenden Schleusentore der Himmelsstadt zu, wobei Hartmann es sorgsam vermied, in den Feuerbereich der noch intakt gebliebenen Laserbatterien zu geraten. Die Schutzschirme der Jets waren ungleich stärker als die der Vipern, aber Skytown war mit Waffen bestückt, die ihnen durchaus gefährlich werden konnten.

Als sie sich den Hangartoren näherten, eröffneten ein halbes Dutzend Gestalten in schwarzen Raumanzügen das Feuer auf sie. Die Laserstrahlen verpufften wirkungslos an den Schilden.

Skudder schüttelte den Kopf. »Die Kerle sind entweder total verrückt, oder sie -«

Ein heftiger Schlag traf den Jet. Der Rumpf dröhnte, als wäre er von einem Vorschlaghammer getroffen worden, und einen Moment lang schwankte das ganze Schiff wild hin und her.

»Verdammt!« brüllte Skudder. Hartmann kämpfte wild mit der Steuerung, um den Jet wieder unter Kontrolle zu bekommen, und Charity entdeckte den Angreifer, der auf sie geschossen hatte. Einer der schwarzen Riesen hatte eine klobige, an einen Raketenwerfer erinnernde Waffe geschultert und zielte soeben sorgfältig, um erneut zu schießen.

Charity war schneller. Sie feuerte mit einem der Bordlaser. Der grelle Strahl ließ den Stahl neben dem Fremden in flüssiger Glut auseinanderspritzen, brach ab und jagte einen Sekundenbruchteil später auf der anderen Seite des Mannes ein zweites Mal in den Boden.

Jeder menschliche Gegner hätte die Warnung begriffen. Die Reaktion des Fremden jedoch bestand aus einem weiteren Schuß, der den Jet wie eine angeschlagene Glocke dröhnen ließ.

Hartmann fluchte noch lauter, und Charity feuerte ein drittes Mal. Der Fremde löste sich im gleißenden Licht auf, und Charity beobachtete fassungslos, wie eine weitere Gestalt in einem schwarzem Schutzanzug hinter dem brennenden Landungsschiff hervorsprang und auf sie anlegte. Bevor der Fremde den Laser abfeuern konnte, steuerte Hartmann den Jet hastig wieder von dem Schleusentor weg.

»Das Wort aufgeben scheint nicht zu ihrem Vokabular zu gehören«, sagte Skudder kopfschüttelnd. »Das kann ja heiter werden.«

Charity schenkte Skudder einen warnenden und Hartmann einen beruhigenden Blick, streckte die Hand aus und stellte eine Verbindung zur Himmelsstadt her. Der kleine Bildschirm blieb dunkel, aber die blinkende Anzeige verriet Charity, daß der Ruf empfangen wurde.

»Hier spricht Captain Laird«, sagte sie betont. »Ich bin die Kommandantin der Flotte, die Sie auf Ihren Monitoren sehen. Falls Captain Barnes oder einer der anderen leitenden Offiziere Skytowns noch am Leben sind, würde ich ganz gern mit ihnen reden.«

Nichts geschah. Der Bildschirm blieb dunkel, und auch der kleine Lautsprecher darunter rührte sich nicht.

Nach einigen Sekunden fuhr Charity fort: »Also gut. Ich wende mich hiermit direkt an den Kommandanten der fremden Truppen, die Skytown in ihre Gewalt gebracht haben. Sie wissen, daß ihre Lage aussichtslos ist. Ihr Transporter ist zerstört, und wir werden jedes Schiff vernichten, das sich Skytown nähert, um Sie und ihre Leute abzuholen. Sie wissen, daß wir dazu in der Lage sind. Wir fordern Sie hiermit auf, zu kapitulieren. Wenn Sie innerhalb von fünfzehn Minuten irdischer Zeitrechnung Ihre Waffen abliefern und sich ergeben, werden sie als Kriegsgefangene betrachtet und entsprechend behandelt. Weder Ihnen noch einem Ihrer Leute wird irgend etwas geschehen.«

Sie schwieg einen Moment, dann fuhr sie fort, den Blick fest auf Hartmanns Gesicht gerichtet: »Uns ist klar, daß ein direkter Angriff auf Skytown große Opfer unter der Zivilbesatzung fordern würde, aber wir werden trotzdem nicht zögern, Skytown zu stürmen. Sie haben fünfzehn Minuten Zeit. Ihre Frist beginnt genau - jetzt.«

Sie unterbrach die Verbindung, und Skudder sagte: »Ist dir klar, daß du Sie praktisch dazu aufgefordert hast, die Besatzung von Skytown als Geiseln zu nehmen?«

»Quatsch«, sagte Hartmann, bevor Charity antworten konnte. »Das haben sie doch längst.«

»Ich habe nicht vor, die Station stürmen zu lassen«, sagte Charity. »Wir würden eine Woche brauchen, um die Leute da rauszuholen, und wahrscheinlich ein paar hundert Männer verlieren.«

»Und was hast du vor?« fragte Skudder.

Charity hob die Schultern. »Ich sage es dir, sobald ich es weiß.«

Skudder verdrehte die Augen, sagte aber nichts, und auch Hartmann schwieg. Charity fühlte sich hilflos. Sie hatte tatsächlich nicht die leiseste Ahnung, was sie unternehmen sollten. Sie hatte eines der Landungsschiffe von innen gesehen und wußte, daß sie Platz für gut und gerne fünfzig Männer boten - was bedeutete, daß sie es mit bis zu hundert dieser schrecklichen, nahezu unverwundbaren Krieger zu tun hatten.

Ein direkter Angriff kam nicht in Frage. Selbst eine ganze Kompanie schwerbewaffneter Marines hätte vermutlich kaum eine Chance gegen die Fremden gehabt. Ganz davon abgesehen, daß Charity nicht bereit war, ein Gemetzel unter der Besatzung der Station zu riskieren, was die unvermeidliche Folge eines Sturmangriffes wäre. Sie konnte nur hoffen und beten, daß der Kommandant der Fremden dies nicht ebensogut wußte wie sie und auf ihren Bluff hereinfiel.

»Wir können eine Anzahl Großprojektoren heraufschaffen lassen und versuchen, die Station mit Betäubungsstrahlen zu überfluten«, schlug Hartmann vor.

»Ganz Skytown?« Skudder schüttelte heftig den Kopf. »Das ist vollkommen unmöglich. Wir würden einen Tag brauchen, um ausreichend Projektoren hierherzubringen.«

»Und wenn es eine Woche dauert!« brüllte Hartmann.

Er funkelte Skudder eine Sekunde an, dann beruhigte er sich ebenso plötzlich wieder, wie er die Beherrschung verloren hatte.

»Entschuldige«, sagte er. »Ich -«

Skudder winkte ab. »Schon gut. Wir sind alle nervös. Warten wir einfach ab. Vielleicht geben sie ja auf.«

Der Computer meldete einen eingehenden Funkspruch. Charity schaltete das Gerät ein und blickte in das Gesicht des Offiziers, der den Angriff auf die EXCALIBUR leitete.

»Commander«, sagte sie nickend. »Wie sieht es aus?«

»Wir sind bisher auf keinerlei Widerstand gestoßen«, antwortete der Commander. Nach einem kurzem, aber spürbar unbehaglichen Zögern fügte er hinzu: »Sie scheinen... nicht mehr da zu sein.«

»Was soll das heißen, sie scheinen nicht mehr da zu sein?« schnappte Skudder.

»Es sieht so aus, als hätten sie noch ein oder zwei weitere Landungsschiffe versteckt gehabt«, antwortete der Offizier. »Sie sind weg. Anscheinend haben sie auch all ihre Toten und Verletzten mitgenommen. Wir haben jedenfalls bis jetzt keine gefunden.«

»Eine hervorragende Leistung, Commander«, sagte Skudder spöttisch. »Ich muß schon sagen, daß -«

»Es ist gut«, sagte Charity rasch. »Vielleicht sollten wir froh sein, daß sie fort sind. Für einen Tag hatten wir mehr als genug Tote. Was ist mit der Besatzung der EXCALIBUR?«

»Sie hatten ziemlich hohe Verluste, fürchte ich«, antwortete der Offizier. »Gottlob war der Kommandant klug genug, ziemlich schnell zu kapitulieren.«

»In Ordnung, Commander«, sagte Charity. »Setzen Sie Ihre Suche fort. Aber seien Sie vorsichtig.«

Sie unterbrach die Verbindung, schaute auf die Uhr und wandte sich an Hartmann. »Wer immer diese Fremden sind - sie akzeptieren zumindest eine Kapitulation. Wahrscheinlich haben sie die Zivilbesatzung von Skytown verschont.«

Hartmann reagierte nicht.

Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Charitys Worte waren als Trost gedacht, und wahrscheinlich klammerte er sich auch verzweifelt an die winzige Hoffnung, die sie beinhalteten. Trotzdem mußte er innerlich durch die Hölle gehen. Charity schaute wieder auf die Uhr. Noch zehn Minuten, bis das Ultimatum ablief.

Und dann? Was, um alles in der Welt, sollten sie tun, wenn die Fremden nicht aufgaben?

Die Zeit verstrich quälend langsam. Charity ertappte sich dabei, immer öfter auf die Uhr zu sehen. Jedesmal schien der Sekundenzeiger sich langsamer zu bewegen. Aus den zehn Minuten wurden fünf, vier, drei...

»Da tut sich was«, sagte Hartmann plötzlich. Er blickte gebannt auf seine Instrumente. »Sie haben irgend etwas mit der Energieversorgung der Station gemacht. Ich kann nicht genau erkennen, was sie getan haben, aber... die Werte jagen regelrecht in die Höhe.«

»Dann fahren sie die Generatoren hoch«, knurrte Skudder. »Wahrscheinlich, um sich auf den Angriff vorzubereiten. Die geben nicht auf.«

Charity schwieg. Mit klopfendem Herzen schaute sie abwechselnd auf das Abbild der Station auf den Monitoren, dann wieder auf die Uhr.

Noch eine Minute. Dreißig Sekunden. Sie mußten sich einfach melden. Der Kommandant der Fremden mußte doch wissen, daß er diesen Kampf nicht gewinnen konnte!

Noch zehn Sekunden.

Fünf.

Null.

Die Frist, die Charity den Fremden gesetzt hatte, war abgelaufen.

Das Funkgerät blieb stumm.

»Wie ich es euch gesagt habe«, sagte Skudder. »Die geben nicht auf.«

Charity schaute wieder auf die Uhr. Das Ultimatum war seit zwölf Sekunden überschritten.

Als der Sekundenzeiger die fünfzehn erreichte, explodierte Skytown in einem ungeheuerlichen, weißblauen Feuerball.

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