5


Um den Anblick, der sich vom Aussichtsdeck von Skytown aus bot, wirklich zu beschreiben, hätte man das Wort grandios neu definieren müssen. Der kreisrunde, mehr als achtzig Meter durchmessende Saal schien zum allergrößten Teil aus Glas zu bestehen, so daß den Betrachter ein nahezu perfekter Rundumblick auf den Asteroidengürtel, das All und die Erde gewährt wurde, die gut fünfhundert Kilometer unter der Himmelsstadt hing. Skytown drehte sich einmal in zweieinhalb Stunden um seine eigene Achse, so daß das grandiose Himmelspanorama draußen statisch zu sein schien, ohne wirklich still zu stehen.

Charity nippte an ihrem Kaffee und sah abwechselnd Melissa und ihre Mutter und die graublau marmorierte Riesenkugel der Erde an, die leicht gegen ihre Achse geneigt zum Greifen nahe vor den Fenstern zu hängen schien. Skytown befand sich auf einer geostationären Umlaufbahn um die Erde, was bedeutete, daß sie relativ zur Erde scheinbar bewegungslos am Firmament hing. Auf dem Teil des blauen Planeten, den sie von hier aus sehen konnten, herrschte im Moment Nacht. Eine sehr klare Nacht, wie es aussah, denn sie konnte die Lichter der Handvoll Städte und Industriezentren, die diesen Namen verdienten, wie winzige Sterne unten auf der Erdoberfläche funkeln sehen.

Es war ein majestätischer, wunderschöner Anblick, der Charity trotzdem ein wenig melancholisch stimmte, denn er zeigte ihr nicht nur, wie viel sie in den letzten acht Jahren bereits geschafft hatten - viel deutlicher machte es ihr klar, wie viel, wie unendlich viel sie noch zu tun hatten. Die Moroni hatten fünfzig Jahre gebraucht, um diesen Planeten zu verheeren, und die Menschen würden wahrscheinlich ebenso lange brauchen, um ihn wieder aufzubauen.

Charity verscheuchte diesen Gedanken und schaute wieder zu Melissa hinüber. Wie der Anblick der Erde auf das Mädchen wirkte, vermochte sie nicht zu sagen. Natürlich war sie bis ins Mark erschrocken gewesen, als sie sich alle zusammen in Charitys Jet gesetzt und kurzerhand hier heraufgeflogen waren, doch anders als ihre Mutter hatte Melissa diesen Schrecken rasch überwunden, und statt Entsetzen und Furcht hatten kindliches Staunen und Begeisterungsfähigkeit Besitz von ihr ergriffen.

Sandra dagegen saß noch immer verkrampft auf ihrem Stuhl und wagte es nur von Zeit zu Zeit und auch für wenige Sekunden, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, während Jack und Christopher irgendwo im Hintergrund der Halle verschwunden waren und mit Skudder Indianer und Moroni spielten. Für die Zwillinge war der Blick aus dem Panoramafenster nichts Außergewöhnliches. Skytown war offiziell zwar eine militärische Einrichtung, aber da ihr Vater Oberbefehlshaber der euro-asiatischen Streitkräfte war, gingen sie hier praktisch ein und aus, wie es ihnen beliebte.

Überhaupt sah Charity eine Menge Zivilisten. Das Aussichtsdeck war gut besucht, und mehr als die Hälfte der Gäste, die an den kleinen Tischen saßen und aßen oder etwas tranken oder einfach nur die phantastische Aussicht genossen, trugen keine Uniform. Das traf an diesem Abend sogar auf Charity, Hartmann und Skudder zu, aber es war auch nicht die Kleidung, auf die Charity achtete: Sie erkannte einen Soldaten, selbst wenn er Zivil trug. Sie nahm sich vor, Hartmann bei nächster Gelegenheit zu fragen, ob sich in Skytown irgend etwas Grundsätzliches geändert hatte, was ihr entgangen war. Aber nicht jetzt. Der Abend war zu schön, um ihn sich selbst zu verderben.

Sie verscheuchte den Gedanken und wandte sich an Melissa. »Na? Gefällt es dir hier?«

Die Frage war überflüssig. Melissa saß seit einer halben Stunde vor einem köstlichen Schokoladenpudding, ohne ihn angerührt zu haben. Sie hatte nur Augen für den Anblick auf der anderen Seite der Fenster. Sie nickte heftig.

»Es ist wunderschön«, sagte sie, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen. »Hast du das gebaut?«

Charity lächelte. »Nein. Wir haben es nicht gebaut. Das hätten wir gar nicht gekonnt. Die Unge... die Moroni haben diese Station errichtet. Wir haben sie nur übernommen und ein wenig umgebaut, nachdem sie fort waren.«

»Dann müssen sie sehr kluge Wesen gewesen sein«, sagte Melissa. »Ich habe noch nie von einer Stadt im Himmel gehört.« Sie deutete auf einen hellen Fleck, der eine Handbreit über dem Südpol der Erde blitzte. »Was ist das? Noch eine fliegende Stadt?«

»Nicht ganz«, antwortete Charity. »Das ist die EXCALIBUR... jedenfalls wird sie es einmal sein.«

»EXCALIBUR?«

»Ein Raumschiff«, sagte Charity. Sie wunderte sich ein wenig über sich selbst, als sie den absurden Stolz in ihrer Stimme hörte. »Eines Tages werden wir damit vielleicht zu anderen Sternen fliegen.«

»Warum?«

Charity machte eine Handbewegung nach oben. »All diese kleinen Sterne, die du da siehst, Melissa, sind in Wahrheit riesengroß. Es sind Sonnen, genau wie die, die an unserem Himmel steht. Viele davon haben Planeten, wie die Erde, und wahrscheinlich leben auf vielen Planeten andere Wesen. Wäre es nicht schön, sie zu besuchen?«

»Die Ungeheuer sind von dort gekommen«, sagte Melissa.

»Ich glaube nicht, daß sie alle so böse sind«, antwortete Charity lächelnd.

»Und selbst wenn«, fügte Hartmann hinzu, »dann ist es vielleicht besser, wir gehen zu ihnen, bevor sie zu uns kommen.«

»Um sie zu vernichten«, vermutete Melissa.

Charity erschrak nicht nur über die Schlußfolgerung, die dieses vielleicht zehnjährige Kind aus Hartmanns Worten zog, sondern viel mehr noch über die Härte, die dabei in ihrer Stimme lag.

»Nein«, sagte sie. »So weit wird es bestimmt nicht kommen. Wenn man nur will, dann findet man fast immer einen Weg, um nicht kämpfen zu müssen.«

»Und diese Worte aus Ihrem Mund?«, sagte eine Stimme hinter Charity. »Sie sehen mich einigermaßen überrascht, Captain Laird.«

Charity schaute auf. Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, verdüsterte sich ihre Miene, als sie Gouverneur Seybert hinter sich stehen sah.

»Oh«, sagte sie. »Gouverneur, was für eine... Überraschung.«

»Ich hoffe doch, keine allzu unangenehme.« Seybert zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und fragte erst dann: »Sie gestatten doch?«

»Selbstverständlich«, antwortete Charity kühl.

Seyberts Lächeln wurde noch herzlicher. »Ich verspreche auch, daß ich nicht frage, was diese Kinder hier zu suchen haben. Und wie sie hierher kommen.«

»Sie sind mit mir gekommen«, sagte Charity. »Und ehe sie fragen: Der Jet, mit dem wir geflogen sind, ist mein Privatbesitz. Ich habe keine Steuergelder verschwendet.« Seybert seufzte, antwortete aber nicht, sondern winkte einen Kellner herbei und bestellte eine Tasse Kaffee. Dann maß sie erst Charity mit einem langen und Hartmann mit einem sehr viel kürzeren Blick. Melissa und deren Mutter ignorierte sie vollkommen.

»Sie fragen ja gar nicht, wieso ich hier bin, Captain Laird«, sagte sie schließlich.

»Um mir den Abend zu verderben«, vermutete Charity, aber ihre Feindseligkeit prallte einfach an Seybert ab.

»Keineswegs. Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden, Captain Laird«, erwiderte Seybert ruhig. »Ich war in General Hartmanns Haus, und dort sagte man mir, daß ich Sie hier finde.«

»Das haben Sie ja nun«, antwortete Charity spröde. »Dürfen wir dann jetzt unser Privatgespräch fortsetzen, Gouverneur? Freizeit ist für mich nämlich etwas sehr Kostbares. Für General Hartmann übrigens auch.«

»Genau wie für mich«, stimmte Seybert ihr zu. »Aber ich möchte trotzdem mit Ihnen reden.«

»Jetzt?«

»Wir werden unser Gespräch morgen in aller Frühe fortsetzen«, antwortete Seybert. »Und mir ist ehrlich daran gelegen, daß Sie meine Beweggründe verstehen, Captain Laird.«

»So?«

Seybert nickte. Obwohl Charity sich fast dagegen wehrte, hatte sie das Gefühl, daß Seybert es durchaus ernst meinte.

»Mir ist Ihre Feindseligkeit während der Ratssitzung nicht entgangen, Captain Laird«, sagte Seybert. »Und ich bedauere dies aufrichtig. Ich hoffe, ich kann Ihnen klar machen, daß ich aus fester Überzeugung heraus handele, nicht aus Feindschaft, oder aus irgendwelchen persönlichen Gründen.«

Charity antwortete nicht gleich. Sie sah Seybert an, aber sie spürte, wie Melissas Blicke auf ihr lasteten. Sie wandte sich an Net, doch die Wastelanderin schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn sie stand rasch auf und sagte: »Was hältst du davon, wenn ich dir zur Krönung des Abend noch ein gigantisches Eis spendiere, Melissa? Und deiner Mutter natürlich auch.«

Charity wartete, bis sie allein waren. Dann sprach sie leiser als zuvor, aber in viel schärferem Tonfall. »Ich glaube Ihnen jedes Wort, Gouverneur. Ich weiß, daß es nichts Persönliches ist. Ich persönlich habe auch nichts gegen Sie.«

Das war eine glatte Lüge, und Charity war ziemlich sicher, daß Seybert dies auch wußte. Sie wartete zwei, drei Sekunden vergeblich auf eine Antwort, dann sagte sie betont: »Ich halte Sie nur für einen Dummkopf, Gouverneur Seybert.«

Hartmann verschluckte sich fast an seinem Kaffee, und Seyberts Gesicht erstarrte zur Reglosigkeit. »Wie?«

»Ich weiß nicht, wie lange Sie schon dagestanden und mir zugehört haben«, fuhr Charity fort. »Aber das, was ich dem Mädchen da gerade erzählt habe, war nichts als eine fromme Lüge. Ich wollte die Kleine nicht beunruhigen, aber die Wahrheit ist, daß es dort draußen von Ungeheuern nur so wimmelt! Sehen Sie nach draußen, Gouverneur! Schauen Sie aus dem Fenster!«

Seybert blickte Charity für einen Moment teils irritiert, teils zornig an; dann aber zuckte sie andeutungsweise mit den Schultern, drehte sich halb in ihrem Stuhl herum und tat, wie Charity geheißen.

Charity blickte in die gleiche Richtung wie Seybert, warf aber vorher einen raschen Blick in die Runde. Net, Sandra und Melissa standen bereits an der runden Bar im Zentrum des Aussichtsdecks, und der Kellner stellte gerade den größten Eisbecher vor Melissa, den Charity jemals gesehen hatte. Jack und Christoph, vom untrüglichen Instinkt für Süßes angezogen, der den meisten Kindern eigen war, verlangten den gleichen Becher. Charity hielt nach Skudder Ausschau und sah ihn in diesem Moment mit großen Schritten auf sie zueilen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verhieß nichts Gutes. Offensichtlich hatte er Seybert erkannt. Gut. Sie konnte jede Unterstützung gebrauchen.

»Was sehen Sie, Gouverneur?« fragte sie.

»Sterne«, antwortete Seybert verwirrt.

»Sehr viele Sterne«, bestätigte Charity. »Millionen. Millionen, mit vermutlich Millionen Planeten. Und ein großer Teil davon gehört den Moroni. Dort draußen lauern genau die Ungeheuer, vor denen Melissa Angst hat, Gouverneur. Und irgendwann werden sie wiederkommen.«

»Ein galaktisches Reich, das aus Millionen Welten besteht«, wiederholte Seybert nachdenklich. »Und Sie glauben, Sie könnten diesen gewaltigen, übermächtigen Gegner aufhalten? Mit einem einzigen Schiff?«

»Das letzte Mal hatten wir weniger«, erwiderte Charity. »Ich werde jedenfalls nicht die Hände in den Schoß legen und beten, daß nichts passiert. Nicht noch einmal!«

Seybert schüttelte den Kopf. Charitys Argumente hatten sie nicht beeindruckt; nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil. Charity hatte plötzlich das Gefühl, schon wieder in eine Falle getappt zu sein. Bevor Seybert jedoch etwas sagen konnte, war Skudder herangekommen und wandte sich übergangslos an Charity.

»Wir haben ein Problem.«

»Ich weiß«, antwortete Charity feindselig. »Aber es wird sich von selbst erledigen, wenn es seinen Kaffee ausgetrunken hat.«

»Das meine ich nicht«, sagte Skudder, ohne Seybert auch nur eines Blickes zu würdigen. »Der Captain hat mich gerade informiert, daß sie einen verstümmelten Notruf von der EXCALIBUR aufgefangen haben...«

Hartmann starrte ihn eine halbe Sekunde lang überrascht an, dann sprang er mit einem Ruck auf und verschwand mit Riesenschritten in Richtung des Aufzuges. Auch Charity stand auf, nicht so hastig wie Hartmann, aber immer noch schnell.

»Was für einen Notruf?«

»Sie werden angegriffen«, sagte Skudder. »Wir wissen nicht, von wem. Die Funkverbindung ist abgebrochen. Und nicht nur zur EXCALIBUR.«

»Was soll das heißen?« fragte Charity alarmiert.

»Der gesamte Funkverkehr ist zusammengebrochen«, antwortete Skudder ernst. »Nicht nur zur EXCALIBUR. Auch zur Erde.«

»Ein Störsignal?«

Skudder zuckte mit den Schultern, und Gouverneur Seybert ließ ein leises, humorloses Lachen hören. »Captain Laird! Ich bitte Sie!«

»Gouverneur, ich -«

Seybert unterbrach sie mit einer herrischen Geste. Ihr Lächeln war wie weggeblasen. »Das reicht jetzt«, sagte sie. »Bitte ersparen Sie mir dieses peinliche Theater. Glauben Sie wirklich, daß Sie mich mit einem so plumpen Trick beeindrucken können? Sie enttäuschen mich, Captain Laird.«

Es dauerte eine Sekunde, bis Charity überhaupt begriff, was Seybert meinte. Und dann noch einmal genau so lange, bis sie ihre Fassungslosigkeit überwand.

»Die... Sie glauben, wir hätten das alles inszeniert, um Ihnen einen Schrecken einzujagen?« ächzte sie.

»Selbstverständlich«, antwortete Seybert lächelnd.

»O ja, und wir wußten natürlich genau, daß Sie hier auftauchen würden«, sagte Charity wütend. »Und auch wann. Und selbstverständlich spielen auch der Commander von Skytown und die gesamte Besatzung mit!«

»Und warum nicht? Sie sind nicht irgendwer, Miss Laird. Niemand hier wird Ihnen einen Wunsch abschlagen.«

Charity gab es auf. Sie hatte tatsächlich für einen oder zwei Augenblicke mit dem Gedanken gespielt, etwas Derartiges zu tun, dann aber selbst eingesehen, wie naiv eine solche Idee war. Der Notruf, von dem Skudder sprach, war echt.

Sie verschwendete keine Zeit mehr auf Seybert, sondern eilte mit schnellen, aber trotzdem ruhig wirkenden Schritten zur Bar. Net blickte ihr aufmerksam entgegen. Sie konnte nicht verstanden haben, was sie redeten, aber Charity las in Nets Gesicht, daß sie durchaus spürte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, ganz und gar nicht in Ordnung.

»Es ist spät geworden, Net«, sagte Charity. »Nimm meinen Jet und bring die Kinder zurück zur Basis. Skudder und ich kommen später nach.«

Net bewies, daß sie in acht Jahren als Ehefrau und Mutter nichts vergessen hatte. Sie stellte keine überflüssigen Fragen, sondern winkte die Zwillinge ohne Hast heran und gab auch Melissa und ihrer Mutter mit einer entsprechenden Geste zu verstehen, daß sie ihr folgen sollten. So schnell, wie es gerade noch ging, ohne daß ihre Hast auffiel, geleitete sie die anderen zum Aufzug.

Charity wartete, bis sie darin verschwunden waren, dann ging sie zu Seybert und Skudder zurück. Sie hatte halbwegs erwartet, die beiden in einen heftigen Streit verwickelt vorzufinden, aber die einzigen sichtbaren Feindseligkeiten bestanden darin, daß sie sich offenbar alle Mühe gaben, sich gegenseitig mit Blicken aufzuspießen.

»Also«, sagte Charity. »Was ist los?«

»Ich weiß nicht mehr, als ich dir gerade gesagt habe«, antwortete Skudder ernst. »Die Com-Zentrale hat vor ein paar Minuten einen verstümmelten Hilferuf von der EXCALIBUR aufgefangen. Es ist mitten im Satz abgebrochen. Fünf Sekunden später riß auch die Verbindung zur Erde ab. Niemand weiß, was wirklich passiert ist.«

»Wird Ihnen das nicht allmählich selbst peinlich?« fragte Seybert.

Charity beachtete sie gar nicht. »Piraten?«

»Wohl kaum«, antwortete Skudder. »Das würden sie nicht wagen. Davon abgesehen hätte sie wahrscheinlich nicht einmal die technischen Möglichkeiten.«

Piraten, Freibeuter, Wegelagerer, Räuber - wie immer man sie nennen wollte - gehörten mit zu dem Erbe, das die Moroni der Erde hinterlassen hatten. Nach dem Verschwinden der außerirdischen Invasoren waren den Menschen auf der Erde ungeheure Mengen an Waffen und Fahrzeugen in die Hände gefallen. Und leider hatten nicht alle nur eine neue und bessere Zukunft für die Erde im Sinn. Die marodierenden Banden aus zahllosen Mad-Max-Filmen waren Realität geworden.

Doch Skudder hatte natürlich recht. Die Piraten waren zwar ein Ärgernis, mehr aber auch nicht. Sie hatten weder die Mittel noch den Mut, etwas so Großes, Gewaltiges wie die EXCALIBUR anzugreifen. Und selbst wenn - wozu hätten sie es riskieren sollen? Das Schiff war im Moment noch nicht einmal flugtüchtig.

»Laß uns in die Zentrale gehen«, sagte Charity. »Ich will wissen, was da los ist.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie begleite?« erkundigte Seybert sich fröhlich. »Ich möchte doch zu gern sehen, wie weit sie diese Farce noch treiben.«

Charity schenkte ihr einen verächtlichen Blick, beließ es aber bei einer Mischung aus einem Nicken und einem Achselzucken und ging zum Aufzug. Skudder und Seybert folgten ihr. Charity mußte sich beherrschen, um nicht zu rennen, aber schließlich wollte sie nicht für eine Panik verantwortlich sein, sollte sich die ganze Sache letztlich als falscher Alarm erweisen. Schon jetzt sahen zu viele Leute irritiert und beunruhigt in ihre Richtung. Die kurze Szene war beobachtet worden.

Charity erreichte den Aufzug, drückte den Rufknopf und wartete ungeduldig darauf, daß die Kabine kam. Sie mußte sich sehr beherrschen, um sich ihre Nervosität nicht zu deutlich anmerken zu lassen.

»Captain Laird, bitte!« sagte Seybert. »Machen Sie es doch für uns alle nicht noch peinlicher! Die Charade ist vollkommen überflüssig, glauben Sie mir! Ich bin ja gerade hier, um mit Ihnen zu reden!«

Der Aufzug kam. Charity zwängte sich durch die langsam aufgleitenden Türen, fuhr herum und drückte auf den Knopf für das Zentraldeck, noch bevor Skudder und Seybert die Kabine hinter ihr betreten hatten. Die Aufzugtüren glitten zur Gänze auf, verharrten für eine endlose Sekunde regungslos und begannen sich dann mit quälender Langsamkeit wieder zu schließen.

»Captain Laird!« stieß Seybert beinahe flehend hervor. »Bitte!«

Als die Aufzugtüren noch zwei Handbreit voneinander entfernt waren, blitzte es in der samtenen Schwärze jenseits der Panoramascheiben weiß und sonnenhell auf, und den Bruchteil einer Sekunde später traf irgend etwas mit unfaßbarer Gewalt auf das Glas und zertrümmerte es.

Charity sah ganz deutlich, was geschah, obwohl es sich mit unvorstellbarer Schnelligkeit abspielte. In dem handstarken Glas, das die Festigkeit irdischen Stahls um ein dreißigfaches übertraf, entstand nicht etwa ein Loch, durch das der Sauerstoff heraus und die Weltraumkälte hereinströmen konnten. Die dem Energieblitz zugewandte Seite der Aussichtskuppel zerbarst auf ganzer Breite wie unter einem wuchtigen Hammerschlag.

Die Wirkung war verheerender als alles, was Charity je zuvor miterlebt hatte.

Die Atemluft auf der Aussichtsplattform entwich nicht ins Weltall - sie explodierte hinaus. Glassplitter, Einrichtungsgegenstände, Menschen und Metalltrümmer wurden mit einem einzigen, ungeheuren Schlag in den Weltraum hinausgerissen. Die Temperaturen in der Aufzugkabine fielen schlagartig so tief, daß sich die Luft in Charitys Lungen wahrscheinlich in Eis verwandelt hätte, wäre sie nicht gleichzeitig brutal aus der Kabine gerissen worden, um ein Haar zusammen mit den drei Insassen.

Charity fühlte sich wie von einer unsichtbaren, übermenschlichen starken Hand in die Höhe und auf die Tür zu gerissen. Seybert schrie, als sie mit furchtbarer Gewalt gegen sie prallte, aber der Laut wurde ihr ebenso von den Lippen gerissen, wie die Atemluft. Charity sah nur, wie sich Seyberts Lippen bewegten, dann prallten sie beide gegen Skudder und wurden einen Sekundenbruchteil später gemeinsam gegen die Lifttüren geschleudert.

Wären die Türen noch eine Winzigkeit weiter geöffnet gewesen, hätte die drei die nächsten Sekunden kaum überlebt. Der Anprall war fürchterlich, und Charity wagte gar nicht daran zu denken, was Skudder erleiden mußte. Aber das war nicht einmal das Schlimmste. Die Temperaturen schienen mit Lichtgeschwindigkeit weiter zu fallen. Charitys Haut brannte vor Kälte, und sie glaubte regelrecht zu spüren, wie ihre Augäpfel sich mit einer Reifschicht überzogen. Und in der Kabine war kein einziges Sauerstoffmolekül mehr.

Explosive Dekompression. Die beiden Worte schossen wie ein Blitz durch Charitys Bewußtsein. Eines der großen Schreckgespenster; einer der schlimmsten Notfälle, wie man ihr schon während der Ausbildung eingehämmert hatte. Sie glaubte zu spüren, wie ihr Blut zu kochen begann, ihre Augäpfel aus den Höhlen quollen und sich ihre inneren Organe aufblähten wie Luftballons, die versehentlich an die Preßluftflasche eines Tiefseetauchers angeschlossen worden waren.

Die Aufzugtüren schlossen sich mit quälender Langsamkeit. Der verbliebene Spalt war vielleicht noch zwei, drei Zentimeter breit, aber der Sog des Vakuums ließ die Servomotoren der Türen wimmern. Charity konnte sehen, wie handtiefe Dellen in den dünnen Aluminium entstanden.

Und dann war es vorbei.

Die Türen schlossen sich mit einem dumpfen Laut, und Charity taumelte zurück und fiel kraftlos zu Boden. Neben ihr brachen Skudder und Seybert zusammen, und die Liftkabine zitterte und bebte, als wolle sie jeden Moment auseinanderbrechen. Eine endlose, quälende Sekunde lang wogte der gesamte Lift hin und her wie ein kleines Boot auf stürmischer See, dann heulten die Motoren noch einmal auf, schriller diesmal, und der Lift setzte sich ruckend in Bewegung.

Charity rang verzweifelt nach Luft, und in den ersten Augenblicken vergebens. Die Kabine war nicht luftdicht, so daß Sauerstoff aus dem Aufzugschacht in ihr Inneres drang, dies um so schneller, als er von dem für Augenblicke herrschenden Unterdruck regelrecht angesaugt wurde. Trotzdem vergingen endlose, quälende Sekunden, bis der Sauerstoffgehalt der Luft in ihren Lungen auch nur wieder annähernd hoch genug war, um das Atmen wieder möglich zu machen. Die Kälte war noch immer grausam, aber nicht mehr tödlich.

Charity rang verzweifelt nach Atem. Alles drehte sich um sie, und ihr Mund schmeckte nach Blut. Sie konnte nur undeutlich sehen. Neben sich hörte sie Seybert vor Schmerz und Angst wimmern, doch Charitys Kraft reichte nicht einmal aus, den Kopf zu drehen und nach ihr zu sehen.

Langsam, viel zu langsam, wie es ihr vorkam, glitt der Aufzug weiter in die Tiefe. Aus dem üblicherweise sanften, gleichmäßigen Gleiten war jedoch ein unregelmäßiges Ruckein und Stampfen geworden. Aber immerhin, der Aufzug bewegte sich, und das flackernde Licht über der Tür bewies, daß die Kabine noch immer getreulich auf dem befohlenen Weg war.

Charity stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch, hustete qualvoll und spuckte einen Mund voll Blut aus, ehe sie unter Aufbietung aller Kräfte den Blick schweifen ließ. Skudder hatte sich ebenfalls halb erhoben und schüttelte benommen den Kopf. Blut lief aus seinen Augenwinkeln, seiner Nase und den Ohren, und er hatte eine üble Schnittwunde an der Stirn.

Seybert bot einen fast noch schlimmeren Anblick. Ihr Gesicht war blutüberströmt, und in ihren Augen mußten sämtliche Adern geplatzt sein, so daß das Weiß völlig verschwunden war und einem schmierigen Rot Platz gemacht hatte. Sie sagte irgend etwas, aber Charity verstand ihre Worte nicht, denn in ihren Ohren war ein schrilles, an- und abschwellendes Heulen, das jeden anderen Laut verschluckte. Möglicherweise waren ihre Trommelfelle geplatzt.

Bevor Seybert ihre Frage wiederholen konnte, erbebte der Lift unter einem Schlag, der sie alle ein weiteres Mal zu Boden schleuderte. Die Erschütterung war nicht einmal besonders heftig, aber auf eine schwer zu beschreibende Weise machtvoll; so, als erzittere nicht nur der Aufzug, sondern das gesamte Universum rings um sie herum. Es dauerte Sekunden, bis das Beben so weit abgeklungen war, daß sie sich ein weiteres Mal hochstemmen konnten.

»Großer Gott, was war das?« schrie Seybert.

Das Klingeln und Heulen in Charitys Ohren hielt an, aber sie konnte trotzdem wieder hören; wenigstens ein bißchen. Ihre Trommelfelle waren also nicht geplatzt. Der Höllenlärm, den sie hörte, war der Alarm, der durch die Himmelsstadt schrillte.

»Der nächste Akt unserer kleinen Charade, Gouverneur«, sagte Charity. »Wir wollen doch schließlich überzeugend sein.«

»Irgend etwas hat uns getroffen«, sagte Skudder.

»Getroffen?« stammelte Seybert. »Was... was soll das heißen?«

»Wir werden angegriffen, verdammt noch mal!« schrie Charity. »Was muß denn noch passieren, damit Sie das begreifen? Irgend jemand schießt auf Skytown!«

»Aber... aber wieso... ich meine... wer -?«

»Das werden wir herausfinden«, sagte Charity. »Falls wir lange genug am Leben bleiben.«

Charity stemmte sich mühsam hoch. Die Kabine zitterte und bebte zunehmend stärker, bewegte sich aber immer noch weiter und würde die Zentralebene in wenigen Augenblicken erreichen.

Falls sie nicht vorher explodierte, abstürzte oder sich in Atome auflöste.

Nichts davon geschah. Der Aufzug erreichte sein Ziel und kam mit einem knirschenden Laut zum Stehen, der sich in Charitys Ohren so anhörte, als würde sich die Kabine nie wieder bewegen. Die Türen glitten ein Stück weit auf und verkanteten sich dann mit einem metallischen Kreischen. Das Heulen der Alarmsirenen wurde schlagartig lauter. Rauch, Schreie und die Geräusche zahlloser rennender Menschen drangen zu ihnen herein.

»Was geht hier vor?« fragte Seybert herrisch. Sie versuchte, Charity am Arm zu packen und herumzureißen, aber Charity schüttelte ihre Hand mit einer wütenden Bewegung ab und funkelte Seybert so zornig an, daß diese erschrocken zurückprallte.

»Jetzt nicht, Gouverneur«, sagte Charity. »Wir müssen versuchen, die Zentrale zu erreichen. Dort werden wir erfahren, was vor sich geht. - Skudder!«

Zusammen mit dem Indianer stemmte sie sich gegen die verbogene Tür. Es kostete sie all ihre gemeinsame Kraft, aber schließlich gelang es ihnen, die verkeilten Türhälften weit genug auseinanderzuziehen, so daß sie sich durch die entstandene Öffnung quetschen konnten.

Was sie empfing, war das schiere Chaos. Scharf riechender Rauch lag in der Luft. Das Heulen der Alarmsirenen wurde so laut, daß es jede Verständigung unmöglich machte. Irgendwo wütete ein Feuer, und der Boden zitterte ununterbrochen. Soldaten rannten schreiend an ihnen vorbei und schwenkten ihre Waffen, und als Charity losrannte, spürte sie, daß der Boden eine deutliche Schräglage hatte. Offensichtlich funktionierte die künstliche Schwerkraft an Bord der Himmelsstadt nicht mehr richtig.

Charity bedeutete Seybert durch Gesten, Skudder und ihr zu folgen, und überließ es dem Überlebensinstinkt der Politikerin, dem Befehl nachzukommen oder nicht.

Der Weg bis zur Kommandozentrale der Station war nicht mehr weit. Skytown war auch und vor allem eine Kampfstation, so daß sie unter normalen Umständen mindestens ein halbes Dutzend hochnotpeinlicher Sicherheitskontrollen hätte überwinden müssen, ehe sie das Allerheiligste der Station betreten durften. Der plötzliche Angriff schien jedoch vor allem die Disziplin an Bord der Himmelsstadt zerstört zu haben. Ungehindert erreichten sie den Zugang zur Zentrale. Ein nervöser Soldat vertrat ihnen den Weg, als sie auf die Panzertür der Zentrale zuliefen, machte jedoch sofort Platz, als er Charity und Skudder erkannte.

Skytown erbebte unter einem weiteren, furchtbaren Einschlag, als sie durch die Tür stolperten. Diesmal schien die gesamte Station wie ein riesiges lebendes Wesen aufzustöhnen, das grausame Schmerzen erleiden mußte, und Charity konnte nur mit ein paar hastigen Stolperschritten verhindern, daß sie von den Füßen gerissen wurde und fiel.

Seybert war nicht ganz so geschickt, aber selbst Charitys Vorrat an Schadenfreude war mittlerweile längst aufgebraucht. Sie warf einen hastigen Blick in die Runde, entdeckte Hartmann auf dem erhöhten Kommandopult des Captains und hetzte mit Riesensprüngen auf ihn zu.

»Hartmann! Was ist passiert?«

Hartmann schaute sie nur flüchtig an und wies dann auf den großen Zentralschirm, der fast ein Drittel der Wand vor ihm in Anspruch nahm. Die dreidimensionale Darstellung erweckte den Eindruck, durch ein Fenster direkt in den Weltraum hinauszublicken, aber Charity wußte, daß sich zwischen ihr und dem All fast zweihundert Meter befanden; Die Zentrale lag genau im Herzen der Himmelsstadt und war gut genug gepanzert, um selbst dem direkten Treffer einer taktischen Nuklearwaffe zu trotzen.

Leider galt das nicht für den Rest der Station. Der große Zentralschirm wurde von Dutzenden kleinerer Monitore eingerahmt, auf denen unterschiedliche Teile von Skytown zu sehen waren. Der Anblick schien überall gleich zu sein: Wo es nicht brannte oder keine Zerstörung zu sehen war, herrschte das nackte Chaos. Rennende Menschen, Furcht, Panik.

Auf dem großen Bildschirm schien auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches zu erkennen zu sein. Erst als Charity Hartmanns Geste folgte und konzentriert auf einen bestimmten Punkt auf dem Schirm blickte, sah sie drei, dann vier und schließlich fünf winzige, flimmernde Punkte.

»Bis jetzt haben wir ein knappes halbes Dutzend identifiziert«, sagte Hartmann. »Bomber, ihrer Taktik nach zu urteilen.«

»Moroni?« fragte Charity.

Hartmann schüttelte den Kopf, und der Mann neben ihm sagte: »Dann wären wir schon tot. Sie bewegen sich nicht viel schneller als andere Maschinen. Aber schnell genug.«

Charity nickte zustimmend. Ein Blick auf das Namenschildchen des Mannes identifizierte ihn als Lieutenant Commander Barnes, Kommandant der Station.

»Wer sind sie dann?« fragte Charity.

»Wir haben noch nicht genug Daten, um sie zu identifizieren«, sagte Barnes. »Aber es kann nicht mehr lange dauern.« Er schüttelte den Kopf. »Keine Forderungen. Kein Kontakt. Sie haben sofort kompromißlos und erbarmungslos angegriffen.«

»Sind Net und die Kinder noch rausgekommen?« fragte Charity, an Hartmann gewandt. »Sie wollte meinen Jet nehmen.«

Hartmann zuckte mit den Schultern. Er blickte sie nicht an. »Ich weiß es nicht«, sagte er tonlos. »Die gesamte Kommunikation ist zusammengebrochen. Es ist ein kleines Wunder, daß die Monitore noch funktionieren.«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, erzitterte die Himmelsstadt unter einer weiteren Explosion. Ein neuer, schriller Alarmton gellte auf und brach mit einem Mißklang wieder ab.

»Da kommen die Bilder«, sagte Barnes.

Der Bildschirm flimmerte eine Sekunde, dann wich der Anblick der Asteroidengürtels dem eines bizarren Fluggerätes. Was sie sahen, war keine wirkliche Aufnahme, sondern eine Hochrechnung, die der Stationscomputer aus den empfangenen Daten erstellte.

Trotzdem war es das Bizarrste, was Charity jemals zu Gesicht bekommen hatte...

Das Schiff - falls es ein Schiff war - ähnelte einem irdischen Stachelrochen, besaß aber andere Proportionen: Die ›Flügel‹ waren sehr viel breiter, und auf der Oberseite der fremdartigen Konstruktion erhob sich ein asymmetrischer Aufbau, dessen Zweck Charity nicht einmal zu erraten imstande war. Da es nichts gab, was als Vergleich herhalten konnte, war die Größe des Schiffes nicht zu erkennen, aber der Computer behauptete, daß es ungefähr dreißig Meter lang und nahezu ebenso breit war.

»Was, zum Teufel, ist das?« fragte Skudder, der unbemerkt hinter sie getreten war.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Hartmann. »Ich habe so etwas noch nie gesehen. Aber die Dinger sind schnell. Verdammt schnell.«

»Zu schnell für unsere Zielcomputer?« fragte Charity.

Barnes schüttelte den Kopf. »Nein. Unsere Laser könnten sie erwischen. Leider kommen sie nicht nahe genug heran.«

»Sie bleiben außer Reichweite«, fügte Hartmann düster hinzu. »Entweder ist das Zufall, oder sie wissen ganz genau, wie weit unsere Laser schießen.«

»Raketen?« fragte Skudder.

Barnes lachte humorlos, und Hartmann sagte: »Der zweite Treffer hat unsere Raketenbatterie erwischt.«

Auf dem Bildschirm blitzte es auf, und nur einen Augenblick später erbebte Skytown unter einem neuerlichen, noch heftigeren Treffer.

»Verdammt noch mal, warum tut denn niemand etwas?« schrie Seybert. Hartmann holte tief Luft, um sie anzufahren, aber Charity kam ihm zuvor.

»Dann müssen wir sie im Nahkampf erledigen. Wie viele Jets habt ihr an Bord?«

»Acht«, antwortete Barnes.

»Und warum, zum Teufel, haben Sie sie noch nicht gestartet?« fragte Seybert. Ihre Stimme kippte fast über.

»Weil der zweite Treffer unseren Haupthangar erwischt hat«, erwiderte Hartmann tonlos. »Ich sagte doch schon: Sie scheinen genau zu wissen, wo sie uns treffen müssen. Diese Mistkerle schießen uns methodisch in Stücke. Und wir können nichts dagegen tun.«

»Dann... dann sind wir verloren?« murmelte Seybert. »Wir werden alle sterben.«

»Nicht unbedingt«, antwortete Skudder. »Wenn sie uns umbringen wollten, hätten sie es längst gekonnt. Sie entwaffnen uns. Einer der nächsten Treffer wird unsere Laserbatterien treffen, jeder Wette.«

»Und... und dann?« fragte Seybert stockend.

Skudder lächelte humorlos. »Dann erfahren wir wohl, mit wem wir es wirklich zu tun haben«, sagte er.

Dreißig Sekunden später erbebte Skytown unter einen weiteren Einschlag, und genau wie Skudder vorausgesagt hatte, hatte das Geschoß einer der beiden schweren Laserbatterien der Station getroffen und zerstört. Sie waren wehrlos. Was der Station an Waffen verblieben war, zielte nutzlos auf die den Angreifern abgewandten Seite in den freien Weltraum.

»Ich verstehe nicht, worauf sie warten«, murmelte Seybert.

Ihr Blick war wie der aller anderen gebannt auf den Hauptmonitor gerichtet, auf dem die fünf Angreifer mittlerweile deutlich zu erkennen waren, nicht mehr nur als Computersimulation. Die Realität kam der Hochrechnung, die der Zentralcomputer erstellt hatte, ziemlich nahe. Es gab einige Unterschiede im Detail, aber im großen und ganzen blieben die Schiffe das, was sie auf den ersten Blick gewesen waren: Große, fremdartig aussehende Konstruktionen, vor denen ein fast greifbarer Hauch von Bedrohung und Gefahr ausging.

Eine weitere Minute verging, dann sagte Barnes leise: »Sie warten darauf.«

Zwischen den Rochenschiffen waren zwei weitere, größere Umrisse erschienen. Der massige Rumpf, an dem die kurzen Stummelflügel geradezu lächerlich aussahen, die massive Panzerung und die beiden großen Türen auf jeder Seite machten Charity auf Anhieb klar, womit sie es zu tun hatten: Landungsschiffe.

»Da kommt die Infanterie«, sagte sie. »Sie wollen uns entern.«

Barnes warf einen Blick auf seine Instrumente. »Wenn sie ihre Geschwindigkeit beibehalten, sind sie in vier Minuten hier.«

»Zum Teufel, so tun Sie doch etwas, Commander!« keuchte Seybert.

Barnes maß sie mit einem fast mitleidigen Blick. »Gerne - wenn Sie mir sagen, was. Soll ich vielleicht nach draußen gehen und mit Steinen werfen? Sie haben uns entwaffnet, Gouverneur, begreifen Sie das doch endlich!«

»Dann müssen wir Hilfe rufen!« antwortete Seybert erregt. Sie drehte sich mit einem Ruck zu Hartmann um. »Was ist mit all diesen Raumschiffen, die Sie in dem unterirdischen Hangar in Ihrer Basis verstecken? Wieso kommen diese Schiffe nicht?«

Hartmann reagierte nicht einmal mit einem Wimpernzucken auf die Eröffnung, daß sein Geheimnis keines war.

»Wir haben keine Verbindung zur Basis«, sagte er. Sein Blick löste sich für einen Moment von Seyberts Gesicht und suchte den Charitys, und sie las eine Furcht in seinen Augen, die er noch nicht in Worte zu kleiden wagte. Ihre Verbindung zur Erde war zwar abgebrochen, aber wenn Net und die Kinder mit Charitys Jet durchgekommen wären, dann hätte Hilfe bereits unterwegs sein müssen.

Charity schaute wieder auf den Schirm. Die beiden Landungsschiffe kamen rasch näher. Noch etwas mehr als zwei Minuten, und sie würden andocken. Im Grunde waren sie viel zu klein, als daß sie genügend Truppen hätten transportieren können, um eine so große Station wie Skytown einzunehmen. Selbst wenn sie die Verluste berücksichtigen, die vor allem der Treffer auf dem Aussichtsdeck gefordert hatte, zählte die Besatzung noch immer nahezu tausend Männer und Frauen. Und die meisten davon waren ausgebildete Soldaten, die sich schon im Kampf gegen die Moroni bewährt hatten. Charity hatte plötzlich das Gefühl, daß ihnen alle eine sehr böse Überraschung bevorstand.

»Können wir evakuieren?« fragte Skudder.

Barnes schüttelte den Kopf. »Nicht in zwei Minuten.«

Charitys Gedanken rasten. Sie war trotz allem zuversichtlich, daß sie mit den Angreifern fertig werden würden.

Hartmanns Männer waren hervorragend ausgebildet und bewaffnet und hatten schon so manchem scheinbar überlegenen Gegner eine blutige Nase verpaßt.

Doch ein Kampf im Inneren der Station würde zahllose Menschenleben kosten. Sie mußten den Feind draußen im All abfangen. Und das möglichst in neunzig Sekunden.

»Schalten Sie die Schirme ab, Commander«, sagte Charity. »Ich gehe raus.«

Barnes starrte sie an. »Wie?«

Charity deutete auf den Bildschirm. »Die EXCALIBUR. Sind die Jäger in ihren Hangars einsatzbereit?«

»Die meisten«, bestätigte Hartmann, »Aber -«

»Worauf warten wir dann noch?« fragte Skudder.

Barnes und vor allem Seybert wollten erneut widersprechen, aber Charity schnitt ihnen beiden mit einer knappen Geste das Wort ab. »Barnes! Runter mit den Schirmen. Und öffnen Sie die Hauptschleuse!«

»Aber... aber wozu denn das?« ächzte Seybert.

»Weil sie es sonst machen«, antwortete Barnes mit einer Geste auf die näherkommenden Landungsschiffe auf dem Monitor. »Und wir haben schon genug Löcher in der Station.«

Während Charity, Skudder und - nach sekundenlangem Zögern - auch Hartmann sich umwandten, gab Barnes dem Brückenpersonal mit knappen Gesten zu verstehen, daß sie Charitys Befehl nachkommen sollten. Dann drehte er sich noch einmal zu ihnen herum und blickte sie ernst an.

»Viel Glück«, sagte er.

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