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»Wenn ich dir jetzt eine ganz simple Frage stelle, Skudder«, sagte Charity, »versprichst du mir dann, sie sofort und vor allem ehrlich zu beantworten?«

Skudder antwortete nicht gleich. Er drehte sich nicht einmal zu Charity herum, sondern blieb weiter hoch aufgerichtet und regungslos vor dem Panoramafenster stehen und schien auf den asymmetrisch geformten Paradehof hinunterzublicken. Aber Charity sah eine schwache Spiegelung seines Gesichts auf der Fensterscheibe und begriff, daß er die Frage sehr wohl verstanden hatte. Nach einigen Sekunden sagte er: »Das kommt natürlich ganz auf die Frage an, Liebling.« Charity hob die linke Augenbraue. Wenn Skudder sie Liebling nannte, war er immer entweder besonders wütend auf sie oder versuchte sie zu verspotten.

»Ja oder nein?« beharrte sie.

Skudder drehte sich nun doch herum und schaute sie an. Auf seinem Gesicht lag die Andeutung eines Lächeln, aber das mußte nichts bedeuten. Es hatte viele Männer, Frauen und vor allem Außerirdische gegeben, die den Anblick dieses Lächelns als letzten Eindruck hinüber ins Leben nach dem Tod genommen hatten, so ein solches denn existierte.

»Und wie lautet deine Frage nun?«

»Das SWAT-Team«, sagte Charity. »Es ist buchstäblich im allerletzten Moment aufgetaucht. Zehn Sekunden später, und sie hätten nur noch unsere abgenagten Knochen gefunden.«

»Aber sie sind doch noch rechtzeitig gekommen, oder?«

»Ja«, antwortete Charity. »Gerade noch. Ich frage mich nur die ganze Zeit, ob sie vielleicht im allerletzten Moment erst eingegriffen haben, weil ihnen jemand befohlen hat, das zu tun.«

Skudders Lächeln blieb unverändert, aber der Tonfall seiner Stimme war eher Spott als schlecht gespielte Empörung. »Aber Charity, ich bitte dich! Wer sollte denn so etwas tun?«

»Vielleicht jemand, der mir einen Denkzettel verpassen wollte, weil er der Meinung ist, daß ich zu große Risiken eingehe.«

Skudder lächelte unerschütterlich weiter, doch sein Tonfall veränderte sich und machte Charity klar, daß er diesmal die Wahrheit sagte. »So etwas würde ich niemals tun, Charity. Ich gebe zu, daß ich heute Morgen große Lust hatte, dir den Hintern zu versohlen, aber ich würde dich nie und nimmer in Gefahr bringen.«

»Wenigstens nicht bewußt«, schränkte Charity ein.

»Wenigstens nicht bewußt«, bestätigte Skudder ungerührt. »Und so weit ich mich erinnern kann, seit mindestens fünf oder sechs Jahren auch nicht mehr unbewußt.«

»Da irrst du dich«, erwiderte Charity scharf. »Wenn du mich weiter wie ein Kleinkind behandelst, werde ich vor Langeweile sterben.«

»Ich behandele dich so, wie du dich benimmst«, sagte Skudder ruhig. »Du bist kein Weltraum-Jockey mehr, Liebling. Du wirst nicht mehr dafür bezahlt, deinen Hals zu riskieren.«

»Soweit ich mich erinnere, werde ich überhaupt nicht bezahlt«, sagte Charity, doch Skudder fuhr in unverändertem Tonfall fort.

»Du hast diesen gesamten Planeten befreit. Du hast praktisch im Alleingang die Invasionstruppen eines galaktischen Imperiums geschlagen -«

»Jetzt übertreibst du.«

»Auf jeden Fall wäre es ohne dich nie so weit gekommen«, fuhr Skudder fort. »Die ganze Welt, jeder einzelne Mensch dort draußen, bewundert dich.«

»Neunzig Prozent der Menschen dort draußen wissen nicht einmal, daß es mich gibt«, sagte Charity.

»Aber sie werden es erfahren«, erwiderte Skudder ernst. »Für kommende Generationen wirst du so etwas wie eine Göttin sein. Die Frau, die Moron geschlagen hat! Du bist jetzt schon eine Legende! Glaubst du, du wirst noch berühmter, wenn du Kopf und Kragen riskiert, nur um ein paar Wanzen zu erschießen?«

»Nein«, antwortete Charity. Sehr ruhig. Sehr leise. Sehr ernst. »Aber so habe ich wenigstens manchmal wieder das Gefühl, zu leben.«

Skudder schwieg. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden, und in seinen Augen war ein Ausdruck erschienen, den Charity nicht genau zu deuten imstande war, der sie aber irgendwie beunruhigte. Nach einer Weile fragte er: »So schlimm?«

Charity antwortete nicht. Es war nicht das erste Mal, daß sie dieses Gespräch führten, und es würde nicht das letzte Mal sein. Und sie würden auch diesmal nicht zu einer Lösung kommen; vielleicht, weil dieses Problem einfach nicht zu lösen war.

Das Schlimme ist, dachte Charity, daß wir beide im Recht sind, von unserem jeweiligen Standpunkt aus betrachtet. Skudder hatte vollkommen recht: Sie war keine x-beliebige Testpilotin in einer riesigen Organisation mehr, die vielleicht wichtig, aber trotzdem austauschbar war. Auf ihren Schultern lastete die Verantwortung für eine ganze Welt. Seit einigen Jahren hatte sie zwar Männer und Frauen wie Hartmann, Net, Harris und Dubois an ihrer Seite, die ihr immer mehr von dieser Verantwortung abnahmen, aber die Welt wuchs schneller, als sie die Aufgaben, die jeden Tag neu entstanden, delegieren konnte.

Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, eines würde sich nie ändern: Sie war eine Symbolfigur. Charity Laird, die Königin der Rebellen, die Retterin der Welt, Siegerin über die Moron und die Shait ... Sie durfte ihr Leben nicht riskieren, nur weil ihr langweilig war. Die neue Weltordnung, die sie errichtet hatten, war ein sehr junges, sehr empfindliches Gebilde. Ihr Tod - noch dazu, wenn er sinnlos wäre - konnte ihm möglicherweise schweren Schaden zufügen.

Nur: Tief in ihrem Inneren war Charity nichts von alledem. Sie war keine Heldin, sie war nicht mutig, und sie war schon gar nicht uneigennützig. Sie war ein ganz normaler Mensch, der ohne sein Zutun in eine Geschichte hineingeschlittert war und sich einfach nach Kräften gewehrt hatte. Irgendwann hatten die Ereignisse dann eine unaufhaltsame Eigendynamik entwickelt, und Charity hatte nur noch reagiert. Sie hatte gekämpft, und sie hatte gesiegt. Das hatte sie gewollt. Was danach kam, hatte sie nicht gewollt.

Seit acht Jahren, seit dem Ende der Moroni-Invasion, war sie wenig mehr als ein Aushängeschild. Eine Politikerin. Sie hatte Politiker schon während ihres ersten Lebens als Raumpilotin verachtet.

Skudder wußte das alles. Sie hatten unzählige Male darüber gesprochen, und er verstand Charity durchaus. Das war ja das Dilemma. Sie hatten beide recht, sie verstanden einander, und sie konnten doch nichts an der Situation ändern.

»Laß uns gehen«, sagte Skudder leise. »Hartmann und die anderen warten sicher schon.«

Er streckte die Hand nach ihrer Schulter aus, preßte für einen Moment die Lippen aufeinander, als sie seiner Berührung auswich, und fragte dann: »Wie geht es dem Mädchen und seiner Familie?«

Es war ein unzulänglicher Versuch, das Thema zu wechseln, aber es war ein Versuch, und Charity akzeptierte ihn und ging darauf ein.

»Es geht ihnen soweit gut«, sagte sie. »Zwei Männer sind ziemlich schwer verletzt, aber die Ärzte kriegen sie durch. Die anderen erholen sich von dem Schrecken. Sie sind immer noch ziemlich verstört.«

»Das ist verständlich, nach allem, was sie durchgemacht haben.« Skudder nickte anerkennend. »Ich sollte es nicht zugeben, aber dein Stunt mit dem Jet war unglaublich. Ich habe noch nie zuvor erlebt, daß jemand einen Raumjäger als Fliegenpatsche verwendet.«

»Einer der Männer ist dabei gestorben«, sagte Charity leise.

»Wenn du nicht gewesen wärst, dann wären sie jetzt alle tot.«

»Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert, Skudder«, widersprach Charity. »Diese Leute haben dort unten gelebt, seit Monaten, vielleicht seit Jahren, und alles war in Ordnung. Bis ich gekommen bin und aus purer Langeweile Scheibenschießen auf ihre Stadt veranstaltet habe. Es war mein Angriff, der die Wanzen aus ihrem angestammten Gebiet verjagt hat!«

»Das konntest du nicht wissen.« widersprach Skudder. »Diese Leute hätte nicht dort unten sein dürfen.«

»Sie waren es aber!«

»Das konntest du aber nicht wissen«, beharrte Skudder. »Die Stadt hätte vollkommen abgeriegelt sein sollen. Es ist nicht deine Schuld, wenn die Technik versagt.«

»Das hat sie aber«, sagte Charity. »Ich frage mich, wie viele Menschen wir in den letzten Jahren umgebracht haben, weil wir ihre Heimatstadt als Schießscheibe benutzten.«

»Gibt es sonst noch etwas, wofür du die Verantwortung übernehmen könntest?« fragte Skudder. »Vielleicht für das Erdbeben letztes Jahr? Oder für die Sturmflut an der südamerikanischen Küste?« Er verdrehte die Augen. »Jetzt laß es gut sein. Noch vor einer Minute hast du mir erklärt, daß du keine lebende Legende sein willst. Warum benimmst du dich dann so, als wärst du ganz allein für alles Leid dieser Welt verantwortlich?«

Charity wollte antworten, aber in diesem Moment sah sie eine Reflexion in der Scheibe hinter Skudder und begriff, daß sie nicht mehr allein waren. Als sie sich herumdrehte, blickte sie in Hartmanns Gesicht. Sie fragte sich, wie lange er schon dastand und ihnen zuhörte.

»Hartmann!« Charity war mit einem Schritt bei ihm, umarmte ihn herzlich und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. Sie freute sich ehrlich, ihren alten Freund und Kampfgefährten wiederzusehen. Es war fast ein Jahr her, daß sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

Nach ein paar Augenblicken trat sie zurück, hob die Hand und drohte Hartmann spielerisch mit den Fingern. »Seit wann schleichen Sie sich aus dem Hinterhalt an und lauschen?«

»Tue ich gar nicht«, antwortete Hartmann. »Ich bin ganz normal hereingekommen, aber ihr beiden wart viel zu sehr damit beschäftigt, euch gegenseitig an die Kehlen zu gehen, um mich auch nur zu bemerken.« Er schüttelte den Kopf. »Ihr beide liebt euch immer noch so sehr wie am ersten Tag, wie?«

Charity lächelte, antwortete aber sehr ernst. »Es geht nicht um uns. Es ist -«

»Ich weiß«, fiel Hartmann ihr ins Wort. »Aber in diesem Punkt muß ich mich leider ganz klar auf Skudders Seite schlagen. Er hat vollkommen recht. Es ist nicht deine Schuld. Und auch nicht die meiner Techniker«, fügte er mit leicht erhobener Stimme hinzu, als Charity widersprechen wollte.

»Und wie konnten diese Leute dann in die Stadt gelangen, ohne von den Sensoren entdeckt zu werden?« wollte Charity wissen.

»Das sind sie nicht«, antwortete Hartmann.

»Wie?«

»Ich habe mit einem von ihnen gesprochen«, sagte Hartmann. »Sie waren die ganze Zeit da, fürchte ich.«

»Du meinst, diese Leute... leben dort unten?« ächzte Skudder. »Und das seit Jahren?«

»Seit Generationen«, verbesserte ihn Hartmann. »Sie alle sind dort geboren. Manchmal kommen sie an die Oberfläche, aber die meiste Zeit über haben sie sich in Kellern oder U-Bahn- Schächten verborgen gehalten. Zu Anfang, weil die Moroni regelmäßig Patrouillen losgeschickt haben, die auf alles schossen, was sich bewegt hat. Und später -«

»Und später haben wir diese Aufgabe übernommen«, führte Charity den Satz zu Ende.

»Wir wußten nicht, daß sie da waren«, antwortete Hartmann, zwar mit einem Achselzucken, aber trotzdem im eindeutigen Tonfall einer Verteidigung. »Die Stadt schien vollkommen verlassen zu sein.«

»Und du hast die Stadt nicht durchsucht, ehe du sie zum Abschuß freigegeben hast?«

»Selbstverständlich«, antwortete Hartmann. »Aber das war mal eine Stadt mit einer halben Million Einwohner! Allein das Kanalisationsnetz ist mehrere tausend Kilometer lang. Von Kellern, Tiefgaragen, Untergrundbahnen und allem anderen ganz zu schweigen. Es ist vollkommen unmöglich, auch nur einen nennenswerten Bruchteil davon gründlich zu durchsuchen.«

»Vor allem, wenn sich die, nach denen man sucht, vor einem verstecken«, pflichtete Skudder ihm bei.

Charity ärgerte sich darüber, antwortete aber nicht. Die beiden hatten vollkommen recht. Und außerdem war sie nicht hierhergekommen, um sich mit Hartmann zu streiten. Dafür sahen sie sich zu selten.

Sie zuckte mit den Schultern, wandte sich demonstrativ um und trat ans Fenster. Das Thema war erledigt, wenigstens im Moment. Von Skudder hatte sie schon vorher erfahren, daß Hartmann sämtliche Schieß- und Tiefflugübungen über dem fraglichen Gebiet hatte einstellen lassen. Aber was nutzte das schon? Wie viele Überlebende der Alien-Invasion mochten noch unerkannt dort draußen leben, ununterbrochen auf der Flucht vor einem Angreifer, den es schon längst nicht mehr gab, und in einem verzweifelten Überlebenskampf gegen eine Umwelt, die aus Dantes Inferno stammen könnte?

Sie verscheuchte den Gedanken. Die Welt war nun einmal, wie sie war, und sie konnten nur versuchen, das Beste daraus zu machen.

Mit einem erzwungenen Lächeln wandte sie sich wieder an Hartmann.

»Wie geht es Net?«

»Wunderbar«, antwortete Hartmann. »Sie hat alle Hände voll zu tun, die Kinder im Zaum zu halten. Sie kommen ganz nach ihrem Vater.«

»Starrköpfig, eitel und eigensinnig?« fragte Skudder.

Hartmann zog eine Grimasse, lächelte aber weiter. »Sie wissen, was sie wollen«, bestätigte er. »Aber ihr werdet sie nachher ja sehen. Net ist schon ganz aufgeregt. Sie hat es sich nicht nehmen lassen, heute abend höchstpersönlich für euch zu kochen.«

Skudder machte ein entsetztes Gesicht. »Wie?«

»Keine Sorge«, antwortete Hartmann lachend. »Sie hat es gelernt... wenigstens behauptet sie es.« Er sah auf die Uhr. »Aber jetzt sollten wir uns beeilen. Wir haben ein volles Programm, und Net wird mich erschießen und vierteilen, wenn wir zu spät zum Essen kommen.«

Charity ließ in Gedanken ein lautloses Seufzen hören. Sie hatten einen vollen Terminkalender, der durch ihre kleine Exkursion noch gedrängter geworden war. Sie hatte vorgehabt, sich eine halbe Stunde oder weniger auszutoben, nicht den halben Tag in der Sanitätsstation zu verbringen. Wäre es nach den Ärzten dort gegangen, so wäre sie noch da, und würde es auch noch mindestens zwei oder drei Tage bleiben.

Gottlob ging es nicht nach den Ärzten - auch wenn sie vermutlich recht hatten. Charity hatte zahlreiche Verletzungen davongetragen, von deren keine für sich genommen gefährlich war. In ihrer Gesamtheit jedoch machten sie jede Bewegung zu einer Tortur, und Charity war trotz der Aufputschmittel, die sie gegen den Rat der Ärzte genommen hatte, zum Umfallen müde. Sie hätte nichts lieber getan, als sich in ihr Apartment zurückzuziehen und zehn Stunden durchzuschlafen. Aber auch dafür hatte sie keine Zeit. Als sie hinter Hartmann und Skudder in den Aufzug trat, der sie in den Konferenzsaal hinaufbringen würde, wappnete sie sich innerlich gegen einen Tag, der sie wahrscheinlich mehr Kraft kosten würde als ihr kleines Abenteuer am Morgen.

Vier Stunden später war sie nahe daran, auf den Rat der Ärzte zu hören, auf die Sanitätsstation zurückzukehren und sich für die nächsten vierundzwanzig Stunden in Tiefschlaf versetzen zu lassen. Sie hatte eine Folge endloser Debatten, Etatbesprechungen, Abstimmungen und sich im Kreis drehender Diskussionen hinter sich, und ein Blick auf den Terminplan zeigte ihr, daß sie nicht einmal die Hälfte aller Punkte abgehandelt hatten. Dabei konnte Charity sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was sie nun alles im Einzelnen besprochen hatten.

Meistens war es um so wichtige Fragen gegangen wie die, ob die neuen Fertighäuser, die in den unterirdischen Fabriken der Basis produziert wurden, nun aus blaßbeigem oder lindgrünem Kunststoff bestehen sollten, oder ob die neu eingeführte allgemeine Schulpflicht prinzipiell für alle Kinder im Lande galt oder nur für die registrierten Einwohner der neugegründeten Städte. Jede dieser Fragen war für sich gesehen wichtig, aber Charity fragte sich, was sie damit zu tun hatte.

Die Antwort gab sie sich gleich selbst: Sie hatte es so gewollt. Es war ihre persönliche Entscheidung gewesen, den Vorsitz des Rates zu übernehmen, und als Vorsitzende mußte sie nun einmal bei jeder Ratssitzung anwesend sein.

Das wirst du ändern, sagte sie sich. Die vielen Aufgaben, die sie zu bewältigen hatten, waren in den letzten Jahren regelrecht explodiert. Eine der nächsten Entscheidungen Charitys würde darin bestehen, mindestens ein Dutzend weitere Gremien zu bilden, um den Rat zu entlasten.

Aber wahrscheinlich, dachte sie sarkastisch, wird dieses Vorhaben schlichtweg daran scheitern, daß wir vorher monatelang über die Zusammensetzung dieser Gremien diskutierten müssen.

Bürokraten! Von allen untergegangenen Errungenschaften der alten Welt hatte sich die Bürokratie am schnellsten und umfassendsten erholt. Wie Charity sie haßte!

»Kommen wir nun zum nächsten Punkt«, sagte Hartmann mit leicht erhobener Stimme und auf eine Art, die Charity aufhorchen ließ. Ihr fiel auf, daß er ihr einen raschen, irgendwie nervösen Blick zuwarf, ehe er weitersprach. Wieso hatte sie das Gefühl, daß ihr das, was er jetzt sagen würde, nicht gefiel?

»Die von den Gouverneuren Seybert und Drasko beantragte Kürzung des Militäretats um fünfundzwanzig Prozent.«

Charity richtete sich kerzengerade auf. »Wie?«

Hartmann hob in einer vermutlich prophylaktisch-vorsorglichen Geste die Hände.

»Bisher ist es nur ein Antrag, Captain Laird, der noch nicht einmal zur Abstimmung steht.«

Daß er ihren militärischen Rang erwähnte - der ohnehin vollkommen bedeutungslos war - warnte Charity. Und es sagte ihr mehr über das, was kommen würde, als Hartmann mit einem zehnminütigen Dialog gekonnt hätte.

»Der aber längst überfällig ist«, fügte Seybert hinzu. Drasko sagte nichts, nickte aber zustimmend und gab sich alle Mühe, Charity mit Blicken regelrecht aufzuspießen. Noch während sie sich betont langsam zu den beiden umwandte, spürte sie, daß ihr eine äußerst harte Auseinandersetzung bevorstand.

»Würden Sie das bitte genauer erklären, Gouverneur Seybert?« fragte sie betont freundlich, aber auch mit einer spröden Härte in der Stimme, die jeden, der sie auch nur halbwegs kannte, gewarnt hätte. Unglücklicherweise kannte Seybert sie nicht besonders gut.

Drasko hingegen schon. Vielleicht war das der Grund dafür, daß er sich so auffallend zurückhielt und es Seybert überließ, sich eine blutige Nase zu holen.

»Sehr gern«, antwortete Seybert. In ihren Augen blitzte es kampflustig auf, während sie einen prall gefüllten Kunststoffhefter auf die Tischplatte warf. »Ich habe hier - in Stichworten, und auf das Notwendigste beschränkt - Kopien der Material- und Personalanforderungen, die allein meinem Gouverneur in den letzten sechs Monaten übermittelt wurden.«

Charity machte keine Anstalten, nach dem Hefter zu greifen. Sie kannte alle Papiere, die sich darin befanden. Auf den meisten stand vermutlich ihre eigene Unterschrift.

»Worauf wollen Sie hinaus, Gouverneur?« fragte sie.

»Daß das...« Seybert suchte einen Moment sichtlich nach Worten, »... einfach zu viel ist«, sagte sie schließlich. »Captain Laird, ich verstehe ja, daß Sie als Soldat vor allem an das Militär denken, und vermutlich haben Sie gute Gründe dafür, aber -«

»Ich habe nur einen einzigen Grund«, fiel Charity ihr ins Wort. »Es hat fünf Buchstaben, sechs Beine und vermutlich zweitausend Milliarden Krieger, die nur darauf warten, über uns herzufallen.«

In Seyberts Augen blitzte es kampflustig auf, aber sie beherrschte sich.

Charity vermutete, daß sie sich ausführlich auf diesen Moment vorbereitet hatte - ganz anders als sie.

»Sie reden von Moron«, sagte Seybert, in einem verständnisvoll-herablassenden Tonfall, der Charitys Verwirrung zu jähem Zorn werden ließ. »Ich kann Sie ja gut verstehen, aber -«

»Nein, Gouverneur, ich fürchte, das können Sie nicht«, unterbrach Charity. Sie sah zuerst Seybert, dann Drasko und schließlich der Reihe nach - und schneller - alle anderen Anwesenden an. Hartmann sah besorgt aus, während Skudder versuchte, Charity einen warnenden Blick zuzuwerfen. Auf den Gesichtern der meisten anderen jedoch war eher eine Mischung aus Ablehnung und Neugier zu lesen, und Charity erkannte, daß außer Skudder und ihr alle hier auf diesen Moment gewartet hatten.

Offensichtlich hatten Seybert und Drasko diesen Vorstoß nicht nur genau geplant, sondern auch mit dem meisten Anwesenden abgesprochen. War sie dabei, in eine Falle zu tappen?

Trotzdem, im Grunde wider besseren Wissens, fuhr sie fort: »Mit Verlaub, niemand in diesem Raum kann das. Sie haben nicht erlebt, wozu diese Geschöpfe fähig sind.«

»Captain Laird!« Drasko machte eine entschlossene Geste mit der linken Hand. »Hier in diesem Raum ist niemand, der nicht unter der Herrschaft Morons geboren und aufgewachsen wäre. Jeder von uns hat Freunde oder Familienangehörige an diese Bestien verloren. Und wir alle haben gegen sie gekämpft, auf die eine oder andere Weise.«

»Aber keiner von Ihnen war dabei, als sie gekommen sind!« widersprach Charity heftig. »Ich schon! Ich war dabei, als sie kamen! Allein die Armee der Vereinigten Staaten war damals zehnmal schlagkräftiger als alles, was wir heute aufbieten können. Wissen Sie, was es uns genutzt hat? Nichts! Sie haben uns mit einem einzigen Schlag erledigt.«

»Wir alle kennen diese alten Geschichten, Captain Laird«, sagte Seybert sanft. Irgend etwas in ihrem Blick warnte Charity. Sie war dabei, in eine Falle zu laufen.

»Sind Sie scharf darauf, diese Katastrophe noch einmal zu erleben, Gouverneur?« fragte sie heftig. Skudders Blick wurde eindeutig verzweifelt, doch Charity konnte nicht anders. »Sie haben uns damals geschlagen, weil wir nicht vorbereitet waren.«

»Und Sie glauben, wir wären es heute?« fragte Drasko. »Mit einer Armee, die nicht einmal ein Zehntel ihrer damaligen Schlagkraft hat?«

»Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, uns gegenseitig umzubringen«, antwortete Charity. »Wir haben mit allem gerechnet, nur nicht mit dem Überraschungsmoment. Noch einmal wird ihnen das nicht gelingen. Wenn sie wiederkommen, werden wir diesmal vorbereitet sein.«

»Woher wollen Sie wissen, daß sie wiederkommen?« fragte Seybert.

»Woher wollen Sie wissen, daß das nicht geschieht?«

»Es spricht nichts dafür«, antwortete Seybert ruhig. »Nicht wenige unsere Wissenschaftler sind der Meinung, daß sie es gar nicht können. Nach allem, was wir wissen, ist das Transmitternetz der Moroni zusammengebrochen. Selbst wenn sie es wieder einschalten können, werden sie wahrscheinlich für sehr, sehr viele Jahre damit beschäftigt sein, vor ihrer eigenen Haustür aufzuräumen.«

»Oder sie kommen mit Höchstgeschwindigkeit hierher, um uns zu erklären, wie ungehalten sie über das sind, was wir mit ihrem Sternentor gemacht haben«, sagte Charity zornig.

»Wir wissen, daß die Moroni nicht über die Technik überlichtschneller Raumfahrt verfügen«, sagte Seybert. »Selbst wenn sie eine Basis im nächsten benachbarten Sonnensystem besäßen, und selbst wenn sie unmittelbar nach der Zerstörung des Sternentransmitters ein weiteres Trägerschiff losgeschickt hätten, könnte es die Erde in frühestens zwanzig Jahren erreichen.«

»Das sind eine Menge selbst und wenns«, fügte Drasko hinzu. »Sehen Sie, Captain Laird, wir verstehen Sie durchaus. Wir alle, jeder einzelne Mensch auf diesem Planeten weiß, was Sie für uns alle getan haben. Natürlich haben Sie die besten Absichten, und natürlich ist Ihre Sorge echt und aufrichtig. Aber vielleicht sehen Sie die Dinge... anders als wir.«

»Anders? Was soll das heißen?«

Drasko tauschte einen raschen Blick mit Seybert, ehe er fortfuhr: »Sie haben Großartiges geleistet, Captain Laird. Unter Ihrer Führung ist aus einem verwüsteten Planeten innerhalb von nur acht Jahren eine Welt geworden, die wieder eine Zukunft hat. Aber Tatsache ist nun einmal, daß wir uns die Militäraufgaben, die Sie verlangen, einfach nicht mehr leisten können.«

»Sie werden kein Geld mehr brauchen, wenn Moron zurückkommt«, sagte Charity düster.

Drasko seufzte. »Ich habe gehört, was Sie heute morgen erlebt haben, Captain Laird«, sagte er. »Sollte Ihnen das nicht zu denken geben?«

Charity starrte ihn an. »Was? Daß ich um ein Haar aufgefressen worden wäre?«

»Daß Sie diese Menschen entdeckt haben. Dieses Land ist seit acht Jahren wieder frei, und wir haben es nicht einmal gemerkt!« Er warf einen raschen Blick in Hartmanns Richtung. »Das geht nicht gegen Sie, General. Wir wissen, daß Sie und Ihre Leute mehr leisten, als man von Ihnen erwarten kann. Aber was heute morgen passiert ist, das ist symptomatisch für unsere ganze Situation. Diese Leute haben acht Jahre lang praktisch unter unseren Füßen gelebt und nicht einmal gewußt, daß der Krieg vorbei ist! Wie viele von ihnen gibt es wohl noch?«

»Meine Leute suchen bereits nach ihnen«, sagte Hartmann. »Sie werden sie finden.«

»Daran zweifle ich nicht«, sagte Drasko. »Diese Leute werden sie finden. Aber was ist mit all den anderen? Es muß Millionen Menschen wie Sie dort draußen geben. Mein Gott, General, wir müssen eine ganze Welt wieder aufbauen, praktisch aus dem Nichts! Wir können uns diese Militäraufgaben einfach nicht mehr leisten!«

»Und was schlagen Sie vor?« fragte Hartmann. »Die Space-Force abschaffen und alle unsere Waffen einzuschmelzen, um Eggen und Dreschflegel daraus zu machen?«

»Reden Sie kein Unsinn, General,« sagte Seybert kühl. »Wir brauchen Sie und Ihre Soldaten, und das wissen Sie verdammt genau. Wir wollen die Space-Force nicht abschaffen. Wir wollen Sie nicht einmal reduzieren. Wir wollen nur nicht in jedem Jahr mehr Mittel für militärische Forschung und Waffen ausgeben, das ist alles.« Und endlich machte es hinter Charitys Stirn hörbar Klick. Es hatte ziemlich lange gedauert, aber mit einem Mal wußte sie, worauf Seybert und Drasko hinauswollten.

»Warum sprechen Sie es nicht ganz offen aus?« fragte sie. »Sie reden von der EXCALIBUR.«

Der Ausdruck in Hartmanns Augen wandelte sich von Verblüffung zu Schrecken, dann zu purem Zorn. »Wie bitte?« ächzte er.

»Richtig, die EXCALIBUR.« Drasko wiederholte seine deutende Geste rundum. »Und wir sind da alle einer Meinung. Wir geben Ihnen recht, Captain Laird. Die Vergangenheit hat uns allen auf grauenhafte Weise gezeigt, daß man selbst auf das vermeintlich Unmögliche vorbereitet sein sollte. Wir werden diesen Fehler nicht wiederholen. Aber dazu brauchen wir weder die EXCALIBUR, noch neue und schnellere Raumjäger.«

»Ach?« fragte Charity. »Und womit wollen wir uns wehren, wenn sie kommen? Sollen wir mit Steinen werfen?«

»Wir haben mehr als genug Waffen auf diesem Planeten«, sagte Seybert. »Allein das Arsenal, das uns die Moroni zurückgelassen haben, dürfte reichen, um einen interplanetaren Krieg vom Zaun zu brechen -«

»Und zu verlieren!« fiel Charity ihr ins Wort. In ihren Zorn mischte sich wilde Empörung. »Bei allem Respekt, Gouverneur, aber haben Sie eigentlich irgendeinen der Berichte gelesen, die ich Ihnen in den letzten Jahren habe zukommen lassen?«

Seyberts Gesicht verhärtete sich. »Es gibt keinen Grund, persönlich zu werden.«

Charity schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß es knallte. »Es gibt jeden Grund! Sie haben Recht, Gouverneur - wir haben Tausende von diesen Jets! Vielleicht sogar Zehntausende, wenn wir sämtliche Depots erst einmal gefunden haben! Und die Kampfkraft dieser Jets übersteigt alles, was wir selbst in hundert Jahren konstruieren könnten!«

»Wo ist denn das Problem?« fragte Seybert unsicher.

»Das Problem ist, daß das ganze Zeug allenfalls noch Schrottwert besitzt, sobald es sich nennenswert von der Erde entfernt«, sagte Charity.

»Was Captain Laird meint, ist die Gravitationsgrenze«, sagte Hartmann.

Seybert warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich weiß, was Captain Laird meint, General«, sagte sie scharf. »Ich kann lesen.«

»Dann sollten Sie eigentlich wissen, daß praktisch die gesamte Technologie der Moroni darauf beruht, das Gravitationsfeld eines Planeten oder eines anderen großen Himmelskörpers anzuzapfen«, sagte Charity. »Sie haben völlig recht - wenn sie hierher kommen, können wir ihnen einen heißen Empfang bereiten. Sobald sie sich der Erde auf weniger als dreihunderttausend Meilen nähern, können sie sich mit ihren eigenen Waffen schlagen. Möchten Sie das?«

»Was soll diese Frage?« empörte sich Seybert.

»Ich jedenfalls habe kein Interesse daran, die Erde ein zweites Mal in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Fast fünf Milliarden Tote sind genug.«

»Das führt doch zu nichts«, sagte Drasko kopfschüttelnd.

Seybert wollte auffahren, doch Drasko brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Ihre zugegeben überzeugende Rhetorik mag ja beeindruckend sein, Captain Laird. Vielleicht haben Sie sogar recht - aber es ist nun einmal leider so, daß wir uns die EXCALIBUR einfach nicht leisten können! Jeder zusätzliche Credit, den wir in den Bau dieses Schiffes stecken, kostet Menschenleben!« Er wies mit einer plötzlich zornig wirkenden Geste auf den Hefter, den Seybert auf den Tisch geworfen hatte. »Sehen Sie sich die Unterlagen an. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache.«

»Sie haben mir gar nicht zugehört, wie?« fragte Charity. Ihre Stimme begann zu zittern. »Wenn die Moroni wieder kommen, dann müssen wir sie draußen im Weltall schlagen. Sehr weit draußen im All. Und um das zu schaffen, brauchen wir nun einmal Schiffe, auf denen nicht das Licht ausgeht, sobald sie den Asteroidenring hinter sich lassen!«

»Ich gebe zu, das ist ein Problem«, sagte Seybert. »Aber warum verwenden wir dann nicht Mittel und Energie darauf, es zu lösen, statt ein Schiff zu bauen, von dem Sie selbst zugeben, daß es einem Kriegsschiff der Aliens nicht gewachsen wäre.«

»Das habe ich nie gesagt«, erwiderte Charity heftig.

»Außerdem können wir es nicht«, fügte Hartmann hinzu, hastig, mit einem beschwörenden Blick in Charitys Richtung, und trotzdem in versöhnlichem Tonfall. Er versuchte offenbar, den ausbrechenden Streit zu schlichten - aber in dieser Disziplin war er noch nie besonders gut gewesen. »Glauben Sie mir, Gouverneur - unsere besten Leute arbeiten seit acht Jahren an dem Problem. Wir wissen nicht einmal genau, wie die Technik der Moroni funktioniert. Wie könnten wir sie da verbessern?«

»Es gibt für jedes Problem eine Lösung«, beharrte Seybert.

»Vielleicht in zwanzig Jahren, oder dreißig«, sagte Hartmann. »Ich stimme Captain Laird in diesem Falle zu. Wir brauchen die EXCALIBUR.«

»Was für eine Überraschung«, antwortete Seybert sarkastisch. »Nur ändert das leider nichts an den Tatsachen. Wir können uns Ihr Lieblingsspielzeug nicht leisten, General. Ich appelliere an Ihre Vernunft. Wollen Sie wirklich dieses Schiff bauen, während hier unten Menschen verhungern?«

Hartmann wollte auffahren, doch Skudder kam ihm zuvor. »Meine Herrschaften! Es nutzt niemandem etwas, wenn wir unseren Emotionen nachgeben und uns anschreien.« Er sah demonstrativ auf die Uhr. »Es ist spät geworden. Warum machen wir nicht für heute Schluß und reden morgen weiter. Captain Laird und General Hartmann werden die Unterlagen, die Sie zusammengestellt haben, bis dahin prüfen.«

Charity war fassungslos. Skudder hatte eben den mächtigsten Männern und Frauen dieses Kontinents praktisch den Mund verboten - etwas, das zwar durchaus seinem Charakter entsprach, aber ein eklatanter Verstoß gegen das Protokoll war. Unter normalen Umständen hätte sie ihre helle Freude daran gehabt. Jetzt war sie einfach nur erstaunt.

Um so mehr, als weder Seybert noch Drasko oder einer der anderen widersprachen. Sie verschwendete allerdings nicht viele Gedanken auf diesen Umstand.

Und Charity nahm auch die Mappe nicht mit, als sie mit einem Ruck aufstand und aus dem Raum stürmte.

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