2.


Von allen ›Geschenken‹, welche die Invasoren von Moron mit zur Erde gebracht hatten, war das Mutagen vermutlich eines der übelsten. Seine Wirkung war nicht annähernd so spektakulär gewesen wie das Auftauchen der gigantischen Kampfschiffe am Himmel, oder das Flächenbombardement aus Atom- und Wasserstoffbomben, das nicht nur die meisten militärischen Einrichtungen der Erde, sondern auch nahezu jede Großstadt vernichtet hatte.

Trotzdem war seine Wirkung mindestens ebenso verheerend, wenn nicht sogar schlimmer.

Es hatte lange gedauert, bis sie das Geheimnis zumindest erkannt hatten. Von seiner Lösung waren sie allerdings noch Lichtjahre entfernt.

Als Charity vor acht Jahren aus dem Cryogen-Schlaf erwacht war, hatte sie damit gerechnet, eine vollkommen verwüstete, ja, vielleicht total zerstörte Welt vorzufinden, einen Planeten, der von außerirdischen Invasoren beherrscht wurde und auf dem es vielleicht gar keine Menschen mehr gab.

Was sie nicht erwartet hatte war, sich in einer vollkommen veränderten Welt wiederzufinden.

Die Moroni hatten sich nicht damit begnügt, neun Zehntel der Weltbevölkerung auszulöschen und das überlebende Zehntel in die Steinzeit zurückzubomben oder zu versklaven. Sie hatten ihre eigene Welt mitgebracht. Ein Großteil der Fauna und Flora, die Charity gekannt hatte, war verschwunden, und die entstandenen Lücken waren von einer vollkommen fremden Ökologie ausgefüllt worden, der im Grunde nur eines gemein war: Sie war feindselig und tödlich.

Die Moroni waren Insekten, zwei Meter große, ameisenähnliche Kreaturen, die keinerlei Individualität kannten und den Befehlen einer geheimnisvollen Gemeinschaftsintelligenz im Hintergrund gehorchten, die sie niemals wirklich kennengelernt hatten. In der Welt, auf der die Moroni ihren Ursprung hatten, war die Entwicklungsgeschichte des Lebens anders verlaufen als auf der Erde: Die Insekten hatten das Evolutionsrennen gewonnen, nicht die Säugetiere.

Und die Invasoren hatten ihre eigene Tier- und Pflanzenwelt mitgebracht.

Wenigstens hatten sie das gedacht.

Die Wahrheit war jedoch viel furchtbarer.

Vielleicht hätte man sie niemals erkannt, hätte es das große Sterben nicht gegeben.

Niemand kannte den Grund dafür, aber Tatsache war, das weniger als acht Monate, nachdem sie die Invasoren endgültig geschlagen und die Erde von dem galaxisumspannenden Transmitternetz Morons getrennt hatten, sämtliche Moroni auf der Erde gestorben waren, scheinbar ohne Grund und alle in der gleichen Sekunde - und mit den Moroni sämtliche fremden Lebensformen, die sie mit sich gebracht hatten.

Seltsamerweise war dies nur ein Bruchteil der Monster und fremden Pflanzen, die die Erde seit sechzig Jahren bevölkerten.

Die Erklärung, die einer von Hartmanns Wissenschaftlern geliefert hatte, war so schrecklich, daß Charity sich monatelang schlichtweg dagegen gesperrt hatte, sie zu akzeptieren: Die fremden Monster waren keine fremden Monster. Es war das, was das Mutagen aus der irdischen Tier- und Pflanzenwelt gemacht hatte.

Offensichtlich hatten die Invasoren gleich nach ihrer Ankunft auf der Erde einen künstlich erzeugten Virus ausgesetzt, der sich rasend schnell verbreitete und einen zusätzlichen Baustein in die DNS-Ketten seiner Opfer einfügte. Diese veränderte DNS sorgte nicht nur dafür, daß das infizierte Opfer nun seinerseits Mutagen-Viren produzierte, sondern begann in den nachfolgenden Generationen auch immer bizarrere Mutationen hervorzubringen.

Die Ungeheuer, mit denen Charity es gerade zu tun gehabt hatte, waren ein gutes Beispiel dafür. Sechzig Jahre zuvor waren die Urgroßeltern der katzengroßen Monster tatsächlich ganz normale, irdische Raubwanzen gewesen, stecknadelkopfgroße, harmlose Geschöpfe, die vielleicht ein ästhetisches, allenfalls ein hygienisches Problem darstellten. Heute gehörten sie zu einer der größten Gefahren, die den Bewohnern nicht gesicherter Gebiete drohten - was praktisch für neunundneunzig Prozent der Erdoberfläche galt.

Die räuberischen Rieseninsekten stellten schon einzeln eine ernstzunehmende Gefahr für einen unbewaffneten Menschen dar. Zu Hunderten oder gar zu Tausenden konnten sie eine ganze Stadt binnen weniger Stunden entvölkern. Charity hatte selbst miterlebt, wie schwerbewaffnete Infanterieeinheiten vor den Raubzügen der Wanzen geflohen waren. Und die Wanzen stellten nur eine von buchstäblich zahllosen neuen Spezies dar, die nach der Vernichtung der Invasoren auf der Erde zurückgeblieben waren.

Angesichts all dessen kam es Charity immer weniger als eine gute Idee vor, sich ganz allein und nur mit einer Laserpistole bewaffnet auf den Weg zu machen, um das Mädchen aus der Gewalt der Wanzen zu befreien. Trotzdem stockte sie nicht einmal im Schritt, als sie den U-Bahn-Schacht erreichte und über die mit Trümmern und Schutt übersäte Treppe in die Tiefe zu steigen begann. Sie wußte zwar, daß es völliger Unsinn war, doch ein jeder Logik unzugänglicher Teil ihres Denkens beharrte nachdrücklich darauf, daß sie es dem toten Mann in der Ruine schuldig sei, das Mädchen zu retten, falls es noch lebte.

Dabei wäre es klüger gewesen, die wenigen Minuten zu warten und sich dann zusammen mit einem Dutzend bis an die Zähne bewaffneter Marines auf die Suche nach Melissa zu machen - aber was bedeuteten schon Logik und Sicherheit, wenn das Leben eines Kindes auf dem Spiel stand? Charity wußte, daß sie den Tod des Mannes überwinden würde; doch mit der Möglichkeit, das Mädchen zu finden und festzustellen, daß es gestorben war, nur weil sie die entscheidende Minute zu lange gewartet hatte - damit wäre sie mit Sicherheit nicht fertig geworden.

Charity erreichte das untere Ende der Treppe, blieb stehen und schaute sich aufmerksam um. Das Sonnenlicht reichte gerade aus, um die ersten fünf oder sechs Meter des eingestürzten U-Bahn-Tunnels zu erhellen. Alles, was dahinter lag, war in vollkommener Dunkelheit verborgen. Nicht nur ein gutes Versteck für alle nur unvorstellbaren gefräßigen Räuber, sondern vor allem eine perfekte Leinwand, auf der Charitys außer Rand und Band geratene Phantasie alle möglichen Schreckensbilder malen konnte.

Immerhin sah sie, daß sie auf dem richtigen Weg war. Auf dem Boden glitzerten Stücke von weißem, zersplittertem Chitin, hier und da ein abgerissenes Bein, eine zerbrochene Mandibel... die übliche Spur, die ein Heereszug der Raubwanzen hinterließ. Rücksicht auf Artgenossen wurde bei den Killerinsekten nicht besonders groß geschrieben. Wer nicht schnell genug war oder das Pech hatte, über seine eigenen Beine zu stolpern, wurde niedergetrampelt oder gleich aufgefressen. Güte und Gnade, Zuneigung und Mitleid - solche Empfindungen waren diesen Kreaturen völlig fremd.

Charity warf einen letzten, enttäuschten Blick in den Himmel. Von Skudders Kavallerie war noch immer nichts zu sehen.

Wir haben ein Kommunikationsproblem, dachte sie sarkastisch. Sobald sie wieder in der Basis war, würde sie sich mit Skudder dringend über die Bedeutung der Worte drei Minuten unterhalten müssen.

Falls sie wieder in die Basis zurückkam.

Charity zog ihre Waffe, löste den Handscheinwerfer vom Gürtel und schaltete ihn ein. Der weiße, scharf gebündelte Strahl riß einen Streifen fast schon unangenehmer Helligkeit aus der Schwärze, die den Tunnel erfüllte. Die Dunkelheit dahinter schien dadurch nur noch bedrohlicher und unheilverkündender zu werden.

Charitys Herz begann zu klopfen. Sie ging weiter, bewegte sich aber weniger schnell, als sie vorgehabt hatte, und die Lampe in ihrer Hand zitterte.

Der Spur der Wanzenarmee zu folgen, war nicht besonders schwer. Überall lagen Stücke zerbrochener Insektenpanzer, und einmal fand sie sogar ein verletztes Tier, das noch lebte; wenigstens so lange, bis sie weiterging.

Der Stolleneingang und das Tageslicht blieben rasch hinter ihr zurück. Aus dem unguten Gefühl, mit dem Charity den Tunnel betreten hatte, war längst eine zwar nicht lähmende, aber nagende Angst geworden. Ihre Schritte verursachten hallende, unheimlich verzerrte Echos an den unsichtbaren Wänden des Tunnels, und sie war jetzt sicher, huschende Bewegung in der Schwärze jenseits des Scheinwerferlichts zu spüren.

Es war Wahnsinn gewesen, hierher zu kommen. Sie hatte keine Chance, das Kind zu finden. Dafür hatten die Wanzen alle Chancen, sie zu finden.

Trotzdem ging sie weiter. Langsam, aber ohne anzuhalten. Es war viel zu spät, jetzt noch umzukehren.

Nach einer Weile tauchte etwas Großes, Glitzerndes im Licht ihres Handscheinwerfers auf. Charity blieb für einen Moment stehen, ging dann langsamer weiter und brauchte noch fast ein Dutzend Schritte, um zu erkennen, worauf sich das Licht brach: Auf den verrosteten Schienen vor ihr stand ein uralter Zug. Der Lack war längst abgeblättert oder unter einer einheitlichen grauen Staubschicht verschwunden, die vermutlich zur Härte von Beton erstarrt war, und sämtliche Scheiben fehlten. Sonderbarerweise gab es jedoch keinen einzigen Glassplitter, und als Charity sich dem Triebwagen weiter näherte, erkannte sie, daß auch der Boden ringsum seltsamerweise vollkommen aufgeräumt und leer war.

Langsam und vorsichtig näherte sie sich weiter dem Wagen, umrundete ihn in respektvollem Abstand und öffnete schließlich die rückwärtige Tür. Der Lauf ihrer Waffe und der Handscheinwerfer zielten nebeneinander ins Innere des Wagens.

Was Charity in dem grellen Licht sah, das harte Schlagschatten warf, überraschte sie. Es gab im Inneren des Wagens keine Gefahr, aber er war auch nicht leer, oder mit fünfzig Jahre altem Unrat erfüllt, wie sie angenommen hatte. Der Wagen machte einen aufgeräumten, beinahe sauberen Eindruck. Auf einigen der mit brüchig und rissig gewordenen roten Kunstleder bezogenen Bänke lagen zerschlissene Decken und Kissen. Im hinteren Teil des Wagens standen etliche sorgsam aufgestapelte Kisten, deren Inhalt sie nicht zu erraten vermochte, und unweit der Tür entdeckte sie einen kleinen Gasbrenner sowie ein verbeultes Kochgeschirr aus Aluminium. In diesem Wagen hatten Menschen gewohnt. Und sie wußte auch, wer diese Menschen waren.

Charity vergeudete keine Zeit damit, den Wagen eingehender zu inspizieren, sondern schloß die Tür wieder und bewegte sich weiter in den Tunnel hinein. Ihre Entdeckung verwirrte sie. Sie hatte das Versteck jener Menschen gefunden, auf die sie draußen gestoßen war - aber das beantwortete nicht die Frage, wie sie überhaupt hierher gekommen waren.

Sie hatte erst wenige weitere Schritte in die Dunkelheit hinein getan, als der Lichtstrahl erneut auf ein Hindernis stieß. Diesmal war es jedoch kein Wagen, sondern ein Gewirr aus Trümmerstücken, verborgenen Metallträgern und zerborstenem Beton, das den Tunnel nahezu auf der gesamten Breite blockierte. Staub tanzte im Licht des Scheinwerfers, und Charity hörte ein leises, gleichmäßiges Rieseln und Rascheln, als würde Sand durch feine Hohlräume sickern.

Charity hob die Lampe und ließ den Lichtstrahl an der Decke entlangtasten. Der Tunnel war nicht zur Gänze eingestürzt. Durch einen schier unglaublichen Zufall war nur die Betonverschalung abgesprengt. Doch Charity sah auch geschmolzenes und wieder erstarrtes Gestein und verbogene Stahlträger, und der Anblick machte ihr endgültig klar, was hier geschehen war. Irgendwo, nicht weit über diesem Tunnel mußte einer ihrer Laser- oder Vibratorschüsse eingeschlagen sein. Zwanzig oder dreißig Meter weiter den Tunnel hinauf, und hundert Tonnen Stahlbeton und Erdreich wären auf den Triebwagen hinuntergekracht und hätten jedes Leben darin ausgelöscht.

Der Gedanke ließ Charity nicht nur einen eisigen Schauer über den Rücken laufen, er bestärkte sie auch in ihrer Überzeugung, richtig zu handeln. Sie war es diesen Leuten schuldig, das vermißte Kind zurückzuholen.

Vorsichtig begann sie, über den Berg aus Schutt und Stahltrümmern hinwegzuklettern. Sie war noch immer auf dem richtigen Weg, wie ihr Teile von zerbrochener Panzerung und die leblosen Kadaver von ein, zwei Raubwanzen bewiesen. Die Insektenarmee war hier entlanggezogen. Um besser klettern zu können, steckte Charity die Waffe ein, wenn auch mit einem unguten Gefühl. Wenn sie den Gipfel des Trümmerberges erreichte und sich unversehens der gesamten Wanzenarmee gegenübersah, dann konnte die Zeit, die sie brauchte, um die Waffe zu ziehen, vielleicht nicht mehr reichen.

Ihre Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Der Tunnel war auf der anderen Seite so leer wie auf dieser. Sie sah nicht einmal mehr die Spuren des Raubzuges. Aber nach einigen Augenblicken hörte sie etwas: Das leise, angsterfüllte Weinen eines Kindes.

Charity erstarrte zur Salzsäule, schloß die Augen und lauschte. Das Geräusch war sehr leise, gerade noch an der Grenze des Hörbaren, so daß sie sich für einen Moment ernsthaft fragte, ob sie den Laut tatsächlich gehört hatte, oder ob er nur ein Produkt ihrer Phantasie gewesen war - ein Geräusch, das sie sich so verzweifelt zu hören wünschte, daß ihr Unterbewußtsein ihr diesen Wunsch erfüllte.

Doch wenn sie weiter hier herumsaß, würde sie es nie herausfinden.

Unendlich vorsichtig begann sie, den Trümmerberg auf der jenseitigen Flanke wieder hinabzusteigen. Unter ihren Füßen lösten sich Steine und Schutt, und das Poltern und Kullern der Miniatur-Lawine verschluckte für Augenblicke das leise Weinen. Am Fuße des Hanges angekommen, blieb Charity erneut stehen und lauschte. Sie brauchte einige Sekunden, um das Geräusch wiederzufinden und zu orten.

Es kam von rechts, nicht weit aus der Tiefe des Stollens heraus, und war jetzt deutlich lauter geworden. Charity schwenkte die Lampe in diese Richtung und entdeckte einen schmalen Seitengang, der früher einmal eine massive Metalltür gehabt haben mußte, jetzt aber wie eine ausgefranste Wunde in der Wand gähnte. Zwei tote Wanzen flankierten den Eingang wie groteske Wächter. Sie war auf dem richtigen Weg.

Charity wechselte den Scheinwerfer von der rechten in die linke Hand, zog ihre Waffe und drang mit klopfendem Herzen in den Tunnel ein. Die Wände schlossen sich wie die Mauern eines Grabes um sie, und ihre Angst wurde schlimmer. Vor wenigen Augenblicken, draußen im Tunnel, hatte sie die Dunkelheit gefürchtet, weil diese als Versteck für den schlimmsten aller Feinde diente: das Unbekannte. In diesem knapp zwei Meter messenden Versorgungstunnel aber war sie wortwörtlich gefangen.

Wurde sie angegriffen, saß sie in der Falle.

Das Weinen wurde allmählich lauter, doch je tiefer Charity in den Gang vordrang, desto mehr andere Geräusche hörte sie. Die allerwenigsten davon gefielen ihr. Ein noch schwacher, aber jetzt schon unangenehmer Geruch erfüllte die Luft.

Eine Falle, dachte sie. Das ist eine gottverdammte Falle. Und ich tappe mit offenen Augen hinein.

Nach gut dreißig Schritten traf sie auf die erste Wanze. Es war ein einzelnes Tier, das sich aus unerfindlichen Gründen von der Hauptmasse getrennt hatte, dem Anblick des Leckerbissens, der da auf sie zukam, aber nicht widerstehen konnte. Charity verzichtete darauf, ihre Waffe einzusetzen, sondern wich ihm mit einer raschen Bewegung aus und zertrat die Kreatur, bewegte sich dann aber weitaus vorsichtiger weiter als zuvor.

Nur zu recht, wie sich nach wenigen Schritten herausstellte.

Vor ihr lag eine Kreuzung. Die linke Abzweigung und der weiter geradeaus führende Teil des Tunnels waren leer, aber aus dem rechten wuselten ihr gleich vier oder fünf der totenweißen Raubinsekten entgegen. Charity ließ zwei der Biester an ihrem Körperschild verglühen, erschoß die übrigen mit ihrem Laser und stürmte weiter, wobei sie alle Vorsicht fallen ließ. Die grellen Entladungen der Strahlenwaffe mußten die restlichen Insekten ohnehin alarmiert haben. Sie konnte nur beten, daß sie nicht durch die Tür stürmen und sie sich der gesamten Wanzenarmee gegenübersehen würde.

Ihre Gebete wurden tatsächlich erhört, wenn auch nicht ganz in dem Maße, wie Charity es sich erhofft hatte. Der Raum, in den sie gelangte, war von quadratischem Grundriß und maß vielleicht fünfzehn Meter, was ihn beinahe schon zu einer kleinen Halle machte. Es wimmelte nicht gerade von Wanzen; trotzdem mußten es gut zwei oder drei Dutzend der kleinen Scheusale sein, die sich darin aufhielten. Ein Teil von ihnen war damit beschäftigt, zwei menschliche Gestalten zu bewachen, die zusammengekauert in der entferntesten Ecke des Raumes hockten; der Rest stürzte sich wie auf ein gemeinsames Kommando auf Charity.

Sie gab rasch hintereinander drei, vier Schüsse aus ihrer Laserwaffe ab, dann stürzte sie los und überließ es ihrem Körperschild, mit den Angreifern fertig zu werden, die wie eine Flut hüpfender weißer Gummibälle aus allen Richtungen auf sie einstürmten.

Es war keine gute Idee. Das Energiefeld verbrannte jede Wanze, die es berührte, aber es konnte Charity nicht vor der Wucht des Aufpralls schützen.

Sie taumelte wie unter einem Bombardement eisenharter Fußbälle, und obwohl die Bestien schon bei der flüchtigsten Berührung starben, bekam Charity zwei, drei üble Schnittwunden ab, noch bevor sie sich dem Mädchen und ihren unbekannten Begleitern auch nur näherte. Der Schildgenerator in ihrem Gürtel brummte protestierend.

Trotzdem stolperte sie weiter, gab ungezielte Schüsse nach rechts und links ab und erreichte Melissa schließlich. Mit ein paar wütenden Fußtritten schleuderte sie die Wanzen davon, die Melissa und den Mann bewachten. Das Mädchen schrie auf, sprang in die Höhe und wollte sich auf Charity werfen - ein Kind, das in Panik war und den Schutz eines Erwachsenen suchte. Charity prallte im allerletzten Moment zurück und machte eine verzweifelte Abwehrbewegung.

»Nicht!« schrie sie. »Faß mich nicht an!«

Sie bezweifelte, daß das Mädchen verstand, was sie sagte, ganz zu schweigen davon, warum sie es sagte, aber allein ihr Schrei und die hektische Bewegung erfüllten ihren Zweck.

Melissa prallte mitten in der Bewegung zurück, und im nächsten Augenblick griff ihr unbekannter Begleiter nach ihr und riß sie mit einem Ruck zu sich heran. Auf den Gesichtern der beiden war die gleiche, tief sitzende Furcht zu erkennen, die Charity auch schon auf den Gesichtern der Leute draußen entdeckt hatte. Vielleicht war das auch gut so, wenigstens im Moment.

Denn Charity hatte noch immer alle Hände voll damit zu tun, sich der angreifenden Wanzen zu erwehren. Gut die Hälfte der Biester war bereits tot, an ihrem Körperschild verbrannt oder unter den Treffern der Laserwaffe explodiert, aber der Rest setzte seinen Angriff hartnäckig fort.

Der Generator in Charitys Gürtel brummte mittlerweile nicht mehr protestierend, sondern knatterte wie ein defekter Rührquirl, und die Laserschüsse, die sie in rascher Folge abgab, töteten nicht nur eine Wanze nach der anderen, sondern erfüllten den Raum auch mit immer unerträglicher werdender Hitze. Die toten Insekten verbrannten und schwängerten die Luft dabei zusätzlich mit fettigem, übelriechendem Qualm, der jeden Atemzug zur Qual werden ließ.

Es war die Hölle.

Als Charity schon glaubte, nicht mehr länger durchhalten zu können, starb die letzte Wanze in einem grellen Feuerblitz, und der Angriff endete so abrupt, wie er begonnen hatte.

Charity ließ erschöpft die Waffe sinken, taumelte zwei, drei Schritte zur Seite und schaltete mit einer kraftlosen Bewegung den Schildgenerator ab, bevor ihr das Ding um die Ohren fliegen oder ein Loch in ihre Hüfte brennen konnte. Blut lief über ihr Gesicht, und ihr Herz hämmerte, als wolle es jeden Augenblick zerspringen. Die Schwäche schlug wie eine Woge über ihr zusammen, so daß sie sich gegen die Wand sinken ließ und sekundenlang mit geschlossenen Augen dastand, bis die Dunkelheit hinter ihren Lidern endlich aufhörte, Purzelbäume zu schlagen.

Als Charity die Augen aufschlug, blickte sie in zwei schreckensbleiche Gesichter, auf denen die Todesangst nicht schwächer geworden war, sondern nur eine andere Ursache bekommen hatte. Das Mädchen und der junge Mann - Charity überlegte einen Moment, ob er ihr Vater sein konnte, gelangte dann aber zu dem Schluß, daß er zu jung dazu war; außerdem gab es nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen ihnen - hatten sich schutzsuchend aneinandergedrängt und waren so weit vor ihr zurückgewichen, wie es nur ging. Charity stieß sich von der Wand ab, erinnerte sich aber dann an die Reaktion der Leute oben und blieb nach einem Schritt wieder stehen.

»Du bist Melissa?« fragte sie.

Das Mädchen - Charity schätzte ihr Alter auf vielleicht neun oder zehn Jahre, und so weit man dies unter all dem Schmutz und Blut auf ihrem Gesicht erkennen konnte, ähnelte es seiner Mutter wie eine perfekte, nur zwanzig Jahre jüngere Kopie - nickte, ohne etwas zu sagen, aber in die Angst in ihren Augen mischte sich ein Ausdruck sanfter Überraschung.

»Und du?«

»Walter«, erwiderte der Mann zögernd. »Mein Name ist Walter.«

Er sprach den Namen seltsam aus, nicht auf die Charity gewohnte Weise. Wie alle Menschen dieser neuen Erde sprach er Neu-Englisch, die von den Moroni in fünfzig Jahren Besatzungszeit aufoktroierte Einheitssprache, aber er hatte einen sonderbaren Akzent, der ein wenig an den Hartmanns erinnerte.

Charity besann sich wieder darauf, daß sie nicht im heimatlichen Amerika war, sondern in einem Bereich Europas, der vor der Invasion der Sterneninsekten einmal Deutschland geheißen hatte.

»Hör mir zu, Melissa«, sagte sie, so ruhig sie konnte. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Deine Mutter schickt mich, um dich zu holen.«

»Meine Mutter?« Melissas Blick flackerte. Etwas wie eine verzweifelte Hoffnung erschien darin, aber Furcht und Mißtrauen wichen keineswegs. »Sie... sie ist am Leben?«

»Sie und alle anderen«, antwortete Charity. Die meisten jedenfalls, korrigierte sie sich in Gedanken, hütete sich aber, das laut auszusprechen. »Sie sind am Leben, und sie bleiben am Leben. Und das werden wir auch. Aber dazu müssen wir hier heraus, und zwar schnell.« Sie wandte sich an Walter. »Waren das alle Wanzen, oder gibt es noch mehr?«

»Viele«, antwortete Walter zögernd. »Unzählige. Die meisten sind weitergezogen, aber die hier haben uns weggeschleppt.«

Nicht, daß diese Eröffnung Charity auf irgendeine Weise überraschte. Aber trotzdem war sie enttäuscht. Manchmal half es, sich selbst an eine Hoffnung zu klammern, von der man im Grunde ganz genau wußte, wie falsch sie ist.

»Ein Grund mehr, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden«, seufzte sie. Sie machte einen weiteren Schritt auf Melissa und Walter zu, und sofort zuckten die beiden zusammen und versuchten, noch weiter vor ihr zurückzuweichen.

Charity blieb stehen, schloß die Augen und zählte in Gedanken bis fünf. Sie hatte keine Zeit für diesen Unsinn. Sie fühlte sich miserabel, hatte Schmerzen und war zu Tode erschöpft. Der heißgelaufene Schildgenerator an ihrer Seite gab sich alle Mühe, ein Loch in ihre Hüfte zu brennen, und sie blutete aus mindestens einem Dutzend mehr oder weniger tiefer Schnitt- und Bißwunden. Außerdem war da eine Stimme in ihren Gedanken, die immer hartnäckiger behauptete, daß sie sich diesmal wirklich tief in die Scheiße geritten hatte, und daß es dafür absolut keine Entschuldigung gab - toter Mann hin oder her.

Trotzdem klang ihre Stimme so ruhig, daß es sie beinahe selbst erstaunte, als sie fortfuhr: »Ganz egal, was ihr von mir haltet oder über mich zu wissen glaubt - im Moment müssen wir zusammenhalten und von hier verschwinden - und das so schnell wie möglich.« Melissa machte tatsächlich eine Bewegung, um aufzustehen, doch Walter zog sie mit einem unsanften Ruck wieder zurück.

»Ich glaube dir nicht«, sagte er gerade heraus, aber mit einem so unsicheren Beiklang in der Stimme, daß er die gewünschte Wirkung wieder zunichte machte. »Was hast du mit den anderen gemacht?«

»Ich glaube nicht, daß sie unser Feind ist«, sagte Melissa. »Der kleine Mann hat gesagt, daß wir ihr trauen können.«

»Der kleine Mann?« Charity machte eine wegwerfende Geste, als Melissa antworten wollte und deutete zum Ausgang. Jetzt war nicht der Moment, über kleine Männer zu reden. »Los jetzt.«

Walter zögerte noch immer, und er machte auch keine Anstalten, Melissa loszulassen.

Charity sah ihn eine Sekunde lang herausfordernd an, dann zuckte sie mit den Schultern und drehte sich herum. »Ganz wie ihr wollt.«

Sie ging. Natürlich würde sie weder Melissa noch diesen Dummkopf hier zurücklassen, aber sie fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis einer von ihnen aufgab, und wer es sein würde.

Es war Walter. Die Angst, daß die Wanzen zurückkehren würden, war wohl doch größer als die Furcht vor Charity. Sie hatte den Ausgang fast erreicht, als sie hörte, wie Walter und das Mädchen aufstanden und ihr mit schnellen Schritten folgten.

Charity lächelte, blieb aber nicht stehen, um auf die beiden zu warten, sondern ging nur ein wenig langsamer, als sie in den Tunnel eindrang und sich nach links wandte.

Die Luft hier draußen war ein wenig besser als drinnen in der Halle. Qualm und Gestank waren auch in den Stollen gedrungen und tanzten als öligträge Schwaden im Licht des Handscheinwerfers.

Charity hörte, wenn auch leiser, noch immer dieses sonderbare Rascheln und Schaben, das irgendwo aus der Dunkelheit vor ihnen drang. Sie zog es allerdings vor, nicht allzu intensiv über den Ursprung dieses Geräusches nachzudenken.

Walter bewegte sich zwei Meter hinter ihr, doch Melissa schloß mit ein paar raschen Schritten zu ihr auf und schaute sie aus Augen an, in denen das Mißtrauen noch immer nicht erloschen war, aber mehr und mehr kindlicher Neugier wich. Plötzlich und unvermittelt fragte sie: »Warum darf ich dich nicht anfassen?«

»Das darfst du«, antwortete Charity lächelnd. »Nur nicht, so lange ich dieses Gerät eingeschaltet habe.«

Sie berührte den Schildgenerator gerade lange genug mit den Fingern, daß das rote Kontrollicht aufflackerte, und verzog die Lippen, als sie spürte, wie heiß er immer noch war.

»Du würdest dich schlimm verbrennen, wenn du es anfaßt.«

Melissa nickte mit gewichtiger Miene. »Es beschützt dich«, stellte sie fest; angesichts allem, was Charity bisher über das Mädchen und seine Familie wußte, ein erstaunlich scharfsinniger Schluß.

»Leider nicht so gut, wie ich es gerne hätte«, seufzte Charity. »Sehr viel länger hätte es nicht durchgehalten, fürchte ich. Wenn wir auf noch mehr von diesen Biestern stoßen, bekommen wir Schwierigkeiten.«

»Schwierigkeiten?« Melissa blinzelte. »Du meinst, die Räuber könnten dir gefährlich werden?«

»So kann man es ausdrücken«, antwortete Charity.

Sie wußte noch nicht, ob sie Melissas schnelle Auffassungsgabe bewundern sollte, oder ob die Kleine ihr bereits auf die Nerven ging. Charity konnte nicht gut mit Kindern umgehen. Weder in ihrem Leben als NASA-Testpilotin noch in dem als Widerstandskämpferin gegen die Moroni war Platz für Kinder gewesen. Manchmal bedauerte sie das, und manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht etwas sehr Wichtiges versäumt hatte.

»Aber du bist unbesiegbar«, sagte Melissa nach einer Weile.

»Das wäre schön«, antwortete Charity lächelnd. »Leider ist es nicht ganz so, fürchte ich.«

»Du bist unbesiegbar«, beharrte Melissa in jenem Tonfall felsenfester Überzeugung, zu dem nur Kinder fähig sind. »Du gehörst zu den Himmelsbewohnern. Niemand kann ihnen etwas tun.«

Das waren sehr interessante Informationen, fand Charity. Sie würde sich bei nächster Gelegenheit eingehender mit Melissa über dieses Thema unterhalten müssen. Jetzt aber sagte sie: »So lange wir oben am Himmel bleiben, vielleicht. Hier unten sind wir fast so verwundbar wie ihr.«

Melissa runzelte die Stirn. Über diese Neuigkeit mußte sie nachdenken. Nach einer Weile sagte sie: »Aber der kleine Mann hat gesagt, daß ihr unbesiegbar seid. Ihr habt sogar die Götter bezwungen, die von den Sternen gekommen sind, um uns unsere Welt wegzunehmen.«

»Der kleine Mann weiß anscheinend eine ganze Menge«, sagte Charity lächelnd. »Aber ganz so war es nicht. Im Grunde haben sie sich selbst besiegt. Wir haben nur ein bißchen nachgeholfen, am Schluß.«

Sie hatten das Ende des Stollens erreicht. Vor ihnen lag jetzt wieder der U-Bahn-Tunnel, in dem sich das Licht des Handscheinwerfers in wattiger Schwärze verlor. Irgend etwas war anders geworden.

Charity konnte nicht sagen, was es war. Im Licht des Handscheinwerfers, das gespenstisch über den Boden wanderte, schien sich nichts verändert zu haben, und trotzdem war irgend etwas... nicht mehr so, wie es gewesen war.

Charity spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Sie glaubte den Geschmack des Adrenalins regelrecht auf der Zunge zu spüren. Ihr Unterbewußtsein registrierte eine Gefahr, die sie noch nicht richtig fassen konnte, die aber irgend etwas in ihrem Inneren rebellieren ließ.

Dann erkannte sie, was es war.

Das Geräusch.

Es war lauter geworden, und zugleich konnte sie viel mehr Einzelheiten identifizieren. Statt eines gleichförmigen Rascheins und Schabens hörte sie nun ein Konglomerat vollkommen unterschiedlicher und zugleich auch wieder ähnlicher Laute: Ein Rasseln und Trippeln, Klicken und Schleifen, Schieben und Schnappen, die sich zu einem wispernden, an- und abschwellenden Chor zu vereinen schienen, so als bewegte sich etwas kolossal Großes auf sie zu, das zugleich aber auch aus zahllosen, winzigen Einzelteilen bestand.

Charity drehte sich nach links. Der Scheinwerferstrahl folgte der Bewegung, erreichte den Fuß der Schutthalde und begann sie zu erklimmen, und als er ihr oberes Ende erreicht hatte, sah Charity, wie der gesamte Trümmerberg sich von oben nach unten weiß zu färben begann und gleichzeitig zum Leben zu erwachen schien ...

Melissa und Walter schrien gleichzeitig auf und rannten davon; Charity starrte die heranwogende Insektenmasse noch eine halbe Sekunde voller kaltem Entsetzen an, ehe auch sie auf dem Absatz herumwirbelte und den beiden hinterherstürzte.

Walter und das Mädchen rannten so schnell, daß Charity alle Mühe hatte, den beiden zu folgen. Und sie bewegten sich mit so traumwandlerischer Sicherheit, daß Charity schon nach Sekunden klar wurde, daß die beiden hier unten praktisch zuhause waren.

Ihr Lichtstrahl hüpfte mit hektischen Bewegungen vor den beiden über den Boden, doch Charity bezweifelte, daß er nötig gewesen wäre. Sowohl Melissa, als auch Walter wichen Hindernissen oft genug aus, bevor sie im Licht auftauchten.

Wie lange, um alles in der Welt, hatten die beiden und ihre Familien hier unten gelebt?

Charity warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück. Die Wanzen hatten den Fuß des Schuttberges erreicht und begannen sich auf dem Tunnelboden auszubreiten. Sie bewegten sich nicht ganz so schnell wie Charity und die beiden anderen, aber auch nicht sehr viel langsamer. Und Charity war ziemlich sicher, daß diese Kreaturen keinerlei Erschöpfung kannten.

»Wohin?« schrie sie.

Melissa deutete heftig gestikulierend in die Dunkelheit vor sich. »Dort vorne! Der U-Bahnhof! Da geht es nach oben!«

Hintereinander stürmten sie vielleicht zwei-, dreihundert Meter weit über die rostigen Geleise, dann wichen Melissa und Walter jäh nach rechts. Vor ihnen erhob sich eine anderthalb Meter hohe Betonmauer, über der sich die geborstenen Fliesen eines verlassenen U-Bahnhofs erstreckten. Melissa und Walter flankten praktisch hinauf, ohne langsamer zu werden. Charity folgte ihnen nicht ganz so schnell, und sie verwandte noch einmal eine Sekunde darauf, einen Blick in den Tunnel zu werfen.

Ihr Vorsprung war auf gute hundert Meter angewachsen. Die Insektenarmee schien den Tunnel wie eine einzige, kompakte Masse auszufüllen, eine wirbelnde, allesverschlingende Freßmaschine. Es war ein grauenerregender Anblick. Aber wenn der Weg, den Melissa einschlug, wirklich nach oben führte, hatten sie eine reelle Chance. Skudders SWAT-Team mußte mittlerweile eingetroffen sein. Und selbst wenn nicht, konnte Charity schlimmstenfalls über ihren Armbandkommunikator den Jet herbeirufen.

Sie riß sich von dem furchtbaren Anblick los, fuhr herum und stürmte hinter den beiden her. Melissa hatte mittlerweile eine mit Trümmern übersäte Treppe erreicht, von deren oberem Ende ein schwacher Lichtschein herabfiel. Der Weg führte tatsächlich ins Freie.

Der Anblick spornte Charity noch einmal zu größerer Schnelligkeit an. Sie holte auf, stürmte hinter den beiden anderen die Treppe hinauf und stellte mit einem Gefühl leichter Irritation fest, daß sie auf halber Strecke stehengeblieben waren. Als sie die anderen erreichte, sah sie auch, warum es so war.

Die Treppe war verschwunden.

Wo die oberen fünfzehn oder zwanzig Stufen gewesen waren, erhob sich nun eine bizarre, spiegelglatte Masse aus geschmolzenem und wieder erstarrtem Stein und Glas. Vielleicht wäre es trotzdem möglich gewesen, diese Wand irgendwie zu ersteigen, doch aus der geschmolzenen Masse strahlte eine solche Hitze aus, daß es vollkommen unmöglich war, sich ihr auch nur auf drei Meter zu nähern.

»Ich... ich verstehe das nicht«, stammelte Melissa. »Das war vorher noch nicht da! Hier war eine Treppe!«

»Ich weiß, Kleines«, sagte Charity bitter.

Und ich weiß auch, wer für diesen Blitz-Umbau verantwortlich ist. Die Verbesserungen, die Hartmanns Techniker an den Bordwaffen des Jet vorgenommen hatten, waren ihr Geld wirklich wert. Ein einziger Schuß hatte genügt, um die Treppe auf mehr als fünfzehn Meter Länge zu schmelzen.

»Gibt es noch einen anderen Weg hier heraus?« fragte sie.

Walter nickte. »Die nächste Station. Es ist mehr als ein Kilometer bis dorthin, aber wir können es schaffen.«

Charity drehte sich um, schaute nach unten und sah, daß sie es nicht schaffen konnten. Unter ihnen tauchten die ersten Wanzen auf.

»O Gott!« stieß Walter hervor. »Sie haben uns.«

Charity Gedanken überschlugen sich. Sie saßen tatsächlich in der Falle. Die Wanzen bewegten sich langsamer als ihre Opfer, aber sie kamen die Treppe herauf. Es war nicht die ganze Armee, nicht einmal ein nennenswerter Teil. Aber das würde sich ändern, sobald die ersten Raubinsekten Witterung aufgenommen hatten.

Vielleicht hatten sie doch noch eine winzige Chance.

Charity zog ihre Waffe, schaltete von Punkt- auf Flächenfeuer um und richtete den Lauf in die Tiefe. Statt nadeldünner, sonnenheißer Blitze gab die Waffe nun einen breit gefächerten Strom nahezu unsichtbarer Laserenergie aus, die fast die gesamte Breite der Treppe abdeckte. Winzige Staubpartikel in der Luft und am Boden verwandelten sich für Sekundenbruchteile in Miniatursterne und verglühten. Die getroffenen Wanzen explodierten diesmal nicht, begannen aber plötzlich zu zucken, stürzten auf die Seite oder auf den Rücken und starben einen langsameren, doch ebenso sicheren Hitzetod.

Dünner Rauch begann von ihren Panzern aufzusteigen, während das empfindliche Fleisch darunter verkochte.

Charity schwenkte die Waffe in einer langsamen Bewegung von rechts nach links und wieder zurück. Der unsichtbare Strahl brannte eine Schneise aus Tod und Vernichtung in die Insektenarmee, aber die Kreaturen verfügten über nahezu unbegrenzten Nachschub. Für jedes Tier, das Charity erschoß, schienen drei neue aufzutauchen.

Sie schoß ungefähr eine Minute, dann nahm sie den Finger vom Feuerknopf und senkte den Laser.

»Was... was tust du?« stammelte Melissa. »Sie kommen näher! Schieß doch!«

»Gleich«, antwortete Charity gepreßt.

Die Energiezelle des Lasers hielt nicht ewig. Die Waffe hatte sich bereits spürbar erwärmt. Sie wartete, bis eine größere Anzahl Wanzen die Treppenstufen überschwemmte, schoß dann erneut und tötete mit einer einzigen Salve Hunderte der gefräßigen Monster. Die Treppe war mit schwelenden und sterbenden Wanzen übersät, doch der Strom weißer, krabbelnder Ungeheuer verebbte einfach nicht. Charity wartete wieder, hob die Waffe erneut und feuerte, wartete, schoß, wartete... Sie mußte bereits Tausende der Killerinsekten erledigt haben, doch wenn das, was sie vorhin unten im Tunnel gesehen zu haben glaubte, auch nur halbwegs der Wahrheit entsprach, lauerten dort unten Millionen Wanzen.

Charity tötete mit jedem Schuß Hunderte von ihnen, aber jedesmal, wenn sie die Waffe hin und her schwenkte, kam die vorderste Front der Insekten ein kleines Stückchen näher.

Dann stieß die Waffe einen letzten, summenden Strom unsichtbarer Energie aus und verstummte. Der Energieblock in ihrem Griff war leer.

»Was ist los?« fragte Walter. »Warum schießt du nicht?!«

»Ich kann nicht mehr«, antwortete Charity düster. Sie wedelte mit dem nutzlosen Laser.

»Leer.«

»Dann... dann sind wir wehrlos?« stammelte Walter. »Du kannst nichts mehr tun?«

Charitys Rechte senkte sich ganz automatisch auf den Schalter des Schildgenerators, aber dann zog sie die Hand wieder zurück, ohne den Knopf zu drücken. Der Generator war fast so ausgebrannt wie der Laser. Sie würde nicht zusehen, wie Melissa und Walter vor ihren Augen zerrissen wurden, nur um ein paar Sekunden länger zu leben.

Statt zu antworten, drehte sie den Laser herum und ergriff die Waffe am Lauf, um sie als Keule zu benutzen.

Walters Augen wurden groß, und auch das letzte bißchen Farbe wich aus seinem Gesicht. »Sie werden uns kriegen!« keuchte er. »Wir müssen weg hier!« Und damit fuhr er herum und rannte auf den zusammengeschmolzenen Teil der Treppe zu. Sein Schwung reichte tatsächlich aus, ihn ein paar Meter hinauf in die Höhe zu tragen, ehe er das Gleichgewicht verlor und auf Hände und Knie hinabfiel.

Charity hörte es Zischen, als seine nackte Haut den glühenden Stein berührte. Walter schrie gellend auf, schlitterte hilflos wieder in die Tiefe und preßte die verbrannten Handflächen an den Leib. Charity schenkte ihm nur einen flüchtigen Blick, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Wanzen zuwandte. In den wenigen Augenblicken, in denen sie abgelenkt gewesen war, hatten die Raubinsekten fast die Hälfte der Distanz zu ihnen zurückgelegt. Die Treppe war unter einer wuselnden weißen Flut verschwunden, die unaufhaltsam näher kam. Charity schätzte, daß ihnen noch zehn oder fünfzehn Sekunden blieben. Sie packte die Waffe fester, trat mit einem raschen Schritt vor und starrte die näherkommenden Wanzen mit grimmiger Entschlossenheit an. Sie hatte keine Chance, aber sie würde wenigstens noch ein paar von den Biestern mitnehmen...

Als die Front der Insektenarmee noch fünf Meter entfernt war, zuckte ein giftgrüner Blitz an Charity vorbei, brannte eine rauchende Spur in die wogende Masse und explodierte am unteren Ende der Treppe.

»Zur Seite!« brüllte eine Stimme. »An die Wand!« Charity reagierte blitzschnell. Sie packte Melissa, stieß sie grob an die geflieste Wand des Treppenhauses zur rechten und schaltete gleichzeitig ihren Körperschild ein. Kaum fünf Zentimeter von ihr entfernt und mit ausgebreiteten Armen stand sie da und beschützte Melissa mit ihrem eigenen Körper, während die Männer des SWAT-Teams zehn Meter über ihnen ihre Waffen in Anschlag brachten und die Insektenarmee mit der Hitze der gleichen Hölle überschütteten, aus der sie hervorgekrochen waren.

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