Sicher, antwortete eine ironische Stimme in seinem Kopf.
Gar nichts dabei. Kinderspiel.
Dann kam ihm zu Bewusstsein, dass er mutterseelenallein im Dunkeln war.
Ist schon okay, sagte er sich. Mitsuo wird das Geschirr runterschicken, dann kann ich mich von der Winde hochziehen lassen.
Seine Helmlampe warf nur einen schwachen Lichtschein auf die dunkle, raue Felswand. Als Rodriguez sich umdrehte, wurde das Licht vom leeren Abgrund der Caldera verschluckt, der sich endlos weit und tief vor ihm ausdehnte.
Finsternis umgab ihm. Es war, als wäre er das einzige Lebewesen im ganzen Universum, als gäbe es überhaupt kein Universum, sondern nur die alles verschlingende Dunkelheit dieser kalten, schwarzen Höllengrube.
Wie von ungefähr kam ihm eine Zeile aus einem Stück in den Sinn, das er vor Jahren in der Schule gelesen hatte: Wieso, ist dies hier denn nicht die Hölle?
Sei kein Idiot!, fuhr er sich an. Dir wird schon nichts passieren. Dein Anzug funktioniert prima, und Mitsuo ist mittlerweile da oben, nimmt das Geschirr ab und bereitet sich darauf vor, es zu dir runterzuschicken.
Von wegen. Er könnte bewusstlos sein, er könnte an einem Felsbrocken festhängen, oder vielleicht ist das verdammte Geschirr auch zerrissen, als die Winde ihn den Hang raufgeschleift hat. Oder die Winde hat sich aus ihrer Verankerung gelöst, und jetzt kommt er mitsamt Winde und allem wieder runter und auf mich drauf.
Die Vorstellung, wie sie beide von dem Sims gestoßen wurden und in die schwarze, bodenlose Höllengrube stürzten, ließ ihm das Blut gefrieren.
Keine Furcht, sagte sich Rodriguez. Keine Furcht. Er stützte sich mit einer beschuhten Hand an dem massiven Felsen ab. Bald bist du hier draußen, wiederholte er stumm. Dann fragte er sich, ob das Licht seiner Lampe schwächer wurde.
Gehen die Batterien allmählich zur Neige?
Fuchidas Kopf knallte so heftig gegen die Innenseite seines Helms, dass er Blut im Mund schmeckte. Er kniff die Augen zusammen und sah den strengen, kompromisslosen Blick seines Vaters. Was für eine Enttäuschung für ihn, wenn er erfährt, dass ich auf dem Mars gestorben bin, wie mein Neffe Konoye.
Und Elizabeth. Vielleicht ist es besser so. Sie kann nach Irland zurückkehren und sich einen Ehemann aus ihrer eigenen Kultur suchen. Mein Tod wird ihr ein Leben voller Probleme ersparen.
Die Winde stoppte abrupt, und Fuchida bekam einen ungeheuren Schreck. Sie klemmt! In diesem Moment wurde ihm klar, dass er nicht bereit war zu sterben. Er wollte nicht sterben. Nicht hier auf dem Mars. Überhaupt nicht.
Ein böses rotes Auge starrte ihn an. Fuchida dachte einen Moment, er hätte das Bewusstsein verloren, dann ging ihm langsam auf, das es das Licht einer der Geo/Met-Baken war, die sie am Rand der Caldera aufgestellt hatten.
Er strengte seine Augen in der von Sternen erhellten Dunkelheit an und glaubte, die Umrisse der Winde über seinem ausgestreckten Körper aufragen zu sehen. Er langte hin und berührte sie.
Ja! Er war oben. Aber er war am Rande der Ohnmacht, und ihm war schwindlig. Sein Körper war schweißgebadet.
Hitzschlag, dachte er. Wie komisch, an einem Hitzschlag zu sterben, wenn die Temperatur außerhalb meines Anzugs fast hundertdreißig Grad unter Null beträgt.
Er lachte, obwohl er wusste, dass er drauf und dran war, hysterisch zu werden, aber es gelang ihm nicht, sich zu beherrschen. Bis er unkontrolliert zu husten begann.
Unten auf dem Sims versuchte Rodriguez, seine eigenen Ängste in Schach zu halten.
»Mitsuo«, rief er über die Anzugfrequenz. »Alles in Ordnung?«
Keine Antwort. Natürlich nicht, du Dummkopf! Sein Funkgerät funktioniert ja nicht. Die Kälte schien in seinen Anzug zu sickern. Es war so kalt, dass Kohlendioxid gefror.
So kalt, dass die Anzugheizung nicht mehr dagegen ankam.
So kalt, dass man sterben konnte.
Es war pure Phantasie, das wusste er. Wahrscheinlich wirst du in deinem Anzug eher gebraten wie Mitsuo, statt zu erfrieren.
»Rauf mit dir, Mitsy«, flüsterte er. »Sieh zu, dass du heil raufkommst, und schick mir das verdammte Seil runter!«
Er würde mich nicht hier zurücklassen. Nicht, wenn er nach oben gekommen ist. Er würde nicht zum Flugzeug laufen und mich hier lassen. Er kann sowieso nicht laufen.
Nicht mal gehen. Aber wenn er erst mal oben ist, könnte er's bis zum Flugzeug schaffen. Humpeln, auf einem Bein hüpfen. Oder sogar kriechen. Nein, das würde er nicht tun.
Er würde mich nicht allein hier unten sterben lassen. Irgendwas muss ihm zugestoßen sein. Er ist bestimmt verletzt oder ohnmächtig.
Mit einemmal kam ihm die Erinnerung an den Tod seines großen Bruders wieder hoch. Ganz plötzlich sah er Luis'
blutüberströmten, zerschmetterten Körper, als die Retter ihn aus dem Wrack des Sattelschleppers holten. Eine Verfolgungsjagd mit der Polizei auf dem Freeway. All diese Jahre hatte sein Bruder mit seinem Neunachser Drogen aus Tijuana ins Land geschmuggelt, und Tomas hatte es nicht gewusst, es nicht mal geahnt. Er konnte nichts tun. Als er Luis'
umgekipptes Gefährt am Mittelstreifen des Highways liegen sah, war es schon zu spät.
Er sah sich machtlos und wie versteinert dastehen, als sein Bruder für tot erklärt, in den wartenden Krankenwagen geschoben und abtransportiert wurde. Einfach so. Der Tod kann wie ein Blitzstrahl zuschlagen.
Was hätte ich tun können, um ihn zu retten, fragte sich Rodriguez zum tausendsten Mal. Irgendwas hätte ich tun müssen. Aber ich war zu beschäftigt mit der Fliegerei und dem AstronautentrAlning. Ich hatte keine Zeit für die Familie, für meinen eigenen Bruder.
Mit einem Seufzen sog er die Flaschenluft tief in seine Lungen. Tja, nun gleicht es sich aus. Ich bin bis zum Mars gekommen, und jetzt werde ich hier sterben.
Dann hörte er die weiche, melodische Stimme seines Bruders. »Keine Furcht, muchacho. Zeig niemals Furcht. Nicht mal dir selbst gegenüber.«
Rodriguez empfand keine Furcht. Nur eine tiefe Traurigkeit, dass er Luis nicht hatte helfen können, als dieser seine Hilfe gebraucht hatte. Und jetzt würde es alles enden. Die Reue, die Hoffnungen, alles …
Einen Moment lang glaubte er, ein rotes Licht an der Felswand aufleuchten zu sehen. Er kniff die Augen zusammen.
Nichts. Er schaute nach oben, aber das Oberteil seines Helms nahm ihm die Sicht. Du klammerst dich an einen Strohhalm, sagte er sich. Wenn man unbedingt etwas sehen will, dann sieht man's auch, selbst wenn es gar nicht da ist.
Doch dann blitzte das rote Licht erneut auf, und als er diesmal die Augen zusammenkniff, verschwand es nicht wieder. Diese verdammten Helme, dachte er wütend. Man kann erst was sehen, wenn man's direkt vor der Nase hat.
Er versuchte, den ganzen Oberkörper ein bisschen nach hinten zu neigen, und war sich dabei nur allzu deutlich bewusst, dass er ohne Weiteres von dem Sims rutschen und in die bodenlose Caldera hinabstürzen konnte.
Und da war sie! Der Lichtschein der Bake schwankte weit über ihm hin und her, wie das unverwandt auf einen herabschauende Auge eines alles sehenden Erlösers.
Er lehnte sich wieder an die Felswand. Er hatte weiche Knie, und seine Beine waren wie aus Gummi. Scheiße, Mann, du hast echt Angst gehabt.
Jetzt konnte er die Umrisse des herabhängenden Geschirrs ausmachen, an dem mit Klebeband die ausgezogene Stange der Bake befestigt war. Wo, zum Teufel, hat Mitsuo Klebeband her, fragte er sich. Er muss es die ganze Zeit dabeigehabt haben. Das universelle Allheilmittel. Nach unserer Rückkehr zur Erde könnten wir einen Werbespot für das Zeug drehen: Gehen Sie auf dem Mars kein Risiko ein –
tragen Sie auf Schritt und Tritt ein lebensrettendes Klebeband bei sich.
Es schien eine Stunde zu dauern, bis das winzige Licht so nahe war, dass er es packen konnte. Mit nur geringfügig zitternden Händen langte Rodriguez nach oben, ergriff die Bake, riss sie los und schob die Arme ins Klettergeschirr.
Dann ließ er die Verschlüsse zuschnappen und zog versuchsweise am Seil. Es fühlte sich fest und gut an.
Er wollte schon auf den Bedienungsknopf drücken, der die Winde aktivierte, aber dann hielt er inne. »'blick noch«, flüsterte er im Steno der Berufsflieger.
Er bückte sich, hob die Bake auf, zog sie zu ihrer vollen Länge aus und rammte ihr spitzes Ende in eine Spalte in der Basaltwand. Wahrscheinlich bleibt sie nicht sehr lange hier, dachte er, und sie funktioniert sowieso nur, wenn die Sonne ein paar Stunden pro Tag drauf – scheint, aber es war ein befriedigendes Gefühl, ein Andenken zu hinterlassen, dass Menschen von der Erde hier gewesen waren, die Grube betreten, zumindest einige ihrer Geheimnisse gelüftet und überlebt hatten.
»Okay«, sagte er zu sich und hielt sich mit einer Hand am Seil fest. »Ab geht die Post!«
Er drückte auf den Bedienungsknopf und wurde von den Füßen gerissen. Dann merkte er, wie er knirschend, schabend und sich drehend den Felshang hinaufgezerrt wurde. Sein Kopf schlug im Helm hin und her, und seine Beine und gestiefelten Füße hüpften über den Stein.
Schlimmer als jede Simulatorfahrt, die er beim Training durchgestanden hatte. Schlimmer als die Zentrifuge, in der sie ihn herumgewirbelt und hohen G-Kräften ausgesetzt hatten. Diese Nummer wird's nie nach Disneyland schaffen, dachte Rodriguez. Seine Zähne klackerten aufeinander, als er hüpfend und tanzend zum Rand der Caldera hinauffuhr.
Dann war es endlich vorbei. Rodriguez lag keuchend, außer Atem und mit Schmerzen am ganzen Leib da. Fuchidas vom Raumanzug umhüllte Gestalt lag reglos neben ihm auf dem Boden.
Rodriguez rollte sich auf die Seite, so weit sein Tornister es erlaubte. Jenseits von Fuchidas dunkler Silhouette war der Himmel voller Sterne. Strahlend helle, freundliche Sterne schienen auf ihn herab, wie tausendmal tausend Juwelen. Ein himmlischer Anblick.
Ich hab's geschafft, sagte sich Rodriguez. Dann verbesserte er sich: Noch nicht. Kann man noch nicht sagen.
Er legte seinen Helm an den von Fuchida. »He, Mitsuo!
Alles okay?«
Es war eine dämliche Frage, und er wusste es. Fuchida gab keine Antwort, aber Rodriguez glaubte, den Biologen atmen oder vielmehr keuchen zu hören, flach und schnell.
Ich muss ihn zum Flugzeug bringen. Hier draußen kann ich nichts für ihn tun.
So rasch er konnte, legte Rodriguez das Klettergeschirr ab, dann hob er den bewusstlosen Fuchida behutsam hoch und kämpfte sich auf die Beine. Gut, dass wir auf dem Mars sind. Bei normaler Erdschwerkraft könnte ich ihn in seinem Anzug unmöglich hochheben. Und wo, zum Teufel, ist jetzt das Flugzeug?
In der Ferne sah er eine weitere Geo/Met-Bake, die sie aufgestellt hatten. Mit seinem Kameraden auf den Armen ging er in diese Richtung.
Für dich konnte ich das nicht tun, Luis, sagte Rodriguez stumm. Ich wünschte, ich hätte es gekonnt, aber mehr als das kann ich nicht tun.
MITTERNACHT:
SOL 49/50
In der Basiskuppel war es dunkel und still. Die Beleuchtung war auf Schlafenszeitniveau heruntergedimmt, und die Kunststoffhaut war opak, damit keine Wärme in die Marsnacht entwich. Stacy Deschurowa, die noch immer an der Kommunikationskonsole saß, döste ungewollt vor sich hin, als Rodriguez' Anruf kam.
»Wir sind wieder im Flugzeug«, erklärte der Astronaut ohne Einleitung. »Ich möchte mit Vijay sprechen.«
»Vijay!«, rief Stacy mit einer Stimme, die die schläfrige Stille zerbrach. »Jamie!«, setzte sie hinzu.
Eilige Schritte nackter oder bestrumpfter Füße tappten im Halbdunkel über den Kunststoffboden. Vijay glitt auf den Stuhl neben Deschurowa. Ihre pechschwarzen Augen waren weit offen und wach. Jamie und Trudy kamen mit trüben Augen hereingelaufen und blieben hinter den beiden Frauen stehen.
»Hier ist Vijay«, sagte sie. »Wie geht es euch?«
Auf dem Bildschirm konnten sie nur die Helme und Schultern der beiden Männer sehen. Ihre Gesichter waren hinter den stark getönten Sichtscheiben verborgen. Aber Rodriguez' Stimme klang ruhig und fest.
»Mit mir ist alles in Ordnung. Bin ein bisschen durch den Wind, aber das ist nichts weiter. Ich habe Mitsuos Anzug gereinigt und ihn an die Luft-Notversorgung des Flugzeugs angeschlossen. Aber er ist immer noch nicht bei sich.«
»Wie lange ist das her?«, fragte Vijay. Ihr dunkles Gesicht war starr vor Anspannung.
»Fünfzehn, sechzehn Minuten.«
»Und da meldest du dich jetzt erst?«, rief Deschurowa.
»Ich musste seinen Batteriensatz reparieren«, antwortete Rodriguez, ohne sich von ihrem Ton aus der Ruhe bringen zu lassen. »Die Anschlüsse hatten sich gelöst, als er zu Boden geschleudert wurde …«
»Zu Boden geschleudert?«, entfuhr es Jamie.
»Ja. Dabei hat er sich den Knöchel verletzt.«
»Wie schlimm ist die Verletzung?«, fragte Vijay.
»Der Knöchel ist zumindest verstaucht. Vielleicht auch gebrochen.«
»Im Anzug kann man sich gar nichts brechen«, murmelte Jamie. »Nicht bei all den Schutzvorkehrungen.«
»Jedenfalls bekam sein Raumanzug keinen Strom mehr«, fuhr Rodriguez fort. »Ich fand, seine Stromversorgung zu reparieren, war das Zweitwichtigste, was ich zu tun hatte.
Frische Luft in ihn reinzupumpen war das Wichtigste.«
»Und anzurufen das Drittwichtigste«, ergänzte Deschurowa viel sanfter.
»Genau«, sagte Rodriguez.
»Ich kriege seine Daten«, sagte Vijay, den Blick auf den medizinischen Diagnoseschirm gerichtet.
»Ja, sein Anzug ist jetzt okay. Die Batterien sind wieder angeschlossen.«
»Funktioniert sein Kühlsystem?«, fragte Vijay.
»Müsste eigentlich«, sagte Rodriguez. »'blick mal …«
Sie sahen, wie der Astronaut sich vorbeugte und seinen Helm an die Schulter des ohnmächtigen Fuchida legte.
»Jawoll«, verkündete er gleich darauf. »Ich höre die Pumpe tuckern. Das Wasser müsste jetzt wieder durch seine Unterwäsche zirkulieren.«
»Das sollte seine Temperatur senken«, sagte Vijay leise, halb zu sich selbst. »Das Problem ist, er könnte einen Schock von der Überhitzung haben.«
»Was kann ich tun?«, fragte Rodriguez.
Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Nicht viel, Kamerad.
Schon gar nicht, wenn ihr beide in eure Anzüge eingeschlossen seid.«
Für einen langen Moment schwiegen sie alle. Vijay starrte auf den medizinischen Monitor. Fuchidas Temperatur sank allmählich. Sein Puls wurde langsamer. Die Atmung war fast schon wieder normal. Eigentlich müsste er …
Der Biologe hustete und bewegte sich. »Was ist passiert?«, fragte er matt.
Alle vier im Kommunikationszentrum begannen zu grinsen. Keiner von ihnen konnte Rodriguez' Gesicht hinter seiner Sichtscheibe sehen, aber sie hörten die Erleichterung in seinem Ton: »Nee, Mitsuo; die Frage heißt: ›Wo bin ich?‹«
Der Biologe setzte sich aufrechter hin. »Ist Trudy da?«
»Mach dir keine …«
»Ich bin hier, Mitsuo«, sagte Trudy Hall und beugte sich zwischen Deschurowa und Vijay durch. »Was gibt's?«
»Siderophile Organismen!«, rief Fuchida aufgeregt. »In der Caldera leben eisenfressende Bakterien.«
»Hast du Proben genommen?«
»Ja, natürlich.«
Jamie trat zurück, als die beiden Biologen miteinander plauderten. Fuchida wäre um ein Haar ums Leben gekommen, aber wichtig ist ihm nur, dass er einen neuen Organismus gefunden hat. Vielleicht hat er Recht, gestand Jamie sich insgeheim lächelnd ein.
BALLONS
Bevor die Forscher auf dem Mars landeten, zu einem Zeitpunkt, als sie noch im Orbit waren und mit großen Augen auf die rostige, abgenutzte Unermesslichkeit des Roten Planeten hinabschauten, setzten sie die Ballons aus.
Ihr Versorgungsfahrzeug, das ebenfalls um den Mars kreiste, warf sechs weinkistengroße Kapseln ab und zündete dann deren Bremsraketen. Sie tauchten flammend in die dünne Marsatmosphäre ein, wo sie jeweils ein Dutzend Ballons freisetzten. Die Ballons waren grandios simpel, kaum mehr als lange, schmale Schläuche aus außerordentlich dünnem, aber zähem Mylar, die sich automatisch mit Wasserstoffgas aufbliesen, als sie die richtige Höhe erreichten, und dann wie phantastische, riesige weiße Zigaretten über der Landschaft schwebten.
Unter jedem langen, schmalen Ballon baumelte eine
›Schlange‹, eine biegsame, dünne Metallröhre, die Sensoren, ein Funkgerät, Batterien und eine Heizung zum Schutz gegen das eisige Wetter enthielt.
Tagsüber trieben die Ballons hoch oben in der Marsatmosphäre und prüften die Temperatur (niedrig), den Druck (niedriger), die Feuchtigkeit (noch niedriger) und die chemische Zusammensetzung der Luft. Die Höhe, in der jeder einzelne Ballon schwebte, wurde von der Menge des Wasserstoffs in seinem schlanken, zigarettenförmigen Rumpf bestimmt. Die Tageswinde trugen sie wie Löwenzahnfederkronen über die rote Landschaft.
Nachts, wenn die Temperaturen in solche Tiefen stürzten, dass selbst der Wasserstoff in den Ballons zu kondensieren begann, sanken sie alle wie ein Chor von Ballerinas, die müde die Köpfe hängen ließen, zur Oberfläche hinunter.
Oftmals berührten die Instrumenten-›Schlangen‹ tatsächlich den Boden und übertrugen pflichtgetreu Daten über die nächtlichen Bedingungen an der Oberfläche, während die Ballons in den dunklen Winden tanzten; sie hatten gerade so viel Auftrieb, dass sie ungefährdet über dem mit Geröll übersäten Boden schwebten.
Ähnliche Ballons waren bei der ersten Marsexpedition mit großem Erfolg eingesetzt worden, obwohl viele von ihnen irgendwann an Bergflanken hängen blieben oder aus unbekannten Gründen verschwanden. Die meisten trieben jedoch wochenlang anmutig über das Antlitz des Mars, sanken jede Nacht langsam hinab und stiegen wieder hoch, wenn das morgendliche Sonnenlicht ihre wasserstoffgefüllten Hüllen erwärmte, flogen still und mühelos dahin, lebten mit dem marsianischen Tag- und-Nacht-Zyklus und erstatteten brav Bericht über die Umweltbedingungen, die von einem Pol zum anderen herrschten.
MORGEN: SOL 50
Jamie war nicht überrascht, als er sah, dass sein Großvater im Felsendorf auf ihn wartete.
Er erinnerte sich daran, wie er vom Rand des Canyons abgestiegen war und dann, kaum dass er bei der Nische in der Felswand angelangt war, langsam und bedächtig seinen Raumanzug ausgezogen hatte. Ihm war warm, und er fühlte sich sicher, als er, nur mit seinem Overall bekleidet, durch die stillen Ruinen spazierte.
Großvater Al saß im hellen Sonnenschein auf einer Holzbank, an die Adobewand eines der Gebäude gelehnt. Seinen breitkrempigen Hut hatte er tief in die Stirn gezogen.
»Schläfst du, Großvater?«, fragte Jamie leise. Er war wieder neun Jahre alt, und er konnte nicht sagen, ob er sich auf dem Mars oder in dem alten Pueblo befand, wo Al um Teppiche und Töpferwaren feilschte, die er in seinem Laden in Santa Fe verkaufen wollte.
»Nein, ich schlafe nicht, Jamie. Ich habe auf dich gewartet.«
»Hier bin ich.«
Al sah seinen Enkel an und lächelte. »Das ist gut.«
Jamie breitete die Arme aus. »Wo sind sie alle? Das Dorf ist leer.«
»Sie sind fortgegangen.«
»Wohin denn?«
»Das weiß ich nicht. Niemand weiß es. Du musst es herausfinden, Enkel.«
»Aber wo könnten sie sein?«
»Auf der Suche nach ihrer Bestimmung«, sagte Al. »Nach ihrem eigenen, richtigen Weg.«
Jamie setzte sich neben seinen Großvater auf die Bank. Die Sonne war warm und spendete ihm Kraft.
»Erzähl mir von ihnen, Großvater. Erzähl mir von den Leuten, die hier gelebt haben.«
Al lachte, ein leises, fröhliches Glucksen. »Nein. Ich kann es dir nicht erzählen, Jamie-Boy. Du musst es mir erzählen.«
Jamie war verwirrt. »Aber ich weiß es nicht.«
»Dann wirst du's rausfinden müssen, mein Sohn.«
Jamie schlug die Augen auf. Diesmal verblasste sein Traum ausnahmsweise nicht. Er war so lebendig wie eine echte Erinnerung.
Er stieß das dünne Laken weg, das ihn bedeckte, und stand auf. Nach der langen Nacht, die sie alle hinter sich hatten, hätte er eigentlich müde und ausgelaugt sein müssen. Aber er war wach und voll da, konnte es kaum erwarten, den Tag zu beginnen.
Er trat rasch an seinen Schreibtisch und schaltete seinen Laptop ein, dann öffnete er den Kommunikationskanal zu Rodriguez und Fuchida. Mit einem Blick auf die Schreibtischuhr sah er, dass es sechs Uhr dreiunddreißig war. Er zögerte jedoch nur einen kurzen Moment, dann rief er die beiden Männer auf dem Olympus Mons.
Wie er vermutet hatte, waren sie beide wach. Auf dem Bildschirm von Jamies Laptop saßen sie Seite an Seite im Cockpit des Flugzeugs.
»Guten Morgen«, sagte er. »Gut geschlafen?«
»Außerordentlich gut«, antwortete Fuchida.
»Das Cockpit hier sah aus wie das beste Hotel der Welt, als wir heute Nacht eingestiegen sind«, sagte Rodriguez.
Jamie nickte. »Ja, kann ich mir vorstellen.«
Rodriguez erstattete ihm einen kurzen, knappen Morgenbericht. Fuchida lobte den Astronauten überschwänglich, weil er seinen Anzug von der verdorbenen Luft gereinigt und die elektrischen Anschlüsse wieder befestigt hatte, die sich bei dem Aufprall in seinem Tornistergerät gelöst hatten.
»Mein Anzuggebläse summt brav vor sich hin«, sagte er.
»Aber ich fürchte, ich werde mit meinem schlimmen Knöchel nicht viel Nützliches tun können.«
Sie hatten die Knöchelverletzung in der vergangenen Nacht diskutiert, sobald Fuchida das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Vijay vermutete, dass es eine Verstauchung war, wollte den Biologen jedoch so rasch wie möglich wieder in der Kuppel haben, um ihn zu röntgen.
Jamie hatte entschieden, dass Rodriguez so viele der geplanten Arbeiten wie möglich allein ausführen sollte, bevor sie zurückflogen. Ihr Plan sah vor, dass sie einen weiteren halben Tag auf dem Gipfel des Berges verbrachten und dann am frühen Nachmittag den Rückflug zur Kuppel antraten. Sie sollten also lange vor Sonnenuntergang wieder bei der Basis landen.
»Ich bin froh, wenn ich aus diesem Anzug herauskomme«, gestand Fuchida.
»Wir werden nicht besonders gut riechen«, fügte Rodriguez hinzu.
Jamie ertappte sich dabei, dass er angestrengt auf den kleinen Bildschirm seines Laptops spähte und durch ihre Sichtscheiben zu schauen versuchte. Was natürlich unmöglich war. Aber sie klangen beide ziemlich munter.
Die Ängste und Gefahren der vergangenen Nacht waren fort, das Tageslicht und die relative Sicherheit des Flugzeugs verliehen ihnen neuen Mut.
Rodriguez sagte: »Wir haben beschlossen, dass ich noch mal in die Caldera runtersteige und die Bake, die wir dort auf dem Sims gelassen haben, richtig aufstelle.«
»Damit wir anständige Daten von ihr bekommen«, fügte Fuchida hinzu, als befürchtete er, Jamie würde ihre Entscheidung anfechten.
Jamie fragte: »Meint ihr wirklich, dass ihr das tun solltet?«
»Müsste ganz einfach sein«, sagte Rodriguez lässig, »solange ich nicht wieder in die Nähe des verdammten Lavaschlots komme.«
»Gibt es dort, wo ihr die Bake aufstellen wollt, genug Sonnenlicht?«
Jamie spürte, dass der Biologe in seinem Helm nickte. »Oh ja, das Sims liegt täglich mehrere Stunden in der Sonne.«
»Dann kriegen wir Daten aus dem Innern der Caldera«, half Rodriguez nach.
»Nicht sehr tief im Innern«, setzte Fuchida hinzu, »aber immer noch besser als gar keine Daten.«
»Wollt ihr das wirklich machen?«
»Ja«, sagten sie alle beide. Jamie spürte ihre Entschlossenheit. Es war ihr kleiner Sieg über den Olympus Mons, ihre Art, sich zu beweisen, dass sie keine Angst vor dem riesigen Vulkan hatten.
»Also gut«, sagte Jamie. »Aber seid vorsichtig.«
»Wir sind immer vorsichtig«, sagte Fuchida.
»Jedenfalls meistens«, fügte Rodriguez mit einem Lachen hinzu.
»Wie is der Wetterbericht?«, fragte Wiley Craig.
»Weitgehend unverändert«, antwortete Dex Trumball aus dem Cockpit des Rovers. Er fuhr, während Craig die Überreste des Frühstücks wegräumte und den Tisch wieder in den Boden zwischen den Liegen klappte.
Craig kam nach vorn und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Die Sonne war soeben über den zunehmend zerklüfteten östlichen Horizont gestiegen.
»Soll ich fahren?«, fragte er.
»Kommt gar nicht in Frage, Wiley. Ich werde heute den interplanetaren Geschwindigkeitsrekord brechen und dieses Baby auf fünfunddreißig Klicks pro Stunde hochbringen.«
Craig lachte spöttisch. »Dafür brauchste aber 'nen höllischen Rückenwind, Kumpel.«
»Nee, nur 'n bisschen Gefälle.«
»Na, dann viel Glück.«
»Ich mein's ernst, Wiley. Auf dem Weg nach Xanthe fällt das Gelände ab.«
»Klar«, sagte Craig. »Und mit 'ner ordentlichen Brise im Rücken könnten wir wirklich gut vorankommen.«
Trumball warf ihm einen Blick zu. »Check mal die Mail, hm?«
Im Posteingang waren zwei Nachrichten, beide von Stacy.
Die erste informierte sie über Fuchidas Unfall und Rodriguez' Rettungsoperation. Und über die siderophilen Organismen, die der Biologe entdeckt hatte. Die beiden Männer lauschten Halls kurzer Zusammenfassung und sahen sich dann an.
Craig stieß einen leisen Pfiff aus. »Möchte wissen, wie Mitsuos Jockey-Shorts aussehen.«
Trumball lachte und schüttelte den Kopf. »Ich jedoch nicht.«
Deschurowas zweite Nachricht war ein Wetterbericht. Der Staubsturm breitete sich aus, blieb jedoch nach wie vor unterhalb des Äquators.
»Solange er in der südlichen Hemisphäre bleibt, ist alles paletti«, sagte Trumball zufrieden.
Craig war weniger gut gelaunt. Ohne den Blick von der Wetterkarte auf ihrem Bildschirm zu wenden, murmelte er:
»Er wächst aber. Wenn er den Äquator überquert, is die Kacke am Dampfen.«
»Sei kein Weichei, Wiley. Dieses Fahrzeug hat schon mal
'nen Sturm überstanden, weißt du.«
»Ja, und ich bin auch schon mal von 'ner brennenden Bohrinsel in den Golf von Mexiko gesprungen. Heißt aber nich, dass ich das noch mal machen möchte.«
Trumballs Reaktion bestand darin, dass er noch fester aufs Gaspedal trat. Craig sah zu, wie der Tachometer über die Einunddreißig-Stundenkilometer-Marke hinauskroch. Mit einem grimmigen Lächeln erinnerte er sich an die Maxime eines alten Preisboxers: Du kannst weglaufen, aber verstecken kannst du dich nicht.
TARAWA
Pete Connors hatte gerade dienstfrei und räkelte sich genussvoll am Strand vor dem zweistöckigen Haus, in dem er wohnte, als der Anruf kam. Als Chef des Kontrollzentrums der Marsexpedition hatte Connors immer und überall ein Handy dabei, auch wenn man sich auf den kleinen Inselchen des Atolls ohnehin nicht sehr weit vom Kontrollzentrum entfernen konnte. Er lag bequem auf einer alten Decke, hatte die Fersen in den weichen, weißen Sand gestemmt und lauschte dem Rhythmus der Brandung, die gegen das Riff schlug, als das kleine Telefon piepste. Selbst in der Plastikhülle für den Strand gelang es dem Ding, dringlich zu klingen.
Mit einem genervten Seufzer setzte Connors sich auf und tastete in der Tasche nach dem Telefon. Er hatte die Video-Erweiterung auch dabei, beschloss jedoch, sich nicht damit abzuplagen, außer wenn er sich irgendwelche Daten ansehen musste.
»Connors«, sagte er kurz, während eine Möwe auf der Suche nach Resten herabstieß und im Tiefflug über den Strand hinwegschoss.
»Hier ist Dr. Li Chengdu«, ertönte die Stimme des chinesischen Akademikers so klar und deutlich, als wäre er hier bei ihm auf der Insel.
»Dr. Li! Wie geht es Ihnen?« Conners setzte sich aufrechter hin.
»Mein Gesundheitszustand ist ausgezeichnet. Und Ihnen?«
»Könnte nicht besser sein«, sagte Connors rituell. In Wahrheit bekam er seit der Landung der Forscher auf dem Mars nicht mehr genug Schlaf und war deshalb häufig schlecht gelaunt.
»Ich möchte Sie über ein mögliches Problem in Kenntnis setzen«, sagte Lis Stimme ausdruckslos und ruhig, ohne jede Emotion.
»Ein Problem?«
»Vielleicht bin ich übermäßig pessimistisch, aber Sie waren besser mit Waterman befreundet als ich, und …«
»Ein Problem mit Jamie?« Connors war verblüfft.
»Nicht mit ihm. Für ihn.«
»Was soll das heißen?«
Li zögerte nur einen Herzschlag lang. »Wie Sie wissen, bin ich im Beirat des Ausschusses des Internationalen Universitätskonsortiums für die Marsexpedition.«
»Des IUK, ja.«
»Ich habe gerade einen Anruf der Ausschussvorsitzenden bekommen, Professor Quentin aus Cambridge.«
»Ich weiß, wer sie ist«, sagte Connors, der sich fragte, wann Li zum Punkt kommen würde.
»Sie wiederum war zuvor von Mr. Trumball angerufen worden.«
Oh, oh, dachte Connors. Der Geldmann ist sauer über irgendwas.
»Mr. Trumball schlägt vor«, fuhr Li fort, »Waterman als Missionsleiter abzulösen.«
»Ihn abzulösen?«, fuhr Connors auf. »Das ist doch Schwach … äh … Unsinn.«
»Trumball ist leider sehr hartnäckig.«
»Wie, zum Teufel, können die Jamie ablösen, solange das Team auf dem Mars ist?«
Diesmal zögerte Li merklicher. »Die Angelegenheit könnte natürlich Auswirkungen auf die Finanzierung der nächsten Expedition haben.«
»Worüber ist Trumball denn so sauer, verdammt noch mal?«, fragte Connors. Er vergaß seinen üblichen Respekt für den Mann, der Missionsleiter der ersten Expedition gewesen war.
»Das ist mir nicht vollständig klar.«
»Was können wir dann dagegen unternehmen?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich dachte allerdings, da Sie Watermans Freund sind, würden Sie ihn vielleicht gern über diese Situation unterrichten. Ihn vorbereiten, sozusagen.«
»Ihm die schlechten Neuigkeiten beibringen, meinen Sie.«
»Nein, nein! Seine Ablösung steht noch nicht fest. Ich glaube sogar, dass der größte Teil des IUK-Ausschusses dafür ist, ihn weiterhin mit der Leitung zu betrauen. Ich dachte einfach, er sollte wissen, was hier vorgeht.«
Connors nickte. »In Ordnung. Ich verstehe.«
»Danke«, sagte Li. Dann war die Leitung tot.
Connors saß lange Zeit im Sand und dachte nach. Der Ausschuss mag Jamie behalten wollen, aber wenn der alte Trumball genug Terror macht, werden sie Jamie fallen lassen, nur um den Mistkerl bei Laune zu halten. Wenn es auf eine Entscheidung zwischen Jamie und dem Geld für die nächste Expedition hinausläuft, werden sie sich für das Geld entscheiden. Das müssen sie auch.
NACHMITTAG: SOL 50
Jamie stieg in seinen Raumanzug und ging hinaus, um die Rückkehr des Raketenflugzeugs zu beobachten. Keine Probleme mit dem Wetter, dachte er. Trotz des Staubsturms, der sich über die südliche Hemisphäre ausbreitete, war der Himmel hier sauber und hell, vielleicht eine Nuance dunkler als das übliche Orangebraun, aber klar und völlig wolkenlos. Nicht einmal ein klitzekleines Zirruswölkchen verschandelte das sanfte, lohfarbene Gewölbe über ihnen.
Ich sollte in der Kuppel sein und die Daten der Baken analysieren, die Dex und Possum unterwegs aufstellen, sagte er sich. Oder die stratigraphische Untersuchung des Gebiets um die Basis herum abschließen. Die Untersuchung, die Dex eigentlich durchführen sollte.
Aus ihren geologischen Daten waren größere Ungereimtheiten erwachsen, ein Problem, das die Planetenwissenschaftler auf der Erde in zunehmendem Maße beunruhigte und verärgerte. Sie waren sich alle einig, dass der Mars irgendwann einmal wärmer und feuchter gewesen war als heute. Früher hatte ein Meer oder zumindest ein ausgedehnter, flacher See einen großen Teil der nördlichen Halbkugel umgeben. Aber das war mehrere hundert Millionen oder vielleicht sogar Milliarden Jahre her.
Die Daten, welche die Forscher zutage förderten, trübten dieses Bild allerdings. Die Geo/Met-Baken, die von den Bohrern heraufgeholten Kernproben, die Daten aus den dahintreibenden Ballons, alle deuteten sie darauf hin, dass der Mars heutzutage unter seiner öden Sandoberfläche wärmer war, als man geglaubt hatte. Aus dem Innern des Planeten kam mehr Wärme herauf, als von den Geologen erwartet.
Erheblich mehr. Der Mars war noch vor weniger als hundert Millionen Jahren warm gewesen, nach geologischen Begriffen also noch vor relativ kurzer Zeit. Wenn ihren Daten Glauben zu schenken war, hatte das ausgedehnte, flache Meer hier viel länger existiert, als es jemand für möglich gehalten hätte.
Wissenschaftler ändern ihre Meinungen auch nicht lieber als Theologen oder Lastwagenfahrer, aber wenn die Fakten ihren Überzeugungen widersprechen, können sie sich nicht vor den Fakten verstecken oder sie bequem ignorieren. Die Fakten schienen zu besagen, dass der Mars wärmer und feuchter gewesen war, und zwar länger, als sie es für möglich gehalten hatten. Viel länger. Es ergab keinen Sinn.
Es widersprach ihren sorgfältig zurechtgezimmerten Theorien über die Vergangenheit des Roten Planeten. Dennoch deuteten die Daten vom Mars genau darauf hin.
Wenn Zweifel bestehen, wenn die Daten und die Theorien nicht übereinstimmen, dann suche man nach weiteren Daten. Die Planetenwissenschaftler auf der Erde deckten die Forscher mit Bitten um weitere Daten, weitere Fakten, weitere Informationen über die Geschichte des Mars ein. Bevor sie auch nur erwogen, ihre geliebten Theorien über den Roten Planeten ad acta zu legen, wollten, brauchten, verlangten sie weitere Daten.
Jamie wusste, dass er alle Anstrengungen unternehmen sollte, die Wünsche von der Erde zu erfüllen. Die Unstimmigkeiten im geologischen Bild störten ihn ebenso sehr wie die Wissenschaftler daheim auf der blauen Welt. Dennoch stand er nun untätig draußen vor der Kuppel und guckte angestrengt in die Luft, um einen ersten Blick von dem zurückkehrenden Raketenflugzeug zu erhaschen. Und dachte an die Felsenbehausung. Ich kann nicht zum Canyon aufbrechen, solange Dex und Possum nicht zurück sind, sagte er sich. Ich kann mich nicht einfach meinen Pflichten hier entziehen und mich Hals über Kopf auf eine Suche begeben, die nicht einmal im Missionsplan steht.
Aber er spürte den Lockruf jener Nische hoch oben in der Wand des Canyons. Ihm war, als würden seine Ahnen ihn rufen. Wie damals, als sein Großvater ihn zum ersten Mal in das verlassene Dorf der Alten auf der Mesa Verde mitgenommen hatte.
»Deine Vorfahren haben ihre Häuser hier vor langer Zeit errichtet, Jamie«, hatte Großvater Al gesagt.
»Das waren nicht unsere Vorfahren«, hatte Jamie mit all der rechtschaffenen Selbstsicherheit eines Zwölfjährigen erwidert. »Wir sind Navajos, das waren Anasazi.«
»Aber natürlich waren sie unsere Vorfahren«, hatte Al mit Nachdruck behauptet. »Anasazi heißt ›die Alten‹.«
Der junge Jamie hatte störrisch den Kopf geschüttelt. »Unser Volk ist erst hergekommen, als sie schon weg waren, Grandpa. Das hab ich in einem der Bücher gelesen, die du mir gegeben hast.«
Al hatte nur leise gelacht. »Ach, Bücherschreiber. Was wissen die schon?«
Vielleicht hat Al Recht, dachte Jamie. Vielleicht sind wir doch miteinander verwandt, wir alle, sogar hier auf dem Mars.
Dann lenkte eine rasche Bewegung am dunkler werdenden Himmel seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein kurzes Aufblitzen, das war alles. Jamie suchte das kupferne Gewölbe über sich ab, sah jedoch nichts.
Ein weiteres Aufblitzen, und diesmal hielten seine Augen es fest. Das Flugzeug nahm Gestalt an, während es träge hoch droben am Himmel kreiste. Jamie wandte den Blick nicht davon ab, um es nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Automatisch schaltete er sich übers Tastenfeld an seinem Handgelenk auf die Kommunikationsfrequenz.
»Setzen zum Landeanflug an«, sagte Rodriguez' Stimme ruhig und professionell.
»Landeanflug, verstanden«, sagte Stacy Deschurowa genauso ausdruckslos und geschäftsmäßig.
Jamie hörte zu und beobachtete, wie das Flugzeug hoch oben am karamellfarbenen Himmel größer wurde, und ganz tief drinnen durchlief ihn ein freudiger Schauer über das Wunder, dass er hier auf dem Mars stand, während zwei Forscher nach einem Ausflug zum höchsten Berg im Sonnensystem zu ihrer Basis zurückkehrten.
Rodriguez bestand darauf, dass sie sich alle von ihnen fern hielten, als er und Fuchida aus ihren Anzügen stiegen.
»Ich will keine Stinkwitze hören«, erklärte der Astronaut mit Nachdruck.
Jamie hatte ihnen erlaubt, direkt in die Kuppel zu gehen, ohne das Flugzeug zu entladen. Der Biologe stützte sich schwer auf Rodriguez und benutzte ihn als Krücke. Stacy Deschurowa kam heraus und half Jamie, Fuchidas Probenbehälter in die Luftschleuse der Kuppel zu tragen, während die beiden Männer ihre Raumanzüge ablegten und schnurstracks unter die Dusche gingen. Erst danach durfte Vijay Fuchidas Knöchel untersuchen.
Zuallererst einmal zurrten Jamie und Deschurowa das Flugzeug ordentlich fest. Obwohl die Marsatmosphäre so dünn war, dass nicht einmal eine steife Brise das hauchzarte Segelflugzeug hochheben würde, gingen sie angesichts eines Mammut-Staubsturms, der mit jedem Tag größer wurde, kein Risiko ein und sorgten dafür, dass das Flugzeug gut vertäut war.
Nachdem sie Fuchidas Probenbehälter zur Luftschleuse der Kuppel getragen hatten, sagte Stacy: »Ich sollte das Flugzeug überprüfen und mich vergewissern, dass alle Systeme ordnungsgemäß abgeschaltet sind.«
»Okay«, sagte Jamie. »Ich bringe Mitsuos Behälter rein.«
Gleich hinter der Luke der Luftschleuse wartete Trudy Hall begierig auf Fuchidas Proben. Sie eilte mit ihnen ins Biologielabor, während Jamie sich daranmachte, seinen Raumanzug abzulegen.
Vijay kam zu den Spinden, als Jamie gerade den Helm abnahm.
»Was ist mit Mitsuos Knöchel?«, fragte er.
»Böse verstaucht, aber kein Bruch, nicht mal ein Haarriss.«
»Gut«, sagte Jamie und zog seine Handschuhe aus.
Sie sah ihm einen Moment lang schweigend zu, dann verzogen sich ihre Lippen zu einem neckischen kleinen Lächeln. »Brauchst du Hilfe beim Ausziehen?«, fragte sie.
Jamie merkte, wie er die Stirn runzelte. Sie hatte eine Art, ihn in Verlegenheit zu bringen, die ihn … nun ja, verlegen machte.
»Ich falle schon nicht über dich her, Jamie«, sagte sie leise, während sie ihm half, das feste Oberteil des Anzugs über den Kopf zu heben.
»Schade«, hörte er sich murmeln.
»Du entwickelst ja tatsächlich Humor!«
»With a little help from my friends.«
»Dann besteht noch Hoffnung für dich, Kamerad.«
Er setzte sich auf die Bank und beugte sich vor, um die Stiefel aufzumachen. Vijay ließ sich zu seinen Füßen auf die Knie nieder, um ihm zu helfen, aber er gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie das bleiben lassen sollte.
»Zu provozierend«, sagte er. »Ich würde das Unterteil nicht mehr abkriegen.«
Sie machte einen Moment lang große Augen, dann brach sie in Gelächter aus. Jamie grinste zurück und begann dann selbst zu lachen.
»Es ist zweifelsfrei eine andere Spezies!« Trudy Hall sprudelte geradezu über vor Freude. Selbst Fuchida gestattete sich ein breites Zahnpastalächeln auf seinem normalerweise ausdruckslosen Gesicht.
»Ares olympicus«, sagte er. »Wir haben beschlossen, sie so zu nennen.«
Die sechs Forscher saßen mit ihren Essensschalen um den Tisch in der Messe. Gleich nachdem Fuchida und Hall aus dem Biologielabor gekommen waren, hatten sie verkündet, dass Mitsuos Gesteinsproben vom Olympus Mons Bakterienkolonien enthielten, die gewisse Ähnlichkeiten mit den von Craigs Tiefenbohrer in der Nähe der Kuppel heraufbeförderten Bakterien aufwiesen, sich aber auch signifikant von ihnen unterschieden.
»Warum nennt ihr sie nicht nach dem Entdecker?«, fragte Stacy Deschurowa. »So macht man das doch normalerweise, oder?«
Fuchida verneigte sich leicht. Hall erklärte: »Brumado und Malater haben mit Ares marineris, der Flechte, die sie auf dem Boden des Canyons entdeckt haben, den Präzedenzfall geschaffen.«
»Ja, aber der Canyon ist nach der Mariner-Sonde benannt, die ihn entdeckt hat«, warf Rodriguez ein.
»Tommy ist enttäuscht, weil wir die Flechte nicht nach ihm benannt haben«, spöttelte Hall.
Rodriguez' ohnehin schon dunkle Gesichtsfarbe wurde noch etwas dunkler.
»Aber im Ernst«, fuhr die englische Biologin fort, »ich finde, es ist eine gute Idee, die neu entdeckten Arten nach den Orten zu benennen, wo man sie gefunden hat, statt nach den Entdeckern.«
»Vor allem, weil du die Entdeckung nicht gemacht hast«, stichelte Vijay.
Trudy zischte sie aus.
Nach dem Abendessen ging Jamie in seine Unterkunft und fuhr wie üblich den Computer hoch, um sich die eingegangene Post anzusehen. Größtenteils das übliche Zeug –
darunter eine weitere Anfrage des Vorsitzenden des Geologieausschusses nach der stratigraphischen Analyse, die Dex hatte anfertigen sollen –, aber auch eine persönliche Botschaft von Pete Connors.
Jamie fragte sich, was der ehemalige Astronaut wollte. Er erledigte zunächst die Routinesachen und holte dann Connors' dunkles, melancholisches Gesicht auf den Bildschirm seines Laptops.
»Hab ein paar beunruhigende Nachrichten für dich, alter Freund«, sagte Connors ohne Einleitung. »Dr. Li zufolge ist der alte Trumball auf dem Kriegspfad und versucht, dich als Missionsleiter abzuschießen. Li fürchtet, die Finanzierung der nächsten Expedition könnte gefährdet sein, wenn das IUK sich seinen Wünschen nicht fügt. Ich weiß, du kannst da nicht viel tun, aber Li fand, dass du es wissen solltest, und ich bin ganz seiner Meinung. Tut mir Leid, dass ich dich mit diesem Mist belasten muss, Jamie, aber ich glaube, es ist besser, wenn du darüber Bescheid weißt, als wenn es dich unvorbereitet trifft.«
Jamie lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück und starrte geraume Zeit nur Connors' auf dem Bildschirm des Laptops eingefrorenes Gesicht an. Pete sieht nicht besorgt aus, dachte er. Sondern vor allem wütend.
Und was empfinde ich?, fragte sich Jamie. Gar nichts, lautete die Antwort. Keine Wut, keine Besorgnis, nicht einmal Ärger. Nichts. Überhaupt keine emotionale Reaktion.
Es war alles so weit weg, hundert Millionen Kilometer weit weg von allem, was er berühren, schmecken oder riechen konnte. Über hundert Millionen Kilometer.
Der alte Trumball ist also unzufrieden mit mir. Höchstwahrscheinlich, weil ich Dex erlaubt habe, auf diese Exkursion zu gehen. Wenn sie in einen Staubsturm geraten, wird er völlig ausrasten.
Na und, dachte Jamie. Dann nimmt er mir halt den Titel weg. Was macht das schon aus? Er denkt wie ein weißer Mann, er glaubt, dass es mir auf den Titel ankommt. Er hat nicht den blassesten Schimmer, wie die Dinge hier laufen.
Der Titel ist unwichtig; er bedeutet nahezu gar nichts. Wir arbeiten hier wie eine Familie, wie eine Gruppe von Brüdern und Schwestern in der Wildnis, die aufeinander angewiesen sind. Hier geht's nicht um eine Stellenbeschreibung, die irgendein Bürohengst auf der Erde abgefasst hat.
Er schaltete den Computer aus, stemmte sich hoch und ging zur Messe. Eine gute Tasse Kaffee und dann mal wieder ordentlich schlafen.
Vielleicht sollte ich mich noch mal mit Dex und Possum in Verbindung setzen, bevor ich schlafen gehe. Er entschied sich dagegen. Ihr Abendbericht hatte keinen Anlass zur Sorge gegeben. Die Brennstoffzellen waren immer noch nicht in Ordnung, aber das war nichts Neues. Der Rover schnurrte problemlos dahin; sie kamen sogar recht gut voran.
Solange der Sturm unterhalb des Äquators bleibt, wird ihnen nichts passieren.
Vijay und Trudy saßen am Esstisch und hatten die Köpfe zusammengesteckt, als würden sie irgendwelche Geheimnisse austauschen – oder Klatsch und Tratsch. Sie verstummten abrupt, als sie Jamie kommen sahen.
Die Kaffeemaschine war so gut wie leer. Jamie bekam eine halbe Tasse lauwarmen, entkoffeinierten Kaffee heraus, dann begann das rote Warnlämpchen zu blinken.
»Die Regel lautet«, erinnerte ihn Vijay von ihrem Platz am Tisch aus, »dass derjenige, der die letzte Tasse trinkt, die Maschine sauber machen muss.«
»Ich weiß«, sagte Jamie trübselig. »Ich war schon oft genug derjenige, welcher.«
Trudy entschuldigte sich und machte sich auf den Weg zu ihrer Kabine. Vijay stand auf und kam zu Jamie, als dieser die Kaffeemaschine aus rostfreiem Stahl im Waschbecken ausspülte und dann den Geschirrspüler öffnete. Er war immer noch mit dem Geschirr vom Abendessen gefüllt.
»Ich räume ihn aus«, erbot sich Vijay freiwillig. »Trink du deinen Kaffee, bevor er kalt wird.«
»Der ist sowieso nicht sonderlich warm«, brummelte Jamie.
Während sie Plastikteller aus dem Geschirrspüler holte, fragte Vijay beiläufig: »Na, wie läuft's denn so, Kamerad?«
»Oh, prima. Der alte Trumball will mich feuern, aber ansonsten ist alles bestens.«
»Wie bitte?«
Er erzählte ihr von den Neuigkeiten von der Erde. Vijays normalerweise fröhliche Miene verdunkelte sich, als er ihr erklärte, was der ältere Trumball tat.
»Das kann er nicht«, sagte sie, als er fertig war.
»Vielleicht doch.«
»Wir lassen es nicht zu. Wir akzeptieren es nicht.«
Jamie bückte sich, um die Gabeln und Löffel aus dem Korb zu räumen. Als er sich wieder aufrichtete, sagte er:
»Im Grunde ist es egal.«
»Egal? Willst du nicht …?«
Er legte ihr eine Fingerspitze auf die Lippen und brachte sie damit zum Schweigen. »Es ist mir egal, was für einen Titel ich habe, Vijay. Wir sind hier, und wir tun das, wozu wir hergekommen sind. Der alte Trumball kann die Organisationsstruktur umbauen, so viel er will, das hat hier nichts zu bedeuten.«
»Aber er wird Dex die Leitung übertragen wollen!«
»Na und?«
»Ist dir das auch egal?«
»Ziemlich. Wenn jemand anders die Aufgaben des Leiters übernimmt, kann ich nämlich zum Canyon fahren und mich ausführlich in dem Dorf umsehen.«
»Sofern der neue Leiter es erlaubt«, sagte sie.
»Wie will er mich daran hindern?«
Ihre Augen wurden groß. Sie starrte Jamie einen langen Moment an, dann zeichnete sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln ab. Jamie stand schweigend vor ihr und badete in dessen Wärme.
»Das klingt schon besser«, meinte Vijay schließlich. »Ich dachte schon, du würdest dich einfach von denen unterbuttern lassen.«
»Wohl kaum«, sagte er. »Ich bin ein Alpha-Männchen, weißt du noch? Wir Alpha-Männchen lassen uns von niemandem unterbuttern.«
Er streckte ihr die Hand hin, sie ergriff sie, und sie gingen zusammen zu Jamies Kabine.
MORGEN: SOL 56
»Menschenskind, da isser!«
Wiley Craig zeigte mit der rechten Hand hin, während er die linke am Lenkrad behielt.
Dex Trumball spähte mit zusammengekniffenen Augen in die helle Morgensonne. Weit entfernt, am rauen, zinnoberroten Horizont, sah er ein hoch aufragendes, glänzendes Gebilde aus Metall, das in der Marslandschaft völlig fremdartig wirkte. Der Rover pflügte mit Höchstgeschwindigkeit durch ein Geröllfeld, seine dünnen, federartigen Räder holperten über die Steine und schüttelten sie so heftig durch, dass sie sich beide in den Cockpitsitzen angeschnallt hatten.
»Wir sind zu weit nach Norden abgekommen, Wiley«, sagte Trumball. »Es wird uns einen halben Tag kosten, dorthin zu kommen.«
Craigs stoppelbärtiges Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, das seine weit auseinander stehenden Zähne entblößte. »Is doch egal, wie weit es noch is; er sieht toll aus, findste nich?«
Dex nickte und gab zu: »Ja, sieht wirklich toll aus.«
Der Staubsturm in der südlichen Hemisphäre war dem Wetterbericht der letzten Nacht zufolge endlich abgeflaut.
Craig hatte seine Erleichterung deutlich zum Ausdruck gebracht. Trumball war zwar genauso dankbar, dass sie von dem Sturm verschont bleiben würden, gab sich jedoch viel cooler.
»Selbst wenn er den Äquator überquert hätte, hätten wir ihn abhängen können.«
»Ich weiß nich, Dex«, hatte Craig nüchtern gesagt. »Diese Stürme dauern manchmal Wochen.«
»Nicht in dieser Jahreszeit.«
»Mhm. Und in Kalifornien regnet es nie.«
Trumball stand auf und schwankte nach hinten zu den Ausrüstungsborden in der Nähe der Luftschleuse, taumelte von einem Haltegriff zum nächsten, während Craig den Rover durch das Geröllfeld auf ebeneres, etwas höher gelegenes Gelände lenkte. Der Generator nahm vor seinen Augen Gestalt an, ein hoher Zylinder aus poliertem Aluminium, der das Licht der Morgensonne einfing. Er stand auf drei dünnen Metallbeinen, und die Schubdüsen der drei Raketentriebwerke ragten unter der Gehäuseschürze der Trägerrakete hervor.
»Na los«, rief Dex vom hinteren Ende des Rovermoduls,
»gib ein bisschen Stoff. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Aber auch kein Rad«, konterte Craig. »'ne halbe Stunde mehr wird uns nicht umbringen.«
In sich hineingrummelnd, überprüfte Trumball die Videoausrüstung. Die Außenkameras zeichneten alles auf; die Bilder würden nicht nur eine Goldgrube für Geologen sein, die den Mars erforschten, sondern auch großartiges Hintergrundmaterial für die Virtual-Reality-Touren abgeben, die Dex zur Erde ausstrahlen würde.
Als Craig den Rover unmittelbar neben dem Generator stoppte, hatte Dex bereits seinen Raumanzug an und wollte in die Luftschleuse treten.
»Moment noch, Kumpel«, rief Craig ihm zu. »Du gehst nicht raus, ohne überprüft worden zu sein.«
»Nun hör aber auf, Wiley. Ich bin die Checkliste selbst durchgegangen. Lass mich in Ruhe mit dieser Hühnerkacke!«
Craig ließ sich jedoch nicht davon abbringen. Er checkte Trumballs Anzug schnell, aber gründlich durch und erlaubte ihm dann, nach draußen zu gehen.
»Ich schreie, wenn ich angezogen bin, dann kommste wieder rein und checkst mich durch.«
»Ja, ja.«
Der Generator tuckerte vor sich hin, saugte Wasser aus der Leitung, die er, ferngesteuert von Craig, durch die Permafrostschicht gebohrt hatte, sog die dünne Marsluft ein und zerlegte sie automatisch in ihre Komponenten.
Als Craig durch die Luftschleuse hinausging und auf den rostigen Boden trat, hatte Trumball bereits festgestellt, dass der Methantank und der Wassertank nahezu randvoll waren.
»Na prima«, sagte Wiley. »Jetzt können wir unsere Tanks füllen.«
Es dauerte über eine Stunde. Während Craig mit den Schläuchen jonglierte und dabei die Anzeigen im Auge behielt, schickte Dex eine VR-Show nach Tarawa: Die unerschrockenen Forscher, die sich ihren Weg durch die Marswildnis bahnen, beim Auftank-Rendezvous mit dem Generator. Auf zum Pathfinder!
Nachdem sie wieder in den Rover gestiegen waren, entledigte sich Dex in aller Eile seines Anzugs und ging nach vorn ins Cockpit. Er ließ den Blick kurz über die Kontrolltafel schweifen und sah, dass alles im grünen Bereich war, bis auf das rote Licht der Brennstoffzellen. Das kriegen wir auch noch auf Grün, sagte er sich. Sobald Wiley genug Wasser elektrolytisch zerlegt hat, dass wir sie mit Wasserstoff beschicken können.
Bei Sonnenuntergang waren sie schon wieder auf dem Weg zum Ares Vallis. Der Generator war hinter dem Horizont verschwunden. Dex saß noch immer am Lenkrad, während Craig hinten war und an den Brennstoffzellen herumbastelte.
»Wie machen sie sich?«, rief Trumball über die Schulter hinweg.
Craigs erbittertes Seufzen war selbst vorne im Cockpit zu hören. »Leak-proof-Schweißnähte, du dicke Scheiße«, schimpfte er.
»Was ist los?«
»Die verdammten Dewar-Gefäße hier sollen flüssigen Wasserstoff festhalten«, sagte Craig und stupste den rostfreien Stahlzylinder auf dem Boden des Rovers mit einem gestiefelten Zeh an.
»Und?«
»Na ja, die verdammten Schweißnähte an den Dingern lecken wie 'n Sieb!«
»Lecken sie immer noch?«
»Isst der Papst Spaghetti?«
»Wie schlimm ist es?«
Craig stapfte zum Cockpit und glitt auf den rechten Sitz.
»Muss ein paar Berechnungen anstellen. Sieht aber nich gut aus, das kann ich dir auch ohne Computer sagen.«
Trumball sah, dass Craig eher verstimmt als besorgt war.
Wir kommen auch ohne die Brennstoffzellen klar, dachte er.
Zum Teufel, wir kommen jetzt schon eine ganze Woche ohne sie klar. Trotzdem, es wäre gut, wenn wir dieses verdammte rote Licht endlich wegkriegen würden.
»Die neuesten Brennstoffzellen auf der Erde haben Nanoröhrenfäden, um den Wasserstoff zu speichern«, brummte Craig. » Nanoröhren funktionieren, Partner. Die saugen molekularen Wasserstoff auf wie 'n Schwamm und halten ihn so fest wie 'n Schraubstock. Aber wir haben bloß diese verdammten undichten Dewars.«
Die Sonne näherte sich dem Horizont, sah Dex. Ein dünner Wolkenfetzen hoch oben reflektierte bereits strahlende rote Glanzlichter.
»Wir kriegen 'nen wunderschönen Sonnenuntergang, Wiley.«
Craig blickte vom Computerdisplay der Kontrolltafel auf.
»Ja. Hübsch. Erinnert mich an Houston. Da hatten wir immer supertolle Sonnenuntergänge, wegen des ganzen Drecks, den die Raffinerien in die Luft gepustet haben.«
Trumball lachte. »Hier gibt's keine Fabriken.«
»Nein, aber …« Craig verstummte und verfiel in nachdenkliches Schweigen.
»Was ist, Wiley?«
»Die Wolken da.«
In diesem Moment läutete die Kommunikationsglocke.
Trumball tippte auf die EIN-Taste, und Stacy Deschurowas düsteres Gesicht erschien auf dem Bildschirm.
»Der neueste Wetterbericht«, sagte sie mit besorgter Miene. »Ein neuer Staubsturm hat sich gebildet, diesmal in der nördlichen Hemisphäre.«
»Wo?«, fragte Trumball.
»Ihr fahrt genau darauf zu.«
ABEND: SOL 56
Jamie sah sich die Wetterkarte auf dem Bildschirm an. Er hatte die Position von Trumballs und Craigs Rover und ihre Route zum Pathfinder darüber gelegt.
Der Sturm würde direkt über sie wegziehen, sah er.
»Was willst du tun?«, fragte Stacy Deschurowa von ihrem Platz an der Kommunikationskonsole aus.
Jamie sah sie an. Sie wirkte besorgt.
»Sie haben über die Hälfte der Strecke zum Pathfinder hinter sich«, dachte er laut. »Wenn ich ihnen sage, sie sollen umkehren und zum Generator zurückfahren, holt der Sturm sie trotzdem ein.«
»Du meinst also, sie sollten einfach weiterfahren?«
»Der Sturm zieht von Osten nach Westen; sie fahren von Westen nach Osten. Sie könnten durch ihn hindurchfahren.«
»Vorausgesetzt, sie können überhaupt fahren, wenn der Sturm zuschlägt.«
»Wenn nicht, müssen sie eben stillsitzen, bis er über sie weggezogen ist.«
Deschurowa nickte. Ihre normalerweise trübsinnige Miene war jetzt eindeutig missmutig.
»Wenn wir nur vorhersagen könnten, wie groß der Sturm werden wird«, sagte Jamie leise. »Verdammt! Wir erforschen das Marswetter jetzt seit über zwanzig Jahren und kriegen immer noch keine passable Vorhersage zustande!«
Stacy grinste matt. »Das Wetter auf der Erde wird schon seit zweihundert Jahren erforscht, und selbst dort kriegen die Meteorologen immer noch keine passable Vorhersage zustande, Jamie.«
»Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte er und erinnerte sich an den Sturm, den er selbst überstanden hatte. »Wenn sie alle Luken dichtmachen, wird ihnen schon nichts passieren.«
»Aber wenn der Sturm nun wächst? Es dauert Wochen, bis die großen sich legen … manchmal sogar Monate.«
Mit einer Grimasse sagte Jamie: »Der hier sieht nicht so schlimm aus. Bis jetzt.«
Deschurowa konterte: »Der in der südlichen Hemisphäre hat eine volle Woche gedauert.«
»Ich weiß«, gab er zu und starrte wieder auf die Wetterkarte, als könnte er sie zwingen, ihre Geheimnisse preiszugeben, wenn er sie nur finster genug ansah.
Deschurowa verstummte und ließ Jamie seine Gedanken allein zu Ende denken. Schließlich stand er auf und sagte:
»Wir werden's beim Abendessen ausdiskutieren. Sollen alle ihre Ideen einbringen.«
Brauchbare Ideen hatte niemand. Sie erörterten die Lage beim Essen, kauten eine Möglichkeit nach der anderen durch. Es lief alles auf folgende Alternative hinaus: Entweder ließ man Craig und Trumball in den Sturm fahren, oder man befahl ihnen, zum Generator zurückzukehren, sodass der Sturm sie einholen würde.
»Sie sind viel zu weit draußen, als dass sie rechtzeitig wieder hier wären, bevor der Sturm sie erreicht«, meinte Rodriguez. »Sie geraten so oder so in ihn rein.«
»Dex wird sich weigern umzukehren«, sagte Vijay mit felsenfester Überzeugung. »Er wird unter allen Umständen weiterfahren wollen.«
»Wenn wir nur wüssten, wie groß der Sturm werden wird«, klagte Trudy. »Wir versuchen, sozusagen im Blindflug eine Entscheidung zu treffen, nicht wahr?«
»Der Sturm wird wachsen«, prophezeite Fuchida. »Er könnte uns sogar hier erreichen.«
»Hier?« Trudy schaute auf einmal erschrocken drein.
»Es ist nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich«, ergänzte Fuchida. Er hatte sein schlimmes Bein auf einen leeren Stuhl gelegt. Der Knöchel war fest mit einem elastischen Verband umwickelt.
»Bist du auch Meteorologe?«, fragte Stacy den japanischen Biologen, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ja, bin ich«, erwiderte Fuchida würdevoll. Dann fügte er hinzu: »Wenn ich das Meteorologieprogramm in meinem Laptop aufrufe.«
»Das größte Problem sind die Solarzellen«, bemerkte Rodriguez. »Wenn der Staub sie bedeckt, verliert der Rover seine zentrale Energiequelle.«
»Dann schalten sie auf die Batterien um«, meinte Hall.
»Für wie lange? Denk dran, ihre Brennstoffzellen arbeiten nicht richtig. Ihr Reservestromsystem ist unzuverlässig.«
Trudy machte ein überraschtes Gesicht. »Das hatte ich vergessen.«
»Sie halten nicht mehr als achtundvierzig oder höchstens fünfzig Stunden im Dunkeln durch«, sagte Rodriguez.
»Sie können die Zeitspanne verlängern, wenn sie den Stromverbrauch reduzieren«, sagte Jamie.
»Wie sehr? Sie müssen die Heizung in Gang halten, und die verbraucht den meisten Saft.«
Stacy Deschurowa sagte: »Wenn sie zum Generator zurückfahren, können sie die Brennstoffzellen so oft auffüllen wie nötig.«
»Das stimmt«, sagte Jamie und stemmte sich vom Tisch hoch. »Aber mein Instinkt sagt mir, dass ich sie weiterfahren lassen sollte; es ist der kürzeste Weg aus dem Sturm.«
»Außer wenn der Sturm viel größer und stärker wird«, wandte Hall ein.
»Wenn er so stark wächst, sind sie in Schwierigkeiten, ganz gleich, was sie tun.«
»Und der Staub könnte die Solarzellen beschädigen«, setzte Rodriguez düster hinzu. »Dadurch könnten sie so in Mitleidenschaft gezogen werden, dass sie nicht mehr genug Energie für den Rover liefern können, selbst wenn der Sturm vorbei ist.«
»Na, das ist ja ein entzückender Gedanke«, sagte Hall.
Die anderen nickten bedrückt.
Jamie ging wieder ins Komrnunikationszentrum und setzte sich an die Hauptkonsole. Die anderen schoben sich alle hinter ihm hinein. Als er den Rover rief, spürte Jamie die Hitze und die Anspannung in der kleinen Kabine. Zu viele Körper, die sich eng zusammendrängten. Zu viele Ängste, die immer größer wurden.
Der Mars ist eine sanfte Welt, rief er sich ins Gedächtnis, während er darauf wartete, dass der Rover sich meldete. Sie will uns keinen Schaden zufügen.
So ist es, erwiderte die andere Seite in ihm. Außer wenn man etwas Dummes tut, zum Beispiel, indem man dreitausend Klicks von zu Hause entfernt in einen Staubsturm gerät.
Craigs strubbeliges Gesicht füllte den Bildschirm. Soweit Jamie sehen konnte, fuhr er den Rover immer noch durch die länger werdenden Schatten des hereinbrechenden Abends.
Jamie erörterte die Lage und die beiden Alternativen mit Craig. Dann fragte er: »Possum, was meinst du? Welche Richtung willst du einschlagen?«
Bevor Craig antworten konnte, drehte Dex Trumball die Kamera zu sich und sagte: »Wir fahren weiter! Umzukehren hat doch keinen Sinn.«
Geduldig sagte Jamie: »Dex, ich habe Possum gefragt, nicht dich. Er hat die Leitung.«
»Wiley und ich sind einer Meinung«, beharrte Trumball.
»Wir wollen weiterfahren und zusehen, dass wir aus diesem Sturm rauskommen. Zurückzufahren wäre bloß Zeitverschwendung.«
»Es wäre womöglich sicherer«, sagte Jamie. »Ihr könntet bis zum Generator kommen, bevor der Sturm euch einholt, und ihn dort aussitzen, wo ihr Treibstoff, Wasser und Sauerstoff habt.«
»Wir fahren weiter!«, fauchte Trumball.
»Possum, was hast du dazu zu sagen?«, fragte Jamie erneut.
Das Kamerabild schwenkte wieder zu Craigs Hängebackengesicht. »Erstens wär's mir lieber, ihr würdet mich Wiley nennen statt Possum. Zweitens stimme ich Dex zu: Fahren wir weiter und sehen wir zu, dass wir durch diese Waschküche durchkommen.«
Jamie saß ein paar Augenblicke schweigend da und verdaute das. Er spürte die nervösen Bewegungen der anderen hinter sich.
»Bist du sicher?«, fragte er, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
»Ja«, antwortete Craig.
Es wäre ungefährlicher für sie, wenn sie beim Generator kampieren würden, sagte sich Jamie. Aber wenn der Sturm eine Woche oder länger dauert, geht ihnen der Proviant aus, und dann müssen sie zurückkommen – ohne die Pathfinder-Sonde. Die ganze Reise wäre umsonst gewesen. Das ist es, was so an Dex nagt. So weit gefahren zu sein und dann mit leeren Händen zurückzukommen. Das treibt ihn vorwärts.
Andererseits, dachte er, was ist, wenn sie da draußen ums Leben kommen? Sind die alten Gerätschaften so wichtig, dass ich ihnen erlauben darf, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen?
Trumball schwenkte die Kamera wieder zu seinem Gesicht. Sein struppiger, dunkler Bart verlieh ihm ein aufsässiges, streitlustiges Aussehen, als wollte er Jamie geradezu herausfordern, ihm zu widersprechen.
»Na?«, fragte er. »Wie lauten deine Befehle, Chief?« Die sarkastische Betonung, die er auf das Wort Befehle legte, war nicht zu überhören.
»Fahrt weiter«, hörte Jamie sich sagen. »Viel Glück.«
Trumball machte ein überraschtes Gesicht.
Vijay folgte Jamie in seine Kabine, als sie alle der Reihe nach das Kommunikationszentrum verließen. Ach, was soll's, dachte Jamie. Wenn die anderen noch nicht gemerkt haben, dass wir miteinander schlafen, dann wissen sie's jetzt.
Später, als sie eng aneinander gekuschelt auf der schmalen Liege lagen, flüsterte sie ihm zu: »Du hast das Richtige getan, Jamie.«
»So?«
»Dex hätte den Befehl zur Umkehr nicht befolgt. Er hätte sich dir offen widersetzt.«
Jamie seufzte im Dunkeln. »Ja, das glaube ich auch.«
»Es war klug, einen offenen Konflikt zu vermeiden.«
»Vielleicht.«
»Meinst du nicht?«
»Es ist nicht wichtig«, sagte er.
»Aber ja doch!« Sie stützte sich auf einen Ellbogen und schaute auf ihn herunter. »Deine Autorität sollte nicht in Frage gestellt werden.«
»Das macht mir keine Sorgen, Vijay.«
»Nein? Was dann?«
Er schaute in ihr hübsches Gesicht hinauf, dessen Umrisse sich im schwachen Schein der Digitaluhr abzeichneten. So schön, so ernst, so besorgt um ihn.
»Mich beunruhigt, dass ich es möchte, dass Dex wegbleibt.
Weg von dir. Weg von uns.«
MORGEN: SOL 58
»Der Wind nimmt zu«, sagte Wiley Craig.
Dex lenkte den Rover konzentriert und zielstrebig durch ein Geröllfeld voller Felsbrocken, die groß genug waren, um Panzer zu stoppen. Während er zwischen minivangroßen Blöcken hindurchmanövrierte, flehte der Geologe in ihm darum, hinausgehen und nachsehen zu dürfen, woraus sie bestanden. Keine Zeit, sagte sich Dex mit einem Blick zum dunkler werdenden Himmel. Die wissenschaftliche Arbeit erledigen wir auf dem Rückweg.
Craig sah sich die Messdaten auf dem Bildschirm an. Der Wind wehte jetzt mit fünfundachtzig Knoten: Hurrikanstärke auf der Erde, in der dünnen Marsatmosphäre jedoch nur ein laues Lüftchen. Aber die Windgeschwindigkeit nahm zu, und am Horizont vor ihnen hing eine unheildrohende dunkle Wolke tief über dem Land.
»Was machen die Brennstoffzellen?«, fragte Dex, ohne den Blick vom Gelände vor ihnen zu nehmen.
Craig tippte auf ein paar Tasten an der Kontrolltafel.
»Sind runter auf dreiundsechzig Prozent.«
»Wir könnten auch gleich auf sie umschalten, sobald die Solarzellen ausfallen«, sagte Trumball mit zusammengebissenen Zähnen. »Schont die Batterien.«
»Verwenden oder verschwenden«, stimmte Craig zu.
»Damit holen wir noch 'n bisschen was aus ihnen raus, bevor sie ganz hinüber sind.«
Es kostete Dex eine bewusste Anstrengung, die Kiefer voneinander zu lösen. Er hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass er Kopfschmerzen bekam. Wenn es nicht so Furcht einflößend wäre, wäre es komisch, sagte er sich. Ich lenke diese Kiste wie ein Kind bei einem Videospiel und versuche, aus diesem beschissenen Geröllfeld rauszukommen, bevor der Sturm uns erwischt.
»Irgendwelche neuen Daten über den Sturm?«, fragte er.
Craig tippte auf weitere Tasten, schaute einen Augenblick lang auf den Bildschirm und ließ dann einen gewaltigen Seufzer hören. »Er wird größer.«
»Toll.«
Wir hätten zum Generator zurückfahren sollen, gestand sich Dex ein. Jamie hätte es uns befehlen sollen. Wiley hätte darauf bestehen müssen. Das ist kein Spiel; dieser Sturm könnte uns umbringen, Herrgott noch mal.
»Soll ich fahren?«, fragte Craig sanft.
Dex warf ihm einen Blick zu. »Wiley, wenn ich nicht am Steuer säße, würde ich mir die Fingernägel bis zum Ellbogen abkauen.«
Craig lachte. »Ach, zur Hölle, ganz so schlimm isses nun auch wieder nich, Dex. Ich will dir mal erzählen, wie das war, als 'n Hurrikan über uns reingebrochen ist, während wir auf 'ner Bohrinsel im Golf von Mexiko grade 'n großes Leck abdichten wollten. War ganz in der Nähe von Biloxi
…«
Dex hörte nur mit halbem Ohr zu, aber er war froh, dass Craig versuchte, die Spannung zu lindern. Es klappte natürlich nicht, aber er war dankbar dafür, dass Wiley es zumindest versuchte.
»Ein Staubsturm, sagen Sie?«
Ein jäher Schreck durchzuckte Darryl C. Trumball, als er auf den Wandbildschirm schaute. Unbewusst strich er sich mit einer Hand nervös über den kahlrasierten Schädel. Um vier Uhr nachmittags war es in Boston schon dunkel; draußen vor seinen Bürofenstern konnte er die Weihnachtsbeleuchtung an den Bäumen des Common und des Public Garden sehen.
»Ja, Sir«, antwortete Pete Connors. Sein dunkles Gesicht auf dem Wandbild schirm war sehr ernst, ja geradezu grimmig.
»Und mein Sohn fährt da hinein?«
»Ihr Sohn hat darauf bestanden, in ihn hineinzufahren, Mr. Trumball. Jamie hat ihm geraten, umzukehren und …«
»Geraten?«, blaffte Trumball. »Bei Gott, er soll die Sache da oben leiten! Was soll das heißen, geraten? Er hätte Dex den Befehl geben müssen, umzukehren!« Er schlug zur Betonung mit der Faust auf seinen Schreibtisch.
Connors schien einen Moment lang darüber nachzudenken. »Mr. Trumball«, sagte er schließlich, »Ihr Sohn ist nicht sonderlich geneigt, Befehle zu befolgen. Jamie hätte sich auf den Kopf stellen können, aber ich bezweifle, dass Dex auf ihn gehört hätte.«
»Das ist doch Unsinn!«, platzte Trumball los. »Mein Sohn ist ein Mannschaftsspieler. Meine Befehle befolgt er jedenfalls, verdammt noch mal! Dieser rothäutige Idiot, den Sie da oben haben, könnte doch nicht mal ein Team von Präriehunden leiten, geschweige denn die besten Wissenschaftler der Welt.«
»Jamie Waterman ist einer der besten Männer, die ich je kennen lernen durfte«, gab Connors ohne das geringste Zögern zurück. »Man hätte keinen Besseren zum Leiter dieser Expedition ernennen können.«
Trumball sah das Gesicht auf dem Wandbildschirm finster an.
»Der Sturm kam völlig unerwartet«, fuhr Connors in beschwichtigenderem Ton fort. »Es ist ein großer Sturm, aber wir haben auch schon größere gesehen. Wir sind ganz zuversichtlich, dass Ihr Sohn und Dr. Craig ihn überstehen werden, ohne Schaden zu nehmen.«
»Wehe, wenn nicht«, sagte Trumball und griff nach einem der reich verzierten Füllfederhalter, die er auf seinem Schreibtisch liegen hatte.
»Ganz bestimmt. Ich bin bei der ersten Expedition zusammen mit Jamie in einen Staubsturm geraten. Wir haben ihn ohne größere Probleme überstanden.«
»Wenn meinem Sohn etwas zustößt, mache ich diesen Mann persönlich dafür verantwortlich. Ist das klar? Persönlich. Ich nagle seine Eier an den nächsten Baum!«
Connors schien stumm bis zehn zu zählen, bevor er antwortete. »Dazu müssten Sie sich zunächst mit mir anlegen, Mr. Trumball. Mit mir und einer ganzen Menge anderer Leute, die absolutes Vertrauen zu Jamie haben.«
Wütend hieb Trumball mit der Faust auf die Telefonkonsole auf seinem Schreibtisch. Connors' zornglimmendes Gesicht verschwand.
»Dich krieg ich noch klein«, knurrte der alte Mann laut.
»Dich und Waterman und jeden anderen, der mir in die Quere kommt.«
Er befahl dem Stimmerkennungssystem des Telefons, Walter Laurence anzurufen. Es war an der Zeit, kurzen Prozess mit diesem Indianer zu machen. Warte nicht ab, bis Dex etwas zustößt, dann würde es zu persönlich aussehen.
Nagle ihn jetzt an die Wand.
»Er wird euer Basislager erreichen, das steht fest«, sagte der Meteorologe. »Bei seiner gegenwärtigen Wachstumsrate und Zuggeschwindigkeit wird der Sturm in zwei Tagen –
äh, ich meine in zwei Marstagen, zwei Sols – über euer Gebiet wegziehen.«
Jamie und Stacy Deschurowa sahen sich den Bericht im Kommunikationszentrum an. Der Meteorologe schien in Florida zu sitzen, vielleicht in Miami. Jamie sah Palmen und Wohntürme durch das Bürofenster hinter dem jugendlichen, aber konzentrierten und ernsten Gesicht des Mannes.
Der junge Meteorologe begann, ihnen sämtliche Daten durchzugeben, die er hatte: Die maximale Windgeschwindkeit würde bei über zweihundert Knoten liegen; die Zuggeschwindigkeit des Sturms betrug stetige fünfunddreißig Knoten; Höhe der Wolken; Staublast; opaleszente Trübung.
Viele der Zahlen waren Schätzungen oder Durchschnittswerte.
»Wir müssen uns vergewissern, dass die Flugzeuge wirklich gut festgebunden sind«, murmelte Stacy, während der Meteorologe in seinem monotonen Tonfall weiterredete.
Jamie nickte. »Und der Generator auch.« Die mathematisch-nüchterne Seite seines Gehirns wusste, dass selbst ein Zweihundert-Knoten-Wind auf dem Mars nicht genügend Kraft hatte, um den hohen Zylinder mit dem Brennstoff-und Wassergenerator umzuwerfen, wenn die Tanks voll waren. Die Marsatmosphäre war so dünn, dass der Wind hier wenig Wucht besaß. Doch die andere Seite stellte sich vor, wie der Generator umkippte, wie er umgestürzt wurde wie ein großer Baum in einem Hurrikan.
Deschurowa nickte. »Wir sollten sofort damit anfangen.«
»Tomas und ich erledigen das, was draußen zu tun ist«, sagte Jamie, sobald der Meteorologe mit seinem Bericht fertig war. »Du sorgst dafür, dass hier drin alles unter Dach und Fach ist und dass alle auf den Sturm vorbereitet sind.«
Er schob seinen fahrbaren Stuhl zu dem Bildschirm, von dem das eingefrorene, besorgte Gesicht des Meteorologen zu ihnen herausschaute, und drückte auf die Sendetaste.
»Vielen Dank für Ihren Bericht, Dr. Kaderly. Er war uns eine große Hilfe. Bitte halten Sie uns auf dem Laufenden und sagen Sie uns sofort Bescheid, wenn es bezüglich der Zugbahn des Sturms irgendwelche Veränderungen gibt.«
Dann drehte er sich zu Stacy um, die neben ihm saß.
»Schick Kaderlys Bericht an Poss … ich meine, Wiley und Dex. Dann kümmere dich darum, dass die anderen die erforderlichen Vorbereitungen für den Sturm treffen.«
»In Ordnung, Chief.«
Jamie stand auf und ging zur Luftschleuse und den Anzügen, die dort bei den Spinden warteten. Irgendwie störte es ihn nicht, wenn Stacy ihn ›Chief‹ nannte. In ihrem Ton lag kein Spott.
Während er das rostfleckige Unterteil seines Raumanzugs anlegte, dachte Jamie an Dex und Wiley, die dort draußen zwischen Xanthe und Ares Vallis waren. Sie werden mindestens zwei Sols lang im Sturm festsitzen. Ohne Reservestromsystem. Mit Hilfe der Batterien müssten sie eigentlich heil aus der Sache herauskommen, vorausgesetzt, sie beschränken den Stromverbrauch auf ein Minimum. Das heißt, sie werden anhalten und stehen bleiben müssen, bis der Sturm über sie weggezogen ist.
Ihnen wird schon nichts passieren. Wenn sie einfach die Ruhe bewahren und abwarten, werden sie den Sturm heil überstehen.
Sofern der Staub ihre Solarpaneele nicht beschädigt.
NACHMITTAG: SOL 58
»Was hältst du davon, Wiley?«, fragte Dex Trumball, sobald der detaillierte Bericht des Meteorologen durchgelaufen war.
Craig fuhr mit stetigen dreißig Klicks pro Stunde dahin.
»Wie schnell is noch mal so'n Knoten? Ich komm da immer durch'nander.«
Dex saß auf dem rechten Sitz und schaute auf den dunkler werdenden Horizont vor ihnen hinaus. »Eine Seemeile pro Stunde.«
»Wie viele normale Meilen sind das?«
»Spielt das eine so große Rolle?«
Wiley zog die Schultern hoch. »Nee, glaub nich.«
»Ungefähr eins Komma eins fünf britische Meilen.«
»Fünfzehn Prozent mehr als 'ne reguläre Meile?«
»Ganz recht.« Trumball war allmählich genervt. Was machten fünfzehn Prozent schon aus? Sie fuhren direkt in einen dicken Staubsturm hinein.
»Wird also ungefähr zwei Sols dauern, bis der Sturm über uns weggezogen is.«
»Wenn wir stehen bleiben, ja.«
Craig warf Dex einen Blick zu und schaute dann wieder nach vorn. »Willst du weiterschippern?«
»Warum nicht? Wieso fahren wir nicht weiter, solange die Solarzellen funktionieren? Nur raus aus diesem Schlamassel, so schnell es geht.«
»Hm«. Craig schien sorgfältig darüber nachzudenken.
»Die Sache is, wir sind hier grade in 'nem wunderschönen ebenen Gelände. Is 'ne echte Vergnügungsfahrt.«
Die Landschaft draußen war nicht vollständig frei von Steinen, aber viel offener und flacher als die unebene und von Felsbrocken übersäte Xanthe-Region, die sie durchfahren hatten. Der Boden war ein wenig abschüssig; er neigte sich zum Tiefland der Ares-Vallis-Region.
»Das wird eine reguläre Exkursionsroute für die Touristen, Wiley«, sagte Dex, hauptsächlich, um sich von der Unheil drohenden Wolke abzulenken, die sich vor ihnen über den Horizont ausbreitete.
»Du willst 'ne Straße bauen? Hier draußen?«
»Straße? Nicht nötig. Wir richten ein Seilbahn-System ein, wie auf dem Mond. Man stellt einfach so zirka alle hundert Meter Masten auf und spannt ein Seil dazwischen. Die Gondeln hängen am Seil und zischen nur so dahin, wuusch!«
Dex machte eine schwungvolle Handbewegung.
Craig ließ sich auf das Spiel ein. »Und das Kabel führt auch den Strom für die Gondeln, hm?«
»Genau« sagte Dex und versuchte, nicht zum Horizont zu schauen. »Die Gondeln können ein paar Dutzend Personen transportieren. Sie sind luftdicht verschlossen, wie Raumschiffe, und haben ihre eigene Luftversorgung und Heizung, genau wie der Rover hier.«
»Nur dass sie übern Boden weggleiten«, sagte Craig.
»Dadurch sind sie natürlich viel schneller. Hundert Klicks pro Stunde vielleicht.«
Ohne die Augen vom Gelände vor ihnen zu nehmen, sagte Craig leise: »So eine könnten wir jetzt prima brauchen.«
Dex schaute zur Windschutzscheibe hinaus. Dort draußen wurde es allmählich dunkel. Die Mammut-Staubwolke kam wie eine riesige Mongolenhorde von Eroberern auf sie zu und würde sie bald verschlingen. Dann würden sie orientierungslos im Dunkeln sitzen.
Er erschauerte unwillkürlich.
Jamie war mit Rodriguez draußen und band die Flugzeuge mit zusätzlichen Leinen fest, als der Anruf von Connors kam.
In seinem Raumanzug konnte er den ehemaligen Astronauten nicht sehen, sondern nur seinen Karamell-Bariton hören. Connors klang besorgt und beunruhigt.
»Er ist auf dem Kriegspfad, Jamie. Ich hab's gerade von Dr. Li gehört. Der alte Trumball hat ihn angerufen und deinetwegen einen Mordsstunk gemacht. Er ruft alle im IUK-Ausschuss an. Gott weiß, bei wem er noch rummeckert.«
Jamie hatte darum gebeten, ihm Connors' Anruf auf den privaten Kanal zu legen, sodass er sich seine Nachricht allein anhören konnte.
»Das hat mir gerade noch gefehlt«, murmelte er, während er an der Leine zog, mit der die Flügelspitze des Schwebegleiters an einer der Schrauben verankert war, die sie im Boden versenkt hatten.
Connors' Stimme fuhr über eine Distanz von mehr als hundert Millionen Kilometer hinweg fort, ohne ihn zu hören. »Ich habe selbst mit mehreren Ausschussmitgliedern gesprochen. Keiner von ihnen will dich wirklich ablösen, aber sie haben ziemliche Angst vor Trumball. Er droht offenbar damit, die Mittel für die nächste Expedition zu sperren.«
Es war gar nicht leicht, sich in dem hartschaligen Anzug aufzurichten. Jamie merkte, dass er vor Anstrengung keuchte, als er zur Kuppel hinüberschaute. Fuchida und Deschurowa waren in der Gartenkuppel und untersuchten ihre Kunststoffhaut sorgfältig auf nadelfeine Lecks oder Falten, wo der Wind angreifen und das Gewebe zerreißen konnte.
Ob die Partikel wohl genug Wucht haben würden, um die Haut der Kuppel zu durchdringen, wenn der Staub herumzufliegen begann? Unwahrscheinlich, aber die Chancen, dass die Kuppel von Meteoriten getroffen wurde, hatten ja auch eine Myriade zu eins gestanden.
Connors redete immer noch. »Ich habe ein langes Gespräch mit Pater DiNardo darüber geführt. Er ist ein verdammt guter Politiker, dieser Jesuit, weißt du das?
Er sagt, du solltest die ganze Sache einfach aussitzen.
Wahrscheinlich sei alles vorbei, sobald sich der Sturm auflöst und Trumball klar wird, dass seinem Sohn nichts passiert ist.«
Jamie nickte in seinem Helm, als er zur anderen Flügelspitze des Schwebegleiters hinüberging und dort die bereits angebrachten Leinen straffte.
»DiNardo sagt«, fuhr Connors fort, »du solltest nicht mal an Rücktritt denken, außer wenn Trumball den Druck auch nach dem Abflauen des Sturms aufrechterhält und sich abzeichnet, dass eine Mehrheit des Ausschusses mit ihm mitzieht.«
»Rücktritt?«, sagte Jamie laut. »Er denkt, ich sollte zurücktreten?«
Connors fuhr mit seinem unerfreulichen Bericht fort und erklärte Jamie noch mehrmals, es sei ihm zuwider, ihn mit diesen politischen Winkelzügen zu behelligen, er sei jedoch der Meinung, Jamie solle darüber Bescheid wissen.
Schließlich sagte er: »Tja, das ist die ganze Geschichte, bis jetzt. Ich warte auf deine Antwort. Achte darauf, dass du sie an mich persönlich schickst; dann wird sie niemand außer mir anschauen. Zumindest sollte sie niemand außer mir anschauen. Ich weiß nicht, wie viele Leute hier Trumball insgeheim Bericht erstatten.«
Das sind ja wunderbare Neuigkeiten, stöhnte Jamie innerlich.
»Also, das wär's, Kumpel. Ich warte auf deine Antwort.
Mach's gut und bis bald.«
Weit entfernt am östlichen Horizont verdunkelte sich der Himmel, sah Jamie. Oder bildete er sich das nur ein? Ich werde mal einen Blick auf die Instrumente werfen, wenn ich wieder in der Kuppel bin, dachte er. Der Sturm wird uns hier treffen, aber es ist wahrscheinlich noch zu früh, als dass man ihn schon sehen könnte. Und jetzt hab ich's noch mit einem weiteren Sturm zu tun, einem politischen Sturm auf der Erde.
Die Navajos glauben, dass Wolken die Geister der Toten sind, erinnerte sich Jamie. Kommst du mich in einer Wolke besuchen, Großvater? Oder sind es die Geister des Langen Marsches, die Rache an den Weißen nehmen wollen, die sie von ihrem Land vertrieben haben?
Er schüttelte den Kopf, um ihn von solchen irrationalen Gedanken zu befreien, und schaute dann auf das Tastenfeld des Anzugfunks an seinem Handgelenk. »Persönliche Botschaft an Pete Connors in Tarawa«, sagte er bedächtig. »Ich habe deine Nachricht bekommen, Pete. Wir machen gerade alle Luken dicht für den Sturm, deshalb habe ich keine Zeit für eine ausführliche Antwort. Ich möchte sowieso darüber nachdenken, bevor ich mich dazu äußere. Danke für die Nachricht – schätze ich. Ich melde mich wieder.«
Verdammt, dachte er, als er zum östlichen Horizont schaute und die Wolken sah. Sieht wirklich ganz so aus, als würde sich da draußen was zusammenbrauen. Vielleicht hat der Sturm an Tempo zugelegt. Das wäre gut; er würde schneller über Dex und Wiley wegwalzen, und sie hätten es eher hinter sich.
Auf dem Rückweg zur Luftschleuse der Kuppel dachte Jamie: Warum ist Trumball derart auf Hundertachtzig?
Weshalb will er mich unbedingt als Missionsleiter absetzen?
Vorurteil? Oder schlichte Bosheit? Oder ist er der Typ, der nur glücklich ist, wenn er andere zwingen kann, nach seiner Pfeife zu tanzen?
Dann hörte Jamie die leise Stimme seines Großvaters: Versetz dich in seine Lage. Finde heraus, was ihn quält.
Okay, Großvater, antwortete er stumm. Was quält den alten Mann?
Sein Sohn ist in Gefahr, kam die sofortige Antwort. Er macht sich Sorgen um Dex' Sicherheit. Das ist natürlich. Das ist gut.
Aber Trumball hat gewusst, dass die Erforschung des Mars mit Risiken behaftet ist. Vielleicht ist ihm nie in den Sinn gekommen, dass sein Sohn diese Risiken ebenso auf sich nehmen müssen würde wie wir anderen auch.
Er war durchaus dafür, dass wir die Pathfinder-Sonde bergen sollten. Aber er hat nicht gedacht, dass sein Sohn auf diese Exkursion gehen und sich in Gefahr bringen würde.
Jetzt weiß er, dass es doch so ist, und hat Angst. Er sitzt in einem Büro in Boston, und sein Sohn steckt mitten in einem Staubsturm, hundert Millionen Kilometer entfernt, und er kann nichts unternehmen. Er kann nur wütend werden und seinen Zorn auf das bequemste Ziel richten, das er finden kann: den Missionsleiter, der zugelassen hat, dass sein Sohn sich in Gefahr begibt. Auf mich. Er ist sauer auf mich, weil er nichts an der Situation ändern kann. Er ist wütend und frustriert und versucht, sein Problem auf die gleiche Art zu lösen, wie er Probleme schon immer gelöst hat: indem er denjenigen feuert, auf den er wütend ist.
Jamie holte tief Luft und fühlte, wie ihn eine ruhige Wärme durchströmte. Er hörte das leise Lachen seines Großvaters. »Du darfst einem Kunden gegenüber nie die Beherrschung verlieren«, hatte sein Großvater ihm Jahre zuvor erklärt, als Jamie noch ein kleiner Junge gewesen war, der sich über die penetranten, anstrengenden, großmäuligen Touristen ärgerte, die Al in seinem Laden anbrüllten.
»Sollen sie ruhig schreien und brüllen, das ist egal. Sobald sie sich beruhigt haben, schämen sie sich so, dass sie doppelt so viel kaufen, wie sie eigentlich wollten, nur um zu zeigen, dass es ihnen Leid tut.«
Verdammt, dachte Jamie auf dem Rückweg zur Luftschleuse. Es täte mir so gut, wenn ich sauer auf Trumball werden, ihm eine ätzende Botschaft schicken und ihm erklären könnte, er solle sich, verdammt noch mal, um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Es wäre so leicht, den alten Mann aus hundert Millionen Kilometern Entfernung zu verspotten.
Aber ich kann nicht wütend auf ihn sein, merkte er.
Ich verstehe, was er durchmacht. Ich verstehe ihn, und einen Menschen, den man versteht, kann man nicht hassen.
Als er in die Luftschleuse trat und die Außenluke zuzog, ermahnte er sich: Aber dass du ihn verstehst, heißt nicht, dass er dir keinen Schaden zufügen kann. Eine Klapperschlange versteht man auch, aber man lässt sich nicht von ihr beißen. Nicht, wenn man es vermeiden kann.
»Und das war's dann«, sagte Craig.
Er trat auf die Bremse und brachte den Rover sanft zum Stehen.
»Es ist noch nicht mal sechs Uhr, Wiley«, protestierte Dex.
»Wir können noch eine Stunde oder mehr rausholen.«
Craig erhob sich vom Fahrersitz. »Ich hab eine Idee.«
Der Himmel über ihnen war von düsterem Grau und wurde mit jeder Minute dunkler. Dex konnte jetzt den Wind hören, ein dünnes, kreischendes Geräusch, wie das Heulen einer Todesfee in der Ferne.
»Ich fahre«, erbot er sich.
»Nein«, sagte Craig und ging nach hinten zu den Liegen.
»Man muss wissen, wann man weitermachen kann und wann Schluss is. Wir sitzen jetzt still und bereiten uns auf den Sturm vor.«
»So schlimm ist es doch noch gar nicht«, beharrte Dex und drehte sich auf seinem Sitz um. »Wir könnten wenigstens noch ein kleines Stück fahren.«
Craig kniete sich hin und zog eine Schublade unter der unteren Liege auf. »Das Gefährlichste an dem Sturm is doch, dass der Sand unsre Solarpaneele beschädigen könnte, stimmt's?«
»Stimmt«, antwortete Dex, der sich fragte, was sein Partner vorhatte.
Craig zog einen Satz Bettlaken aus der Schublade.
»Also decken wir die Solarpaneele ab.«
»Abdecken? Mit Bettlaken?«
»Und allem, was wir sonst noch haben«, sagte Craig.
»Overalls, Plastikfolie und so weiter.«
»Aber wenn sie abgedeckt sind, erzeugen sie keinen Strom mehr. Dann müssen wir auf die Batterien umschalten.«
Craig leerte jetzt die Schublade unter der anderen Liege.
»Wirf mal einen Blick auf die Instrumente, Kumpel. Es wird mächtig schnell mächtig dunkel. Die Solarzellen sind schon auf unter dreißig Prozent Nominalleistung runter, stimmt's?«
Dex schaute auf die Instrumente am Armaturenbrett. Die Leistung der Solarpaneele lag knapp über fünfundzwanzig Prozent des Maximalwerts.
»Stimmt«, erwiderte er düster.
»Also sitz da nicht einfach so rum«, rief Craig beinahe jovial. »Steh auf und such das Klebeband, Herrgott noch mal.«
Das ist doch pure Beschäftigungstherapie, dachte Dex.
Wenn der Sturm erst mal richtig zuschlägt, fliegt uns das alles weg. Die Windgeschwindigkeit wird auf über zweihundert Knoten steigen. Dann reißt er alles ab, womit wir die Paneele abzudecken versuchen.
Aber er hievte sich vom Sitz hoch, schlängelte sich an Craig vorbei und begann, die Vorratsschränke zu durchsuchen, dankbar für die Chance, etwas tun zu können, statt einfach nur dazusitzen und zuzusehen, wie der Sturm auf sie zukam und sie erstickte.
ABEND: SOL 58
Wiley Craig ließ den Lichtstrahl der Lampe von der Nase bis zum Heck des Rovers wandern.
»Tja … schön isses nich grade«, sagte er, »aber es sollte seinen Zweck erfüllen.«
Für Dex, der neben ihm stand, sah das Dach des Rovers wie ein von ungeschickten Kindern eingepacktes Weihnachtsgeschenk aus. Bettlaken, Plastikfolien, eine Persenning, sogar mehrere Sätze Reserve-Overalls –
zerschnitten, damit sie eine größere Fläche abdeckten –
waren über die Solarpaneele gebreitet und gründlich verklebt worden.
»Glaubst du, das bleibt alles dran, wenn der Sturm richtig loslegt?«, fragte er.
Craig schwieg einen Moment lang, dann sagte er: »Sollte's eigentlich. Der Wind muss jetzt schon an die siebzig Knoten haben, und sie flattern nich mal.«
Dex hörte das klagende Heulen des Windes außerhalb seines Helms, leise, aber stetig und mit wachsendem Nachdruck. Er glaubte auch ein leises Knispeln an der Außenhaut seines Anzugs zu hören; es klang, als ob feine Sandkörner auf ihn einprasseln würden. Er spürte beinahe, wie der Staub an ihm kratzte.
Es war jetzt vollständig dunkel. Dex war müde und erschöpft, aber zugleich auch nervös und schreckhaft. Im Lichtschein von Wileys Lampe sah er, dass die Luft klar war; es wirbelte kein Staub herum. Jedenfalls keiner, den er sehen konnte. Dennoch war da dieses sandige Scharren an der harten Hülle des Anzugs.
»Wir hätten leicht noch eine Stunde weiterfahren können«, sagte er zu Craig..
»Schon möglich.«
»Zum Teufel, Wiley, ich bin in New England durch Schneestürme gefahren.« Trotz seiner Worte klang Dex'
Stimme zittrig, sogar in seinen eigenen Ohren.
»Wir sind hier aber nich auf der Autobahn in Massachusetts, Kumpel.«
»Und was machen wir jetzt? Rumsitzen und auf den Fingernägeln kauen?«
»Nee. Wir sammeln so viele Daten, wie wir können. Dann essen wir zu Abend. Und dann nehmen wir 'ne ordentliche Mütze Schlaf.«
Dex starrte Craig in seinem Raumanzug an. Er klingt überhaupt nicht beunruhigt. Die verdammten Brennstoffzellen lecken, die Solarpaneele sind abgeschaltet und wir müssen für Gott weiß wie lange von den Batterien leben, aber er ist so ruhig und gelassen wie jemand, der bei einem Blizzard warm und gemütlich in einer erstklassigen Skihütte sitzt.
»Okay, Boss« – Dex bemühte sich um einen lässigen Ton –
, »was soll ich machen?«
»Du gehst rein und überprüfst die Brennstoffzellen, vergewisserst dich, dass die Kommunikationssysteme alle funktionieren, und meldest dich bei der Basis, sagst ihnen Bescheid, dass wir für die Nacht alle Luken dichtgemacht haben.«
Dex nickte. Die Funksatelliten im Orbit werden unsere Position ermitteln. Wenn uns irgendwas zustößt, dachte er, wissen sie zumindest, wo sie die Leichen finden.
Craig pfiff tonlos vor sich hin, während er zur Luftschleuse zurückstapfte, um eine Geo/Met-Bake zu holen und sie draußen neben dem Rover aufzustellen. Dex ging wieder hinein und schälte sich aus seinem Anzug. Er wusste, dass er ihn anbehalten sollte, damit er sofort hinausgehen konnte, falls Craig in Schwierigkeiten geriet. Aber er war zu müde, zu ausgelaugt und schlichtweg zu ängstlich, um auch nur darüber nachzudenken.
Seine Augen brannten kurz, als er den Staub penibel von seinem Anzug saugte. Ozon, von den Peroxiden im Erdreich. Wir könnten uns mit Sauerstoff versorgen, indem wir einfach ein bisschen was von dem roten Zeug reinholen, sagte er sich.
Sobald er den Anzug abgelegt hatte, ging er ins Cockpit und starrte in die Dunkelheit hinaus. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Ich habe Angst, dachte er. Wie ein kleines Kind, das sich im Dunkeln fürchtet. Angst! Wiley ist so ruhig wie nur was, und ich geh seelisch aus dem Leim. Mist!
Da er nichts Besseres zu tun hatte, schaute er im Posteingang nach neuen Nachrichten. Der übliche Müll von der Basis, jede Menge Satellitendaten über den heraufziehenden Sturm. Und eine Botschaft für ihn, die als ›persönlich‹ gekennzeichnet war.
Nur ein Mensch im Sonnensystem würde mir eine persönliche Botschaft schicken, dachte Dex. Mit einer Mischung aus Wut und Erleichterung drückte er auf die entsprechenden Tasten und sah, wie das finstere Gesicht seines Vaters auf dem Bildschirm an der Kontrolltafel des Rovers erschien.
Genau das, was ich brauche, dachte er. Mein lieber alter Dad mit seiner befreienden Komik.
»Okay«, sagte Jamie zu den fünfen, »wir haben uns so gut auf den Sturm vorbereitet, wie wir können.«
»Possum und Dex auch«, sagte Stacy Deschurowa.
»Er möchte Wiley genannt werden«, mahnte Jamie.
Deschurowa seufzte dramatisch. »Das männliche Ego.
Vielleicht sollte ich mir auch einen anderen Namen zulegen.«
Sie saßen um den Tisch in der Messe und stocherten in ihren Schalen herum. Obwohl sie hart gearbeitet hatten, um alle Vorbereitungen für den Sturm zu treffen, schien niemand großen Appetit zu haben.
Vijay fragte leichthin: »Welchen Namen würdest du dir denn aussuchen, Stacy?«
»Nicht Anastasia«, antwortete Deschurowa rasch. »Und Nastasia auch nicht. Er ist zu … kompliziert.«
»Ich finde, Anastasia ist ein hübscher Name«, sagte Rodriguez. »Mir gefällt er.«
»Dann kannst du ihn haben«, sagte Deschurowa.
Sie lachten alle. Nervös.
Jamie überlegte, ob er ihnen von Trumballs Versuch erzählen sollte, ihm die Missionsleitung entziehen zu lassen.
Es betrifft sie ebenso sehr wie mich. Sogar noch mehr.
Trotzdem schwieg er, weil er sie nicht mit den politischen Manövern belasten wollte, die auf der Erde abliefen. Das ist eine andere Welt, sagte sich Jamie. Wir haben hier unsere eigenen Probleme, denen wir uns stellen müssen, unsere eigenen Realitäten.
Es erschien ihm alles so unwirklich, so fern und ungreifbar. Wie die Gespenstergeschichten aus seiner Kindheit, die sein Großvater sich für ihn ausgedacht hatte. Wie die Legenden vom Ersten Mann und der Ersten Frau, als die Welt noch neu gewesen war.
Das hier ist die neue Welt, erkannte er. Der Mars. Neu, sauber und voller Geheimnisse. Ich kann nicht zulassen, dass Dex und sein Vater sie in ein Touristenzentrum verwandeln. Ich kann nicht zulassen, dass sie darangehen, diese Welt zu ruinieren, wie sie die Welt des Volkes zerstört haben. Deshalb muss ich gegen sie kämpfen.
Eine neue Einsicht durchflutete ihn. Es war, als hätte er sich in einer unwegsamen Wildnis verirrt und als täte sich vor seinen Augen nun plötzlich ein Weg auf, der Weg zu Harmonie, Schönheit und Sicherheit.
Ich kann nicht zulassen, dass sie Touristen hierherbringen. Ich kann nicht zulassen, dass sie in dieser natürlichen Umwelt alles aufreißen, um Städte und Kolonien zu bauen. Bergsteiger zum Olympus Mons zu bringen.
Skipisten anzulegen. Ich muss sie bekämpfen. Aber wie?
»Hört mal!«
Jamie wandte seine Aufmerksamkeit abrupt wieder der Messe, der Kuppel und seinen fünf Forscherkollegen zu.
Das Heulen des Windes hatte eine höhere Tonlage angenommen. Er beobachtete ihre fünf Gesichter, als sie ins Halbdunkel der Kuppel hinaufstarrten. Etwas knarrte Unheil verkündend.
»Die Kuppel ist vollkommen sicher«, sagte Fuchida zu niemand Bestimmtem. »Sie ist so konstruiert, dass sie dem stärksten Wind widersteht, der je auf dem Mars gemessen wurde, mit einem großen zusätzlichen Sicherheitsfaktor.«
»Was war das dann für ein Geräusch?«, fragte Trudy. Ihre Stimme klang klein und hohl.
»Die Kuppel wird sich ein bisschen bewegen«, erklärte ihnen Jamie. »Kein Grund zur Sorge.«
»Wirklich nicht?« Trudy wirkte alles andere als überzeugt.
Jamie zeigte ihr ein Lächeln. »Wirklich nicht. Wenn sie sich nicht bewegen würde, wenn sie total starr bliebe, könnte sie bei ausreichend starker Windbelastung sogar zerreißen.«
»Wie die mächtige Eiche und der kleine Schössling«, sagte Vijay.
»Oh ja, das kenne ich auch.« Trudy wirkte ein wenig erleichtert. »Die starke Eiche stemmt sich mit aller Macht gegen den Hurrikan und wird umgeworfen, während der Schössling sich im Wind beugt und überlebt.«
»Genau.«
Deschurowa stemmte sich vom Tisch hoch. »Ich schau mir mal die Kamerabilder von draußen an. Mal sehen, ob der Staub uns schon die Sicht nimmt.«
»Gute Idee«, sagte Jamie. Er stand ebenfalls auf. »Ich rufe Wiley und Dex an und erkundige mich, wie es ihnen geht.«
Vijay wandte sich an Fuchida. »Was macht der Knöchel?«
»Nicht so schlimm«, erwiderte der Biologe. »Es tut nicht mehr besonders weh, wenn ich ihn beim Gehen belaste.«
»Dann sollten wir uns noch mal den Garten ansehen, bevor wir zu Bett gehen.«
Jamie hatte den Eindruck, dass Stacy ein Grinsen unterdrückte, als Vijay das Bett erwähnte.
Rodriguez erhob sich vom Tisch. »Komm, Trudy. Lass uns eine Partie Space Battle spielen.«
»Nicht mit dir, Tommy. Du bist mir zu gut. Außerdem kann ich mich nicht aufs Spiel konzentrieren, wenn dieser Sturm über uns ist.«
Rodriguez ging um den Tisch herum zu ihrem Stuhl.
»Komm schon, ich geb dir zehntausend Punkte Vorsprung.
Macht Spaß. Das lenkt dich vom Sturm ab.«
Sie stand auf. Widerstrebend, fand Jamie.
Er war froh, dass sie ihren Strom vom Atomgenerator bezogen, dem der Sturm nichts anhaben konnte. Er folgte Stacy ins Kommunikationszentrum und zwang sich, nicht zu Vijay zurückzuschauen.
Dex starrte auf den leeren Bildschirm an der Kontrolltafel des Rovers. Er sah dort immer noch das Gesicht seines Vaters, wie das Nachbild eines Blitzlichts auf der Netzhaut oder den bleibenden Schattenriss eines mächtigen Geistes.
Er will Jamie abschießen, dachte Dex verwundert. Er will Jamie abschießen, aber er hat kein Wort davon gesagt, wer Jamies Platz einnehmen soll.
Dex sank in den gepolsterten Sitz zurück. Seine Gedanken überschlugen sich. Wäre ich dazu imstande? Die Antwort kam sofort. Natürlich. Ich könnte diese Operation problemlos leiten. Aber würden die anderen auf mich hören? Vor allem, wenn sie dächten, ich hätte meine Beziehungen zu meinem Vater spielen lassen, um Jamie abzuservieren?
Heikle Sache, erkannte er. Doch bei der Vorstellung, zum Missionsleiter ernannt zu werden, durchflutete Dex ein warmes Gefühl des Stolzes. Sie würden auf mich hören. Ihnen bliebe gar nichts anderes übrig. Immerhin würde ich nicht nur von meinem Vater ausgewählt werden; der gesamt IUK-Vorstand würde darüber abstimmen müssen.
Wahrscheinlich würden sie auf eine einstimmige Entscheidung Wert legen.
Aber würde Dad mir die Leitung übertragen? Traut er mir so viel zu? Oder wäre es wieder mal nur ein Versuch, mich unter der Fuchtel zu behalten?
Himmelherrgott noch mal, fluchte er. Ich bin auf dem verdammten Mars, und ich muss immer noch nach seiner gottverdammten Pfeife tanzen!
Craig kam durch die Luke der Luftschleuse gestapft.
»Wird staubig da draußen«, sagte er, kaum dass er das Helmvisier hochgeklappt hatte.
Dex machte Anstalten, sich von seinem Sitz zu erheben, aber Craig rief ihm zu: »Ich komm schon klar. Wird bloß 'n bisschen dauern, bis ich den ganzen Dreck vom Anzug gesaugt hab.«
Dex ging trotzdem nach hinten und half ihm, den Tornister abzulegen. Der war ebenfalls mit einer dünnen, rosafarbenen Pulverschicht bedeckt. Sogar Craigs Helm war schmutzig.
»Wir werden in dem Zeug begraben werden«, hörte er sich sagen. Er wünschte, seine Stimme klänge nicht so zittrig.
»Sieht so aus«, sagte Craig lässig. »Die Abdeckungen auf den Paneelen halten aber ganz gut. Kann sein, dass der Wind 'ne Menge Radau macht, aber viel Druck hat er nich.«
»Das ist gut.«
Sie hatten sich gerade zum Abendessen hingesetzt, als sich die Kommunikationsanlage meldete. Dex stand auf und ging ins Cockpit. Er glitt auf den Fahrersitz und drückte auf die EIN-Taste.
Jamie Watermans kupferrotes, ernstes Gesicht füllte den Bildschirm. Das Bild war körnig und mit elektronischem Schnee durchsetzt. »Hallo, Dex. Wie geht's euch?«
»Wir essen gerade zu Abend, Chief.«
»Bei uns wird es jetzt stürmisch«, sagte Jamie. »Dem letzten Wetterbericht zufolge werdet ihr mindestens bis morgen Abend im Sturm stecken.«
Dex nickte. Er hatte den meteorologischen Bericht gesehen, hatte ihn sogar eingehend studiert.
»Wie arbeiten die Batterien?«, fragte Jamie.
»Wir benutzen momentan noch die Brennstoffzellen. Wiley hat beschlossen, erst auf die Batterien umzuschalten, wenn die Zellen erschöpft sind.«
»Kluger Schachzug.«
»Wie sieht's bei euch aus?«
Jamie schien kurz darüber nachzudenken. »Bei uns ist so weit alles in Ordnung. Wir haben die Luken dichtgemacht.
Es wird aber eine geräuschvolle Nacht werden.«
Dex ließ unwillkürlich ein spöttisches, schnaubendes Lachen ertönen. »Was du nicht sagst.«
»Die Telemetrie funktioniert jedenfalls«, sagte Jamie. »Wir kriegen gute Daten von euch.«
»Prima.«
»Die Verbindung wird aber wahrscheinlich schlechter werden, wenn sich der Staub auf euren Antennen häuft.«
»Ich weiß.« Dex war allmählich ein wenig genervt. Jamie redet nur, um sich reden zu hören, dachte er.
»Mir fällt nichts ein, was wir noch für euch tun könnten«, sagte Jamie. »Ich wünschte, ich hätte euch befohlen, beim Generator zu bleiben.«
Dex unterdrückte den Drang, ich auch zu sagen. Stattdessen beugte er sich näher zu Jamies Gesicht auf dem Bildschirm und sagte so fröhlich, wie er konnte: »Wir kommen hier draußen schon klar. Und wenn der Sturm sich legt, sind wir viel näher beim Standort des Pathfinders.«
Wieder schwieg Jamie ein paar aufreizende Sekunden lang. Schließlich sagte er: »Es ist zu spät, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was man anders hätte machen können. Viel Glück, Dex. Sag Wiley alles Gute von mir.«
»Mache ich. Wir melden uns morgen früh.«
»Wenn die Antennen dann noch funktionieren.«
»Wenn sie mit Staub bedeckt sind, machen wir sie sauber«, erwiderte Dex kess.
»Gut. Okay. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Dex hieb auf die AUS-Taste. Herrgott, er macht ein Gesicht, als würde er nicht damit rechnen, uns wiederzusehen.
Dann dachte er: Vielleicht ist es das, was Jamie will. Mich loswerden. Nein, so ist er nicht. Aber so würde ich an seiner Stelle empfinden.
TAGEBUCHEINTRAGUNG
Ich hasse diesen Sturm. Die anderen tun alle so, als hätten sie keine Angst, aber ich weiß es besser. Sie haben genauso viel Angst wie ich, aber sie wollen es nicht zugeben. Sie schauen mich lächelnd an und machen tapfere Mienen, aber sie sehen, wie viel Angst ich habe. Der Wind heult da draußen, und sie tun alle so, als würden sie es nicht hören. Und wenn ich ihnen den Rücken zukehre, wenn sie denken, ich könnte sie nicht sehen, lachen sie über mich. Ich höre, wie sie über mich lachen, auch wenn der Wind noch so laut heult.
STÜRMISCHE NACHT
Zu Rodriguez' Überraschung war er derjenige, der sich nicht richtig auf das Space Battle-Spiel konzentrieren konnte.
Hin und wieder richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Computerbildschirm, aber jedes Mal, wenn der Wind draußen aufkreischte, schweiften seine Gedanken ab. Die Kuppel schien zu knarren und zu ächzen wie ein altes hölzernes Segelschiff in einem Sturm; Rodriguez glaubte beinahe spüren zu können, wie der Boden erbebte und auf und ab schwang.
Keine Furcht, sagte er sich. Aber ihm war ganz schön mulmig zumute.
Er und Trudy Hall saßen nebeneinander im Biologielabor.
Zwei Highspeed-Joysticks waren an den piepsenden, schnatternden Computer angeschlossen. Der Bildschirm zeigte schnittige Kampfraumer, die vor einem Hintergrund aus Sternen und Planeten wilde Manöver ausführten und einander dabei mit Laserstrahlen beschossen. Schiffe explodierten mit gewaltigen akustischen Donnerschlägen.
Als er schließlich die dritte Runde des Computerspiels verloren hatte, schob Rodriguez seinen Stuhl zurück und erklärte: »Das reicht. Ich gebe auf.«
»Du hast mich gewinnen lassen«, sagte Trudy. Ihr Lächeln war eher erfreut als vorwurfsvoll.
Er schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Ich hab mir Mühe gegeben. Ich konnte mich nicht konzentrieren.«
»Wirklich?«
Rodriguez ließ die Schultern hängen. »Wirklich.«
»Beunruhigt wegen dem Sturm?«
Er zögerte, dann gab er es zu: »Ist irgendwie albern, ich weiß. Aber ja, er macht mir Angst – ein bisschen.«
»Mir auch«, gestand Hall.
»Du siehst aber gar nicht so aus«, sagte er überrascht. »Du wirkst seelenruhig.«
»Äußerlich. Innerlich bin ich so zappelig wie … wie …«
»Wie ein Floh auf einer heißen Herdplatte?«
Sie lachte. »Was für eine grässliche Vorstellung.«
Er stand auf. »Komm, ich besorge dir eine Tasse Kaffee.
Oder vielleicht möchtest du lieber Tee?«
Sie erhob sich ebenfalls. Neben Rodriguez mit seiner stämmigen, massigen Statur wirkte sie schlank und schmal.
Sie waren jedoch beinahe gleich groß, und ihr dunkelbraunes Haar war nur eine Nuance heller als seins.
»Ehrlich gesagt, ich hab noch ein paar Schlückchen Sherry in meiner Kabine. Ist ein ganz anständiger Tropfen.«
Rodriguez zog die Augenbrauen hoch. »Wir dürfen keinen Schnaps …«
»Ist von unserer Landeparty übrig geblieben. Ich hätte ihn damals wohl gleich austrinken sollen, aber ich hab mir ein bisschen was aufgehoben. Für den Notfall.«
»Ja, aber …«
»Das zählt doch als Notfall, oder findest du nicht?«
Rodriguez schaute ungewollt nach oben, in die schattigen Höhen der abgedunkelten Kuppel. Draußen stöhnte der Wind.
»Es ist nicht genug, um sich zu betrinken, musst du wissen«, sagte Hall. »Nur ein bisschen was gegen die Nervosität, verstehst du.«
Er blickte sie wieder an und sah die Angst und die Hilflosigkeit in ihren Augen. Sie hat genauso viel Angst wie ich, sagte er sich. Sie empfindet genauso wie ich. Aber ich kann es nicht zeigen, weder ihr noch sonst jemandem.
»Okay«, sagte er.
»Dann komm.« Trudy streckte ihm die Hand hin. »Bring mich nach Hause.«
Er nahm ihre Hand. Und als sie durchs leere Halbdunkel der Kuppel gingen – der Wind heulte jetzt, und das Bauwerk selbst gab tiefere, seltsamere Geräusche von sich –, legte er ihr den Arm um die Taille. Trudy lehnte den Kopf an seine Schulter, und sie gingen gemeinsam zu ihrer Kabine und hinein in eine Nacht, in der keiner von ihnen allein sein wollte.
Stacy Deschurowa schaute angespannt auf die Bildschirme und beobachtete, wie der Wind die festgezurrten Tragflächen der Schwebegleiter flattern ließ. Auch die Tragflächen des größeren, schwereren Raketenflugzeugs bewegten sich merklich auf und ab und zerrten an den Leinen, mit denen sie am Boden festgezurrt waren.
»Wir haben alles getan, was wir können, Stacy«, sagte Jamie hinter ihr. »Du solltest jetzt ein wenig schlafen.«
»Aber wenn eins der Flugzeuge sich losreißt …«
»Was können wir dagegen tun?«, fragte er sanft. »Wir haben sie auf der vom Wind abgewandten Seite der Kuppel abgestellt. Wenn sie sich losreißen, krachen sie uns zumindest nicht hier herein.«
Sie nickte, aber ihr Blick klebte weiterhin an den Bildschirmen.
»Stacy, muss ich dir befehlen, in dein Quartier zu gehen?«
Deschurowa drehte sich um und sah ihn an. »Jemand sollte Wache halten. Nur für den Fall des Falles.«
»Okay«, sagte Jamie. »Ich mache das. Geh schlafen.«
»Nein. Ich könnte sowieso nicht schlafen. Ich bleibe hier.«
Jamie zog sich den anderen Stuhl heran und setzte sich neben sie. »Stacy … wir brauchen dich morgen. Dann musst du frisch und munter sein, ausgeruht und voll leistungsfähig.«
Sie wandte kurz den Blick von ihm ab. Dann tippte sie mit dem Finger auf die Digitaluhr über dem Hauptbildschirm und sagte: »Es ist gleich Viertel nach neun. Ich bleibe bis zwei Uhr hier. Dann kannst du die Schicht bis um sechs übernehmen. Auf diese Weise kriegt jeder von uns vier Stunden Schlaf. Okay?«
»Ein Uhr«, sagte Jamie.
Mit derselben ernsten Miene wie immer fragte sie: »Habt ihr dann auch genug Zeit, Vijay und du?«
Jamie merkte, wie ihm das Kinn herunterfiel.
Deschurowa lachte. »Geh schon. Stell deinen Wecker auf eins. Dann kannst du mich ablösen.«
Jamie stand von dem Stuhl auf und dachte: Stacy könnte die Missionsleitung übernehmen. Sie würde ihre Sache gut machen.
Vijay saß am Tisch in der Messe, als Jamie das Kommunikationszentrum verließ. Er marschierte schnurstracks auf sie zu, und sie blickte zu ihm auf. Aus ihren großen, seelenvollen Augen sprach … was? Nervosität? Einsamkeit?
Angst?
Und was ist in meinen Augen zu lesen, fragte sich Jamie, als er ihr die Hand hinstreckte. Sie ergriff sie, erhob sich von ihrem Stuhl und ging wortlos mit ihm zu seiner Kabine.
Was mache ich, fragte sich Jamie. Das ist keine Liebe. Das ist keiner jener romantischen Momente, über welche die Dichter schreiben. Es ist pure Not; wir brauchen einander.
Wir haben Angst vor diesem Sturm, Angst, weil wir so weit von zu Hause, von der Sicherheit entfernt sind. Wir brauchen den Trost eines anderen Menschen, jemanden, an dem wir uns festhalten können, der uns festhält.
Sie sprachen kaum ein Wort, als sie sich auszogen und in Jamies schmales Bett gingen. Dann schliefen sie so leidenschaftlich miteinander, als hätten der Zorn und die Macht des Sturms von ihnen Besitz ergriffen. Das erste Mal, vor zehn Nächten, hatten sie sich alle Mühe gegeben, so leise wie möglich zu sein. Nicht in dieser Nacht. Nicht bei dem Heulen des Windes draußen. Jetzt lagen sie träge und erschöpft da, die Gedanken drifteten müßig dahin, alle Barrieren waren niedergerissen, alle Furien beruhigt.
Soll ich ihr von Trumball erzählen?, fragte er sich. Der Gedanke hatte nichts Dringliches. Er stieg einfach träumerisch in sein Bewusstsein empor wie ein Flüstern, das sich durch einen Drogennebel kämpft.
Jamie küsste Vijay auf die nackte Schulter; sie murmelte schläfrig und schmiegte sich enger an ihn. Ihr Körper war warm und weich, und als er in den Schlaf driftete, wusste er, dass er sich ohne sie leer und allein fühlen würde. Und Angst hätte.
Dann stach die kalte, harte Realität auf ihn ein. Du kannst nicht von Liebe reden. Du kannst nicht einmal daran denken. Nicht hier. Nicht unter diesen Bedingungen. Diesen Fehler hast du letztes Mal schon gemacht, und es hat dir und Joanna nichts als Schmerzen eingebracht. Du kannst nicht erwarten, dass Vijay sich auf der Basis dessen, was wir hier machen, für ihr ganzes Leben an dich bindet.
Und das heißt, hörte er sich argumentieren, dass du sie nicht mit deinem Problem mit Trumball belasten kannst. Es ist dein Problem, nicht ihres. Du musst den richtigen Weg für dich selbst finden, allein.
Jamie drehte sich auf der Liege ein wenig und schaute zu den roten Leuchtziffern der Digitaluhr hinüber. Schlaf ein bisschen. Es wird verdammt bald ein Uhr früh sein.
Der Wind draußen heulte lauter. Für Jamie klang er wie das wilde Gelächter von Cojote, dem Listenreichen.
Es war fast Mitternacht, als Stacy zu ihrem Stuhl im Kommunikationszentrum zurückkehrte und eine Tasse heißen Tee auf die Konsole neben dem Hauptbildschirm stellte.
Draußen kreischte der Wind, ein dünnes, gequältes Heulen wie das ferne Geschrei von Seelen in der Holle. Methodisch begann sie, alle Systeme der Kuppel ein weiteres Mal zu überprüfen. Ruhig und besonnen holte sie sich die Daten des Umweltüberwachungssystems auf den Monitor. In der Kuppel war alles normal, bis auf einen der Luftzirkulationsventilatoren, der schon früher am Tag den Dienst eingestellt hatte. Darum würde sie sich morgen früh kümmern, sagte sie sich. Sie öffnete das Programm für die Sensoren, die die Umweltbedingungen in der Gartenkuppel überwachten.
Bevor sie jedoch dazu kam, sich deren Daten genauer anzusehen, begann das gelbe Licht an der Hauptkommunikationskonsole zu blinken, und auf ihrem Bildschirm erschienen die Worte: EINGEHENDE NACHRICHT.
Vor sich hingrummelnd, tippte sie auf der Tastatur herum. Was will Tarawa denn jetzt schon wieder?
Zu ihrer Überraschung war es jedoch nicht das Kontrollzentrum auf Tarawa. Der Bildschirm zeigte das kratzige, von atmosphärischen Störungen gestreifte Bild eines triefäugigen Mannes mit verwuschelten Haaren: Dex Trumball.
Dex konnte nicht schlafen.
Er lag auf seiner Liege und horchte auf den Wind, der nur Zentimeter entfernt kreischte, hörte, wie der eisenhaltige Sand an der dünnen Metallhaut des Rovers kratzte, fühlte, wie der Sturm seine Krallen in den Rover schlug, einen Weg hinein zu finden versuchte, einen losen Riegel, einen kleinen Spalt, die winzigste Öffnung in den Schweißnähten, die die Haut des Rovers zusammenhielten.
Wir könnten binnen einer Minute tot sein, dachte er. Oder schlimmer, lebend im Sand begraben, ohne Strom. Und dann langsam ersticken, wenn die Luft zu Ende geht.
Und wir können nichts dagegen unternehmen! Wir können nur daliegen und es hinnehmen. Den verfluchten Sturm auf uns einschlagen und einhämmern lassen, bis er einen Weg findet, uns umzubringen.
Er setzte sich abrupt auf. Sein Herz raste, seine Brust hob und senkte sich. Er schwitzte, und gleichzeitig war ihm kalt.
Er musste schon wieder aufs Klo.
Als er in die Dunkelheit spähte, konnte er im schwachen Lichtschein der Instrumententafel im Cockpit die unförmige Gestalt von Craig ausmachen, der auf der Liege gegenüber schlief. Wiley lag mit leicht geöffnetem Mund auf dem Rücken und schnarchte leise.
Herrgott, er ist so entspannt wie ein Baby in seiner Wiege, dachte Trumball, als er leise von seiner Liege glitt.
Er tappte barfuß zum Waschraum gegenüber den Gestellen, wo die Raumanzüge wie gepanzerte Gespenster standen. Furcht schlägt auf die Blase, sagte er sich, als er in die Toilettenschüssel aus rostfreiem Stahl urinierte. Dieser Scheiß-Sturm macht mir eine Piss-Angst. Er war jetzt das vierte Mal auf der Toilette, seit er zu Bett gegangen war.
»Alles okay, Kumpel?«, fragte Craig leise, als Dex sich wieder hinlegte.
»Ja«, schnauzte Dex. »Mir geht's gut.«
»Ganz schön was los da draußen, hm?«
»Kann man wohl sagen.«
»Lass dich davon nich bange machen, Junge. Wir sind hier drin so sicher wie in Abrahams Schoß.«
Dex wusste, dass Craig ihm Mut machen, ihn beruhigen wollte. Er wusste, dass er Wiley dankbar sein sollte. Stattdessen ärgerte es ihn, dass der ihn ›Junge‹ genannt hatte.
Und er schämte sich, mit seiner Angst ertappt worden zu sein.
Der Wind ließ etwas nach. Das Kreischen wurde leiser.
Vielleicht ist es vorbei, dachte Dex. Vielleicht legt er sich allmählich.
Er ließ den Kopf auf sein schweißgetränktes Kissen sinken und schloss wieder die Augen. Doch im selben Moment schlug eine Windbö mit wildem Kreischen zu. Dex spürte, wie der Rover schwankte. Er setzte sich ruckartig wieder auf und schlug mit beiden Fäusten auf die Matratze. Beinahe wäre er in Tränen ausgebrochen. Lass mich in Ruhe! Lass mich in Ruhe! Geh weg und lass mich in Ruhe, bitte, bitte, bitte.
Der Wind heulte jedoch weiter. Wenn überhaupt, wurde er nur noch lauter.
Müde schlurfte er ins Cockpit des Rovers und ließ sich auf den rechten Sitz sinken. Mal sehen, was in der Kuppel los ist. Ein paar Takte reden. Ganz gleich, mit wem. Das lenkt dich von diesem beschissenen Sturm ab. Stacys unbewegtes, fleischiges Gesicht füllte den winzigen Bildschirm an der Kontrolltafel. Das Bild war streifig und körnig, aber sie schaute überrascht drein.
»Dex?«
»Ja«, sagte er leise, weil er Craig nicht wieder aufwecken wollte. »Ist zu laut zum Schlafen hier draußen. Wie sieht's bei euch aus?«
Deschurowa unterhielt sich ein paar Sekunden mit Dex, dann merkte sie, dass er nur plaudern wollte, weil er bei dem Sturm nicht schlafen konnte. Der Empfang war schlecht; sein Bild brach immer wieder zusammen. Wahrscheinlich werden seine Antennen langsam vom Staub zugeweht, dachte sie. Sie redete weiter mit ihm, wandte ihre eigentliche Aufmerksamkeit jedoch den Überwachungsmonitoren zu und fuhr fort, die Umweltbedingungen in der Gartenkuppel zu überprüfen.
Temperatur unter normal, sah sie. Das sollte nicht sein.
Der Luftdruck fiel ebenfalls.
Sie schnappte nach Luft. Ohne auch nur an Dex zu denken, der immer noch auf dem Hauptbildschirm vor sich hin plapperte, griff sich Stacy das Lautsprechermikro und brüllte:
»Notfall! Die Gartenkuppel reißt!«
Dex starrte mit offenem Mund auf den winzigen Kommunikationsbildschirm.
»Jamie und ihr anderen – die Gartenkuppel reißt!«, wiederholte Deschurowa. Ihre Stimme donnerte wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. »Alle Mann hierher, und zwar sofort!«
Dann wurde der Bildschirm dunkel.
Dex saß im Cockpit des Rovers, und eiskalter Schweiß lief ihm über die Rippen. Er starrte auf den toten Bildschirm.
Allmächtiger, dachte er, und rang in wachsendem Entsetzen nach Atem, während er dort im Dunkeln saß. Wenn die Gartenkuppel draufgeht, könnte die Hauptkuppel ebenfalls draufgehen. Dann sind wir alle tot.
Mitsuo Fuchida lag auf seiner Liege, starrte in die Dunkelheit hinauf und horchte auf den Wind und das Knarren und Ächzen der Kuppel.
Es ist, als wäre man in einem Schiff auf See, sagte er sich, nur dass es nicht schaukelt.
Bevor er zu Bett gegangen war, hatte er erwogen, eine Beruhigungspille zu nehmen, war dann jedoch zu dem Schluss gekommen, dass er keine brauchte. Er hatte dem Tod schon im Lavaschlot auf dem Olympus Mons ins Auge gesehen. Dieser Sturm hielt keine weiteren Schrecken für ihn bereit. Der Tod wird kommen oder nicht, dachte er.
Was man nicht kontrollieren kann, muss man akzeptieren.
Trotzdem lag er wach, lauschte dem Sturm, dachte an Elizabeth und hoffte, dass Rodriguez sein Versprechen halten und nicht verraten würde, dass er verheiratet war. Wo mochte sie heute Nacht sein? Was machte sie gerade, in diesem Moment?
Er verlor sich in einen schönen Wachtraum von ihr.
Bis er Stacys Ruf hörte: »Notfall! Die Gartenkuppel reißt!
Alle Mann hierher, und zwar sofort!«
Er sprang automatisch aus dem Bett, und sein verletzter Knöchel schickte ihm einen schmerzhaften Stich durchs Bein. Mit der Bandage am Fuß humpelte er unbeholfen zum Kommunikationszentrum. Jamie, Vijay, Rodriguez und Trudy Hall eilten ebenfalls dorthin. Jeder von ihnen schlüpfte unterwegs hastig in einen zerknitterten Overall.
»Die Gartenkuppel hat Löcher«, sagte Stacy und zeigte mit einem dicken Finger auf den Überwachungsmonitor.
»Kamerabild«, befahl Jamie und glitt auf den fahrbaren Stuhl neben ihr.
Er spähte auf den Monitor. »Ich sehe gar nichts – Moment, das Kuppelmaterial wellt sich.«
»Druck und Temperatur fallen rapide«, sagte Deschurowa mit einem ungewohnten Anflug von Furcht in der Stimme.
»Die Pflanzen werden sicher eingehen!«, rief Trudy mit schriller, ängstlicher Stimme. »Die Nachttemperaturen …«
»Ich weiß, ich weiß«, blaffte Jamie. Er wandte sich an Rodriguez. »Wir haben doch noch überschüssige Epoxy-Dosen, oder? Wo sind die?«
Rodriguez beugte sich über eine der freien Konsolen und hämmerte auf der Tastatur herum, dann ließ er eine Liste so schnell über den Bildschirm laufen, dass die Schrift verschwamm.
Er fand, wonach er suchte, und fror das Bild ein. »Reparatur-Epoxy«, sagte er und zeigte auf den Monitor. »Steht in Schrank siebzehn, Bord A.«
»Hol es!«, befahl Jamie. »So viel du tragen kannst.«
Rodriguez rempelte Fuchida an, als er aus dem Kommunikationszentrum rannte, und brachte den humpelnden Biologen ins Taumeln. Vijay eilte ebenfalls hinaus. »Ich helfe Tommy«, rief sie über die Schulter hinweg.
Jamie sprang von seinem Stuhl auf. »Stacy, steig in deinen Anzug. Trudy, du hilfst ihr. Mitsuo, du nimmst hier an der Kommunikationskonsole Platz.«
»Wo willst du hin?«, erkundigte sich Stacy.
Als er in den matt erleuchteten zentralen Bereich der Kuppel hinauslief, sagte Jamie: »Wir müssen ein paar provisorische Flicken auf die Löcher in der Kuppel kleben, wenn sie nicht schon zu groß sind.«
»Du kannst da nicht rein!«, schrillte Trudy.
»Jemand muss die Lecks verschließen, bevor es noch schlimmer wird.«
»Warte auf Tomas«, sagte Deschurowa. »Das Epoxy …«
»Keine Zeit!«, rief Jamie und eilte davon. Er steuerte auf die Luftschleuse zu, während sie hinter ihm herbrüllten.
»Helft Stacy in den Anzug!«, brüllte er zurück. »Mitsuo!
Schalte alle Lichter im Innern an!«
In der Kuppel wurde es abrupt taghell, als Jamie die Luftschleuse erreichte, die sie mit dem Garten verband. Nicht hier drin, Mitsuo, verbesserte Jamie stumm. Im Garten, Herrgott noch mal!
Der Druck auf der anderen Seite der Schleuse war nicht so stark gesunken, dass sich das Schloss automatisch verriegelte, stellte Jamie fest, als er die zweite Luke passierte.
Noch nicht, sagte er sich.
Es war kalt im Garten. Jamie fröstelte unwillkürlich, als er ihn betrat. Das Kreischen des Windes war lauter, und das Kuppelgewebe flatterte vernehmlich, wie ein lose im Wind schlagendes Segel. Immerhin brannten die Deckenlampen mit voller Kraft. Mitsuo hatte ihn also doch richtig verstanden.
Die Notfallflicken wurden in einer verschlossenen Kiste gleich neben der Luftschleuse aufbewahrt. Jamie riss sie auf, griff sich zwei Hand voll der dünnen Plastikscheiben und dachte, dass es besser gewesen wäre, wenn sie die Lehren der ersten Expedition beherzigt und die Scheiben rundum an der Hülle der Kuppel bereitgelegt hätten.
Jetzt ließ er sie los und sah, wie sie in den Luftströmen taumelten und sich dann selbsttätig über zwei Löcher auf der anderen Seite der Kuppel legten. Es ist kalt hier drin, dachte Jamie. Schon kurz vor dem Gefrierpunkt.
Rodriguez kam mit einer großen Spraydose Epoxy in jeder Hand durch die Luke geschossen. Er sah aus wie ein Wildwest-Sheriff mit zwei dicken Kanonen, grimmig und entschlossen.
»Ich nehme sie«, übertönte Jamie den kreischenden Wind.
»Hat keinen Sinn, dass wir beide unser Leben …«
»Du wirst heute Nacht nicht der einzige Held sein«, rief Rodriguez, drängte sich an Jamie vorbei und eilte zu den Stellen, wo die provisorischen Flicken an der Kuppelwand flatterten.
Vijay kam mit weiteren Dosen herein. Jamie nahm ihr eine ab, und sie liefen beide hinter Rodriguez her.
Die Pflanzen sahen nicht allzu schlimm aus, dachte Jamie nach einem Blick auf die Reihen der hydroponischen Kästen. Aber was, zum Teufel, weiß ich schon? Grüne Blätter, die meisten fest aufgerollt. Hängen diejenigen, die den Rissen am nächsten sind, schlaffer herunter als die anderen?
Nachdem sie ein paar hektische Minuten lang gesprüht hatten, sagte Rodriguez: »Ich glaube, wir haben sie abgedichtet.«
Jamie schaute sich um. Das Kuppelgewebe hatte aufgehört zu flattern. Mitsuo muss den Luftdruck erhöht haben, dachte er. Der Wind war noch genauso laut, wenn nicht lauter, aber jetzt wirkte die Kunststoffkonstruktion der Kuppel wieder prall und sicher.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte er vorsichtig.
»Es ist kalt hier drin.« Vijay schlang sich die Arme um den Oberkörper.
»Geh rüber und sag Mitsuo, er soll die Heizung hochdrehen«, befahl Jamie. »Tomas, wir sprühen die ganze Kuppelwand hier unten ein, wo das Material mit dem Fußbodenbelag zusammenstößt. Wenn es noch mehr Probleme gibt, dann dort.«
»In Ordnung«, sagte Rodriguez.
In diesem Moment kam Deschurowa in ihrem Raumanzug hereingestapft.
»Wir haben's unter Kontrolle«, rief Rodriguez ihr vergnügt zu.
Sie schob das Visier hoch und funkelte ihn an. Rodriguez lachte.
»Stacy«, sagte Jamie, »ich möchte, dass du zusammen mit Tomas überprüfst, ob die Kuppel ansonsten unversehrt ist.
Sprüht alles ein, was nach einem potenziellen Leck aussieht.«
»Das Epoxy ist nicht transparent. Es wird den Sonnenschein für die Pflanzen reduzieren.«
»Da kann man nichts machen. Das Wichtigste ist, die Unversehrtheit der Kuppel sicherzustellen.«
Trudy trat durch die Luke der Luftschleuse. »Oh mein Gott! Die Tomaten sind hin!«
Jamie packte sie am Arm. »Trudy, du solltest mit Mitsuo alle Pflanzen untersuchen und feststellen, wie groß der Schaden ist. Ich übernehme das Kommunikationszentrum.«
»In Ordnung, natürlich.« Sie eilte zu den Pflanzenkästen auf der anderen Seite der Kuppel.
MORGEN: SOL 59
Jamie saß noch immer an der Kommunikationskonsole, als die Sonne schließlich aufging und die anderen sich zu regen begannen. Der Wind heulte nach wie vor, aber mit dem Sonnenaufgang verbesserte sich die Sicht ein wenig. Die Kamerabilder von draußen zeigten, dass die Flugzeuge noch da waren, obwohl eine Tragfläche des Schwebegleiters merkwürdig verbogen wirkte. Eine der Kameras war ausgefallen, aber ansonsten schien alles in recht guter Verfassung zu sein.
»Kaffee?«
Vijay stand mit einem dampfenden Becher in den Händen im Eingang des Kommunikationszentrums.
»Gute Idee«, sagte Jamie und griff danach.
»Wie sieht's aus?«, fragte sie und glitt auf den Stuhl neben ihm.
»Ganz gut so weit.«
»Wie schlimm sind die Schäden im Garten?«
»Trudy ist wegen der Tomaten und einiger Sojabohnen fast in Tränen ausgebrochen. Die Erdbeeren sind alle hin
über. Aber die meisten Pflanzen haben's heil überstanden.
Wir haben das Leck gerade noch rechtzeitig bemerkt.«
»Dann müssen wir also nicht zusammenpacken und heimfliegen?«
Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Kann sein, dass wir eine Weile ohne Sojaburger auskommen müssen, aber der Garten wird uns trotzdem ernähren.«
»Das war sehr tapfer von dir, da einfach so reinzustürmen.«
Jamie merkte, wie er die Augenbrauen hochzog. Er kam sich nicht sehr tapfer vor. Mit einem Achselzucken erwiderte er: »Schien mir das Richtige zu sein. Wir mussten die Flicken anbringen.«
»Du hättest dabei umkommen können.«
»Daran hab ich überhaupt nicht gedacht«, gestand er. »Es ging alles so schnell …«
»Du bist ein Held, Jamie.« Sie scherzte nicht, das sah er.
Sie meinte es todernst.
Jamie fühlte sich auf einmal unwohl. Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Ich konnte Dex und Wiley bis jetzt noch nicht erreichen.«
»Damit hast du doch gerechnet, oder?«
Er nickte. »Die haben inzwischen wahrscheinlich eine Menge Staub auf ihren Antennen. Wir müssen einfach Geduld haben.«
»Darin bist du ja gut«, sagte sie mit einem Lächeln.
Er verstand die Anspielung. »Es macht viel mehr Spaß, bei dir Geduld zu haben als bei denen«, sagte er leise und schnell, weil er Angst hatte, jemand könnte es hören.
Bevor sie etwas erwidern konnte, kam Rodriguez mit einem breiten Zahnpastagrinsen hereingeplatzt. »Mann, das war wirklich 'ne heiße Nacht«, sagte er und brach dann in herzhaftes Gelächter aus.
Jamie warf Vijay einen verblüfften Blick zu. Sie zuckte die Achseln.
»Du warst großartig, Boss«, sagte der Astronaut und strahlte Jamie an. »Hast uns den Hals gerettet, Mann.«
Jamie schüttelte den Kopf, aber Vijay nickte zustimmend.
»Wenn der Garten futsch gewesen wäre, hätten wir im wahrsten Sinne des Wortes einpacken können, nicht?«
»Schon möglich«, gab Jamie zu. »Jedenfalls ist mit dem Garten so weit alles in Ordnung. Also machen wir einfach weiter, okay?«
»In Ordnung!«, sagte Rodriguez. »Hast du schon gefrühstückt, Boss? Ich hab so einen Kohldampf, dass ich einen Marsbüffel verdrücken könnte.«
Vom Eingang her sagte Stacy Deschurowa: »Da wirst du erst mal einen finden müssen, Tom.«
»Ich hol mir nur rasch ein bisschen Saft«, sagte Rodriguez, immer noch vergnügt grinsend, »dann löse ich dich an der Konsole ab, und ihr könnt frühstücken.«
»Ich dachte, du hättest so einen Bärenhunger«, sagte Jamie und stand von seinem Stuhl auf.
»Ja, ich weiß, aber ich kann warten. Geht ihr mal essen.
Ich halte hier die Stellung.«
Jamie sah Deschurowa an. Sie sagte: »Ich hole dir deinen Saft, Tom.«
»Okay, danke.«
Jamie sagte: »Wenn du mich hier ablöst, dann versuch mal, Funkkontakt mit Wiley und Dex herzustellen.«
»In Ordnung.« Rodriguez ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, sodass er ein Stück von der Konsole wegrollte.
Als Jamie mit Vijay und Deschurowa zur Messe ging, wunderte er sich laut: »Tomas ist heute Morgen aber gut gelaunt. Anscheinend hat er sich wirklich mal ordentlich ausgeschlafen.«
Deschurowa prustete los. »Das nun nicht gerade.«
»Was soll das heißen?«
Stacy schaute in Jamies Gesicht hinauf. »Hast du die beiden nicht gehört? Ihn und Trudy? Sie waren die ganze Nacht lang zugange, verdammt noch mal.«
Jamie warf Vijay unwillkürlich einen Blick zu. Sie versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.
»Ihr beiden seid wenigstens leise«, fuhr Stacy nüchtern fort. »Aber meine Kabine liegt gleich neben der von Trudy.
Und wenn sie mal Pause gemacht haben, hat Tom geschnarcht wie Ferdinand der Stier. Mein lieber Mann, er hat sogar den Sturm übertönt.«
Vijay brach in Gelächter aus.
Sie hatten gerade mit dem Frühstück begonnen, als Fuchida an den Tisch gehumpelt kam. Er wirkte bekümmert.
»Was ist los, Mitsuo?«, fragte Jamie.
»Bin ich der Einzige, der sich fragt, wieso die Gartenkuppel Risse bekommen hat?«, fragte er.
»Was meinst du damit?«
Der Biologe nahm gegenüber von Jamie und Vijay Platz und legte seinen bandagierten Knöchel auf einen leeren Stuhl.
»Wie kann der Staub das Kuppelmaterial zerreißen?«, fragte er wie ein Professor, der seinem Seminar ein Problem zu knacken gibt.
Deschurowa stand vom Tisch auf. »Ich habe Tom versprochen, ihm Saft zu holen«, erinnerte sie sich. »Wahrscheinlich braucht er welchen.«
Fuchida verstand ihre Andeutung nicht. »Der Kunststoff der Kuppel kann nicht von Sandpartikeln durchlöchert werden«, sagte er leise, aber mit fester Stimme. »Trotzdem waren Löcher in der Hülle.«
»Ich dachte, sie wäre unten an der Basis gerissen, wo sie sich mit dem Fußbodenbelag verbindet«, sagte Jamie.
»Nein«, erwiderte Fuchida und hob zur Betonung einen Finger. »Es gibt zwei kleine Löcher. Wenn sie nicht so rasch repariert worden wären, hätten sie sich zu einem Riss ausgeweitet, der die ganze Kuppel vom Fundament gerissen hätte.«
»Aber wir haben es noch rechtzeitig verhindert«, sagte Vijay. »Oder vielmehr, Jamie hat es verhindert.«
Fuchida bestätigte diese Tatsache mit einem kurzen, knappen Nicken. »Trotzdem müssen wir fragen, auf welche Weise die Kuppel durchlöchert wurde.«
»Vielleicht waren es kleine, vom Wind hochgewehte Steine?«, schlug Jamie vor.
»Das bezweifle ich«, sagte der Biologe.
»Was dann?«
»Ich weiß es nicht. Aber es macht mir Sorgen. Die Kuppel hätte nicht versagen dürfen. Dieses Kunststoffmaterial ist in Windtunnel-Simulationen unter viel härteren Bedingungen getestet worden. Es hätte nicht versagen sollen.«
»Aber es hat versagt«, flüsterte Vijay beinahe.
»Ja, in der Tat.« Fuchida sah wie ein Staatsanwalt aus, fand Jamie. Argwöhnisch, beinahe zornig.
»Nun«, sagte Jamie, »ich weiß nicht, wieso es versagt hat, aber wir sollten dafür sorgen, dass es nicht noch mal passiert.«
»He, Kumpel«, sagte Craig munter, »das war 'ne heiße Nacht, was?«
Jenseits des schmalen Tisches zwischen ihren Liegen nickte Dex verdrossen. Er war erschöpft, seine schlaflosen Augen waren verklebt, der Overall war zerknittert und stank nach Angst.
Draußen kreischte noch immer der Wind. Staubpartikel mit Eisenkernen kratzten weiterhin an der dünnen Haut des Rovers, wie ein unendliches Heer von Soldatenameisen, die unermüdlich daran arbeiteten, ihre Verteidigungsanlagen zu durchbrechen, hereinzukommen und sie aufzufressen.
»Der Funkkontakt ist natürlich unterbrochen«, fügte Craig hinzu.
»Natürlich«, sagte Dex trübsinnig.
»Sobald der Wind auf weniger als hundert Knoten sinkt, gehn wir raus und stauben die Antennen ab. Dann melden wir uns bei der Basis und sagen Bescheid, dass bei uns alles in Ordnung is.«
»Wenn bei denen alles in Ordnung ist«, erwiderte Dex düster.
»Ach, denen is nix passiert«, sagte Craig. »Die große Kuppel is so stabil wie der Fels von Gibraltar. Die hat in den sechs Jahren, die sie jetzt da draußen steht, schon mehr als bloß einen Staubsturm überstanden, weißt du.«
»Mag sein«, gab Dex zu.
Sein Verstand listete ungebeten alles auf, was nicht in Ordnung sein konnte. Wenn die Abdeckungen während der Nacht abgerissen worden waren, konnten die Solarzellen so schlimm zerkratzt und zernarbt sein, dass sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Die Brennstoffzellen waren bereits auf null; sie bezogen ihren Strom jetzt ausschließlich von den Batterien. Der körnige Staub konnte in die Radlager eingedrungen sein und sie vollständig unbeweglich gemacht haben. Dann hätten wir die Wahl, entweder zu verhungern oder zu ersticken, dachte Dex.
Der Staub konnte die Antennen jedoch auch so übel zugerichtet haben, dass die Kommunikationssysteme völlig hinüber waren. Dann könnten wir nicht navigieren und bekämen überhaupt keine Positionsdaten von den Satelliten mehr; wir wären hier draußen endgültig verloren.
Vielleicht war auch die ganze verdammte Basiskuppel in der Nacht weggerissen worden, ergänzte er.
»Hey!«, rief Craig. »Hörste mir zu?«
»Tut mir Leid.« Dex versuchte, sich ein wenig aufrechter hinzusetzen.
»Ich hab gesagt, wir sollten lieber nur 'n kaltes Frühstück zu uns nehmen. Hat keinen Sinn, die Batterien zu leeren, indem wir die Mikrowelle anschmeißen.«
»Ich mache Frühstück«, sagte Dex und erhob sich von seiner Liege. »Du kannst den Systemcheck übernehmen.«
»Schon erledigt. Nach dem Frühstück fahren wir alles runter. Wir schalten den Gefrierschrank ab; die Kühlung hält auch so noch 'ne Weile vor, und das Essen bleibt da drin kalt. Lüftung auf niedrig. Licht auf Minimum. So lange, bis wir die Solarpaneele aufgedeckt haben und sie wieder arbeiten.«
»Falls sie wieder arbeiten«, murmelte Dex, während er nach hinten zu dem kompakten Regalsystem ging, das als Kombüse des Rovers diente.
»Hast heute Nacht nich viel Schlaf gekriegt, hm?«
»Wie kommst du darauf?« Dex zog die ersten beiden Müslipackungen heraus, die er erreichen konnte.
»Hör zu, mein Junge, das Schlimmste ist vorbei. Wir haben den Sturm überstanden. Er klingt jetzt ab. In ein paar Stunden …«
Dex fuhr zu ihm herum. »Jetzt hörst du mir mal zu, Kumpel! Du willst nicht Possum genannt werden? Okay, ich mag's nicht, wenn man mich ›mein Junge‹ nennt. Kapiert?«
»Dann hör auf, dich wie 'n Kleinkind aufzuführen«, gab Craig mit finsterer Miene zurück.
Dex setzte zu einer Antwort an, stellte jedoch fest, dass ihm keine einfiel.
»Du hast Angst, okay. Die hab ich auch. Zum Teufel, wir sind hier mitten im finstersten Winkel von Mars City gestrandet. Nach allem, was ich weiß, sind wir dreieinhalb Meter hoch mit Sand zugedeckt, und in der Basis sind alle tot. Okay! Damit müssen wir fertig werden. Man tut, was man tun kann. Man hockt nicht rum und grummelt vor sich hin und bläst Trübsal wie 'n Teenager mit 'nem Akne-Problem.«
Dex musste unwillkürlich lachen. »Hab ich das gemacht?«
Craig saß immer noch auf seiner Liege. Sein ledriges Gesicht verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Er nickte. »Irgendwie schon«, sagte er.
»Ich hab Angst, Wiley«, gab er zu. »Ich will nicht hier draußen sterben.«
»Scheiße, Kumpel, ich will überhaupt nich sterben.«
Dex stellte die beiden Müslipackungen auf den Tisch.
»Vielleicht sollten wir rausgehen und nachsehen, wie schlimm es ist.«
»Da draußen pustet's noch ziemlich heftig. Warten wir lieber noch 'n paar Stunden.«
»Ich dreh durch, wenn ich hier rumsitze und nichts anderes zu tun habe, als dem Wind zuzuhören.«
Craig nickte. »Hm. Ja, ich auch.«
»Und?«
»Lass uns in aller Gemütsruhe frühstücken, und dann steigen wir gemächlich in unsere Anzüge.«
»Gut«, sagte Dex. Er merkte, wie die Angst langsam nachließ. Sie verschwand nicht ganz, aber er fühlte sich schon besser als in der Nacht.
NACHMITTAG: SOL 59
»Hätte schlimmer sein können«, verkündete Craig. Aber in Dex' Helmlautsprechern klang seine Stimme ernst und unzufrieden.
Der Himmel war weiterhin grau und düster. Der Wind heulte noch immer, wenn auch nicht mehr annähernd so laut wie zuvor. Dex war überrascht, dass er in dem Raumanzug überhaupt keinen Winddruck spürte. Er hatte damit gerechnet, sich mit aller Macht gegen den Wind stemmen und sich vorwärts kämpfen zu müssen. Stattdessen hätte die dünne Marsluft genauso gut völlig windstill sein können.
Auf einer Seite war der Rover halb von rostrotem Sand begraben. Von der Cockpit-Nase bis zum hinteren Ende des dritten Segments des gegliederten Fahrzeugs hatte der Sand sich auf der Windseite bis zum Dach aufgetürmt.
»Gut, dass die Luke auf der Leeseite war«, sagte Dex.
»Sonst hätten wir vielleicht Schwierigkeiten gehabt, sie aufzukriegen, wenn sie in diesem Zeug begraben gewesen wäre.«
»Nee, glaub ich nich«, antwortete Craig und trat gegen den Haufen. Staub flog auf wie Asche oder wie trockene Herbstblätter, wenn ein Kind hindurchwatet.
»Vielleicht hast du Recht.«
»Außerdem«, setzte Craig hinzu, »hab ich ihn so gedreht, dass die Luke auf der geschützten Seite sein würde, als wir für die Nacht angehalten haben.«
Dex kniff in seinem Helm die Augen zusammen und versuchte sich zu entsinnen, ob er gefahren war oder Craig.
Wiley ist nicht darüber erhaben, sich sein Glück als Leistung anrechnen zu lassen, dachte er.
»Komm, sehen wir uns mal an, was oben passiert ist.«
Als sie um den Rover herum zu der weitgehend staubfreien Seite zurückstapften, sah Dex, dass zumindest ein Teil der behelfsmäßigen Abdeckungen, die sie auf die Solarpaneele geklebt hatten, losgerissen worden war. Ein Laken flatterte im Wind.
Während Craig die Leiter neben der Luftschleuse hochkletterte, um die Solarpaneele zu inspizieren, erhaschte Dex einen Blick auf das Schönste, was er bisher auf dem Mars zu Gesicht bekommen hatte: Die stumpfgrauen, staubschweren Wolken lichteten sich für kurze Zeit so weit, dass er den hellen, orangefarbenen Himmel darüber sehen konnte. Sein Herz tat einen Sprung. Der Sturm hört auf! Er hört endlich auf.
»Schlimmer, als ich gehofft hatte«, knarzte Craigs Stimme in seinen Helmlautsprechern, »aber nich so schlimm, wie ich befürchtet hatte.«
Craig kam die Leiter herunter. »Wir haben da oben 'n paar Kratzer und Narben abgekriegt, wo die Persenning abgegangen is. Die anderen Paneele sehn aber gut aus.«
»Na prima«, sagte Dex, der auf einmal neue Begeisterung verspürte. »Hör zu, Wiley, ich geh wieder rein und setz das VR-Gerät auf. Bis jetzt hat noch niemand einen marsianischen Staubsturm aufgezeichnet. Das gibt ein paar tolle Bilder für daheim!«
Er hörte Craig in seinem Helm leise lachen. Dann sagte der ältere Mann: »Allmählich kommen deine Lebensgeister wieder in Schwung, hm?«
»Ich …« Dex hielt einen Moment lang verwirrt inne. Dann legte er Craig eine beschuhte Hand auf die Schulter des Raumanzugs. »Wiley, du hast mir wirklich geholfen. Ich hatte eine Scheißangst vorhin, und du hast mir geholfen, drüber wegzukommen.«
»Hast du selbst gemacht«, sagte Craig, »aber ich hefte's mir gern an die Brust.«
Dex bekam auf einmal ein flaues Gefühl im Magen.
Als würde er es spüren, sagte Craig: »Keine Sorge, mein Sohn. Was hier passiert is, bleibt unter uns. Geht ja sonst keinen was an.«
»Danke, Wiley.« Im Vergleich zu der gewaltigen Woge von Dankbarkeit und Hochachtung, die ihn überflutete, klangen die Worte in Dex' Ohren erbärmlich schwach.
»Schon gut«, sagte Craig barsch. »Aber lass uns erst mal die Antennen sauber machen, bevor du mit deinem VR-Kram loslegst, damit wir Jamie und der ganzen Bande erzählen können, dass es uns gut geht.«
Im Kommunikationszentrum stieß Rodriguez auf einmal einen Jubelruf aus.
»Ich hab Wiley dran!«
Jamie sprang vom Tisch in der Messe auf, während Vijay dablieb, um dem humpelnden Fuchida zu helfen. Im Kommunikationszentrum sah Jamie Craigs unrasiertes Gesicht auf dem Hauptbildschirm. »… Leistung der Solarpaneele ist um vier, fünf Prozent reduziert«, berichtete Craig gerade.
»Hätte viel schlimmer kommen können.«
»Was ist mit den Brennstoffzellen?«, fragte Rodriguez.
»Dex zerlegt gerade unser zusätzliches Wasser; wenn er damit fertig is, füttern wir sie mit dem Wasserstoff und mit Sauerstoff. Dann können die Batterien mal 'ne Ruhepause einlegen.«
Jamie streckte den Kopf ins Bildfeld der Kamera und fragte: »Müsst ihr euch ausgraben?«
Craig schaute sehr zufrieden drein. »Nee. Die Räder und die Fahrmotoren sind okay. Wir haben einfach den Gang eingelegt und uns selbst rausgezogen. Sind schon wieder unterwegs.«
»Wow!«, rief Rodriguez aus.
»Das ist ja toll«, sagte Jamie, der echte Freude und Erleichterung empfand. »Das ist wirklich toll, Wiley.«
»In drei, vier Tagen müssten wir im Ares Vallis sein«, meinte Craig. Dann setzte er hinzu: »Wenn das Wetter so bleibt.«
Rodriguez lachte. »Momentan ist kein weiterer Sturm in Sicht.«
»Gut.«
Craig verabschiedete sich, und Rodriguez machte sich daran, die Telemetriedaten des Rovers zu überprüfen.
Draußen heulte der Wind noch immer wie tote Geister, die in der Kälte um Einlass flehten.
Als der Tag sich neigte, war der Wind merklich leiser geworden, und hin und wieder stieß sogar das Sonnenlicht durch die über ihnen hängenden Wolken.
Jamie war körperlich und seelisch erschöpft, als er – zum hundertsten Mal an diesem Tag, wie es ihm schien – müde ins Kommunikationszentrum ging.
Während der Sturm allmählich nachließ, hatte er den größten Teil des Tages in der Gewächshauskuppel verbracht und immer wieder den Bereich überprüft, in dem die Schäden aufgetreten waren. Er hatte sogar seinen Raumanzug angelegt und war hinausgegangen, um die beschädigten Stellen von außen zu inspizieren, wo sie nicht unter Notfallflicken und Epoxy verschwanden. Es war schwer zu sagen, aber die Hülle schien punktiert und nicht zerrissen worden zu sein. Nachdem das Kunststoffmaterial allerdings Löcher bekommen hatte, begann es natürlich an der Naht entlang aufzureißen, wo es mit dem Fundament der Kuppel verbunden war.
Eigentlich bräuchten wir hier einen forensischen Statiker, sagte sich Jamie. Wenn es so jemanden überhaupt gibt.
Vielleicht würde Wiley daraus schlau werden.
Er machte Dutzende Fotos von den beschädigten Stellen und schickte sie zur Analyse nach Tarawa. Ihm fiel nichts ein, was er sonst noch tun konnte, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass ihm etwas entging. Etwas Wichtiges.
Was ist es, Großvater, fragte er stumm. Was habe ich übersehen?
Sobald er im Kommunikationszentrum war, sackte er auf den Stuhl und schickte eine weitere Botschaft nach Tarawa.
»Pete, die Gewächshauskuppel sieht jetzt gut aus, aber ich mache mir Sorgen, was beim nächsten Sturm passieren könnte. Vielleicht kommt der erst in einem Jahr, aber es ist ein Problem, über das wir sofort nachdenken sollten, nicht erst dann, wenn der Staub wieder zu fliegen beginnt. Offensichtlich haben wir dieses Problem übersehen, aber mit dem geschärften Blick, den man hinterher immer hat, denke ich, wir sollten ihm Beachtung schenken.
Kannst du die versammelten Fachleute der Welt dazu bringen, sich zu überlegen, wie wir die Gewächshauskuppel mit den uns zur Verfügung stehenden Materialien schützen können? Dazu gehören natürlich auch die marsianischen Rohstoffe, die wir hier vorfinden. Was ich gern wüsste, ist Folgendes: Können wir Glasbausteine aus dem Marssand herstellen? Ein transparentes Iglu bauen? Prüf das für mich, okay?«
Nach Sonnenuntergang legte der Wind sich fast ganz. Jamie war versucht, in den Raumanzug zu steigen und hinauszugehen, um nachzuschauen, ob die Sterne noch dort waren, wo sie hingehörten, aber er war zu müde dazu. Die Außenkameras zeigten, dass die Flugzeuge noch an ihrem Platz standen, aber in welchem Zustand ihre Solarpaneele sein mochten, würde erst eine genauere Untersuchung ergeben.
In der Kuppel war es still, und alles war wieder so wie immer, als Jamie schließlich zu seiner Unterkunft ging. Vijay war schon da; sie lag auf der Liege. Er zwinkerte überrascht.
»Tomas geht also mit Trudy ins Bett«, sagte sie nüchtern.
Jamie nickte. »Ich wüsste gern, ob zwischen Mitsuo und Stacy irgendwas läuft.«
Vijay kicherte leise. »Absolut unwahrscheinlich.«
»Wieso?«
»Stacy ist vom anderen Ufer.«
Jamie machte große Augen. »Wie bitte?«
»Stacy ist lesbisch.«
Das ist völlig in Ordnung, sagte er sich. Trotzdem war er schockiert.
»Der arme Mitsuo«, hörte er sich flüstern, als er neben ihr unter die Decke schlüpfte.
Vijay rückte beiseite, um ihm auf der schmalen Liege Platz zu machen. »Bei ihm blicke ich nicht durch. Er hat es bei keiner der Frauen versucht.«
»Vielleicht ist er auch vom anderen Ufer?«
»Das bezweifle ich. Ich glaube, er hat einfach mehr Selbstbeherrschung als ihr westlichen Affenmenschen.«
Jamie wollte über diesen Punkt diskutieren, aber stattdessen schloss er die Augen und schlief auf der Stelle ein.
GLASBAUSTEINE
Pete Connors starrte den dicken Papierstapel auf seinem Schreibtisch düster an. Es ist fast immer ein Fehler, die Experten zu fragen, wie man irgendwas macht, rief er sich ins Gedächtnis. Sie überschütten einen mit sämtlichen Details, auf die sie jemals gestoßen sind.
Trotzdem, dachte er, die Jungs von der NASA und die Uni-Profs haben das erbetene Material verdammt schnell geliefert. Wenn es nur nicht so viel wäre!
Er holte tief Luft, dann warf er seinen Computer an und rief das Kommunikationsprogramm auf. Das winzige rote Licht an der Kamera über dem Bildschirm begann zu leuchten.
»Jamie, ich schicke euch gleich eine halbe Tonne Unterlagen darüber, wie ihr Glasbausteine aus den Materialien vor Ort herstellen könnt. Es wird nicht leicht sein, aber es geht.
Ich übersende euch die technischen Anleitungen in komprimierter Form auf dem anderen Kanal. Sie stammen von allen möglichen schlauen Köpfen bei der NASA, beim MIT, dem Caltech und so weiter. Ich glaube, ein paar von ihnen sind sogar Eskimos.
Als erstes müsst ihr einen Sonnenreflektor bauen. Dazu könnt ihr eine der überzähligen Parabolantennen aus dem Lager verwenden und sie mit Aluminiumspray beschichten.
Der Reflektor ist die Wärmequelle für euren Brennofen; ihr müsst Temperaturen von zweitausend Grad Celsius erzeugen, um die Sandpartikel aus dem Marsboden zu schmelzen. Die Sandkörner müsst ihr zunächst mal sehr fein mahlen …«
Eine halbe Stunde später schloss Connors mit: »… und dann habt ihr Glasbausteine, Kumpel. Ist echt ein Klacks.«
Schließlich wandte sich Connors mit einem müden Seufzer jenem Thema zu, das er lieber ignoriert hätte. Aber das konnte er nicht.
»Jamie, der alte Trumball macht immer noch Druck, um dich als Missionsleiter loszuwerden …«
MITTAG: SOL 63
»Ich sehe ihn!«, schrie Dex auf.
Sie hatten gerade einen kleinen Felsvorsprung erklommen, und der Rover tastete sich den steilen Hang zu der ausgedehnten, tief liegenden Senke hinunter, in welcher der Pathfinder und dessen winziger, fahrbarer Sojourner seit nahezu dreißig Jahren still und stumm warteten.
Craig fuhr. Beide Männer waren zottelig und bärtig, und ihre schweißfleckigen Overalls hingen ihnen schlaff um die Körper. Sie grinsten beide von einem Ohr zum anderen.
»Schau!« Dex erhob sich halb aus seinem Sitz und zeigte auf die Felsen. »Da sind die Twin Peaks! Und Yogi! Und Barnacle Bill!«
Craig lachte. »Du tust ja so, als hätteste gar nich damit gerechnet, dass sie hier sind.«
Dex sank wieder in seinen Sitz zurück. Er hatte ein komisches Gefühl im Magen. Sie sind alle da. Sie sind wirklich da. Nachdem ich mir so viele Jahre lang die Bilder und die Videos angeschaut habe, ist es alles real! Es ist wirklich alles passiert. Sie haben die Sonde hier gelandet, zu einer Zeit, als sie kaum eine Tonne Nutzlast zum Mars befördern konnten.
Die Dinger sind Milliarden wert, sagte sich Dex. Viel mehr, als sie damals gekostet haben. Wie ein Gemälde von da Vinci oder van Gogh.
Er wollte am Steuer des Rovers sitzen, wollte das Gaspedal durchtreten und in einer Staubfahne hinunterrasen.
Aber er wusste, dass Wiley das nicht zulassen würde, und er sah ein, dass es wahrscheinlich auch gut so war. Heiliger Herr im Himmel, dachte Dex.
Ich bin so aufgeregt wie ein kleiner Junge zu Weihnachten.
»Vielleicht sollteste die Basis anrufen und Bescheid sagen, dass wir da sind«, schlug Craig vor.
»In Ordnung«, stimmte Dex zu. »Und sorg dafür, dass die Kameras das alles aufzeichnen! Das ist Geschichte, weißt du!«
Craig lachte leise in sich hinein.
Sie parkten fünf Gehminuten vom Pathfinder entfernt, damit sie sich die Gegend ausführlich ansehen konnten, ohne die Landestelle mit den Stollenspuren der Rover-Räder zu verunzieren.
Das alte Raumfahrzeug stand flach und gedrungen da, das verschrumpelte Schutzschild rundum hochgerutscht wie die gerafften Röcke einer alten Dame. Die Maschine wirkte in dieser Marslandschaft seltsam und fremdartig, ein kantiges Metallgebilde inmitten verwitterter Steine auf einer weiten Ebene aus rostrotem Sand. Der Sojourner – so winzig, dass er wie ein fahrbares Spielzeug aussah, das ein Kind aus einem Bausatz zusammengebastelt haben könnte
– stand immer noch mit der Nase an dem Felsen, den man Yogi getauft hatte.
Dex zitterte vor Spannung, als er und Craig in ihre Raumanzüge stiegen. Doch als sie draußen waren, als sie tatsächlich auf dem Marsboden neben den alten Fahrzeugen standen, begann die Aufregung abzuebben.
Sie sind so klein, dachte Dex. Meine Güte, als ich zehn war, hatte ich ein Spielzeugauto, das größer war als der Pathfinder. Und den Sojourner könnte ich mir fast unter den Arm klemmen.
Er drehte sich einmal um sich selbst und musterte das Gebiet mit dem analytischen Auge des Geologen. Hier ist Wasser geflossen, so viel steht fest. Ein Fluss oder vielleicht eine große Flutwelle, die einen Eisdamm durchbrochen hat.
Man sieht überall die Spuren fließenden Wassers.
»Komm«, rief Craig, »machen wir uns an die Arbeit.«
Sie fotografierten das Gebiet sorgfältig, um Vergleiche mit dem dreißig Jahre alten katalogisierten Bildmaterial des Pathfinders anstellen zu können.
»Das Wasser is von da drüben gekommen«, meinte Craig und zeigte hin. »Is mit ganz schönem Karacho hier durchgerauscht, würd ich sagen.«
»Ja, aber wo ist es hin?«
Craig zeigte zum Boden. »Mal sehen, wie tief es liegt.«
Sie gingen zum Rover zurück und holten den Motorbohrer und anderes Werkzeug. Während Craig nach der Permafrostschicht zu bohren begann, stellte Dex drei Baken jeweils zehn Gehminuten vom Pathfinder entfernt auf.
Die Sonne näherte sich bereits dem sanft gewellten Horizont, als Craig schließlich sagte: »Ich hol die Karre lieber mal her. Hab keine Lust, mich mit dem Teil halb totzuschleppen.«
»Bei dieser Schwerkraft wiegt es keine hundertvierzig Kilo«, gab Dex zu bedenken.
Craig war jedoch schon auf dem Rückweg zum Rover.
»Aber mehr als hundertzehn«, entgegnete er. »Je kürzer die Strecke is, die wir's schleppen müssen, desto besser für uns.
Du willst dir hier draußen doch keinen Bruch heben, oder?«
Dex lachte und fing an, die vom Bohrer heraufgeholten Kerne in isolierte Probengefäße zu stecken. Falls Wiley auf eine Permafrostschicht gestoßen war, so konnte man es nicht ohne Weiteres erkennen; die Bohrung war bis in drei
ßig Meter Tiefe gegangen, ohne dass sich die Beschaffenheit des liegenden Gesteins merklich verändert hätte.
Der Rover kam wie eine riesige Metallraupe quietschend über den roten Sand geschuckelt; seine Räder kletterten über die auf dem Boden verstreuten Steine weg. Craig hielt erst an, als die Luke des mittleren Moduls nicht mehr als fünf Meter von dem stillen, gedrungenen Pathfinder entfernt war.
Mit vereinten Kräften hoben sie die Sonde ächzend hoch, hievten sie mit einem »Pass auf das Schutzschild auf« und
»Okay, ich hab sie« auf den Rand der Luke und setzten sie dort ab. Dann stieg Craig ungelenk ins Modul, und sie verfrachteten den Pathfinder schiebend und ziehend ins Innere.
Schweiß stach Dex in die Augen, während er in sich zusammensank, bis er schließlich dasaß und die Rückseite seines Helms an eins der Metallräder des Rovers lehnte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Craig, als er aus der Luke heruntersprang. Zum ersten Mal seit Wochen bemerkte Dex, dass man in der geringen Marsschwerkraft langsamer sprang als auf der Erde.
»Mir geht's gut«, antwortete er. »Ich wünschte nur, ich könnte mir die Augen abwischen.«
»Soll das heißen, du weißt nich, wie du den Arm ausm Ärmel friemelst und die Hand am Halsring vorbeikriegst?«
Dex zwinkerte Schweiß weg. »Willst du damit sagen, du kannst das?«
»Klar.«
»Im Ernst?«
»Klar«, sagte Craig. »Das Problem is bloß, dass du dir dabei die Schulter auskugelst.« Er brach in raues Gelächter aus.
Dex machte ein saures Gesicht, aber es nützte nichts, da Wiley nicht durch die getönte Sichtscheibe schauen konnte.
»Komm schon«, sagte Craig und hielt Dex eine beschuhte Hand hin, um ihn auf die Beine zu ziehen. »Holen wir den kleinen Burschen, dann machen wir Schluss für heute.«
Sie stapften langsam zu dem winzigen Sojoumer-Rover hinüber, der immer noch treu und brav so dastand, dass sein Alpha-Proton-Röntgenstrahl-Spektrometer fast den knolligen Felsen namens Yogi berührte. Auf dem Mars wog er keine elf Pfund, sodass Dex ihn mühelos hochheben konnte.
Als er sich umdrehte, um zum Rover zu gehen, sah er, wie Craig sich bückte, eine mühselige Angelegenheit in dem hartschaligen Anzug.
»Was machst du da, Wiley?«
»Ich bring eine Markierung an, damit die Leute sehn können, wo er gestanden hat.«
»Oh. Hast du das beim Pathfinder auch getan?«
»Jap.«
»Womit markierst du die Stelle?«
»Mit Silberdollars.«
Dex machte große Augen. »Silberdollars? Was, zum Teufel, machst du hier draußen mit Silberdollars?«
Er spürte, wie Wiley versuchte, in dem Anzug die Achseln zu zucken. »Hab ich immer bei mir. Bringen Glück.
Hab sieben Stück gekauft.«
Sie waren fast bei der Luke des Rovers. Dex schaute zu der Stelle hinüber, wo der Pathfinder knapp drei Jahrzehnte lang gestanden hatte. Und wirklich, dort lag ein glänzender neuer Silberdollar.
»Hab damit angefangen, als ich auf den Bohrinseln war«, erklärte Craig. »Die Jungs haben in ihrer Freizeit Karten gespielt, aber nich mit Chips, das kann ich dir sagen. Nur mit Bargeld, sonst gar nichts. Also hab ich angefangen, immer
'n paar Silberdollars mit mir rumzutragen.«
Dex schüttelte nur den Kopf.
»Jamie, ich schicke euch gleich eine halbe Tonne Unterlagen darüber, wie ihr Glasbausteine aus den Materialien vor Ort herstellen könnt«, sagte Pete Connors.
Schmunzelnd betrachtete Jamie Connors' Gesicht auf dem Bildschirm seines Laptops. Ein Glasiglu wäre genau die richtige Lösung für das Gewächshaus. Es müsste nicht mal ein Iglu sein, dachte er, während Connors weitersprach.
Wir könnten einen Würfel über der Gewächshauskuppel errichten und diese dann abmontieren.
Oder vielleicht auch nicht, überlegte er. Die Kunststoffkuppel kann polarisiert werden, sodass sie nachts undurchsichtig ist. Das hält die Wärme im Innern. Glasbausteine kann man nicht polarisieren.
Er wollte gerade seinen Bildschirm teilen und sich die technischen Daten ansehen, als Connors müde seufzte. Seine Stimme wurde ein wenig tiefer.
»Jamie, der alte Trumball macht immer noch Druck, um dich als Missionsleiter loszuwerden. Es spielt keine Rolle, dass Dex und Possum den Sturm heil überstanden haben.
Er will deinen Skalp, und er setzt wirklich alles daran, ihn zu kriegen.«
Jamie hätte beinahe über Connors' Wortwahl gelächelt, dann stellte er sich ganz nebenbei die Frage, warum es ihn nicht störte, wenn der schwarze Astronaut metaphorisch auf die amerikanischen Ureinwohner anspielte, während es ihn ärgerte, wenn Dex Trumball es tat.
Weil du mit Pete nicht in Konkurrenz stehst, gab er sich selbst die Antwort. Weil du so viel mit ihm durchgemacht hast. Weil er dein Freund ist.
Jamie hörte sich Connors' traurige Geschichte bis zu Ende an. Trumball hatte eine Sondersitzung des IUK-Vorstands einberufen. Li Chengdu hatte dem Astronauten erzählt, dass bei dieser Sitzung über die Finanzierung der nächsten Expedition entschieden werden sollte. Die Implikation war klar: Entweder sie entzogen Jamie das Kommando, oder Trumball würde ihnen den Geldhahn zudrehen.
Als Connors endlich fertig war, antwortete ihm Jamie:
»Danke für die Informationen, Pete, für die guten Nachrichten wie auch für die schlechten. Den Tagesbericht habe ich dir auf dem Datenkanal geschickt; es gibt nichts Außergewöhnliches zu vermelden, außer dass Dex und Craig die Pathfinder-Sonde erfolgreich geborgen haben. Morgen früh machen sie sich auf den Rückweg.
Ach, übrigens, Craig möchte lieber Wiley statt Possum genannt werden. Er ist ein bisschen empfindlich in diesem Punkt. Ansonsten sind wir alle wohlauf und gesund. Das wär's für heute.«
Jamie war immer noch im Kommunikationszentrum, als Fuchida hereingehumpelt kam und ihn bat, ins Biologielabor zu kommen.
»Sobald Stacy wieder da ist«, erwiderte Jamie.
Fuchida nickte – es war beinahe schon eine Verbeugung –
und ging.
Fast eine halbe Stunde später klopfte Jamie leise an den Türrahmen des Biologielabors. Fuchida wandte sich auf seinem Drehhocker um und stand rasch auf.
»Bleib sitzen, Mitsuo, bleib sitzen. Immer mit der Ruhe.«
Jamie zog sich den anderen Hocker heran und nahm neben dem Biologen Platz.
Fuchida setzte sich wieder hin, aber sein Rücken blieb steif. Er warf einen kurzen Blick zum offenen Eingang, dann griff er über den Labortisch und zog seinen Laptop-Computer zu sich heran.
»Was wolltest du mir zeigen?«, fragte Jamie. »Ist in den Kernproben irgendeine neue Spezies aufgetaucht?«
»Es geht nicht um Biologie«, sagte Fuchida, während er seinen Laptop startete.
»Nein?«
»Nein. Um Detektivarbeit.«
»Detektivarbeit?«
Auf dem Bildschirm des Laptops sah Jamie eins der Fotos, die er am Morgen nach dem Sturm in der beschädigten Gartenkuppel gemacht hatte.
»Dieses Bild zeigt zwei wichtige Dinge. Siehst du, was ich meine?«, fragte Fuchida. Seine Stimme war leise, fast ein Flüstern.
Jamie schüttelte den Kopf.
»Achte darauf«, sagte der Biologe und zeigte auf den Bildschirm, »dass die Falten im Kuppelmaterial auswärts weisen.«
Jamie nickte. »Ja, das stimmt.«
»Du hast dieses Foto von draußen gemacht«, sagte Fuchida.
»Richtig.«
»Was sagt dir diese Auswärtsfaltung?«
Herrje, dachte Jamie, Mitsuo klingt wie ein SherlockHolmes-Imitator.
»Erklär's mir«, sagte er.
»Die Löcher wurden von innen gemacht, nicht von außen.«
»Nein«, sagte Jamie langsam. »Das ist unmöglich. Was könnte die Kuppel denn von innen heraus durchlöchern?«
Statt ihm eine Antwort zu geben, sagte Fuchida: »Achte darauf, in welcher Höhe sich die Löcher befinden.«
Jamie spähte auf das Bild. »Einen halben bis einen dreiviertel Meter über dem Boden, würde ich sagen.«
»Zweiundsechzig Zentimeter. Ich habe es nachgemessen.«
»Worauf willst du hinaus, Mitsuo?«
Fuchida senkte die Stimme, bis sie fast ein Zischen war, und antwortete: »Es war nicht der Sturm, der die Kuppel beschädigt hat. Die Hülle ist von innen durchlöchert worden. Und zwar absichtlich!«
Jamie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Absichtlich? Du machst Witze!«
»Keineswegs. Die Faltung zeigt deutlich, dass die Löcher von innen und nicht von außen gemacht wurden. Und sie sind in einer Höhe, in der sich die Hand eines Menschen mit nach unten gestrecktem Arm befände.«
Es dauerte eine Weile, bis Jamie klar wurde, dass Fuchida es vollkommen ernst meinte.
»Mitsuo, das kann nicht sein. Keiner von uns würde die Kuppel absichtlich beschädigen.«
Fuchida zeigte wortlos auf den Bildschirm.
Jamie sagte: »Also, erstens mal erwecken die Falten den Anschein, als wäre die Beschädigung von innen erfolgt, weil die Luft aus der Kuppel durch die Löcher nach außen entwichen ist.«
Der Biologe runzelte die Stirn. »Das wäre eine Möglichkeit.«
»Und was die Höhe der Löcher betrifft, dort haben die Steinchen die Hülle halt zufällig getroffen.«
»Beide in derselben Höhe?«
Jamie zuckte die Achseln. »Ein Zufall.«
Fuchida wirkte alles andere als überzeugt.
»Hör mal, Mitsuo, du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass einer von uns während des Sturms absichtlich Löcher in die Kuppel gemacht hat. Das wäre doch Wahnsinn!«
Fuchida nickte. »Zu diesem Schluss bin ich auch gekommen.«
Da Vijay Küchendienst hatte, machte sich Jamie auf den Weg in seine Unterkunft, während Fuchida und Trudy ins Biologielabor abzogen und Stacy und Rodriguez sich wieder ins Kommunikationszentrum begaben, um den letzten Systemcheck des Abends durchzuführen.
In seiner Kabine warf er den Computer an und sah die eingegangenen Nachrichten durch.
Während er die Angaben auf dem Bildschirm überflog, schweiften seine Gedanken zu Fuchidas Detektivarbeit.
Mitsuo reagiert übertrieben, sagte er sich. Wer, zum Teufel, würde absichtlich Löcher in die Gartenkuppel bohren? Und warum? Aus welchem Grund? Das ist doch Unsinn.
Trotzdem, die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen; sie hing wie eine dunkle, unheildrohende Wolke über ihm. Haben wir einen Geisteskranken unter uns? Jamie schüttelte den Kopf und versuchte, sich von diesem Verdacht zu befreien.
Nachdem er seine Nachrichten kurz durchgesehen und festgestellt hatte, dass nichts dabei war, worum er sich unverzüglich kümmern musste, schaltete er den Computer aus und ging wieder in die Messe.
Vijay war immer noch dort. In der Kuppel brannte nur noch die gedämpfte Nachtbeleuchtung. Der Geschirrspüler summte leise vor sich hin, der Tisch war blitzsauber. Sie wartet auf mich, dachte Jamie glücklich.
»Alle anderen schon im Bett?«, fragte er.
»Trudy und Tommy, ja«, erwiderte sie leichthin. »Mitsuo stöbert noch im Garten rum, und Stacy hat das Kommunikationszentrum bis jetzt nicht verlassen.«
»Oh.«
Sie nahm sich einen Becher und einen Teebeutel und ging damit zum Heißwasserspender hinüber. Jamie zog sich einen Stuhl heraus und setzte sich. Er wusste, dass es albern war, aber er wollte abwarten, bis die anderen alle schlafen gegangen waren, bevor er Vijay in seine Kabine mitnahm.
»Mitsuo glaubt, dass jemand die Kuppel absichtlich sabotiert hat«, sagte er und bemühte sich, leise zu sprechen.
»Wie bitte?« Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren vor Überraschung geweitet.
»Er hat Indizien – oder was er dafür hält.«
»Er spinnt.«
»Hoffentlich«, sagte Jamie.
»Ich werde mit ihm darüber reden.« Sie kam mit ihrem Becher zum Tisch und setzte sich neben ihn.
»Nein, warte damit. Ich will zuerst sehen, was er noch vorbringt.«
Vijay warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu, aber dann nickte sie und sagte: »Wenn du meinst.«
»Dex' Vater will mich feuern«, hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung sagen. Er hatte sich etliche Male geschworen, sie nicht mit seinem Problem zu belasten.
»Ich hab mich schon gefragt, wann du endlich damit rausrücken würdest«, sagte sie.
Er verspürte einen kurzen Schock, dann wurde ihm klar, dass es in diesem Treibhaus, in dem sie lebten, keine Geheimnisse gab.
»Also wissen alle darüber Bescheid«, sagte er.
»Natürlich. Wir haben uns überlegt, was wir tun können, um dir zu helfen. Du weißt schon, eine Petition an den IUK-Vorstand schicken, mit Arbeitskampf drohen, was auch immer.«
»Arbeitskampf?«
»Streiken«, sagte sie. »Auf unseren Ärschen sitzen bleiben, bis Trumball aufhört, dich zu schikanieren.«
Sie trank einen Schluck von dem dampfenden Tee und wartete darauf, dass er etwas dazu sagte. Jamie schaute in ihre schimmernden schwarzen Augen und stellte wieder einmal fest, wie schön sie war.
»Wir müssen hier eine ganze Welt erforschen«, sagte er zu ihr. »Wir können nicht streiken. Das würde nichts bringen.«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Ich habe darüber nachgedacht.«
»Und?«
»Trumball droht, die Mittel für die nächste Expedition zu sperren.«
»Er erpresst sie damit, ich weiß.«
»Ich kann nicht zulassen, dass er die nächste Expedition stoppt, Vijay. Das wäre kriminell.«
»Und wie kannst du ihn dann stoppen?«
Er lehnte sich zurück und starrte ins Dunkel hinauf.
Eine ganze Weile war es still, bis auf das leise Tuckern der Lebenserhaltungspumpen, das schwache, wispernde Summen elektrischer Geräte. Und das hohe, fast unhörbare Seufzen des Nachtwinds draußen, den Atem einer Welt, die ihn rief.
Dann hörte er, wie Vijay die Luft ausstieß, und merkte, dass sie mit angehaltenem Atem auf seine Antwort gewartet hatte.
»Ich könnte zurücktreten«, sagte er ausdruckslos.
»Zurücktreten?«
»Mein Amt als Missionsleiter niederlegen. Schließlich bin ich hier auf dem Mars; er kann mich nicht zur Erde zurückholen. Ich werde bis zum Ende der Expedition hier sein.
Was macht es schon aus, ob mein Titel Missionsleiter oder Flaschenwäscher ist?«
Vijay knallte ihren Becher so hart auf den Tisch, dass der Tee überschwappte.
»Das kannst du nicht machen, Jamie! Das darfst du nicht!«
»Warum nicht? Was bedeutet der Titel schon? Es kommt doch darauf an, was wir hier auf dem Mars tun.«
»Aber er wird Dex die Leitung übertragen!«
»Das glaube ich nicht. Ich glaube, ihr werdet alle Gelegenheit bekommen, eure Meinung zum Ausdruck zu bringen.
Vielleicht gibt es eine Abstimmung.«
Sie schüttelte vehement den Kopf. »Das würde uns zerreißen, Jamie. Einige würden für Dex stimmen, und alle anderen würden als Gegenstimmen wahrgenommen werden.«
»Ja«, gab er zu, »das kann sein.«
»Du darfst nicht zurücktreten! Das würde alles kaputtmachen.«
»Ich glaube nicht …«
»Du willst zu der Felsenbehausung fahren, nicht? Glaubst du, Dex würde das zulassen?«
»Ich glaube nicht, dass Dex zum Leiter ernannt werden würde«, wiederholte er.
»Wer dann?«
»Ich wäre für Stacy.«
»Die ist keine Wissenschaftlerin.«
»Dann Wiley.«
»Wiley? Glaubst du, er genießt den gleichen Respekt wie du? Kannst du dir vorstellen, dass Mitsuo Wileys Befehle befolgt?«
»Es geht nicht darum, Befehle zu befolgen«, sagte er.
»Aber natürlich! Genau darum geht es beim Posten des Missionsleiters.«
Jamie schüttelte den Kopf. »Komm schon, Vijay, ich gebe den Leuten keine Befehle. Wir arbeiten alle zusammen.«
Sie setzte sich kerzengerade auf und tippte mit einem manikürten Fingernagel auf die Tischplatte. »Du gibst keine Befehle, weil du's nicht brauchst. Jeder hier hat enormen Respekt vor dir. Verstehst du das nicht? Du gehst mit leuchtendem Beispiel voran. Du bist ein natürlicher Anführer.«
»Das ist Dex auch, deinen Worten zufolge.«
»Dex will das werden, was du schon bist. Er ist noch nicht so weit.«
»Und wenn ich aufgebe, wenn ich zurücktrete«, Jamie bekam die Worte kaum heraus, »und Dex zum Missionsleiter ernannt wird … was wirst du dann tun?«
Sie sog scharf die Luft ein, als hätte sie jemand geschlagen.
Für lange, quälende Momente war sie still.
»Was ich tun werde?«, wiederholte Vijay. Ihre Stimme war so leise, dass er sie kaum hören konnte.
»In Bezug auf uns«, flüsterte Jamie.
Sie starrte ihn an.
»Ich meine …«
»Mein Gott, Jamie«, sagte sie mit zitternder Stimme,
»wenn du denkst, dass ich nur mit dir schlafe, weil du hier der Boss bist … wenn du denkst, ich springe mit Dex ins Bett, wenn er zum Leiter ernannt wird …«
»Ich … aber du hast gesagt …«
»Du bist ein Idiot!«, fuhr sie ihn an. »Ein verdammter, blöder Idiot!«
Sie stapfte davon, zu ihrer eigenen Kabine, und ließ den Becher in einer kleinen Teepfütze auf dem Tisch stehen. Jamie sah ihr nach und sagte sich, dass sie Recht hatte: Ich bin ein Idiot.
VOR TAGESANBRUCH: SOL 64
Jamie wusste, er hätte eigentlich müde sein müssen, aber er war hellwach. Grimmig wach.
Er saß in seinem Overall am Schreibtisch in seiner Kabine, und der Lichtschein vom Bildschirm seines Laptops hob sein Gesicht aus dem Dunkel und warf einen trüben, unförmigen Schatten an die Wand hinter ihm. Ich möchte wissen, wie viel Uhr es in Boston ist, dachte er.
Das eingefrorene Bild auf dem Monitor zeigte Darryl C.
Trumball an seinem Schreibtisch. Er starrte in die Kamera, das Gesicht zu einer zornigen, finsteren Miene erstarrt, einen Füllfederhalter mit einem edlen Abschlussknopf in der Hand. Jamie studierte Trumballs Bild, versuchte, die Seele hinter dem harten Äußeren zu finden. Was will er, fragte er sich. Warum will er mich loswerden?
Jamie hatte Trumball über eine Stunde zuvor eine schlichte Botschaft geschickt:
»Im Interesse der Harmonie unter den Mitgliedern des IUK-Vorstands bin ich bereit, mein Amt als Missionsleiter niederzulegen«, hatte er gesagt, »vorausgesetzt, dass Stacy Deschurowa an meiner Stelle ernannt wird und eine Exkursion zu der potenziellen Felsenbehausung in Tithonium Chasma in unseren Missionsplan aufgenommen wird.«
Die Worte Harmonie unter den Mitgliedern des IUK-Vorstands waren eine Chiffre, der darauf abzielte, die Finanzierung der nächsten Expedition zu gewährleisten.
Trumball hatte gedroht, die Mittel zu sperren, wenn Jamie nicht von seiner Position abberufen wurde. Ohne es in so viele Worte zu kleiden, bot Jamie seinen Kopf für eine finanzielle Zusicherung an. Und für das Versprechen, ihm die Erforschung der Felsenbehausung zu erlauben.
Jetzt saß er da, wartete auf Trumballs Antwort und betrachtete das aus einer früheren Nachricht stammende Standbild des alten Mannes. Er öffnete ein Fenster auf dem Bildschirm und überprüfte die aktuelle Zeit in Boston.
Zwölf Minuten nach zwei. Trumball müsste da sein; wenn nicht, hätte ihm das inzwischen sicher jemand mitgeteilt.
Nein, er überlegt es sich. Oder vielleicht will er mich einfach noch eine Weile in meinem eigenen Saft schmoren lassen. Das sähe so einem wie ihm ähnlich, der Macht-Trip, das pure Ego und kein Gedanke an andere Menschen.
Vielleicht versucht er, die Sache mit Dex zu besprechen, dachte Jamie. Doch als er Trumballs Bild auf dem kleinen Monitor anstarrte, wurde ihm klar, dass dieser Mann sich mit niemandem besprach. Er traf seine Entscheidungen aus seinen eigenen Gründen und walzte jeden platt, der sich ihm entgegenstellte. Oder es versuchte.
Jamie hatte eine schlimme Stunde verbracht, nachdem Vijay aus der Messe gestürmt war. Er fragte sich, wie die anderen seinen Rücktritt aufnehmen würden, fragte sich vor allem, wie Dex reagieren würde. Ich tue Stacy keinen Gefallen, sagte er sich, wenn ich sie auf den Schleudersitz hieve.
Aber es muss sein, erkannte er. Trumball wird sonst so viel Ärger machen, dass die nächste Expedition niemals vom Boden abheben wird.
Das hatte für ihn den Ausschlag gegeben. Es muss eine dritte Expedition geben. Und eine vierte, fünfte und fünfhundertste. Wir müssen eine ganze Welt erforschen! Ich darf nicht zulassen, dass mein Ego das verhindert. Dann wäre ich genauso schlimm wie Trumball.
Er war in seiner kleinen Kabine mehrere Kilometer auf und ab marschiert, vier Schritte in die eine Richtung, vier Schritte in die andere, von der Liege zur Falttür und wieder zurück, stundenlang. Hatte sich den Kopf zerbrochen, nach dem inneren Gleichgewicht gestrebt, sich zerrissen bei dem Versuch, den richtigen Weg zu finden. Endlich erkannte er, worin dieser bestand, worin er bestehen musste.
Das ist kein Willenskampf zwischen Trumball und mir. Es ist kein Kampf der Alpha-Männchen zwischen Dex und mir. Hier geht es um nicht mehr und nicht weniger als die Erforschung des Mars.
Die Entscheidung befreite ihn. Beruhigte ihn. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete den Laptop und schickte Trumball seine Botschaft.
Nun wartete er auf die Antwort des alten Mannes.
Und erkannte tief im Innern, wo die hohlen Schauder der Furcht entspringen, dass er Vijay verloren hatte. Ihren Respekt. Ihre Liebe.
An seinem Laptop begann die Leuchtanzeige für eingegangene Botschaften zu blinken wie ein gelbes Auge, das ihm zuzwinkerte.
Jamie drückte auf die Taste, und Trumballs Standbild schien lebendig zu werden. Da saß er, hinter demselben Schreibtisch, mit einem anderen Federhalter in der Hand, und sah Jamie mit einem mürrischen Ausdruck auf dem kalten, strengen Gesicht an.
»Ich habe Ihre Nachricht erhalten«, sagte Trumball. Seine Stimme war kratzig und rauh. »Ich werde dafür sorgen, dass der Vorstand Ihren Rücktritt annimmt. Vermutlich schicken Sie ja eine ähnlich lautende Nachricht an jedes einzelne Vorstandsmitglied.«
Trumball rutschte nervös auf seinem dicken Ledersessel mit der hohen Lehne hin und her, fummelte mit seinem Federhalter herum und fuhr dann fort: »Was die von Ihnen vorgeschlagene Miss Deschurowa betrifft – ich weiß nicht so recht. Werden die anderen Wissenschaftler dort oben sie akzeptieren, oder hätten sie lieber einen der ihren als Missionsleiter? Ich würde gern erfahren, was sie denken.«
Jamie war überrascht, dass Trumball nicht unumwunden auf der Ernennung seines Sohnes zum Missionsleiter bestand.
»Mit Ihrer Forderung, eine Exkursion zu Ihrer angeblichen Felsenbehausung unternehmen zu können, bin ich einverstanden, sofern die anderen dort oben ebenfalls einverstanden sind. Dank meines Sohnes haben Sie ein zusätzliches Rover-Fahrzeug. Fahren Sie damit dorthin und sehen Sie sich um. Wenn es die Felsenbehausung wirklich gibt, wird sie die größte Touristenattraktion seit der Kreuzigung werden.«
Das Bild erlosch. Trumball hatte gesagt, was es zu sagen gab, er hatte seinen Kopf durchgesetzt. Jamie saß da und fühlte sich, als hätte ihm ein Schwergewichtsboxer in den Magen geschlagen.
Eine Touristenattraktion. Die größte Entdeckung in der Geschichte der Welt – der Geschichte zweier Welten! –, und er kann nur an eine gottverdammte Touristenattraktion denken!
Jamie wäre am liebsten aufgesprungen und hätte laut geschrien. Ich werde für ihn arbeiten, erkannte er. Wenn die Felsenbehausungen existieren, führe ich ihn zu ihnen, damit er drum herum ein beschissenes Disneyland errichten kann!
Ich werde eine Judasziege sein! Jemand, der alles und jeden verrät.
Er vergrub den Kopf in den Händen. Er wollte weinen, aber er wusste, dass er es nicht konnte.
Im Ares Vallis war die Sonne bereits aufgegangen, und Dex saß am Steuer des Rovers, während Craig frühstückte.
Sie hatten beschlossen, von nun an abwechselnd zu essen, statt für die Mahlzeiten anzuhalten.
Der Kommunikationsbildschirm flackerte, dann formte sich darauf Jamies dunkles, ernstes Gesicht. Dex stellte mit einem kurzen Blick fest, dass Jamie schrecklich aussah; er hatte rote Augen und tiefe Falten, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.
»Ich nehme an, ich habe euch nicht geweckt«, begann Jamie. Seine Stimme war angespannt, beinahe heiser.
»Nein, wir kutschieren schon seit fast einer Stunde durch die Gegend«, sagte Dex quietschvergnügt.
Ohne weitere Einleitung sagte Jamie: »Ich habe deinem Vater gerade erklärt, dass ich bereit bin, von meinem Posten als Missionsleiter zurückzutreten. Ich habe vorgeschlagen, dass Stacy den Job übernimmt.«
Dex spürte die Krallenfinger der Überraschung, dann hörte er sich fragen: »Was hat mein Vater gesagt?«
»Er hat gesagt, er sei einverstanden, sofern ihr anderen auch einverstanden wärt.«
Mistkerl, dachte Dex. Der liebe alte Dad würde mich niemals für den Posten vorschlagen, der doch nicht. Er glaubt nicht, dass ich der Aufgabe gewachsen wäre.
Zu Jamie sagte er: »Was halten die anderen in der Kuppel von der Sache?«
»Sie wissen noch nichts davon. Um diese Zeit schlafen sie alle noch.«
Craig kam ins Cockpit, auf einem Stück vorgegartem Omelett herumkauend, und glitt auf den rechten Sitz.
»Sie werden keine Einwände gegen Stacy haben«, sagte Dex und versuchte, sich seinen brodelnden Zorn nicht anmerken zu lassen.
»Habt ihr welche?«, fragte Jamie.
»Sie is keine Wissenschaftlerin«, meinte Craig.
Jamie nickte ernst. »Aber sie weiß, was sie tut, und sie versteht, was wir tun. Ich glaube, sie ist die Beste für den Job.«
»Scheint so«, fauchte Dex.
Craig sagte: »Ich hab nix an ihr auszusetzen. Sie is 'n heller Kopf.«
»Ich möchte gern eine einstimmige Entscheidung haben, Dex«, sagte Jamie.
»Klar. Warum nicht?«
»Du bist einverstanden?«
»Hab ich doch gesagt, oder?«
»Okay, okay. Danke.«
»Keine Ursache.«
Sobald Jamies Bild erlosch, beugte sich Craig hinüber und legte Dex die Hand auf die Schulter. »Findste, der Job hätte an dich gehn müssen?«
Dex grinste seinen zottelbärtigen Partner an. »Um die Wahrheit zu sagen, Wiley, ich glaube, Stacy ist besser für den Job geeignet als ich.«
»Von wegen.«
»Ehrlich. Aber das heißt nicht, dass ich nicht gern der Boss wäre!«
»Bist du sauer auf Jamie, weil er dich nicht vorgeschlagen hat?«, bohrte Craig.
»Nein.« Dex schüttelte den Kopf. Und merkte, dass es stimmte. Er verspürte keinen Ärger auf Jamie. Die Rothaut tat nur, was ihrer Ansicht nach das Beste für die Mission war.
Aber der liebe alte Dad, dachte Dex und bebte innerlich vor Zorn. Der alte Scheißkerl würde keinen Finger für mich rühren. Er glaubt nicht, dass ich's packen würde. Er traut mir nicht zu, dass ich überhaupt irgendeine Verantwortung tragen könnte.
Dex trat fester aufs Gaspedal. Ich werd's ihm schon zeigen. Ich werd's allen zeigen.
Wie, wusste er nicht. Aber er spürte, wie sich eine stahlharte, messerscharfe Entschlossenheit in ihm festigte. Es ist mir gleich, ob Jamie die Leitung hat oder Stacy oder der verdammte Mann im Mond. Ich werde diese Expedition führen, so oder so.
Jamie sah den seltsamen, beinahe wilden Ausdruck auf Dex' bärtigem Gesicht, bevor er die Satellitenverbindung zum Rover beendete. Er ist wütend; stinksauer. Er wollte Missionsleiter werden, und nun kocht er, weil er den Job nicht bekommt.
Er stand von seinem kleinen Schreibtisch auf und streckte sich, ließ Sehnen knallen und Wirbel knacken.
Jetzt bin ich's los, dachte Jamie. Jetzt kann ich mich darauf konzentrieren, noch einmal nach Tithonium zu fahren und nachzusehen, worum es sich bei diesem Felsengebilde wirklich handelt.
Stacy wird es nicht leicht haben, dachte er. Dex wird ihr im Nacken sitzen, sobald er hierher zurückkommt.
Er schüttelte den Kopf. Das ist jetzt nicht mehr dein Problem. Nun kannst du endlich das tun, wozu du hergekommen bist. Nur noch eine Sache, dann bist du ein freier Mann: Du musst Stacy die frohe Botschaft überbringen.
Und den anderen. Sie werden alle zustimmen, dass Stacy die Richtige für den Job ist. Die Entscheidung wird einstimmig fallen, keine Angst.
Du musst es ihnen nur sagen.
Und Vijay auch.