VIERTES BUCH. DIE ENTSCHEIDUNG

Hört die weisen Worte der Alten. Cojote ist der Listenreiche, der dem Volk Leiden beschert. Aber manchmal hilft er ihm auch. Niemand kann ganz und gar schlecht sein. Oder ganz und gar gut.


NACHMITTAG: SOL 342

»Ein Ding von Schönheit is 'n Glück für immer«, sagte Wiley Craig. In seinem Ton lag echte Anerkennung.

Die Ummantelung des Gartens neben der neuen Kuppel war endlich fertig, eine rechteckige Konstruktion aus Glasbausteinen, ausschließlich aus Stoffen erbaut, die im Marssand vorhanden waren. Craig und Rodriguez standen neben der großen Parabolschüssel des Solarspiegels, der ihnen die Hitze für den Brennofen geliefert hatte, und bewunderten ihr Werk.

Rodriguez nickte in seinem Helm. »Wir haben sie auch in Rekordzeit fertig gestellt.«

Craig lachte. »Na, war ja nich so 'n toller Rekord, den wir da zu schlagen hatten, Tom. Und dazu kommt, dass während der Bauarbeiten niemand verletzt worden is.«

Rodriguez bewegte seine zernarbte Hand im Handschuh und murmelte: »Ja, das stimmt.«

Die neue Kuppel stand zusammen mit ihrem Garten-Gewächshaus am Rand der Steilwand des Canyons. Vier Buckyball-Seile liefen an der Nische mit dem uralten Gebäude vorbei nach unten, bis zum Boden der Schlucht.

Hall und Fuchida waren dort unten und studierten die Flechte im Gestein, während ein neuer Bohrer vor sich hintuckerte und in der Tiefe lebende Bakterien aus dem Bereich unter der Permafrostschicht heraufholte.

Die neue Kuppel war mit der unbemannten Nachschubmission von der Erde gekommen, zusammen mit einem flexiblen Zugangstunnel, der sich per Fernsteuerung mit der Luftschleuse eines Rovers verbinden ließ, und zwar entweder aus dem Innern der Kuppel oder aus dem Innern des Rovers heraus. Nun konnten die Forscher den Weg vom Rover zur Kuppel und umgekehrt ohne Raumanzug zurücklegen.


Der Nachschub-Lander hatte auch einen ähnlichen Tunnel für die alte Kuppel mitgebracht, die noch immer an ihrem ursprünglichen Platz auf Lunae Planum stand. Deschurowa und Fuchida montierten ihn gerade an die Luftschleuse.

Im Verlauf der letzten sechs Monate hatten die Forscher die Verbreitung der Flechte über das gesamte Antlitz des Mars kartiert. Fuchida war erneut zum Olympus Mons geflogen, um noch mehr Proben der Ares olympicus-Bakterien zu sammeln, und hatte dann – mit fast schon delirösem Entzücken – ähnliche Arten steinfressender Bakterien in zwei weiteren Tharsis-Schildvulkanen entdeckt.

Deschurowa hatte trotz ihrer brennenden Sehnsucht, wieder einmal in die Luft zu kommen, nur bei einem dieser Flüge mit Fuchida am Steuerknüppel gesessen. Die Pflichten der Missionsleiterin lasteten schwer auf ihr, aber sie konnte ihre Liebe zum Fliegen nicht ganz überwinden. »Mit dem Rang sind immerhin einige Privilegien verbunden«, sagte sie in bestimmtem Ton, als sie ihre Entscheidung bekannt gab, das Raketenflugzeug zu fliegen.

Fuchida organisierte sämtliche Exkursionen zu den Vulkanen und führte sie auch selber durch. Trudy Hall war eigentlich für die Hälfte davon eingeteilt, aber die beiden Biologen erklärten, Trudy wolle sich lieber mit der Flechte auf dem Boden des Canyons beschäftigen und Fuchida die Vulkane überlassen.

Als Dex Trudy damit aufzog, dass sie wohl Angst vorm Fliegen hätte, sprang ihr Tomas bei. »Glaubst du etwa, es ist nicht Furcht einflößend, an diesem Seil vier Kilometer rauf und runter zu fahren? Mann, ich fühl mich erheblich sicherer, wenn ich in irgendwas sitze, das wenigstens Flügel hat.«

Stacy arbeitete einen präzisen Arbeitsplan für alle acht aus. Dieser Plan sah vor, dass Jamie in der neuen Kuppel am Canyon blieb, während Stacy selbst die meiste Zeit in der alten Basis auf Lunae Planum verbrachte. Jamie staunte darüber, wie sie es schaffte, Vijay fern zu halten, wenn er und Dex am selben Ort waren. Er sah Vijay, wenn Dex nicht da war, und er wusste, dass sie Dex sah, wenn er nicht da war.

Jamie hatte nicht mehr mit Vijay geschlafen, seit er von seinem Posten als Missionsleiter zurückgetreten war. Er sagte sich immer wieder, dass sie mit Dex auch nicht schlief.

Er gab sich alle Mühe, es zu glauben, und meistens gelang es ihm auch. Aber es gab Momente, wenn Dex mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht von einer Fahrt zur alten Kuppel zurückkehrte, da brannte Jamie innerlich.

Trotzdem verstand er sich gut mit Dex. Wenn Vijay nicht da war, arbeiteten und aßen sie Seite an Seite. Sie stellten Vermutungen über das marsianische Bauwerk und die Marsianer selbst an. Und sie machten sich Gedanken über den Tag, an dem Dex' Vater eintreffen würde, um seine kommerziellen Operationen in Angriff zu nehmen.

»Warum bringen wir das IUK nicht dazu, dieses Gebiet zu beanspruchen?«, schlug Dex eines Abends vor, als sie beide über zwei Bechern Kaffee in der Messe der neuen Kuppel hockten.

Jamie wandte sich über Connors an Dr. Li und über Li an den Vorstandsvorsitzenden des IUK.

Walter Laurences normalerweise stets gelassene Miene wirkte gequält, als er schließlich auf Jamies flehende Botschaften antwortete. Jamie wartete bis spät in der Nacht, ehe er Laurences Botschaft öffnete; in der Kuppel war es still, die Beleuchtung war gedämpft, die meisten anderen schliefen bereits.

Selbst auf dem Bildschirm von Jamies Laptop machte der Direktor des Internationalen Universitätskonsortiums einen aufgeregten, unglücklichen Eindruck.

»Dr. Waterman«, begann er steif, und seine erdbraunen Augen schauten etwas zu weit nach unten, auf sein Bild auf dem Monitor statt in die Kamera darüber, »der gesamte IUK-Vorstand hat ihre Bitte sehr ausführlich erwogen.«

Jamie sah schweigend zu, wie Laurence sich durch ein langes, verschlungenes Sortiment von Ausreden wand. Der Mann fuhr sich immer wieder mit einer Hand durch seine dichte, silberne Mähne, als wäre er in großen Nöten.

»Also, langer Rede kurzer Sinn«, schloss Laurence endlich, »der Vorstand ist der Ansicht, dass es unangebracht wäre, wenn das IUK das Nutzungsrecht für irgendeinen Teil des Mars beanspruchen würde – ebenso wie für irgendeinen anderen Himmelskörper im Sonnensystem. Wir haben uns der wissenschaftlichen Forschung verschrieben, nicht der Grundstückserschließung.«

Als Jamie zu Dex' Kabine ging, kam ihm der schon entgegen.

»Hast du Laurences Antwort gesehen?«, fragte Jamie überflüssigerweise.

»Hat so viel Rückgrat wie ein Schleimpilz, der Kerl«, grollte Dex. »Er und sein ganzer verdammter Vorstand.«

»Sie werden es nicht riskieren, sich den Zorn deines Vaters zuzuziehen.«

»Nein«, stimmte Dex zu. »Geld regiert eben die Welt.«

»Wir haben nur noch dreißig Tage, bis die Unterstützungsmission startet.«

»Mit dem lieben alten Dad an Bord.«

Sie gingen zusammen durch die halbdunkle Kuppel zur Messe. »Kommt dein Vater wirklich mit?«

»Er hat alle Tests bestanden. Hat mir ein Video geschickt –

Dad im Raumanzug, wie er im großen Wassertank in Huntsville Notfallprozeduren übt.«

»Ja, ja, Geld regiert die Welt«, knurrte Jamie.

Während der ganzen letzten sechs Monate hatte Fuchida sich Jamie geschnappt, wann immer es möglich war, um ihn davon zu überzeugen, dass einer der Forscher absichtlich ihre Ausrüstung sabotierte.

Das defekte Radlager des Rovers, den Stacy gefahren hatte, war zum Zankapfel geworden. Mitsuo untersuchte es und behauptete, er sähe Hinweise darauf, dass jemand sich daran zu schaffen gemacht habe.


»Siehst du diese Kratzer hier an der Dichtung, die versagt hat?« Der Biologe zeigte sie ihm. »Das war Absicht! Jemand hat die Dichtung zielbewusst aufgestemmt, damit Staub eindringen konnte und das Lager sich festfraß.«

Jamie schaute sich das Radlager in Mitsuos Hand genau an. Er sah die Kratzer, musste dem Biologen aber sagen, dass man nicht erkennen konnte, ob sie durch eine absichtliche Beschädigung entstanden waren.

»Wie denn sonst?«, wollte Fuchida wissen.

»Durch Staubpartikel«, meinte Jamie. »Oder vielleicht durch Steinchen, die von dem Rad aufgewirbelt worden sind.«

Der Biologe schüttelte störrisch den Kopf.

»Ich könnte Wiley bitten, sich das Lager mal anzuschauen«, sagte Jamie. »Mal sehen, was er meint.«

»Bringt nichts, wenn er der Saboteur ist«, erwiderte Fuchida deprimiert.

Jedes Mal, wenn ein Gerät nicht funktionierte oder wenn es einen kleinen Unfall gab, wenn einer der Forscher stolperte oder sich auf irgendeine Weise eine Blessur zuzog, fügte Fuchida es der Liste der ›Indizien‹ hinzu, die er sammelte. Mindestens einmal pro Woche rief er Jamie an, meistens nachts, wenn alle anderen schliefen – und selbst dann wirkte er heimlichtuerisch, misstrauisch und argwöhnisch.

Schließlich blieb Jamie nichts anderes übrig, als ihm zu erklären: »Mitsuo, du wirst allmählich paranoid, was diese Sache betrifft.«

Überraschenderweise stimmte der Biologe ihm zu. »Ich weiß«, sagte er mit leiser, angespannter Stimme. »Ich frage mich langsam, ob ich verrückt werde. Warum bin ich der Einzige, der sieht, was hier vorgeht?«

Jamie versuchte, es von der leichten Seite zu nehmen.

»Vielleicht bist du schlauer als alle anderen.«

»Oder verrückter«, gab Fuchida zu.

Durchaus möglich, dachte Jamie.


TAGEBUCHEINTRAGUNG

Nichts klappt richtig. Was ich auch tue, sie ignorieren es. Ich weiß, dass sie mich beobachten, aber sie wollen es nicht zugeben.

Sie wollen nicht zu mir kommen und es mir ins Gesicht sagen.

Hinter meinem Rücken reden sie natürlich über mich. Oder vielmehr, sie flüstern. Ich höre sie flüstern, wenn sie glauben, dass ich nicht zuhöre, sie nicht beobachte. Ich werde drastische Schritte unternehmen müssen. Die armen, fehlgeleiteten Narren! Sehen sie nicht, dass ich ihnen das Leben retten will? ]e länger wir hier auf dem Mars bleiben, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir alle sterben. Da ist es besser, einen oder zwei von ihnen zu töten und die übrigen zu retten. Wir müssen weg von hier!

Zurück zur Erde, wo wir in Sicherheit sind. Lieber ein paar opfern und die anderen retten.


MORGEN: SOL 358

Jamie erwachte langsam. Die Überreste eines verstörenden Traums schwanden aus seinem Bewusstsein wie eine Fata Morgana, die sich auflöste, als er sie zu erreichen versuchte.

Irgendwas über die Marsianer, dachte er, obwohl er sich undeutlich erinnerte, dass Fuchida in seinem Traum vorgekommen war; er hatte verzweifelt versucht, ihm etwas zu erzählen, jedoch kein Wort herausbekommen.

Ein Mini-Albtraum, entschied Jamie, als er sich rasch duschte und rasierte. Du musst den äußeren Schein wahren, sagte er sich, während er sich mit dem Elektrorasierer übers Kinn fuhr. Das Summen des Geräts klang matt, tiefer als normal. Die Batterien mussten aufgeladen werden. Das lenkte seine Gedanken auf den Atomgenerator, der einen vollen Kilometer von der Kuppel entfernt vergraben war.

Zu Hause hatten die Leute noch immer einen Horror vor der Atomkraft. Hier könnten wir nicht ohne sie auskommen.

Hier ist dein Zuhause, Jamie, hörte er seinen Großvater flüstern. Jene andere Welt ist nichts für dich. Diese hier schon.

»Für eine Weile, Großvater«, antwortete Jamie mit einem kaum hörbaren Flüstern. »Nur bis Trumball kommt, um sie uns wegzunehmen.«

Er schlüpfte in seinen Overall und setzte sich niedergeschlagen auf seinen Schreibtischstuhl. Wir machen einfach routinemäßig weiter, sagte er sich. Die Aufregung ist verflogen. Jetzt sammeln wir nur noch Datenbröckchen wie ein Haufen Studenten, führen die Arbeitsabläufe durch, die die Professoren auf der Erde für uns festgelegt haben.

Seit Monaten hatten sie nichts Neues mehr entdeckt. Das leere, stille Bauwerk in der Felswand behielt seine Geheimnisse hartnäckig für sich, gab nichts preis. Abgesehen davon, dass allein schon seine Existenz so viel erzählte.

Was wissen wir, fragte sich Jamie zum tausendsten Mal in dieser Woche.

Wir wissen, dass es auf dem Mars Leben gibt: Flechten in einigen Steinen an der Oberfläche und Bakterien tief unter dem Regolith.

Wir wissen, dass hier einmal intelligente Marsianer gelebt und dieses Bauwerk in der Felswand errichtet haben.

Wir wissen, dass sie nicht mehr existieren.

Wir sind ziemlich sicher, dass sie vor ungefähr fünfundsechzig Millionen Jahren von einem oder mehreren Meteoriteneinschlägen ausgelöscht wurden.

Und das wär's. Sie hatten eine Schrift entwickelt.

Vielleicht verstanden sie sogar, was ihnen widerfuhr.

Aber wir konnten nirgends auf dem ganzen Planeten auch nur ein einziges weiteres Gebäude finden. Wir können ihre Schrift nicht lesen und werden sie wahrscheinlich auch nie lesen können.

Weshalb suchen wir also mechanisch weiter den Planeten ab und stochern in der Nische herum, in der das Bauwerk steht? Wir haben weder die Geräte noch die Leute, um mehr zu finden. Wir wissen nicht einmal die elementarsten Dinge, um herausbekommen zu können, wer oder was sie waren. Sie könnten den ganzen Planeten mit ihren Städten und Farmen überzogen haben, aber nach fünfundsechzig Millionen Jahren ist nichts mehr von ihnen übrig, sie sind verschwunden, von Staub bedeckt oder selbst zu Staub geworden.

Wir verschwenden hier unsere Zeit, gestand Jamie sich ein. Selbst die VR-Shows, die wir zur Erde ausstrahlen, haben ihren Reiz verloren; das Publikum hat sich auf Schulen und Museen reduziert. Wir könnten genauso gut einpacken und heimfliegen.

Dann sah er Trumball, seine Hotelbauer und die Touristen, die er zum Mars bringen wollte. Bulldozer, Busse und Einkaufszentren, in denen man Marsianerpuppen aus Plastik erstehen konnte.

Grimmig wandte er sich seinem Laptop zu und schaltete ihn ein, um sich noch einmal den Arbeitsplan für diesen Tag anzusehen.

Stattdessen blickte ihm Pete Connors' schokoladebraunes, fröhlich grinsendes Gesicht vom Bildschirm entgegen.

»Herzlichen Glückwunsch! Eure Landung auf dem Mars liegt heute genau dreihundertfünfundsechzig Tage zurück.

Ihr seid jetzt ein volles Jahr auf dem Planeten. Ein echter Meilenstein, Jungs.«

Jamie sah Connors' Bild verständnislos an. Wir haben erst Sol dreihundertachtundfünfzig, sah er an der Datumszeile unten auf dem Bildschirm.

Dann lächelte er knapp, trotz seiner lustlosen Stimmung.

Natürlich, sagte er sich. Dreihundertfünfundsechzig Erdentage, nicht Marstage. Ein volles Erdenjahr.

Ihm war nicht nach Feiern zumute.

In der Hauptkuppel war Vijay mit den Gedanken ebenfalls beim Kalender.

»Es ist wirklich eine Leistung«, sagte sie zu Stacy, »und die sollten wir irgendwie feiern.«

Die beiden Frauen befanden sich in Vijays telefonzellengroßem Krankenrevier. Deschurowa war bis auf BH

und Höschen ausgezogen. Sie hatte eine Blutdruckmanschette um den linken Arm, und sechs medizinische Sensorpflaster klebten vorn und hinten auf ihrem kräftigen Brustkasten.

»In welcher Form?«, fragte sie wachsam. Als Kosmonautin misstraute sie Ärzten, besonders solchen, die obendrein noch Psychiater waren. Es war ihr Job, Gründe zu finden, um Flieger am Boden festzuhalten, dachte Deschurowa.

»Ich weiß nicht genau«, erwiderte Vijay, scheinbar ohne die latente Feindseligkeit ihrer Patientin zu bemerken. »Die Gruppe ist ja jetzt auf die beiden Kuppeln aufgeteilt, da ist es schwierig, alle zu einer ordentlichen Fete zusammenzubringen.«


»Kein Alkohol«, sagte Deschurowa klipp und klar.

»Ich meinte kein Besäufnis«, verbesserte sich Vijay rasch, ein Auge auf den Monitoren. Deschurowa schien so weit gesund zu sein; Blutdruck ein bisschen niedriger als sonst, aber durchaus noch innerhalb akzeptabler Grenzen.

»Was dann?«

Vijay zuckte die Achseln und wickelte die Manschette vom fleischigen Oberarm der Kosmonautin. Deschurowa zog mit der freien Hand die Sensoren ab.

»Wir brauchen irgendwas«, sagte Vijay. »Die Moral sinkt allmählich auf einen Tiefstand. In den letzten Monaten haben wir immer nur gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet. Es ist überhaupt nichts Aufregendes passiert. Das ist nicht gut für unsere seelische Verfassung.«

»Trudy und Tom scheinen glücklich zu sein.« Deschurowa stand vom Untersuchungstisch auf und griff nach ihrem Overall.

»Wenn sie zusammen sind, ja«, stimmte Vijay zu. »Aber wenn nicht, bläst Tommy schon öfters mal Trübsal.«

Stacy schüttelte den Kopf. »Ich kann den Arbeitsplan ja nicht an ihre Affäre anpassen.«

»Nein, natürlich nicht. Und offen gesagt, ich glaube, Trudy ist dankbar, wenn Tommy nicht ständig um sie herum ist.«

»Du meinst, sie liebt Tom nicht?«

»Liebe hat sehr wenig damit zu tun«, sagte Vijay, und ihr Gesicht wurde ernst. »Tommy mag ja total verrückt nach ihr sein, aber sie …« Vijay verstummte.

»Ja? Was?«

»Ich bin nicht sicher«, sagte Vijay mit gequälter Miene.

»Trudy mag Tom natürlich. Sogar sehr. Aber ich glaube nicht, dass man das Liebe nennen kann, bei keinem der beiden.«

»Ist das deine professionelle Meinung?«, fragte Deschurowa und drückte den Klettverschluss des Overalls zu.

»Nicht unbedingt.«


Stacy tippte Vijay mit einem schweren, dicken Finger auf die Schulter. »Oder ist es vielleicht eine Projektion, wie ihr Psychologen das nennt?«

»Eine Projektion?«

»Du kannst dich nicht auf Jamie festlegen, also glaubst du, dass Trudy dasselbe Problem hat.«

»Ich kann mich nicht …?« Vijays dunkle Augen blitzten auf, dann wandte sie den Blick von Deschurowa ab.

Mit einem grimmigen Lächeln sagte Deschurowa: »Dex und Jamie sind beide in der zweiten Kuppel. Ich glaube, es ist gut, dich von ihnen fern zu halten. Keine Party.«

Und damit marschierte sie aus dem Krankenrevier.

Statt einer Party brachte Deschurowa alle acht Forscher beim Abendessen auf elektronische Weise zusammen. Sie stellte ein Bildtelefon ans Ende des Tisches in der Messe von Kuppel Eins und befahl Jamie, in Kuppel Zwei dasselbe zu tun.

»Möge dieser Meilenstein im Zeichen von Einheit und Kameradschaft stehen«, sagte sie vom Kopfende ihres Tisches aus und hob ein Glas Grapefruitsaft.

»Einheit und Kameradschaft«, wiederholte Jamie am Kopfende seines Tisches.

Doch als er einen Blick auf die drei anderen warf, die bei ihm waren, wurde Jamie klar, dass der Toast jedes Inhalts entbehrte. Fuchida hatte den Verdacht, dass einer ihrer Kameraden ein wahnsinniger Saboteur war, und Rodriguez ließ den Kopf hängen, weil er jetzt gern bei Trudy gewesen wäre.

Als er Dex ansah, dachte Jamie, dass er sich im letzten Jahr sehr verändert hatte. Besonders seit wir das Gebäude gefunden haben, sagte er sich. Aber was seinen Vater betrifft, ist er innerlich zerrissen. Und tief drin, dort, wo es drauf ankommt, will er den Mars nach wie vor in ein profitables Unternehmen verwandeln.

Einheit und Kameradschaft, wiederholte Jamie stumm.

Wer's glaubt, wird selig.


Nach dem Essen ging Jamie ins Kommunikationszentrum, vor allem, um von den anderen wegzukommen. Aber es sollte nicht sein. Er hatte kaum angefangen, das Arbeitsprogramm für den nächsten Tag noch einmal durchzugehen, als Fuchida eintrat und sich wortlos den zweiten Stuhl heranzog.

»Was ist los, Mitsuo?«, fragte er und fürchtete die Antwort.

Fuchida zog eine Minidisk aus der Brusttasche seines Overalls.

»Ich glaube, ich weiß, wer unser Saboteur ist«, sagte er beinahe im Flüsterton.

Unwillkürlich fragte Jamie: »Wer denn?«

Fuchida hielt ihm die Scheibe hin. »Sieh dir das an.«

Jamie schob sie in den Laufwerksschacht des Computers.

»Was ist das?«

»Ich habe jeden so genannten ›Unfall‹ mit unseren jeweiligen Aufgaben zum entsprechenden Zeitpunkt korreliert«, sagte der Biologe.

Jamie sah ein verwirrendes Diagramm auf dem Computerbildschirm: Acht gezackte Linien in acht verschiedenen Farben marschierten über einen Gitternetz-Hintergrund.

»Sieht wie die Alpen aus«, brummte Jamie.

Fuchida beugte sich näher heran und fuhr die hellblaue Linie auf dem Schaubild nach. »Jede Linie stellt einen von uns dar. Das hier bin ich.« Sein Finger bewegte sich zu der roten Linie. »Das bist du.«

»Und die Achsen?«

»Die Abszisse ist die Zeitachse; die Ordinate zeigt die Position jedes Einzelnen. Siehst du? Hier bist du bei der ersten Exkursion zum Canyon, mit Dex, Trudy und Stacy.«

Jamie nickte. »Okay.«

»Und jetzt …« Fuchida beugte sich vor und tippte auf eine Taste. An einem halben Dutzend Stellen am unteren Rand des Schaubilds begannen rote Pfeile zu blinken.

»Die Pfeile stehen für die Zeitpunkte, an denen ›Unfälle‹


geschehen sind. Hier« – er berührte den Bildschirm –

»wurde beispielsweise die Gartenkuppel durchlöchert.«

»Okay«, wiederholte Jamie.

Ein paar weitere Tastendrücke, dann sagte Fuchida: »So, jetzt habe ich alles Überflüssige entfernt.«

Jamie sah, dass die meisten Linien aus dem Schaubild verschwunden waren. Aber die roten Pfeile blinkten immer noch anklagend.

»Beachte bitte, dass nur eine Person zum Zeitpunkt und am Ort jedes einzelnen ›Unfalls‹ anwesend war.«

»Die gelbe Linie«, sagte Jamie.

»Genau!«

»Und wen stellt sie dar?«

»Stacy.«

»Stacy?« Jamie hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand mit einem Schlag die Luft aus den Lungen getrieben. »Soll das heißen, Stacy ist die Saboteurin?«

Mit einer Handbewegung zum Bildschirm sagte Fuchida:

»Die Tatsachen sprechen für sich.«

Jamie sagte nichts, aber seine Gedanken rasten. Es kann nicht Stacy sein. Mitsuo muss sich irren. Er hat nur ein paar halbgare Statistiken zusammengeschmissen …

Fuchida unterbrach seinen Gedankengang. »Stacy war allein im Kommunikationszentrum, als die Gartenkuppel beschädigt wurde. Wir anderen waren in unseren Kabinen, erinnerst du dich?«

»Ja, aber …«

»Sie war allein im Rover, als das Radlager kaputtging.«

»Sie war auch nicht annähernd in der Nähe des Brennofens, als Tomas sich die Hand verbrannt hat.«

»Stimmt, aber sie hat am Brennofen gearbeitet, unmittelbar bevor Rodriguez sie abgelöst hat.«

»Es kann nicht Stacy sein«, beharrte Jamie. »Verdammt, Mitsuo, wir wissen nicht mal, ob es überhaupt einen Saboteur gibt. Diese Unfälle sind wahrscheinlich bloß Zufälle.«

Fuchida schüttelte ernst den Kopf.


»Nun mal langsam, Mitsuo«, sagte Jamie. »Was ist mit deinem eigenen Unfall? Auf dem Olympus Mons. Hat Stacy dir vielleicht den Knöchel verrenkt?«

Der Biologe sah Jamie an wie ein vom Vortrag eines Schülers enttäuschter Lehrer. » Einige Unfälle waren wirklich bloß Zufälle«, sagte er geduldig. Seine Stimme war so leise, dass er fast schon zischte.

»Und wieso können die anderen dann nicht auch Zufälle sein?«

»Es sind zu viele!«, beharrte Fuchida. »Ich habe eine statistische Analyse durchgeführt und sie mit Aufzeichnungen anderer Expeditionen verglichen.«

»Es hat erst eine Expedition zum Mars gegeben.«

»Nein, nein, Expeditionen in die Antarktis, Tiefseemissionen, Trecks durch die Sahara und so. Unsere Unfallquote ist doppelt so hoch wie normal!«

Jamie holte bewusst tief Luft. Bleib ruhig, sagte er sich.

Geh rational an die Sache heran.

»In Ordnung, Mitsuo«, sagte er leise. »Ich weiß die Arbeit zu schätzen, die du in diese Sache gesteckt hast, aber ich kann einfach nicht glauben, dass Stacy oder sonst jemand von uns die Ausrüstung zu sabotieren versucht.«

Fuchida setzte zu einer Erwiderung an, aber Jamie schnitt ihm das Wort ab. »Warum? Warum sollte jemand die Gartenkuppel durchlöchern oder den SolarBrennofen manipulieren? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Genau das meine ich ja«, flüsterte Fuchida eindringlich.

»Diese Person denkt nicht rational. Sie ist wahnsinnig.«

»Aber würde eine Wahnsinnige nicht auch noch andere Symptome zeigen?«

Fuchida spreizte die Hände. »Ich weiß es nicht.«

»Ohne echte Beweise können wir niemanden beschuldigen«, sagte Jamie.

»Und meine statistische Analyse ist kein echter Beweis?«

»Würde sie vor Gericht standhalten?«

»Das weiß ich nicht.«


»Ich auch nicht«, sagte Jamie.

»Ich soll morgen zur Kuppel Eins zurückfahren«, erklärte Fuchida. »Wenn Stacy merkt, dass ich sie verdächtige, könnte sie versuchen, einen weiteren ›Unfall‹ für mich zu arrangieren.«

»Das kann ich nicht glauben«, wehrte Jamie ab.

»Ich würde es vorziehen, hier zu bleiben und ihr aus dem Weg zu gehen«, sagte Mitsuo steif.

Jamie überlegte rasch. Wenn Mitsuo hier bleibt, muss Dex mit Tomas zur Kuppel Eins zurück, denn Tomas holt Trudy dort ab. Das heißt, Dex wird für die nächsten vier Wochen mit Vijay zusammen sein.

»Mir wäre es lieber, du würdest fahren, wie geplant«, sagte Jamie.

»Du könntest an meiner Stelle fahren«, erwiderte Fuchida.

Dann könnte ich bei Vijay sein, dachte er. Aber er hörte sich antworten: »Nein, Mitsuo, das geht nicht. Mein Platz ist hier.«

»Ich will nicht mit Stacy zusammen in der Kuppel sein«, sagte Fuchida in entschiedenem Ton.

Jamie sah dem Biologen aufmerksam ins Gesicht und stellte fest, dass Fuchida weder wütend noch aufgeregt war; er schien Angst zu haben.

»In Ordnung«, gab Jamie seufzend nach. »Ich schicke Dex zurück.«

Er fragte sich, ob sie nicht allesamt rapide wahnsinnig wurden.


NACHT: SOL 359

Merkwürdig, dachte Jamie, als er seinen Overall abstreifte, wir sind nur zu zweit in der Kuppel, und doch haben wir den ganzen Tag über kaum ein Dutzend Worte miteinander gesprochen.

Dex und Tommy gondelten zurück zur Kuppel Eins. Dort würde der Astronaut Trudy abholen und sie zum Canyon bringen. Rodriguez pfiff auf der ganzen Strecke vor sich hin und grinste wie eine Katze, die an Kanarienvögel denkt.

Bald haben wir eine richtige Straße zwischen den beiden Kuppeln ausgefahren, sagte sich Jamie. Wie die Furchen, die die Conestoga-Wagons in der Prärie hinterlassen haben.

Er hatte Fuchida nach der Abfahrt des Rovers nicht bewusst gemieden, und keiner von ihnen war in den Raumanzug gestiegen, um draußen zu arbeiten, aber irgendwie schienen er und der Biologe sich fast den ganzen Tag über an entgegengesetzten Enden der Kuppel aufzuhalten. Sie hatten sogar zu unterschiedlichen Zeiten gegessen, jeder allein in der Messe.

Ich bin wütend auf ihn, erkannte Jamie. Ich bin sauer, dass er mich gezwungen hat, Dex zur Kuppel Eins zu schicken.

Er und seine paranoiden Anschuldigungen! Stacy ist keine Saboteurin und sie ist auch keine Neurotikerin. Wahrscheinlich ist sie psychisch stabiler als wir alle zusammen.

Aber wer ist dann verantwortlich für diese Unfälle, fragte sich Jamie. Niemand, kam die sofortige Antwort. Es sind eben einfach Unfälle.

Trotzdem … Jamie erwog, die Sache mit Vijay zu besprechen. Sie ist unsere Psychologin, sie sollte darüber Bescheid wissen. Dennoch zögerte er. Fuchida hatte ihm das alles streng vertraulich erzählt; wenn er Vijay darüber informierte, wäre das ein Vertrauensbruch gegenüber dem Biologen.


Was ist wichtiger, fragte sich Jamie stumm. Mitsuos Paranoia geheim zu halten, oder die geistige Gesundheit der ganzen Expedition zu schützen?

Er wusste, wie die Antwort lauten sollte. Doch als er Vijay anrief, tat er das nicht, um die Expedition zu schützen, und er wusste es. Er rief sie an, weil er ihr Gesicht sehen, ihre Stimme hören wollte. Weil sie für die nächsten vier Wochen mit Dex zusammen sein würde und er eine Tagesreise von ihnen entfernt war.

Sie war wach. Ihr offenes Haar hing ihr lose um die Schultern. Die nackt waren. Sie war offenkundig in ihrer Kabine und bereitete sich darauf vor, schlafen zu gehen. Als sie sah, dass es Jamie war, lächelte sie warm vom Bildschirm seines Laptops herab.

»Hi, Kamerad«, sagte sie fröhlich. »Was machen die Bremsen?«

»Bremsen?«

»Insekten.«

»Hier gibt's keine Bremsen.«

»Eins der schönen Dinge, für die wir dankbar sein sollten, hm?«

Sie schien sich wirklich zu freuen, mit ihm zu sprechen, dachte Jamie. Dann wurde ihm klar, dass er sie wie ein Schuljunge angrinsen musste. Aber er spürte, wie sein Grinsen erlosch, als er sich an den Grund seines Anrufs erinnerte.

»Ich glaube, ich habe hier ein ziemlich unangenehmes Problem«, sagte Jamie und senkte die Stimme.

»Oh? Was Ernstes?«

»Sag du's mir.« Er schilderte ihr rasch Fuchidas Benehmen, ohne jedoch den Namen des Biologen zu nennen.

Vijay hörte aufmerksam zu. Als Jamie geendet hatte, sagte sie: »Du redest doch nicht von Dex, oder?«

»Nein«, gab er zu und schüttelte leicht den Kopf.

»Und Tommy ist es garantiert auch nicht.«


Jamie schwieg.

»Bleiben nur noch du und Mitsuo.«

»Ist es wichtig, wer es ist?«

»Natürlich ist das wichtig«, sagte sie. »Und da es dir so widerstrebt, einen Namen zu nennen, muss ich annehmen, dass es Mitsuo ist.«

»So viel zum Thema ›Bewahren von Geheimnissen‹«

murmelte Jamie.

»Wie macht er sich so? In seiner Arbeit, meine ich.«

»Gut. So gut wie immer.«

»Warum ist er diesmal nicht mitgefahren? Er hätte doch eigentlich hierher zurückkommen müssen, oder?«

Jamie holte Luft. »Er wollte nicht mit Stacy zusammen sein. Er hat Angst, sie könnte irgendwas anstellen oder so.«

»Hm.« Vijay zog die Augenbrauen zusammen. »Interessant.«

»Und?«

Vijay schien ganz in Gedanken zu sein.

»Was soll ich seinetwegen unternehmen?«, fragte Jamie.

Ihre dunklen Augen richteten sich wieder auf Jamie. »Da kannst du nicht viel tun, Er ist nicht übergeschnappt. Und ich bezweifle, dass er gefährlich ist, außer …« Sie verstummte.

»Außer?«, hakte Jamie nach.

Vijay biss sich sekundenlang auf die Lippe, dann antwortete sie: »Außer er hat diese Unfälle selbst verursacht und projiziert die Schuld nun auf Stacy.«

Jamie war wie betäubt.

»Ich glaube nicht, dass es so ist«, fügte Vijay rasch hinzu.

»Es war nur so ein Gedanke.«

»Toller Gedanke.«

»Was meinst du zu all dem? Bist du überzeugt, dass diese Unfälle wirklich zufällig passiert sind?«

»War ich, aber jetzt … ich weil? es einfach nicht.«

»Ich verstehe.«

»Ich werde auch langsam paranoid«, sagte Jamie.


»Nicht ungewöhnlich unter diesen Umständen. Jeder verdächtigt jeden.«

»Was soll ich tun?«, fragte Jamie erneut.

Vijay hob die nackten Schultern. »Du kannst nicht viel tun, Jamie. Behalte ihn im Auge. Hör ihm verständnisvoll zu. Muntere ihn auf. Ich werde einen Grund finden, zu euch zu kommen und mit ihm zu reden.«

»Okay. Gut.«

»Tut mir Leid, mehr hab ich dir im Moment nicht zu bieten, Kamerad.«

»Es ist schon eine Erleichterung, einfach nur mit dir dar

über sprechen zu können.«

Sie lächelte erneut, aber jetzt lag eine Spur Traurigkeit darin. »Ja, es ist schön, mit dir zu sprechen, das finde ich auch.«

Er wollte ihr sagen, dass er sie vermisste, wollte ihr sagen, dass er ihre Wärme, ihren Trost brauchte, dass ihm ein Leben ohne sie öde und leer erschien. Aber es gelang ihm nicht, die Worte zu formen. Stattdessen sagte er einfach nur:

»Danke, Vijay.«

Sie schien ebenfalls nicht die richtigen Worte zu finden.

Eine ganze Weile sahen sie sich gegenseitig über ihre Bildschirme an.

Endlich sagte Vijay: »Nacht, Jamie.«

»Gute Nacht.«

Ihre Bild erlosch. Der Bildschirm wurde dunkel. Jamie zog seine Unterwäsche aus und streckte sich auf seiner Liege aus. Er grinste in die Schatten der abgedunkelten Kuppel hinauf.

Sie kommt her! Sie wird schon eine Ausrede dafür finden.

Ich sollte Mitsuo dankbar sein.

Sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, galt ihren nackten Schultern. Hatte sie überhaupt etwas angehabt, als sie miteinander gesprochen hatten? War sie vielleicht ganz nackt gewesen?

Fuchidas Laune schien sich zu bessern, als Trudy sich zu ihm gesellte. Die beiden Biologen fingen sofort an, miteinander zu schwatzen, als sie durch den Zugangstunnel kam.

Am nächsten Morgen fuhren sie an den Buckyball-Seilen zum Boden des Canyons hinunter, um gemeinsam an den Flechten zu arbeiten.

Auch Tomas war augenscheinlich besserer Dinge. Er und Trudy teilten ganz offen das Bett, ohne dass jemand dumme Fragen stellte. Jamie musste zugeben, dass Trudy alles freundlicher aussehen ließ. Wenn sie nur nicht jeden Morgen vor Tagesanbruch ihre unablässigen Joggingrunden in der Kuppel gedreht hätte.

Die einzigen negativen Töne kamen von Dex. Er rief Jamie jeden Tag an, um über den Fortschritt der Vorbereitungen für die nächste Expedition zu berichten.

»Der liebe alte Dad hat seine ärztlichen Untersuchungen überstanden«, sagte Dex traurig. »Sein Blutdruck war vollkommen normal. Gott weiß, welchen Medikamenten-Cocktail er vorher eingenommen hat.«

Am nächsten Tag berichtete Dex: »Mein alter Herr hat mir

'ne Nachricht geschickt. Es ging um unseren Versuch, das IUK dazu zu bewegen, Anspruch auf unser Territorium auf dem Mars zu erheben. Er hat so gelassen und kühl wie ein Gletscher hinter seinem verdammten großen Schreibtisch gehockt und mir erklärt, wenn ich so 'ne Nummer noch mal abzöge, würde er mich enterben.«

»Oh nein«, stöhnte Jamie.

Dex' Grinsen war wild. »Als ob ich sein verdammtes Geld brauchte. Ich kann mir meinen Lehrstuhl an den Unis nach Belieben aussuchen, wenn ich nach Hause komme.«

Jamie warnte ihn sanft: »Das Gehalt eines Professors ist nicht ganz dasselbe wie die Art Geld, die du gewohnt bist, Dex.«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung sagte Dex: »Ich weiß, wie man Geld macht, Kumpel. Hab meinem Vater mein Leben lang dabei zugesehen. Soll er mich ruhig aus seinem Testament streichen! Ist mir scheißegal! Ich werd ihm zeigen, dass ich verdammt gut ohne ihn und sein Geld leben kann!«

Na klar doch, antwortete Jamie stumm. Laut sagte er zu Dex: »Schneid dir nicht ins eigene Fleisch …«

»Blödsinn!«, fauchte Dex. »Er versucht mir die Eier abzuschneiden. Dem werd ich's zeigen!«

Erst Stunden später wurde Jamie bewusst, dass es ihm kein Kopfzerbrechen mehr bereitete, ob Dex und Vijay wieder etwas miteinander anfangen würden. Vor ein paar Monaten hätte ihn eine solche Erkenntnis sehr glücklich gemacht, aber jetzt beunruhigte ihn vor allem die Sache mit Dex' Vater, der herkommen wollte, um diesen Teil des Mars für seine geschäftlichen Pläne zu beanspruchen.

Er fragte sich, warum er sich keine Sorgen mehr wegen Vijay und Dex machte. Es lag nicht daran, dass Vijay ihm gleichgültig war. Er machte sich mehr aus ihr, als er ihr gegenüber zugeben konnte. Aber hier auf dem Mars waren all diese persönlichen Beziehungen verworren. Sie hat Recht, wenn sie verhindert, dass es zu ernst wird. Was zwischen uns ist, werden wir erst dann wirklich klären können, wenn wir zur Erde zurückkehren, sagte sich Jamie. Falls überhaupt.

Jetzt ist es zunächst einmal wichtig, ja sogar unbedingt notwendig, Darryl C. Trumball daran zu hindern, dem Mars das anzutun, was seine Vorväter den amerikanischen Ureinwohnern angetan haben.

Jamies Großvater kam erneut zu ihm, in einem Traum.

Aber nicht gleich. Jamies Traum begann in dem nackten, kalten, verlassenen Felsenbauwerk. Er ging mit langsamen, zielstrebigen Schritten durch all die stummen, leeren Kammern, wie er es nun schon seit vielen Monaten jeden Tag tat. Diesmal trug er jedoch keinen Raumanzug, sondern nur seinen fadenscheinigen, abgenutzten Overall.

Er berührte die Wände, strich mit den Fingerspitzen über die anmutigen, gebogenen Linien der in die Steine geritzten Schrift. Er spürte die Sonnenwärme, die von den geheimnisvollen Symbolen ausging.

Außer ihm war niemand da. Er drehte sich um und verließ den aufgegebenen Tempel, dann kletterte er langsam die schmalen, steilen Stufen hinunter, die so mühsam in die zerklüftete Felswand gehauen worden waren. Unten am Grund des Canyons, wo der Fluss friedlich durch üppige, blühende Felder strömte, wartete das Dorf auf ihn.

Die Angehörigen des Volkes waren da, lebendig und vital wie er selbst, aber sie schenkten ihm keine Aufmerksamkeit.

Sie gingen ihren Verrichtungen nach; Männer versammelten sich auf dem zentralen Platz, unterhielten sich und zeigten zu einem fernen Horizont, einem Rendezvous mit der Zukunft. Frauen saßen auf ihren Türschwellen und flochten Körbe, während ihre Kinder lärmend herumliefen und spielten. Überall ertönte Gelächter, alles war von der Wärme des Lebens erfüllt.

Sie waren real, und er war ein blasser Geist, nahezu unsichtbar für sie. Er kannte ihre Gesichter, die robusten, breitwangigen Gesichter seiner Ahnen. Ihre dunklen Haare und noch dunkleren Augen. Er suchte seinen Großvater, fand ihn aber nicht.

Dann ein Durcheinander am anderen Ende des Dorfes.

Ein Tumult. Leute blieben wie festgewurzelt stehen und blickten die lange Straße hinunter. Männer liefen mit finsteren Gesichtern, aus denen Zorn oder vielleicht auch Furcht sprach, auf den Lärrn zu.

Fremde waren dort, bleiche Männer auf schnaubenden, aufstampfenden Pferden. Jamie erkannte einen von ihnen: Es war Darryl C. Trumball. Er rief Befehle und deutete mit einer Hand hierhin und dorthin, während er mit der anderen sein bockendes, wieherndes Pferd im Zaum hielt.

Dann trat Großvater Al aus der Menge hervor. Er trug seinen besten Anzug, dunkelbau, mit einer türkis-silbernen Bolo am offenen Kragen seines steifen weißen Hemdes.

Ohne Hut schritt er auf Trumball zu.

»Sie dürfen nicht hierher kommen«, sagte Großvater Al mit der kräftigsten Stimme, die Jamie je im Leben gehört hatte. »Gehen Sie!«

Trumball blies sich auf. »Wir übernehmen dies alles. Um euch wird man sich kümmern, keine Angst. Ich werde dafür sorgen, dass ihr geschützt werdet.«

»Wir wollen Ihren Schutz nicht«, sagte Al. »Wir brauchen ihn nicht.«

»Ihr müsst verschwinden«, beharrte Trumball.

Großvater Al drehte sich ein wenig und winkte Jamie zu sich. »Nein, wir bleiben. Sie sind derjenige, der verschwinden muss. Jamie, zeig ihm das Papier.«

Jamie merkte, dass er mit der rechten Hand eine Schriftrolle umklammerte. Er trat auf Trumball zu, der immer noch auf seinem ungeduldigen Pferd saß.

Und wachte auf.


MORGEN: SOL 363

Jamie setzte sich auf seiner Liege auf. Er war hellwach und fühlte sich stark und erfrischt. Das ist es, sagte er sich. Das muss ich tun.

Er wusste nicht, ob er ein Dankgebet gen Himmel schicken oder einen wilden Jubelschrei ausstoßen sollte, und entschied sich dann gegen beides. Stattdessen fuhr er seinen Laptop hoch und rief Fete Connors in Tarawa an.

Es dauerte fast den ganzen Tag, aber schließlich bekam Jamie die richtige Adresse und schickte seine Botschaft ab.

Dann musste er auf die Antwort warten. Er dachte an die Sommer zurück, die er bei seinem Großvater in New Mexico verbracht hatte; damals hatte Al ihn ein paarmal zu den Pueblos im Reservat mitgenommen, wo er Decken und Keramikartikel kaufte, um sie in seinem Laden in Santa Fe an die Touristen zu verhökern.

Durchaus möglich, dass es mehrere Tage dauert, erkannte Jamie. Sie werden mir nicht sofort antworten.

Zu seiner Überraschung wartete die Antwort jedoch schon auf ihn, als er am nächsten Morgen den Computer einschaltete. Seine Finger zitterten ein wenig, als er die Botschaft aufrief.

Der Präsident der Navajo Nation lächelte vom Bildschirm herab. »Ya'aa'tey«, sagte er. Er war erstaunlich pummelig, aber seine Augen strahlten und tanzten, als wäre es ihm eine Freude, mit Jamie zu sprechen, selbst in der von der Entfernung zwischen den beiden Welten erzwungenen, zeitversetzten Weise.

»Ihre Botschaft hat mich überrascht«, fuhr er fort, »aber auch sehr gefreut. Ich kannte Ihren Großvater, und ich habe Sie damals im Fernsehen gesehen, als Sie zum ersten Mal auf dem Mars gelandet sind. Hoffentlich habe ich irgendwann einmal Gelegenheit, persönlich mit Ihnen zu sprechen.«

Dann wurde er ernster. Das Lächeln verblasste etwas, verschwand aber nicht ganz. »Ihr Vorschlag ist wirklich ein Knüller. Er gefällt mir, aber die Entscheidung liegt nicht bei mir allein. Ich habe schon eine Ratssitzung einberufen, und unsere Anwälte werden die Sache natürlich noch prüfen müssen. Aber ich finde die Idee gut, und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um sie durchzubringen.«

Er zögerte, dann sagte er noch ernster: »Sie übertragen uns da eine große Verantwortung. Ich weiß nicht, ob wir ihr gewachsen sind.« Dann kehrte sein Lächeln mit voller Strahlkraft zurück. »Aber ich würde es jedenfalls gern versuchen!«

Jamie hörte sich den Rest der Botschaft an, dann schickte er zur Bestätigung ein kurzes »Mr. President, danke für Ihre guten Worte. Ich warte auf die offizielle Antwort der Nation. Noch einmal vielen Dank.«

Anschließend rief er Dex Trumball an.

Dex saß gerade beim Frühstück, als Stacy Deschurowa ihn ins Kommunikationszentrum rief. Er glitt auf den leeren Stuhl neben ihr und sah Jamies gleichmütiges, ernstes Gesicht auf dem Bildschirm. Neben ihm ließ Stacy das Logistik-Bestandsverzeichnis über den Monitor laufen und überprüfte ihre Vorräte.

»Was gibt's, Chief?«, fragte Dex lässig.

Jamie sagte: »Ich habe den Mars der Navajo Nation angeboten.«

Dex wäre beinahe vom Stuhl gefallen. »Du hast was getan?«

»Ich habe den Präsidenten der Navajo Nation gefragt, ob sein Volk formell die Nutzungsrechte für alle Gebiete auf dem Mars beanspruchen möchte, die wir bisher erforscht haben.«

»Aber die sind doch in Arizona!«

»Ich bin hier«, sagte Jamie mit fester Stimme. »Ich vertrete die Navajo Nation.«


»Heilige Scheiße«, murmelte Dex.

Stacy hatte ihren Bildschirm eingefroren. Sie starrte Dex und Jamie an.

»Ich sehe das so«, sagte Jamie, »wenn die Navajos Anspruch auf die Nutzung dieses Landes erheben, kriegt dein Vater es nicht in die Hände.«

»Das stimmt.« Ein Grinsen bahnte sich seinen Weg auf Dex' Gesicht. »Er müsste hier sein, müsste körperlich anwesend sein, um die Nutzungsrechte zu beanspruchen.«

»Und wir sind schon hier. Ich werde also den Anspruch anmelden, sobald ich vom Navajo-Rat grünes Licht bekomme.«

»Mannomann, das haut mich echt vom Hocker«, sagte Dex lachend. »Mein alter Herr wird 'nen Schlaganfall kriegen! Die Indianer stehlen dem weißen Mann das Land!

Wozu! «

Jamie fragte: »Glaubst du, das hält deinen Vater wirklich auf?«

»Er kommt nicht mehr an das Bauwerk in der Felswand ran, auch nicht an die Hauptkuppel und die Vulkane, die Mitsuo erforscht hat – ja, er wird sich nirgends geschäftlich niederlassen können, wo wir schon gewesen sind.«

»Dann bleibt ihm noch eine Menge vom Mars übrig.«

»Ja, aber wir haben die Filetstücke! Oder vielmehr, deine Rothaut-Kumpels haben sie.«

»Dann könnte es funktionieren.«

»Ja, klar«, sagte Dex und wurde wieder nüchtern. »Gibt da nur ein Problem.«

»Welches?«

»Von der Finanzierung der nächsten Expedition können wir uns verabschieden.«

Dex war zu aufgeregt, um irgendeine nützliche Arbeit zu machen. Er ging ins Geologielabor, verbrachte seine Zeit jedoch damit, hektische Botschaften zur Erde zu schicken; er setzte sich mit Anwälten und Professoren für internationales Recht in Verbindung. Nach mehreren Stunden sah Wiley Craig schließlich von der Wärmestromkarte auf, an der er gerade arbeitete, und schüttelte den Kopf.

»He, Kumpel, was immer du da machst, aufm Arbeitsplan steht das nich.«

Dex blickte vom Computerbildschirm auf. »Ich sammle Informationen, Wiley.«

»Aber garantiert nich über Geologie.«

»Nein, da hast du verdammt Recht.« Dex erhob sich vom Hocker und ging zur Labortür. »Ich muss rüber zur zweiten Kuppel. Muss mit Jamie von Angesicht zu Angesicht sprechen.«

Wiley schüttelte nur den Kopf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Tja«, brummelte er, » irgendeiner muss die Arbeit ja machen.«

Stacy war nicht überrascht, dass Dex zu Jamie in Kuppel Zwei wollte. Aber sie zeigte trotzdem wenig Verständnis dafür.

»Du hast hier zu tun«, sagte sie streng. Sie stand wie ein unüberwindlicher Linebacker in der Mitte des Kommunikationszentrums. »Laut Arbeitsprogramm …«

»Soll ich zu Fuß zum Canyon gehen?«, fuhr Dex auf. »Ich muss da hin, Stacy. Die Finanzierung der nächsten Expedition ist wichtig, Himmel noch mal!«

Sie stemmte ihre fleischigen Fäuste in die Hüften. »Willst du da drüben am Canyon zehn Milliarden Dollar auftreiben?«

Dex schenkte ihr ein jungenhaftes Grinsen. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber wir werden garantiert zehn Milliarden verlieren, wenn wir keinen Weg finden, um meinen Vater rumzukommen.«

Deschurowa schnaubte verächtlich. Bevor sie jedoch etwas erwidern konnte, steckte Vijay den Kopf zum offenen Eingang des Kommunikationszentrums herein.

»Hab ich mich verhört, oder hast du gerade gesagt, du wolltest mit einem Rover zur Kuppel Zwei rüber?«, fragte sie. »Ich möchte auch da hin.«


»Wie bitte? Warum?«, wollte Deschurowa wissen.

»Ich muss die Leute dort untersuchen«, antwortete Vijay.

»Und psychologische Profile anlegen.«

Die Kosmonautin verdrehte die Augen zum Himmel.

»Vielleicht sollten wir alle hinfahren und diese Kuppel endgültig aufgeben.«

»Sag ich ja schon seit Monaten«, erwiderte Dex mit spitzbübischem Grinsen.

»Dann fahrt doch!«, rief Deschurowa abrupt. »Vergesst eure Arbeit und gondelt fröhlich durch die Weltgeschichte.«

»Nun sei nicht sauer, Stacy«, sagte Dex beruhigend.

»Wenn es nicht wirklich wichtig wäre, würde ich es nicht tun, das weißt du.«

»Ich weiß, dass du deinen Kopf immer durchsetzt. Fahrt!

Nehmt den alten Rover. Lasst mir wenigstens eine der neuen Maschinen da.«

Die Nacht brach herein, bevor sie auch nur ein Viertel des Weges zur Kuppel Zwei zurückgelegt hatten, aber Dex fuhr trotz der Dunkelheit weiter – langsam zwar, aber sie kamen dennoch voran.

Im Scheinwerferlicht des Rovers sah Vijay, die neben ihm im Cockpit des Rovers saß, die deutlich erkennbaren Radspuren auf dem staubbedeckten Boden.

»Du folgst dem ausgefahrenen Weg«, sagte sie.

»Ja. Macht die Sache leichter Man weiß, dass man nicht auf irgendwelche großen Felsen oder Krater stoßen wird.«

»Wird Jamies Idee wirklich funktionieren?«, fragte Vijay und drehte sich ein wenig auf dem Sitz, um Dex direkt anzusehen. »Meinst du, er kann deinen Vater daran hindern, sich diese Region unter den Nagel zu reißen?«

»Sieht so aus«, sagte Dex und schaute nach vorn. »Aber die andere Seite der Medaille ist, dass mein Vater nicht mehr als Motor der Finanzierungskampagne für die nächste Expedition zur Verfügung stehen wird.«

Vijay dachte einen Moment lang darüber nach, dann sagte sie: »Dann wirst du seinen Platz einnehmen müssen.«


»Was?« Dex sah sie mit großen Augen verblüfft an.

»Wenn dein Vater das Geld für die nächste Expedition nicht auftreibt, wirst du's tun müssen.«

Er trat auf die Bremspedale und brachte den Rover zum Stehen. Langsam und methodisch schaltete er die Fahrmotoren ab.

»Ich werd's tun müssen«, sagte er leise.

»Wer sonst?«

Dex wirkte geistesabwesend, als sie nach hinten in die Kombüse gingen und ihr Abendessen in die Mikrowelle stellten. Sie aßen in fast völligem Schweigen. Vijay sah, dass Dex mit den Gedanken hundert Millionen Kilometer weit weg war.

»Das Problem ist«, sagte er, als sie den Tisch abräumten,

»ich hab mich noch nie gegen meinen Vater durchgesetzt.

Ich musste immer alles so machen, wie er es wollte – außer wenn ich ihn beschwatzen konnte, sodass er glaubte, was ich wollte, sei von vornherein seine Idee gewesen.«

»Jetzt wirst du dich gegen ihn durchsetzen müssen«, sagte Vijay.

Dex nickte bedächtig. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Meinst du nicht, es wird langsam Zeit, dass du's rausfindest?«

Sie standen beim Spülbecken in der Kombüse, zwischen der Mikrowelle und den Gestellen mit den Raumanzügen.

Dex packte Vijay direkt über dem Ellbogen am Arm und zog sie an sich.

Sie legte ihm die flache Hand auf die Brust. »Nein, Dex.«

»Nein?«

»Es gibt bestimmt mehrere Millionen Frauen, die auf deine Rückkehr zur Erde warten. Du wirst jede Menge Auswahl haben.«

»Das kommt später«, sagte er. »Jetzt ist jetzt.«

»Leider nicht.«

Er stieß die Luft aus. »Jamie, hm?«

»Jamie«, gab sie zu.


»Er ist ein Glückspilz.«

Jetzt seufzte sie. »Ich wünschte, er wüsste es.«

Dex sah sie verwirrt an.

»Er ist in den Mars verliebt«, erklärte Vijay. »Ich muss mit diesem ganzen verdammten Planeten konkurrieren.«


PRESSEKONFERENZ

Darryl C. Trumball war es nicht gewohnt, im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Er zog es vor, im Hintergrund zu bleiben und seine Handlanger und Marionetten vorzuschicken.

Doch als erster ›normaler‹ Mensch, der zum Mars fliegen würde, war er eine Berühmtheit geworden. Jetzt, knappe vier Tage, bevor die Unterstützungsmission von Cape Canaveral starten sollte, saß er an einem langen Tisch mit vier jungen Archäologen und zwei Astronauten und schaute auf ein Meer von Journalisten und Fotografen hinaus, die den Hörsaal bis zum Bersten füllten.

Wie seine Teamgefährten trug Trumball einen korallenroten Overall mit dem schicken Logo der zweiten Marsexpedition über dem Herzen. Er war natürlich älter als alle anderen, fast älter als jeweils zwei von ihnen zusammen.

Aber er war schlank und hart und fit. Niemand kannte die Angst, die ihm das Blut gefrieren ließ; niemand hörte, wie laut sein Herz in der Brust pochte, wenn er daran dachte, dass er wirklich in diese fliegende Bombe steigen und damit bis zu dem fernen, eisigen, gefährlichen Mars fliegen würde.

»Warum heißt diese Mission nicht die dritte Expedition?«, rief ein Reporter von der Tür her.

»Das ist eine Unterstützungsmission für die zweite Expedition«, erklärte der ältere Astronaut, ein alter Hase, wenn es darum ging, hirnlose Fragen abzuwimmeln.

»Wir werden insbesondere das alte Gebäude erforschen, das in der Felswand des Grand Canyon des Mars entdeckt worden ist«, sagte der Chefarchäologe, ganze vierzig Jahre alt.

»Was ist mit der dritten Expedition?«, fragte ein anderer Reporter.


»Wird es eine dritte Expedition geben?«

Alle am Tisch wandten sich Trumball zu. »Ja«, versicherte er ihnen forsch. »Es wird eine dritte Marsexpedition geben.«

»Wann?«

»Wie bald?«

»Wir arbeiten gerade die Einzelheiten aus«, sagte Trumball.

»Was ist mit anders gearteten Flügen zum Mars?«, fragte eine Frau. »Wann werden wir dort Urlaub machen können?«

Ein leises Gekicher ging durch die Pressemeute.

Aber Trumball beantwortete die vorher abgesprochene Frage. »Deshalb fliege ich mit den Wissenschaftlern dorthin.

Ich will der Welt zeigen, dass normale Menschen zum Mars fliegen, mit eigenen Augen die Schönheiten der verschwundenen marsianischen Zivilisation sehen und ihren Fuß dorthin setzen können, wohin ihn die Marsianer gesetzt haben, dass sie den Gipfel des höchsten Berges im Sonnensystem erreichen und den längsten, breitesten und tiefsten aller Grand Canyons erforschen können.«

Mehrere Archäologen machten ein bestürztes Gesicht, aber keiner wagte es, Trumball zu widersprechen.

»Warum Sie, Sir?«, fragte ein kahlköpfiger, stattlicher Journalist aus der letzten Reihe des Hörsaals. »Warum müssen Sie selbst hinfliegen? Könnte man nicht jemand weniger … äh … Prominenten an Ihrer Stelle hinschicken?«

Trumball lächelte geduldig. »Sie meinen, warum ein alter Furz wie ich dort hinfliegen will?«

Alle lachten.

»Ich möchte zeigen, dass selbst jemand meines Alters die Reise problemlos überstehen und sogar genießen kann.« Er hielt inne, sorgte damit dafür, dass die Presseleute gespannt auf seine nächsten Worte warteten, und fuhr dann fort:

»Aber denken Sie daran, es sind schon ältere Männer als ich ins All geflogen, angefangen mit Senator Glenn vor nahezu vierzig Jahren.«


»Aber bis zum Mars?«

»Ja«, sagte Trumball, ohne dass sein Lächeln auch nur einen Millimeter verrutschte. »Bis zum Mars. Ich werde der erste von Millionen normaler Männer und Frauen sein, die dorthin fliegen.«

Außerdem, fügte er stumm hinzu, gibt es da oben Geld zu verdienen, und ich werde, verdammt noch mal, dafür sorgen, dass mir niemand die Tour vermasselt.


NACHMITTAG: SOL 568

Jamie hing gerade im Klettergeschirr und schabte Gesteinsproben von der Felswand, als die Botschaft durchkam.

»Du hast's geschafft!«, tönte Dex' Stimme triumphierend aus seinen Helmlautsprechern. »Hör dir das an!«

Es war die Botschaft des Präsidenten der Navajo Nation, die Botschaft, auf die er gewartet hatte. Jamie wünschte, er könnte das Gesicht des Mannes sehen, aber allein schon dessen Worte bewirkten, dass ihm vor Stolz und Dankbarkeit ganz heiß wurde.

»Das Navajo-Volk akzeptiert die Verantwortung, die mit der Beanspruchung der Nutzungsrechte an den von der zweiten Marsexpedition erforschten Gebieten des Mars verbunden ist«, sagte der Präsident langsam, als läse er es von einem vorbereiteten Skript ab. »Wir haben die Absicht, diese Gebiete im Namen aller Völker der Erde treuhänderisch zu verwalten und die behutsame wissenschaftliche Erforschung des Planeten Mars und all seiner Lebensformen in Vergangenheit und Gegenwart voranzutreiben.

Wir erkennen an, dass Dr. James Waterman, dessen Vater ein reinblütiger Navajo war, der Repräsentant unseres Volkes auf dem Mars ist, während dieser Anspruch offiziell bei der Internationalen Raumfahrtbehörde angemeldet wird.«

Es kam noch mehr, und Jamie hörte sich geduldig alles an, während er zwei Kilometer über dem Grund des Canyons baumelte. Aber er hörte nur mit einem Bruchteil seiner Aufmerksamkeit zu, weil eine Stimme in seinem Kopf sagte: Du hast es geschafft. Jetzt kann Trumball keinen Anspruch auf die Nutzung dieses Landes erheben. Jetzt wird es weder ihm noch den Bodenspekulanten oder Rohstoffausbeutern in die gierigen Hände fallen. Wir können den Mars sauber halten und ihn der wissenschaftlichen Forschung bewahren.


Gleich im Anschluss an die Botschaft des Präsidenten meldete Dex sich wieder und schnatterte: »Ich wünschte, ich könnte das Gesicht meines Vaters sehen, wenn er das hört. Er wird an die Decke gehen! Er steht schon in voller Montur in den Startlöchern, und jetzt ist alles umsonst. Er kriegt hier kein Bein auf den Boden! Ich wette …«

Jamie schaltete den Anzugfunk ab. Er hing in seliger Stille im Geschirr, schwankte leicht am Seil und hörte nichts als das leise Pochen seines Pulsschlags und das schwache Surren der Anzugbelüftung.

Er stemmte beide Füße gegen die Felswand, stieß sich mit aller Kraft ab und ließ einen wilden Jubelschrei reiner Freude ertönen, während er an dem Seil Schwindel erregend hin und her schwang.

Nur vier Journalisten erschienen bei der Pressekonferenz des Navajo-Präsidenten, aber seine Ankündigung, die Navajo Nation – vertreten durch Jamie Waterman – beanspruche die Nutzungsrechte am Mars, zischte mit Lichtgeschwindigkeit durch die Nachrichtenmedien.

Am nächsten Morgen wurde das Büro des Präsidenten am Window Rock von einem Heer von TV-Fans und Reportern belagert. Schlagzeilen in aller Welt plärrten: INDIANER BEANSPRUCHEN MARS

NAVAJO NATION ÜBERNIMMT ROTEN PLANETEN

RACHE FÜR CUSTER:

INDIANER ÜBERFALLEN TRUMBALL ENTERPRISES

NAVAJOS REISSEN AUSSERIRDISCHES RESERVAT

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