Trumball tippte Jamie auf die Schulter. »Na, großer Häuptling, was meinst du dazu?«


Jamie verzog das Gesicht wegen Trumballs ethnischer Stichelei, sagte aber nur: »Ich denke, deine Idee wird bis zur nächsten Expedition warten müssen, Dex.«

»Hab ich mir gedacht, dass du so was in der Art sagen würdest«, erwiderte Trumball.

Jamie hatte erwartet, dass er mürrisch und ungehalten auf seine Ablehnung reagieren würde. Stattdessen sah Trumball aus wie ein junger Mann, der noch ein Ass im Ärmel hatte.

»Wie wär's mit einer Abmachung«, schlug er vor, und sein Lächeln wurde listig. »Ich hole mir den Pathfinder, und du kannst auf die Suche nach deinen Felsenbehausungen gehen.«


DOSSIER:

C. DEXTER TRUMBALL

Ganz egal, wie gut er seine Sache machte, ganz egal, was er erreichte, Dex Trumball konnte seinen kalten, gleichgültigen Vater nie zufrieden stellen.

Darryl C. Trumball war ein Selfmademan, wie er allen und jedem lauthals erklärte. In einer von Dex' frühesten Erinnerungen drängte sein Vater einen amerikanischen Senator bei einer Hausparty in die Ecke und erklärte ihm mit ruhiger Beharrlichkeit, wobei er ihm bei jedem einzelnen Wort auf die Schulter klopfte: »Ich habe mit nichts weiter angefangen als mit meinen bloßen Händen und meinem Gehirn, und ich habe ein Vermögen gemacht.«

In Wahrheit hatte der alte Mann mit einer mageren Erbschaft angefangen: einer heruntergekommenen Autowerkstatt, die am Rande des Bankrotts stand, als Dex' Großvater bei seinem vierten Bier in der Eckkneipe einen Herzschlag bekam und starb. Dex war damals noch ein Baby gewesen, ein Einzelkind. Seine Mutter war hübsch, zerbrechlich und untüchtig gewesen – und völlig außerstande, sich gegen

über ihrem gnadenlos zielstrebigen Ehemann zu behaupten.

Dex' Vater, schmal wie eine Messerklinge, schnell und agil, hatte mit einem Leichtathletik-Stipendium das College of the Holy Cross besucht, jedoch ohne einen Abschluss zu machen; stattdessen hatte er das Familiengeschäft übernehmen müssen. Sein Traum, am Boston College Jura zu studieren, wie man es ihm in Aussicht gestellt hatte, zerschlug sich, und ihm blieben nur Verbitterung und Missgunst.

Und eine eisige, unerbittliche Energie.

Darryl C. Trumball lernte rasch, dass Geschäft von Politik abhängt. Obwohl die Autowerkstatt praktisch wertlos war, konnte der Grund und Boden, auf dem sie stand, extrem wertvoll werden, wenn es gelang, darauf luxuriöse Eigentumswohnungen für die höheren Angestellten aus Bostons Finanzdistrikt zu errichten. Er drängte mit aller Macht darauf, dass ein neuer Bebauungsplan für das alte Viertel erstellt wurde, dann verkaufte er die Werkstatt und das Haus seiner Mutter für eine beträchtliche Summe.

Als Dex so weit war, dass er aufs College gehen konnte, war sein Vater sehr reich und in der Finanzwelt für seine kaltblütige Skrupellosigkeit bekannt. Geld war ihm wichtig, und er verbrachte jede wache Stunde damit, nach der Vermehrung seines Reichtums zu streben. Als Dex Interesse an Wissenschaft zum Ausdruck brachte, schnaubte der ältere Trumball verächtlich:

»Auf die Art wirst du deinen Lebensunterhalt nie selbst bestreiten können! Als ich in deinem Alter war, hab ich schon für deine Großmutter, deine beiden Tanten, deine Mutter und dich gesorgt.«

Dex hörte gehorsam zu und schrieb sich trotzdem in Yale ein, um dort Physik zu studieren. Mit seinen Noten an der High School (und dem Geld seines Vaters) wäre er in Harvard und einem halben Dutzend anderer Renommieruniversitäten angenommen worden, aber Dex entschied sich für Yale. New Haven war so nah an Boston, dass er leicht nach Hause kommen konnte, aber auch so weit entfernt, dass er von der frostigen Gegenwart seines Vaters befreit war.

Dex hatte die Schule immer lächerlich leicht gefunden.

Während andere über Lehrbüchern brüteten und in Prüfungen schwitzten, bewältigte Dex mit seinem beinahe fotografischen Gedächtnis und seinem Geschick, den Lehrern genau das zu sagen, was sie hören wollten, alles spielend.

Seine Beziehungen zu seinen Altersgenossen waren weitgehend genauso: Sie taten fast immer, was er wollte. Dex hatte die brillanten Ideen und seine Freunde den Ärger, wenn sie sie ausführten. Aber sie beklagten sich nie; sie bewunderten seinen Elan und waren dankbar, wenn er sie überhaupt zur Kenntnis nahm.

Mit Sex hatte er ebenso wenig Probleme, obwohl der Campus vielerorts von Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung aufgeladen war. Dex konnte sich die Frauen aussuchen: Je intelligenter sie waren, desto mehr schienen sie im zeitweiligen Sonnenschein seiner Zuneigung zu baden. Und auch sie beklagten sich hinterher nie.

Physik war nichts für Dex, aber er fühlte sich zur Geophysik hingezogen: der Erforschung der Erde, ihres Inneren und ihrer Atmosphäre. Er bekam fast immer nur die besten Noten. An der Uni war er in allem der Beste, vom Fernsehsender bis zur Tennismannschaft. Aber sein Vater war nie zufrieden.

»Ein gebildeter Gammler, das bist du«, höhnte er. »Ich werde dich mein Leben lang unterstützen müssen, und auch noch nach meinem Tod.«

Womit Dex durchaus einverstanden war. Aber tief im Innern sehnte er sich danach, wenigstens einmal ein beifälliges Wort von seinem Vater zu hören. Er wünschte sich inständig, der herzlose alte Mann würde ihn anlächeln.

Eine Vorstellung im Planetarium veränderte sein Leben ein für alle Mal. Dex ging mit seinen Freundinnen gern ins Planetarium. Es war billig, es bewirkte, dass die jungen Frauen von seiner Ernsthaftigkeit und Intelligenz beeindruckt waren, und es war der dunkelste Ort in der Stadt.

Wirklich höchst romantisch, mit der Pracht des gestirnten Himmels über einem in der hintersten Reihe zu sitzen.

In einer dieser Vorstellungen ging es um den Planeten Mars. Nach etlichen Fehlschlägen war ein unbemanntes Raumschiff mit echten Proben marsianischen Gesteins und Erdreichs zu einem Labor in der Erdumlaufbahn zurückgekehrt. Jetzt sprach man davon, Forscher zum Mars zu schicken. Auf einmal hörte Dex auf, an der jungen Frau herumzufummeln, und setzte sich kerzengerade hin.

»Es gibt mehr als nur einen Planeten zu erforschen!«, sagte er laut, was ihm einen zischelnden »Pst!«-Chor und dem Mädchen, mit dem er zusammen war, die totale Demütigung bescherte.

Dex verbrachte jenen Sommer an der Universität von Nevada, wo er einen Spezialkurs in Geologie belegte. Im folgenden Sommer nahm er an einem Seminar über planetare Geologie in Berkeley teil. Als die erste Marsexpedition triumphierend mit Proben lebender marsianischer Organismen zurückkehrte, hatte Dex Abschlüsse in Yale und Berkeley in der Tasche. Er ging für ein halbes Jahr in die ewig vor sich hinsiechende Mondbasis-Siedlung, um dort vor Ort über die massiven Meteoriten zu forschen, die tief unter dem Mare Nubium und dem Mare Imbrium begraben lagen.

Zum großen Verdruss seines Vaters.

»Ich zahle dem Staat ein Vermögen an Steuern für diesen Raumfahrt-Kram«, beklagte sich der alte Mann bitter.

»Wozu soll das denn gut sein, verdammt noch mal?«

Dex' Vater war jetzt ein Immobilien-Tycoon, der die Finger in mehreren in New England beheimateten Banken hatte und geschäftliche Interessen in Europa, Asien und Lateinamerika verfolgte. Mit seinen weit verstreuten Partnern unterhielt er satellitengestützte elektronische Verbindungen, und er pachtete sogar Raum in einer Orbitalfabrik, die ultrareine Arzneimittel herstellte.

Dex schenkte seinem Vater ein strahlendes Lächeln. »Sei nicht so phantasielos, Dad. Bei der nächsten Expedition zum Mars will ich dabei sein.«

Sein Vater starrte ihn kalt an. »Wann fängst du endlich an, Geld in die Familie zu bringen, statt es wie Wasser zu verschwenden?«

Dex fühlte sich herausgefordert; und da er seinem Vater gefallen und wenigstens einmal dessen Anerkennung gewinnen wollte, platzte er heraus: »Wir könnten mit dem Mars Geld verdienen.«

Sein Vater fixierte ihn mit einem eisigen, ungläubigen Ausdruck in den steinharten Augen.

»Wirklich, ganz im Ernst«, sagte Dex und suchte nach etwas, was den alten Mann überzeugen würde. »Außerdem würdest du damit deinen Namen in die Geschichte einschreiben, Dad. Der Mann, der uns zum Mars zurückgeführt hat. Es wäre ein Denkmal für dich.«

Der Gedanke an ein Denkmal schien Darryl C. Trumball kalt zu lassen. Dennoch fragte er: »Du glaubst, wir könnten mit einer Expedition zum Mars Geld verdienen?«

Dex nickte eifrig. »Ganz recht.«

»Wie?«

In diesem Moment begann Dex, eine von privaten Geldgebern finanzierte Expedition zum Mars zu planen. Natürlich wanderten auch eine Menge Steuergelder in den Topf, aber nachdem er das Interesse seines profitorientierten Vaters gewonnen und erreicht hatte, dass dieser sich mit seinem ganzen Elan für die Sache einsetzte, kamen die Mittel für die zweite Marsexpedition hauptsächlich aus privaten Quellen. Dex war entschlossen, dafür zu sorgen, dass die Expedition Gewinn abwarf. Er wollte das Lob seines Vaters, nur dieses eine Mal. Dann konnte er dem alten Mann sagen, es würde ihn nicht im mindesten kratzen, wenn ihm ein Blutgefäß im Hirn platzte und er tot umfiel.


VORMITTAG: SOL 8

»Die Felsenbehausung?«, fragte Jamie.

Mit einem wissenden Grinsen sagte Trumball gelassen:

»Klar. Du willst die Felsenbehausung aufspüren, die du gesehen zu haben glaubst, und ich will mir die Pathfinder-Sonde holen. Eine Hand wäscht die andere.«

Jamie warf Stacy Deschurowa, die neben ihm auf dem Fahrersitz saß, einen raschen Blick zu. Der Rover war fast am Fuß des Erdrutsches angelangt. Das morgendliche Sonnenlicht hatte den Boden des Canyons erreicht und den Nebel vertrieben.

»Ich habe von deinen Felsenbehausungen gehört«, sagte Trudy Hall hinter Jamie ganz leise, als wäre das ein brisantes Thema.

»Es ist nur eine«, verbesserte Jamie, »und es ist nicht meine Felsenbehausung.«

»Aber du bist der Einzige, der glaubt, dass es sich um ein Artefakt handelt«, betonte Trumball.

»Sie steht nicht auf dem Missionsplan.« Halls Stimme war immer noch gedämpft, fast ängstlich.

»Der Plan lässt uns eine Menge Spielraum«, erklärte Jamie.

»Jedenfalls genug, um den alten Rover zu bergen und uns den Pathfinder zu holen«, sagte Trumball munter.

»Vielleicht.«

»Warum nicht? Wir könnten die alte Karre auf dem Rückweg aus dem Sand ziehen.«

Jamie nickte langsam. Seine Gedanken rasten. Ich bin der Missionsleiter, sagte er sich. Ich kann eine Exkursion zu der Felsenbehausung ansetzen, wann immer ich es für richtig halte. Ich brauche weder seine Erlaubnis noch seine Mitarbeit. Ich muss ihm diesen verrückten Ausflug zum Pathfinder nicht erlauben. Ich muss ihn nicht bestechen, um zu tun, was ich will.

Dennoch hörte er sich sagen: »Auf dem Rückweg zur Basis halten wir bei dem alten Rover an und untersuchen ihn, Dex.«

»Prima!«

»Das heißt nicht, dass wir noch mehr tun«, warnte ihn Jamie. »So weit stimme ich mit dir überein: Wir sollten nachsehen, ob der alte Rover noch zu benutzen ist.«

»Ist er bestimmt.«

»Weil du es so willst?«

»Weil es so ist«, sagte Dex mit der felsenfesten Gewissheit eines kleinen Jungen, der noch an den Weihnachtsmann glaubt.

Drei Tage lang studierte Trudy Hall die Flechte, die unmittelbar unter der Gesteinsoberfläche am Fuß der Steilwand des Canyons lebte. Drei Tage und drei Nächte.

Hall wollte die Organismen in ihrem natürlichen Habitat studieren, insbesondere ihre Tag- und-Nacht-Zyklen. Da sie die Flechte deshalb nicht stören durfte, arbeitete sie hauptsächlich mit Fernerkundungssensoren. Sie machte Fotos, brachte Thermometer an, um permanent die Außen- und Innentemperatur des Gesteins aufzuzeichnen, nahm Proben von den Marsluft-Mikrometern in der Flechte und überwachte mit Infrarotkameras den Wärmestrom aus Steinen mit und ohne Flechten. Am zweiten Tag begann sie, direktere Untersuchungen an einigen Flechten vorzunehmen: Mit Jamies Hilfe führte sie Sonden in mehrere Steine ein, um chemische Mengenverhältnisse zu messen.

Trumball sammelte unterdessen Gesteinsproben, holte oberflächennahe Kerne herauf (ohne irgendwo auf Permafrost zu stoßen) und begann mit der detaillierten geologischen Kartierung des Gebiets. Und er stellte natürlich ein halbes Dutzend Geo/Met-Baken entlang eines sorgfältig abgesteckten Pfades auf, der parallel zur Felswand verlief.

Jamie half ihm. Dex ließ ein paar Sprüche darüber vom Stapel, dass der Missionsleiter als sein Assistent fungierte. Jamie überging sie kommentarlos.

»Wir müssen uns Proben aus der Felswand selbst besorgen«, erklärte er Jamie am zweiten Abend ihres Aufenthalts im Canyon. »Und Baken darin anbringen.«

Jamie nickte zustimmend. Sie standen im Innern des Rovers, direkt bei der Luftschleuse, und saugten mit schnurlosen Handsaugern den Staub von ihren Anzügen.

Der marsianische Staub roch so stechend nach Ozon, dass einem die Augen tränten, wenn er nicht sofort entfernt wurde.

»Immer noch kein Permafrost?«, fragte Jamie über das Heulen des Staubsaugers hinweg.

»Keine Spur. Muss tiefer unter der Oberfläche sein. Hier unten ist es ein paar Grad wärmer, weißt du.«

»Aber die Wärmestrommessungen …«

»Ja, ich weiß«, unterbrach ihn Trumball und bückte sich, um seine Stiefel zu reinigen. »Der Wärmestrom aus dem Innern ist hier schwächer als oben.«

»Trotzdem kein Permafrost.«

»Er muss tiefer unten sein.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Wie kann die Flechte hier leben, wenn weniger Wärme aus dem Innern heraufkommt und das Wasser weiter entfernt ist?«

Trudy Hall, die auf ihrer Liege saß, ihren Laptop auf den ausgestreckten Beinen, rief ihnen zu: »Hört euch meinen Vortrag nach dem Abendessen an, der wird all eure Fragen beantworten.« Dann machte sie ein nachdenkliches Gesicht und fügte hinzu: »Na ja, zumindest einige.«

Halls improvisierter Vortrag begann, nachdem sie die Überreste ihres Abendessens in den Wiederaufbereitungseimer geworfen und den Klapptisch saubergewischt hatten.

Jamie holte sich seine zweite Tasse heißen Kaffee und setzte sich dann auf seine Liege. Dex, der neben ihm saß, trank langsam und bedächtig einen Becher Fruchtsaft. Die oberen Liegen waren noch an die gekrümmte Wand geklappt. Stacy Deschurowa war vorn im Cockpit und überprüfte das Diagnosesystem des Rovers, eine lästige Pflicht, der sie sich jeden Abend unterzog.

Hall stellte ihren Laptop auf den Tisch und zeigte den beiden Männern mit Hilfe von Fotos und Grafiken auf dessen Bildschirm, dass die Flechte ihre Wärmeenergie vom Sonnenlicht bezog, das tagsüber die Steine erwärmte – »auf bis zu zwölf Grad Celsius bei direkter Sonneneinstrahlung«, berichtete sie.

»Dann sind sie also nicht auf den Wärmestrom aus dem Boden angewiesen«, sagte Jamie.

»Ganz und gar nicht.«

»Deshalb also …«

»Und nicht nur das«, fuhr sie fort. »Sie sorgen sogar dafür, dass ihre Temperatur immer höher ist als die Umgebungstemperatur!«

»Wie bitte?«

Mit vor Aufregung leuchtenden Augen erklärte Hall den beiden Männern: »Das Gestein, das Flechten enthält, ist sechs bis zwölf Grad wärmer als das Gestein ohne Flechten.«

»Wie machen sie das?«, fragte Trumball.

»Die Flechten speichern Wärme, als wenn sie Warmblüter wären!«

»Aber es sind Pflanzen, keine Tiere«, wandte Jamie ein.

Hall wedelte mit der Hand. »Ich meine natürlich nicht, dass sie wirklich Warmblüter sind. Aber irgendwie schaffen sie es, eine höhere Temperatur beizubehalten als die flechtenfreien Steine. Sie speichern tatsächlich Wärme! Das ist einmalig!«

»Bist du sicher?«

»Wie viel Kälte können sie denn vertragen?«, fragte Trumball.

Hall hob die schmalen Schultern. »Sie existieren schon weiß Gott wie lange. Und die nächtlichen Tiefsttemperaturen liegen weit unter hundert Grad minus.«

»Was ist mit Staubstürmen?«, wollte Jamie wissen.


»Was soll damit sein?«, gab sie zurück.

»Na ja, das Gestein kann manchmal tagelang oder vielleicht sogar noch länger von Staub bedeckt sein …«

»Ah, ich verstehe.« Hall nickte kurz. »Die Flechte muss imstande sein, so eine Abdeckung zu überleben.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich weiß nicht, wie eine Staubschicht die Gesteinstemperatur beeinflussen würde.

Ist der Staub ein thermischer Isolator oder würde solares Infrarotlicht ohne größere Absorption durchgehen?«

Jamie und Trumball schüttelten beide den Kopf. Hall gab über die Tastatur ihres Laptops eine Anmerkung ein. »Damit müssen wir uns noch genauer befassen, nicht wahr?«

»Wenn die Flechte ihr Wasser aus der Feuchtigkeit in der Atmosphäre bezieht«, sagte Trumball, »dann würde sie doch austrocknen, wenn sie mehrere Tage mit Staub bedeckt wäre, oder?«

»Offenbar nicht«, erwiderte Hall. »Sonst wäre sie ja schon längst ausgestorben.«

Jamie sagte: »Dann kann sie eine Weile ohne jede Wasserzufuhr überleben.«

»Anscheinend. Sofern sie nicht Wasser aus einer anderen Quelle bekommt.«

»Zum Beispiel?«

Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Dex, du sagtest, du hättest keinen Permafrost im Boden gefunden, ist das richtig?«

»Noch nicht«, antwortete Trumball. »Er könnte tiefer liegen, als ich mit meiner Sonde komme.«

»Hast du die Feuchtigkeit des Erdreichs geprüft?«

Trumball, der neben Jamie auf der Liege saß, hing schlaff an der gekrümmten Wand des Rovers. »Gehört zum automatischen Analyseprogramm. Bisher liegt der Ha-zwei-oh-Gehalt unter der Messgrenze.«

»Die Flechten müssen sozusagen überwintern können«, meinte Jamie. »Wenn sie kein Wasser kriegen, müssen sie imstande sein, ihren Stoffwechselprozess zu verlangsamen und abzuwarten.«

»So machen sie's auf der Erde«, pflichtete Hall ihm bei.

Trumballs Augen leuchteten auf. »Wahrscheinlich gibt's Hydrate im Gestein. Die Flechten können sie vielleicht chemisch aufspalten und ihr Wasser benutzen!«

»Hat jemand …?«

Jamie schnitt Hall das Wort ab. »Es gibt Hydrate im Gestein«, sagte er, mehr zu Trumball als zu Trudy. »Das haben wir auf dem Rückweg von der ersten Expedition festgestellt. Nicht im Gestein oben auf dem Lunae Planum, aber die Steine, die wir hier unten im Canyon gesammelt hatten, enthielten definitiv Hydrate.«

»Wassermoleküle, die in den Silikaten des Gesteins gebunden sind«, sagte Trumball. »Ja.«

Auf der anderen Seite des Tisches setzte Trudy Hall sich aufrechter hin. »Wir müssen feststellen, ob die Flechte Wasser aus den Hydraten extrahieren kann«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig vor Eifer.

Sie und Trumball stürzten sich in einen lebhaften Dialog darüber, wie man die Flechte testen könnte. Jamie sah die Aufregung in ihren Gesichtern, hörte die Leidenschaft in ihren Stimmen.

»Wir müssen Proben ziehen und sie zur Basis mitnehmen«, sagte Hall. »Ich habe hier nicht die Geräte für solche Untersuchungen.«

»Nehmen wir ganze Steine und bewahren wir sie in Probenkästen außerhalb des Rovers auf«, empfahl Trumball. »Wir sollten kein Risiko eingehen, sie zu kontaminieren.«

»Richtig. Aber wo können wir sie unterbringen?«

Trumball stand von der Liege auf, ging um den Tisch herum und setzte sich neben sie. Sie beugten sich über den Bildschirm des Laptops; ihre Köpfe berührten sich fast. Stacy Deschurowa kam aus dem Cockpit zurück und warf einen Blick auf die beiden, die miteinander schwatzten und auf der Tastatur des Laptops herumtippten.


»Was ist los?«, fragte sie Jamie.

»Sie versuchen rauszufinden, wo sie außen am Rover ein paar Probenkästen für die Rückfahrt aufhängen können.«

»Außen? Sucht es euch aus. An der Außenhaut gibt's alle paar Meter Befestigungspunkte.«

Nachdem dieses Problem gelöst war, schlüpfte Deschurowa an Jamie vorbei in Richtung Waschraum. Jamie saß allein auf seiner Liege und fühlte sich ausgeschlossen. Sie sind so aufgeregt wegen dieser Sache, dass sie alles andere vergessen, sagte er sich.

Dann blickte Hall vom Bildschirm auf und sagte: »Ist euch eigentlich klar, was das bedeutet? Das mit der Wärmespeicherfähigkeit der Flechte, meine ich.«

Trumball schaute einen Moment lang verwirrt drein.

Jamie begann zu überlegen: Wenn die Steine mit Flechten wärmer sind als die Steine ohne, dann heißt das …

»Wir könnten sie per Satellit kartieren!«, rief Trumball.

»Genau«, rief Trudy. »Die Infrarotsensoren in den Satelliten können Temperaturanomalien am Boden aufspüren …«

»Und die wärmeren Stellen werden die sein, wo die Flechten leben«, beendete Jamie ihren Satz.

»He, auf diese Weise könnten wir innerhalb von ein paar Stunden eine vollständige Karte des ganzen Planeten kriegen«, sagte Trumball. »Die uns genau zeigt, wo es Flechtenkolonien gibt!«

»Länger als ein paar Stunden wird es schon dauern«, dämpfte Jamie ihre Begeisterung. »Wir brauchen mehrere Überflüge, um sicherzustellen, dass die Daten zuverlässig sind, und wir müssen sie für jedes Gebiet mehrfach erheben, um die Temperaturunterschiede festzustellen.«

»Können die Satellitensensoren einen Unterschied von etwa sechs Grad messen?«, fragte Hall.

»Na klar«, sagte Trumball. »Mit Leichtigkeit.«

»Bodentemperaturen, meine ich.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass das kein Problem sein wird, Trudy«, sagte Jamie. »Die Atmosphäre absorbiert nicht viel; sie ist so dünn, dass die Bodenwärme direkt in den Weltraum entweicht. Deshalb wird es jede Nacht so kalt, ganz gleich, wie hoch die Temperatur tagsüber war.«

Sie nickte nachdenklich. »Fünf oder sechs Grad also.

Wenn die Satelliten fähig sind, einen so geringen Unterschied zu messen, können wir den ganzen Planeten kartieren und sehen, wo es Flechtenkolonien gibt.«

»Oder andere Lebensformen«, meinte Trumball.

»Bisher haben wir keine gefunden«, sagte sie.

»Das kommt noch«, antwortete Trumball zuversichtlich.

»Hoffentlich.«

»Holen wir uns mal die technischen Daten der Satellitensensoren auf den Bildschirm«, sagte Trumball. »Dann werden wir ja sehen, ob die Infrarotscanner deine Temperaturunterschiede messen können.«

Hall nickte eifrig, und Trumball zog den Laptop zu sich herüber und begann, auf der Tastatur herumzutippen. Jamie stand auf und ging nach vorn ins Cockpit. Wird Zeit, dass ich mich mit der Basis in Verbindung setze und den abendlichen Bericht durchgebe, dachte er.


ABEND: SOL 10

Vijay Shektar hatte gerade Dienst an der Kommunikationskonsole. Sie lächelte Jamie an. »Na, wie sieht's aus, Kamerad?«

»Sehr gut.« Jamie berichtete von ihrer Hypothese über die Flechte, die Wasser aus dem Innern ihres Wirtsgesteins saugte, und die Möglichkeit, den ganzen Planeten nach Flechtenkolonien abzutasten.

»Das ist ja großartig, Jamie«, sagte Shektar mit einem fröhlichen Lächeln.

»Trudy ist wirklich auf Draht«, sagte er. »Sie ist auf dem besten Wege zum Nobelpreis.«

»Schön für sie«, erwiderte Vijay ein bisschen abwesend, wie Jamie fand.

Dann verblasste ihr Lächeln, und sie fragte mit leiserer Stimme: »Wie läuft's zwischen dir und Dex?«

Jamie dachte an den vorletzten Abend, als er mit ihr hatte sprechen wollen, sie jedoch mit Trumball gechattet hatte.

Ohne sich etwas anmerken zu lassen, antwortete er:

»Nicht schlecht. Er will den alten Rover bergen.«

»Ja, das hab ich in deinem gestrigen Bericht gelesen.«

»Und zu diesem Zweck hat er versucht, mich zu bestechen.«

»Dich zu bestechen?«

Jamie berichtete ihr von dem Vorschlag mit der Felsenbehausung.

Shektar sagte: »Aber das wolltest du doch ohnehin tun, oder?«

Er musste es zugeben. »Ich hatte es jedenfalls vor. Aber jetzt, wo Dex es offen angesprochen hat, bin ich irgendwie froh drüber.«

»Das ist gut.«

»Äh … du hast doch neulich abends mit ihm gesprochen, nicht?«

Ihr dunkelhäutiges Gesicht zeigte keine Spur von Überraschung. Ihre Onyx-Augen flackerten nicht. »Ich versuche, alle paar Tage mit jedem Mitglied des Teams zu sprechen, Jamie. Das gehört zu meinem Job.«

»Ich verstehe«, sagte er.

Sie lächelte. »Ja, natürlich.«

Auf einmal fühlte Jamie sich unwohl. Er hätte am liebsten stundenlang mit Vijay gesprochen, hätte gern über Gott und die Welt mit ihr geredet, nicht nur über die sachlichen Aspekte der Expedition. Aber er spürte, dass sie mehr dar

über wusste als er selbst, was in ihm vorging.

»Wie steht's bei euch?«, hörte er sich fragen. »Alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens«, sagte Vijay. »Possums Bohrer hat die Zweihundert-Meter-Marke erreicht, und er holt jetzt die ersten Bakterienproben herauf. Er und Mitsuo untersuchen sie. Die beiden nehmen die ganze Laborausrüstung in Beschlag.«

»Lebende Bakterien?«

»Ja. Die Biologen auf der Erde tanzen auf der Straße, wenn man die beiden so reden hört.«

»Warum, zum Teufel, haben die mir nichts davon erzählt?«

Sie machte ein überraschtes Gesicht. »Ich dachte, das hätten sie. Heute Morgen haben sie gerade die erste Probe raufgeholt. Ich dachte, sie hätten dir sofort einen Bericht geschickt.«

Jamie holte tief Luft. »Vielleicht ist er in meiner Mail. Ich hab heute Abend noch gar nicht nachgesehen.«

»Bestimmt ist er drin.«

Ohne die Verbindung mit Shektar zu unterbrechen, holte er sich die Liste der eingegangenen Nachrichten auf den Bildschirm. Ja, da waren zwei von Fuchida, nur ein paar Minuten nacheinander abgeschickt, vor knapp drei Stunden.


Ich sollte mir meine Mail ansehen, bevor ich die Basis anrufe, ermahnte sich Jamie. Er merkte, dass er sich töricht benommen hatte, weil er sich so sehr gewünscht hatte, mit Vijay zu sprechen, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, vorher einen Blick in seinen Posteingang zu werfen.

»Mitsuo meint, die Vulkane wären vielleicht noch bessere Stellen für eine unterirdische Ökologie«, sagte sie. »Er kann es gar nicht erwarten, mit seiner Exkursion loszulegen.«

Jamie seufzte. »Das Gefühl kenne ich.«

»Geht's dir gut?«

Beinahe überrascht von ihrer simplen Frage, antwortete Jamie: »Klar, alles in Ordnung.«

»Du bist nicht müde oder vielleicht ein bisschen reizbar, vor allem abends?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen.«

»Wie ist es beim Aufwachen morgens? Irgendwelche Anzeichen von Niedergeschlagenheit?«

»Wovon redest du?« Er erinnerte sich daran, wie es ihm bei der ersten Expedition gegangen war, als Vitaminmangel zu Skorbut geführt hatte. Machte sich Vijay deswegen Sorgen?

Aber sie antwortete: »Vom Jetlag.«

»Jetlag?«

Shektar nickte ganz ernst. »Der Marstag ist über eine halbe Stunde länger als der Erdentag. Hier in der Basis haben einige Leute Schwierigkeiten gehabt, ihre innere Uhr darauf umzustellen.«

Jamie war sofort alarmiert. »Wer? Wie ernst ist es?«

»Es ist nicht ernst«, erwiderte Shektar. »Kein Grund zur Sorge. Und ich werde deshalb nicht die ärztliche Schweigepflicht verletzen.«

»Aber wenn es sich auf die Arbeit der Betreffenden auswirkt …«

»Bis jetzt ist das nicht der Fall, und ich bezweifle, dass es so weit kommen wird. Sie passen sich an; nur ein bisschen langsam, das ist alles.«


Jamie gab sich alle Mühe, sie nicht finster anzusehen. Daran hätten wir denken sollen, tadelte er sich. Wir haben die Schwerkraftanpassung durchgeführt, aber niemand hat an die Anpassung an die unterschiedliche Tageslänge gedacht.

»Mach nicht so ein Gesicht, Jamie«, sagte Vijay. Sie lächelte wieder. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.«

»Bist du sicher?«

»Ja, ich bin absolut und vollkommen sicher.« Dann wurde ihr Lächeln schalkhaft. »Jedenfalls ziemlich.«

Sie unterhielten sich ein wenig über Biorhythmen und natürliche Zyklen. Jamie genoss es, mit ihr zu plaudern; er merkte, dass die Anspannungen des Tages sich allmählich von ihm lösten. Ihm fiel auf, wie weiß ihre Zähne in dem dunklen Gesicht glänzten. Ihre Haut wirkte glatt und weich. Wie gern würde er ihr Gesicht, ihre Schultern streicheln …

»Wo wir gerade von Biorhythmen sprechen«, sagte Vijay,

»ich habe den Harem-Effekt im Auge behalten.«

Das machte seinen Phantasien ein Ende. »Den was

»Den Harem-Effekt«, sagte sie. »Die Tendenz zusammenlebender Frauen, ihren Menstruationszyklus zu synchronisieren.«

Davon will ich nichts hören, dachte Jamie. Aber er hörte sich fragen: »Ist das hier bei … euch der Fall?«

Shektar nickte. Ihr Blick war neckisch. »Ja, in der Tat, Kamerad. Ich habe vor kurzem mit Stacy gesprochen. Wir sind alle nicht mehr als drei Tage auseinander.«

»Der Harem-Effekt«, murmelte er.

»Ein Element der generellen Boshaftigkeit der Natur«, sagte sie.

»Ach wirklich?«

»Wir machen das nicht absichtlich, Jamie. Wir können unsere Zyklen nicht kontrollieren, jedenfalls nicht ohne Hormontherapie, und soweit ich weiß, nimmt keine von uns die Pille.«


Jamie dachte, vielleicht solltet ihr das tun, und fragte sich dann, warum sie es nicht taten. Weil sie nicht sexuell aktiv sein wollten?

»Wir haben uns vor dem Abflug von der Erde bereit erklärt, auf die Pille zu verzichten«, erklärte Shektar. »Wir sind alle drei freiwillige Teilnehmerinnen eines medizinischen Experiments über den Harem-Effekt.«

»Wirst du eine Abhandlung darüber schreiben?«

»Nach unserer Rückkehr, ja. Publizieren oder krepieren, du weißt schon.«

Jamie konnte nicht erkennen, ob sie es ernst meinte oder ob sie ihn triezen wollte.

»Falls eine von uns glaubt, sie hätte Anlass dazu«, fuhr sie fort, »kann sie natürlich eine ›Pille danach‹ nehmen. Von denen habe ich einen ordentlichen Vorrat dabei.«

Jamie hörte sich fragen: »Hat schon jemand …?«

Ihr Lächeln wurde strahlend. »Ärztliche Schweigepflicht, Jamie. Meine Lippen sind versiegelt.«

Er seufzte frustriert. Es klang eher wie ein Knurren.

Auf einmal wechselte Shektar das Thema. »Du hast seit deiner Abreise von der Basis keine medizinische Diagnose mehr machen lassen, weißt du.«

»Ich brauche keine …«

»Du hast die Vorschriften gebilligt, Jamie. Wir haben uns alle bereit erklärt, uns an sie zu halten.«

»Ja, ich weiß.«

»Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass du körperlich und seelisch gesund bleibst.« Sie war jetzt vollkommen ernst. »Aber das kann ich nicht, wenn du nicht kooperierst.«

»Haben die anderen …?«

»Dex und Trudy waren sehr kooperativ. Stacy hat die typische Abneigung der Astronauten gegen Ärzte, aber sie hat gestern eine Diagnose machen lassen. Ich habe die Daten hier.«

»Ich würde mich lieber von dir persönlich untersuchen lassen als von dieser blöden Maschine«, entfuhr es ihm.


Sie zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich?«

Jamie verfluchte sich für seine Dummheit. »Ich wollte damit nur sagen, dass …«

Aber Vijay lächelte schon wieder. »Ich untersuche dich gern, wenn du zurückkommst. Aber für den Augenblick ist die Diagnosemaschine leider der Gipfel der Romantik.«

»Romantik?«

Sie lachte. »Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht durcheinander bringen. Ist nur mein bösartiger Humor.«

Er zwang sich, ihr Lächeln zu erwidern. Mit begrenztem Erfolg. »Ich bin nicht durcheinander. Ist schon in Ordnung.«

»Ja, das sehe ich.«

Jamie versuchte, das Gespräch wieder in den Griff zu bekommen. »Ich muss mit Tomas sprechen.«

»Jetzt?«

»Bevor ich mich verabschiede.«

»Möchtest du deinen formellen Bericht abliefern?«

»Ich möchte, dass er einen der Schwebegleiter darauf programmiert, einen Erkundungsflug zu der Felsenbehausung durchzuführen.«


MORGEN: SOL 11

Trotz der ganzen Staubsaugerei wirkten die Anzüge allmählich schmutzig und gebraucht, stellte Jamie fest. Die einstmals glänzend weißen Stiefel und Unterteile hatten jetzt einen leicht rötlichen Ton. Die Handsauger entfernten offenbar nicht den ganzen Staub. Ihm fiel wieder ein, wie fleckig und gebraucht die Anzüge bei der ersten Expedition schon nach ein paar Wochen ausgesehen hatten.

»Hier ist das Gerät«, sagte Dex Trumball und reichte Jamie den Helm. Das Visier war bereits geschlossen; die VR-Kameras befanden sich knapp über Augenhöhe. Stacy Deschurowa hatte das Modul mit der Virtual-Reality-Elektronik in den Tornister von Jamies Anzug gepackt.

»Okay.« Jamie setzte den Helm vorsichtig auf und verschloss den Halsring. »Sobald ich die VR-Handschuhe anhabe, bin ich bereit für meine große Chance im Showbiz.«

Trumball war ganz sachlich. »Mach immer schön langsam. Keine plötzlichen Bewegungen. Du willst doch nicht, dass den Zuschauern zu Hause schwindlig wird.«

Deschurowa hatte bereits ihren Raumanzug an. Ihr Visier war hochgeklappt, und sie war bereit, Jamie zu überprüfen, bevor er durch die Luftschleuse hinausging. Jamie hörte ihre Stimmen gedämpft durch seinen gepolsterten Helm.

Dann kam Deschurowa über die Helmlautsprecher: »Funkcheck.«

»Laut und klar, Stacy.«

»Dann hast du grünes Licht für die Exkursion.«

Jamie stapfte unbeholfen in die Luftschleuse und setzte den Pumpzyklus in Gang. Wir könnten ein paar Proben mit hineinnehmen, dachte er. Solange sie in Probenbehältern eingeschlossen sind, kann nichts passieren. Die Behälter sind isoliert und das UV-Licht kommt nicht durch. Aber dann dachte er: Wozu ein Risiko eingehen? Lassen wir sie draußen; in ihrer natürlichen Umgebung sind sie besser aufgehoben.

Das Lämpchen an der Anzeigetafel sprang auf Rot. Jamie drückte mit einem behandschuhten Daumen auf den Knopf, der die Außenluke öffnete. Dann trat er wieder einmal auf den roten Sand des Mars hinaus.

Der Boden war von Stiefelabdrücken übersät. Jamie entfernte sich ein Dutzend Schritte vom Rover und schaute dann an der gigantischen Steilwand hinauf, die sich in beiden Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Da der Helm des hartschaligen Raumanzugs sein Blickfeld begrenzte, konnte er den oberen Rand der Felswand nicht sehen, auch wenn er sich so weit wie möglich nach hinten bog.

Ihm stockte der Atem, als ihm wieder einmal klar wurde, dass er sich auf einem anderen Himmelskörper befand, einem großartigen, markanten neuen Planeten mit einer ganzen Welt voller Überraschungen und Rätsel, die sie entdecken und lösen konnten. Er spürte, wie die Wärme der Morgensonne in die am Boden verstreuten Steine und die über sein Blickfeld hinaus aufragende massive Felswand drang.

Hier gab es einmal einen Fluss, dachte Jamie. Einen gewaltigen, reißenden Strom, der häusergroße Felsbrocken mit sich getragen hat. Aber wann? Vor wie langer Zeit? Und was ist aus ihm geworden?

Die Felsenbehausung ist keine fünfzig Klicks von hier, sagte er sich. Wir könnten hinfahren, sie uns rasch ansehen und noch vor Sonnenuntergang wieder hier sein.

Er drehte sich um und ließ den Blick über den Boden des Canyons schweifen. Die Felswände auf der anderen Seite waren hinter dem Horizont, außer Sichtweite. Der Horizont selbst wirkte zu nah, beunruhigend nah, und so scharf, als wäre der Rand der Welt mit dem Rasiermesser gezogen. Ein ganzer Planet, den es zu erforschen galt. Eine ganze Welt.

Wenn es hier draußen wirklich eine Felsenbehausung gibt, wie viele andere werden wir dann noch finden?

Aber die Stimme der Pflicht antwortete: Nicht heute. Du kannst dich nicht auf die Suche nach deiner Felsenbehausung machen. Nicht auf dieser Mission. Du würdest die Treibstoffreserve des Rovers angreifen und ein unnötiges Risiko eingehen.

Nur Geduld, riet er sich. Erst soll der Schwebegleiter einen Erkundungsflug über das Gebiet machen. Dann kannst du eine spezielle Exkursion dorthin planen.

Falls die Kameras des Schwebegleiters etwas zeigen, das eine genauere Untersuchung lohnt.

»Kann es losgehen mit deiner Viertelstunde des Ruhms?«

Stacy Deschurowas Stimme in den Helmlautsprechern riss Jamie aus seinen Gedanken.

Als er sich wieder zum Rover umdrehte, sah er sie in ihrem Raumanzug an der Luftschleuse stehen, mit leicht rosa gefleckten Stiefeln und Beinen. Aber die gelben Streifen an den Ärmeln waren noch immer so hell und makellos wie Butterblumen.

»Ich denke schon«, sagte er.

»Tarawa ist bereit für deine Übertragung«, sagte sie. »Pete Connors sitzt an der Kommunikationskonsole.«

»Auf welcher Frequenz ist er?«

»Zwei.«

Jamie holte tief Luft, während er auf dem Tastenfeld am Handgelenk seine Eingabe vornahm. Es wäre schön, mit Pete zu reden, dachte er. Einen netten, langen, freundlichen Plausch zu halten. Aber Jamie wusste, dass die Entfernung diese Hoffnung zunichte machte. Es würde fast eine Viertelstunde dauern, bis seine Worte die Erde erreichten, und noch einmal so lange, bis Connors' Antwort bei ihm eintraf.

Allein die Begrüßung könnte schon den halben Vormittag dauern, wusste Jamie.

Widerstrebend sprach er in sein Mikrofon: »Willkommen auf dem Mars, diesmal auf dem Grund des Grand Canyon.

Heute werden wir Ihnen echte Marsianer zeigen …«


Fulvio A. DiNardo, S.J., saß in seiner Einzimmerwohnung in der obersten Etage eines ehemaligen Renaissance-Palazzos. Von dem stattlichen alten Gebäude aus hatte man einen guten Blick auf den reich verzierten Brunnen in der Mitte der Piazza Navona. Vor Hunderten von Jahren hatte es als römisches Heim für die lärmende Familie eines reichen Kaufmanns gedient, der mit edlen Metallen handelte; in den letzten zweihundert Jahren hatte es ein Dutzend marmorverkleidete Wohnungen beherbergt, die lukrative Mieten für die entfernten Nachfahren jener Familie abwarfen.

Pater DiNardo stammte aus einer sehr reichen Familie, obwohl man zu seiner Ehre sagen musste, dass er seine jesuitischen Gelübde ernst nahm und ein bescheidenes Leben führte. Geologie war seine Leidenschaft, sein einziges Laster. Er brannte darauf zu verstehen, wie Gott diese Erde und die anderen von ihm nach Gutdünken erschaffenen Welten konstruiert hatte.

Aus dem hervorragenden Studenten mit von Anfang an blendenden Erfolgsaussichten war schließlich ein Geologe von Weltrang geworden, ein nahe liegender Kandidat für einen Platz bei der ersten Mission zum Mars. Er bemühte sich um größtmögliche Demut, was das betraf, aber innerlich strahlte er vor Stolz bei dem Gedanken, dass er in eine andere Welt vorangehen würde. Die Sünde des Stolzes zog ihre Strafe nach sich: eine Gallenblasenkolik, die operativ behandelt werden musste und ihn aus dem Team der ersten Marsexpedition katapultierte. Jetzt saß er in seiner kleinen, aber gut ausgestatteten Wohnung, einen Virtual-Reality-Helm auf dem Kopf und Datenhandschuhe an den Händen mit den dicken Fingern, und erlebte den Mars mittels einer elektronischen Illusion.

Er sah die Steine, die Jamie Waterman sah, hob sie hoch und inspizierte eingehend ihre zernarbte, raue Oberfläche.

Er untersuchte die gelblichen Flecken an einigen dieser Steine, wo die Marsflechte ein paar Millimeter unter der Oberfläche lebte. Er fühlte die Festigkeit des kompakten, elektronisch verstärkten Mikroskops, das Waterman in einer Hand hielt, als er sich niederkniete, um einen genauen Blick auf die außerirdische Flechte zu werfen.

»Diese dunklen Stellen an der Oberfläche der Flechte«, hörte er Watermans Stimme, »sind in Wahrheit Fenster, die Licht durch die Außenhaut des Organismus eindringen lassen.«

DiNardo nickte verstehend.

»Bei Nacht schließen sie sich, wie Augen«, fuhr Waterman fort, »damit die innere Wärme des Organismus nicht durch die Fenster wieder in die Atmosphäre entweicht.«

Natürlich, dachte DiNardo. Eine wunderbare Anpassung.

Durch Jamie Watermans Sinne schlurfte der Jesuit an der Felswand entlang, untersuchte Steine und hinterließ Stiefelspuren im rostigen Sand.

Zu seiner Überraschung merkte Jamie, dass ihm die Arbeit als Führer Spaß machte. Vielleicht hätte ich doch Lehrer werden sollen, dachte er, während er langsam an der Felswand entlangging und sein Publikum auf die unterschiedlich gefärbten Gesteinsschichten hinwies: eisendunkelrot, ocker, hellbraun, sogar ein paar Extrusionen blassen, gelblichen Gesteins.

»Diese Schichten sind allem Anschein nach über einen langen Zeitraum hinweg entstanden, höchstwahrscheinlich im Verlauf von mehreren Milliarden Jahren. Sie erzählen uns möglicherweise, dass es hier einmal ein Meer gab oder zumindest einen sehr großen See, der dieses Material Schicht um Schicht abgelagert hat.«

Er kam zu einem hausgroßen Felsblock, der offensichtlich aus einiger Höhe auf den Boden des Canyons gestürzt war.

»Problem: Wie alt sind diese Steine?«, fragte Jamie rhetorisch, während er mit behandschuhten Fingern über die seltsam glatte Oberfläche des Felsblocks strich. »Bevor wir lernten, Gestein mit Hilfe des radioaktiven Zerfalls zu datieren, beurteilten die Geologen sein Alter danach, wie tief eine Schicht unter der Oberfläche lag. Heutzutage …«


Während er erklärte, wie die radioaktive Datierung funktionierte und wie Geologen das Alter von Gesteinen nach dem Verhältnis der radioaktiven Elemente darin schätzten, bestieg Jamie den Felsblock, kletterte Spalten in dessen Wand hinauf, bis er oben auf dem großen Stein stand.

»Wie Sie sehen«, begann er keuchend. Dann hielt er inne.

Auf seinem Visier blinkte mit einem Mal eine Kaskade roter Lichter. Die Datenhandschuhe, die mit den Augenbewegungen synchronisierten Kameras, die gesamte VR-Ausrüstung war außer Betrieb, funktionierte nicht mehr.

Jamie murmelte Flüche.

Überall auf der Welt brach bei den Menschen, die zusammen mit Jamie verzückt Tithonium Chasma erforschten, auf einmal die Verbindung zusammen. Ihre Displays wurden dunkel. Bevor sie den Helm abnehmen konnten, erschien das ernste, dunkle Gesicht des ehemaligen Astronauten Pete Connors vor ihnen.

»Wir haben den VR-Kontakt mit Dr. Waterman verloren«, sagte Connors. Seine Stimme war ernst, aber nicht nervös.

»All unsere Datenleitungen hier sagen uns, dass Dr. Watermans Lebenserhaltungssystem noch funktioniert; er ist nicht in Gefahr. Aber die Virtual-RealityVerbindung ist aufgrund einer technischen Störung abgebrochen.«

Pater DiNardo nahm langsam den Helm ab.

Ich war auf dem Mars, sagte er sich. Wenigstens das hat Gott mir gewährt. Ich sollte dankbar sein. Ich hoffe, mit Waterman ist alles in Ordnung, und er ist wirklich nicht in Gefahr. Ich werde für seine Sicherheit beten.

Doch als DiNardo sich mit einer müden Hand über den rasierten Schädel fuhr, standen ihm trotzdem Tränen der Trauer und der Verbitterung in den Augen. Ich hätte der Mann auf dem Mars sein sollen. Ich hätte dort sein sollen.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?


NEW YORK CITY

»Also, wo stehen wir in dieser Sache?«, fragte Roger Newell.

Zwei andere Männer und drei Frauen saßen um den Konferenztisch im Hauptquartier von Allied News. Ihre Kleidung war leger: Pullover, Chino-Hosen und Jeans, nirgends eine Krawatte oder ein Jackett. Newell legte großen Wert darauf, dass im Büro eine lockere Atmosphäre herrschte.

Nachrichten zu sammeln und zu senden war ein Beruf, in dem man ohnehin unter Hochdruck stand; es hatte keinen Sinn, den Stress mit albernen Kleidungsvorschriften noch zu verschärfen.

»Da oben ist alles in Ordnung«, sagte der hagere, träge junge Mann, der links von ihm saß. »Sie sind nicht in Gefahr. Nur die VR-Ausrüstung ist ihnen abgestunken.«

Newell unterdrückte ein Grinsen.

Eine der Frauen – rundlich, übergewichtig, teigiges Gesicht – sagte in lebhaftem, bissigem Ton: »Nach den Umfrageergebnissen von heute früh rangiert die Marsexpedition hinter der Tierrechtskonferenz und dem Streik der Obstpflücker in Florida auf dem dritten Platz.«

»Die alte Geschichte«, sagte die erheblich jüngere Frau neben ihr. Sie strahlte Ehrgeiz aus, von ihren modisch ausrasierten blonden Schläfen bis zu ihren Stiletto-Absätzen.

»Es interessiert die Leute einen feuchten Dreck, was die auf dem Mars treiben, außer wenn sie in Schwierigkeiten geraten.«

»Und wenn ihre VR-Ausrüstung kaputtgeht, sind das keine Schwierigkeiten?«

»Jedenfalls nicht genug.«

»Die Boulevardmagazine sehen das anders«, sagte der Mann zu Newells Rechten. »Habt ihr da gestern Abend mal reingeschaut? Drei Sendungen hintereinander darüber, wie im Untergrund lebende Marsianer mittels psychischer Kräfte die Ausrüstung der Expedition zerstören.«

Die Frau mit dem teigigen Gesicht lachte. »Letzte Woche haben sie behauptet, die Marsianer würden sich unseren Leuten zeigen und ihnen das Heilmittel für Krebs geben.«

Sie kicherten alle, sogar Newell.

Aber dann sagte er: »Dass ihre Ausrüstung den Geist aufgibt, fesselt unsere Zuschauer also nicht, hm?«

»Nee. Die Leute wollen 'ne waschechte Katastrophe.«

»Lebensgefahr.«

»Feuersbrünste und Blut.«

»In Ordnung«, sagte Newell und hob beide Hände. Das muntere Geplauder verstummte sofort.

Er lächelte sie an. »Sie kriegen ihre Virtual-Reality-Sendungen also nicht zu ihren Abonnenten, richtig?«

»Nicht, bis sie die Ausrüstung repariert haben.«

»Ihre Abonnenten müssen also zu uns umschalten, um ihre Neuigkeiten über den Mars zu erfahren, stimmt's?«

»Oder zur Konkurrenz.«

»Und was machen wir? Wir können nicht jeden Abend zehn bis fünfzehn Sekunden darauf verwenden, unserem Publikum zu erzählen, dass auf dem Mars nichts passiert ist.«

»Wir könnten eine kurze Wissenschaftsreportage bringen«, sagte die übergewichtige Frau.

Alle stöhnten. Mit Wissenschaftsreportagen verlor man Zuschauer, daran glaubten sie alle felsenfest. Wissenschaft war langweilig. Mit Wissenschaftsreportagen reichte man das Publikum quasi auf direktem Wege an die Konkurrenz weiter.

»Wollen wir den Mars einfach ganz ignorieren?«

Die älteste Frau am Tisch – sie musste mindestens schon auf die Vierzig zugehen – tippte sich mit einem Zeigefinger ans Kinn. »Ich weiß noch …«

»Was denn?«, fragte Newell.

»Etwas, das sie uns in der Schule gezeigt haben … da war ich – nein! Es war in dem Kurs über Mediengeschichte, den ich vor ein paar Jahren besucht habe.«

»Was denn?«, wiederholte Newell einigermaßen genervt.

»Cronkite hat das gemacht! Ja, so war's.«

»Was denn?«, riefen die anderen im Chor.

»Es gab da irgendeine Krise. Geiseln oder so. Hat sich über ein Jahr hingezogen. Am Ende jeder Sendung hat Cronkite gesagt: ›Das ist der vierundfünfzigste Tag‹, wovon auch immer.«

»So eine Art Countdown?«

»Eher eine Erinnerung. Ein Kalender, sozusagen.«

Newell legte den Kopf schief, ein Zeichen, dass er überlegte. Die anderen blieben stumm.

»Das gefällt mir«, sagte er schließlich. »Am Ende der Abendnachrichten wird der Anchor ab jetzt immer sagen:

›Das ist der vierundfünfzigste Tag, den unsere Forscher auf dem Mars sind.‹«

»Je nachdem, wie die richtige Zahl lautet.«

»Natürlich.«

»An der Formulierung muss noch gefeilt werden, finde ich.«

»Dafür haben wir Autoren«, sagte Newell ein bisschen verstimmt.

»Auf diese Weise erinnern wir das Publikum daran, dass diese Leute noch auf dem Mars sind.«

»Aber wir verschwenden keine Sendezeit mit einer Wissenschaftsstory.«

»Außer, wenn ihnen was zustößt.«

»Oh, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, springen wir mit beiden Füßen zugleich rein«, versprach Newell. »Geht doch nichts über echte Gefahr, um die Quoten in die Höhe zu treiben.«


BOSTON

Darryl C. Trumball war viel zu beschäftigt gewesen, um sich die letzte Virtual-Reality-Übertragung vom Mars zu Gemüte zu führen. Er hatte sich die ersten zwei angesehen, die sein Sohn an den ersten beiden Tagen nach ihrer Ankunft auf dem Planeten durchgeführt hatte. Das reichte.

Natürlich hielt er sich auf dem Laufenden, was die Einkünfte aus den VR-Übertragungen betraf. Die ersten beiden Sendungen hatten etwas mehr als zwanzig Millionen Zuschauer gehabt. Zwanzig Millionen zahlende Zuschauer –

zehn Dollar pro Kopf – hatten den Forschern am Tag ihrer Landung auf dem Mars und am darauf folgenden Tag zugesehen, als Dex eine Führung durch die Kuppel veranstaltet hatte, in der sie für die nächsten anderthalb Jahre leben würden.

Und dann war die Zuschauerzahl rasch auf ungefähr drei Millionen geschrumpft. Wer wollte die Steine auf dem Mars schon zweimal oder öfter sehen, außer Schulkinder und spinnerte Weltraumfans? Aber drei Millionen waren ganz ordentlich: Sie brachten der Expedition pro Sendung drei

ßig Millionen Dollar ein.

Natürlich bezahlten nicht alle ihre zehn Dollar, wie Trumball sehr wohl wusste. Es kostete zehn Dollar pro Empfangsgerät, nicht zehn Dollar pro Kopf. Eine Schulklasse von dreißig Kindern bezahlte nur zehn Dollar. Eine Familie konnte ihre zehn Dollar hinlegen und all ihre Verwandten zuschauen lassen. Bars voller Betrunkener zahlten ihren Zehner, und das war's. Trumball kochte bei dem Gedanken, aber es gab keine praktikable Möglichkeit, dieses Nassauern zu unterbinden.

Jetzt war die VR-Ausrüstung ausgefallen. Dieser verdammte Indianer hatte irgendwas kaputtgemacht, als er draußen auf so einem verdammten Felsen herumgeturnt war.

Die sollen bloß zusehen, dass sie das schleunigst repariert kriegen, schimpfte Trumball. Wir verlieren dreißig Millionen Dollar pro Sendung.


NACHMITTAG: SOL 15

»Da ist er!«, rief Dex Trumball.

Jamie saß auf dem Beifahrersitz, während Stacy Deschurowa den Rover die sanfte Steigung des alten Erdrutschs hinauflenkte.

»Dachtest du, er wäre inzwischen weggefahren?«, fragte Trudy Hall fröhlich. Sie saß auf dem Notsitz hinter Jamie, Trumball auf dem Klappsitz hinter Deschurowa.

Jamie gab etwas auf der Kommunikationskonsole ein, und Mitsuo Fuchidas Gesicht erschien auf dem kleinen Monitor an der Kontrolltafel.

»Wir nähern uns dem alten Rover«, berichtete Jamie. »Wir werden Halt machen und ihn untersuchen.«

»Ich verstehe«, sagte Fuchida.

»Wie sieht's bei euch aus?«

Mit einer fast unmerklichen Verbeugung antwortete der Biologe: »Rodriguez und Craig reparieren das Bohrgerät.

Vijay ist …«

»Sie reparieren den Bohrer?«, unterbrach ihn Jamie. »Was ist damit?«

Fuchida zwinkerte zweimal rasch hintereinander. »Die Hydraulikleitung zum Bohrkopf ist über Nacht eingefroren.

Possum glaubt, dass das elektrische Heizsystem ausgefallen ist.«

»Wie schlimm ist es?«

Ein leichtes Zucken der schmalen Schultern. »Ich weiß es nicht. Possum schien nicht besonders aufgeregt zu sein.«

Jamie ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. »Sag ihm bitte, er soll mich bei Gelegenheit anrufen.«

»Ja, mache ich. Wahrscheinlich schafft er es aber erst nach Einbruch der Dunkelheit.«

»Das ist schon okay. Bis dahin sind wir wohl sowieso draußen und überprüfen den alten Rover.«


Fuchida nickte und sagte dann: »Aus Boston sind noch ein halbes Dutzend Nachfragen nach dem VR-System gekommen.«

»Was immer daran kaputt ist«, sagte Dex hinter Jamie,

»ich kann's jedenfalls nicht reparieren. Das muss warten, bis wir zur Kuppel zurückkommen.«

»Vielleicht könnte Possum von hier aus mit euch daran arbeiten«, schlug Fuchida vor.

»Die wissenschaftlichen Aufgaben haben Vorrang«, sagte Jamie. »Wir haben nicht viel Zeit, uns mit dem Unterhaltungssystem zu beschäftigen.«

Fuchida zog die Augenbrauen hoch. »Mr. Trumball in Boston ist sehr hartnäckig.«

»Ich schicke ihm heute Abend eine Nachricht«, sagte Dex.

»Ich beruhige ihn schon.«

Jamie drehte sich zu Dex um. »Danke.«

Dex zuckte die Achseln.

Jamie wandte sich wieder dem Bildschirm zu und wartete darauf, dass Fuchida noch etwas sagte, doch als der Biologe weiterhin schwieg, merkte er, dass er fragen musste: »Was ist mit Vijay? Was macht sie?« Er merkte auch, dass seine Gefühle dabei zwischen Gereiztheit und Verlegenheit changierten.

Fuchida antwortete, als wäre es eine Routinefrage. »Sie hat fast den ganzen Tag über die Verbindung mit Tarawa gehalten. Im Moment sieht sie sich noch einmal unsere medizinischen Unterlagen an, glaube ich.«

»Irgendwelche Probleme?«

»Nicht dass ich wüsste. Wir scheinen alle recht gesund zu sein, auch wenn einige von uns ein oder zwei Kilo abgenommen haben.«

»Was kann man bei dieser vegetarischen Kost aus dem Garten schon anderes erwarten?«, mischte sich Trumball ein.

Fuchida lächelte. »Was ist, magst du keine Soja-Derivate?

Die Gartenfrüchte ergeben eine vollkommen ausgewogene Diät.«

»Ja, klar«, sagte Dex. »Sojaburger aus der Mikrowelle und Auberginen.«

Das Lächeln des Biologen wurde breiter. »Keine Steaks auf dem Mars, mein Freund.«

Trumball beugte sich zwischen den Sitzen von Jamie und Deschurowa vor. »Und auch kein Sushi, Kumpel.«

»Oh, Fische könnten wir züchten«, gab Fuchida zurück.

»Ich schreibe gerade einen Vorschlag, den Garten um Fischtanks zu ergänzen.«

»Genau das, was wir brauchen«, sagte Trumball forsch-fröhlich, »Fischkacke in unserer Wasserversorgung.«

Jamie warf ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu und schaute dann wieder auf den Bildschirm. »Okay, wir werden mindestens bis zum Einbruch der Dunkelheit bei dem alten Rover sein. Vielleicht verbringen wir dort auch die Nacht.«

»Verstanden«, sagte Fuchida wieder ganz sachlich. »Ich werde Possum sagen, dass er dich anrufen soll, wenn er kommt.«

»Ich würde mir gern das Bildmaterial des Schwebegleiters ansehen, sobald Tomas es rüberschicken kann«, sagte Jamie.

Fuchida machte für einen ganz kurzen Moment große Augen. »Er hat es gestern Abend schon geschickt. Es müsste in deinem Posteingang sein.«

Überrascht sagte Jamie: »Ich schau mal nach … Moment.«

Er schaltete vom Bild des Biologen auf eine Liste der eingegangenen Nachrichten um. Tatsächlich, da war eine von Rodriguez mit dem Titel »Bildmaterial«: Mehrere Dutzend Gigabytes.

Jamie holte Fuchida wieder auf den Schirm. »Jawoll, alles klar, es ist da. Ich schau's mir heute Abend an. Sag Tomas schönen Dank, bitte.«

»Mache ich«, sagte Fuchida.

Nachdem Jamie die Verbindung beendet hatte, sagte Trumball leise: »Nicht in die Mail geguckt, hm? Vielleicht solltest du Rodriguez vorschlagen, Rauchsignale zu geben.«

Jamie drehte sich nicht zu Dex um. Er sah das blasierte Grinsen in dessen Gesicht auch so vor sich. Und er wollte nicht, dass Dex den Ärger in seinem sah.

Das war dumm, schimpfte er mit sich. Richtig dämlich.

Du hättest gestern Abend einen Blick in deinen Posteingang werfen sollen. Den Fehler hast du jetzt schon zum zweiten Mal gemacht. Was ihn am meisten ärgerte, war nicht, dass er versäumt hatte, in seine Mail zu schauen, sondern dass Trumball und alle anderen es mitbekommen hatten.

»Wie nah willst du ran?«, fragte Deschurowa.

Jamie blickte auf und sah durch die Windschutzscheibe, dass sie keine hundert Meter von dem alten, aufgegebenen Rover entfernt waren.

»So nah, dass wir ein Abschleppseil anbringen können«, sagte er und fügte dann hinzu: »Aber pass auf, dass wir auf festem Boden bleiben.«

»Keine Angst«, erwiderte sie. »Ich will nicht, dass wir in dem Staub stecken bleiben.«

»Man kann den Rand des alten Kraters sehen«, sagte Trumball und zeigte mit ausgestrecktem Arm zwischen Deschurowa und Jamie hindurch. »Dürfte kein Problem sein.«

Es stimmte tatsächlich, stellte Jamie fest. Der phantomhafte Umriss des alten Kraters war ziemlich leicht zu erkennen, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste. Das Oval des Kraters war von dunklem Gestein gesäumt, das sich ein paar Zentimeter über den Rest des ansteigenden Bodens erhob. Im Innern des Kraters formte der Staub winzige Dünen, wie kleine Wellen, die über einen Teich liefen.

Ich hätte sie sehen müssen, als ich den Rover gefahren habe, sagte sich Jamie. Ich hätte den Krater erkennen und drum herum fahren müssen. Kein Geologe sollte etwas so gottverdammt Offensichtliches übersehen, nicht einmal, wenn er krank und erschöpft ist.

Er schaute sich um. Der Gesichtsausdruck Trumballs kam ihm beinahe hämisch vor.

Während Deschurowa den Rover vorsichtig ans hintere Ende des alten Fahrzeugs heranbugsierte, langte sie mit der rechten Hand nach unten und schaltete den Laser-Entfernungsmesser ein.

»Lies ihn für mich ab, Jamie, ja?«

»Dreißig Meter«, sagte er, den Blick auf die grünen, digitalen Leuchtziffern gerichtet. »Achtundzwanzig … fünfundzwanzig …«

»Zehn Meter okay?«

»Prima«, antwortete Trumball.

»Jamie?«

»Prima«, sagte er.

Sie bremste den Rover noch mehr ab, während Jamie ausrief: »Neunzehn Meter … siebzehn …«

Bei genau zehn Metern stoppte Deschurowa den Rover.

Das runde Heck des alten Fahrzeugs lag direkt vor ihnen, vom sechsjährigen Ansturm windgepeitschter eisenhaltiger Staubpartikel bis aufs glänzende Metall abgescheuert.

»Kinderspiel«, sagte Deschurowa und stellte die Fahrmotoren ab. Dann setzte sie hinzu: »Bis jetzt.«

Jamie, Trumball und Deschurowa stiegen nacheinander in ihre Raumanzüge, gingen durch die Luftschleuse hinaus und ließen Trudy Hall im Rover zurück. Im Notfall konnte sie die Basis anrufen und Hilfe herbeiholen. Als ob die Hilfe noch rechtzeitig kommen würde, dachte Jamie. Trotzdem verlangten die Sicherheitsvorschriften, dass zumindest eine Person immer im Rover blieb. Schlimmstenfalls würde Trudy allein zur Basis zurückfahren müssen. Sie gingen um das hintere Ende des Rovers herum.

»Auf dieser Seite hat sich der Sand angehäuft«, sagte Deschurowa. In Jamies Helmlautsprechern klang ihre Stimme ruhig, beinahe klinisch nüchtern.

»Ist ziemlich weich, das Zeug«, sagte Jamie. »Wie Staubflocken. Conners und ich konnten es wegschaufeln, nachdem wir auf dem Boden des Canyons in einen Sandsturm geraten waren.«

Trumball steckte eine beschuhte Hand in die Verwehung.

»Staubflocken ist richtig. Schaut!« Er warf eine Hand voll Sand in die Luft; der Sand trieb wie Pulver dahin und sank in der geringen marsianischen Schwerkraft langsam zu Boden.

»Wir könnten darauf Ski fahren«, meinte Trumball. »He, das wäre doch was für die Touristen! Auf dem Mars Ski fahren!«

Er lachte, während Jamie mit den Zähnen knirschte. Meint er das ernst, fragte sich Jamie, oder will er mich nur auf die Palme bringen?

»Die Solarpaneele sind staubverkrustet«, bemerkte Deschurowa.

Jamie hob den Blick zum Dach der Segmente des Rovers und sah, dass sie Recht hatte. »Der Wind hat den Sand auf die Paneele geweht, ihn aber nicht wieder weggeblasen.«

Trumball sagte: »Das Zeug ist auch verdammt scharfkantig. Hat die Paneele wahrscheinlich gründlich zerkratzt.«

»Kommt hier rüber«, sagte Deschurowa. »Die Luke ist auf der Leeseite.«

Jamie folgte ihr, den Blick auf ihre Stiefelabdrücke im Boden gerichtet. Hier war er fest, aber ein paar Meter weiter war der Rand des Kraters.

Deschurowa drückte auf den Bedienungsknopf der Luke.

»Tut sich nichts.«

»Wenn die Solarpaneele nicht mehr funktionieren, haben die Batterien bestimmt schon vor Jahren den Geist aufgegeben«, meinte Trumball.

»Dann müssen wir sie eben von Hand aufmachen«, brummelte Deschurowa und zog einen schmalen, schnurlosen Akkuschrauber aus dem Werkzeug-Set, das sich in die Oberschenkeltasche ihres Anzugs schmiegte.

Jamie sah zu, wie sie die Verkleidung über der manuellen Steuerung entfernte. Der scharfkantige Staub und die Zeit hatten die Schrauben festgesetzt, und sie ließen sich nicht bewegen. Deschurowa begann leise auf Russisch zu fluchen, während der elektrische Schraubenzieher immer wieder aufjaulte. Jamie hörte ihr Gemurmel in seinen Helmlautsprechern und befürchtete, sie könnte sich mit dem Schrauber den Handschuh zerreißen, wenn sie abrutschte.

Ein Riss in den Handschuhen des Raumanzugs wäre weitaus schlimmer als ein abgeschürfter Knöchel.

Der elektrische Schraubenzieher bekam die erste Schraube schließlich los, und Deschurowas leise Flüche verstummten.

Die anderen Schrauben ließen sich viel leichter lösen.

»Ist immer so«, sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. »Die erste, die man sich aussucht, geht immer am schwersten.«

Das Rad, mit dem man die Luke von Hand öffnen konnte, saß noch fester. Deschurowa konnte es nicht bewegen.

Trumball griff eilfertig zu, und zusammen zerrten die beiden ächzend daran herum, bis die Luftschleuse schließlich einen Spaltbreit aufging. Dann ließ es sich leichter drehen, und die Tür glitt ganz auf.

»Okay, Jamie«, sagte Deschurowa keuchend. »Nach dir.«

»Du bleibst draußen, Stacy«, ermahnte er sie, »bis wir uns drinnen umgesehen haben.«

»Geht klar, Chief«, sagte sie.

Jamie fragte sich, ob sie Trumballs Spitznamen für ihn unbewusst oder mit Absicht verwendete. Er zwängte einen Stiefel auf die mittlere Sprosse der kurzen Leiter und hielt sich mit beiden Händen an den Rändern der offenen Luke fest. Dann zog er sich in die Schleuse, wobei er ganz nebenbei feststellte, dass die Gewöhnung an die Drittelschwerkraft des Mars ihre Nachteile hatte: Es kostete ihn echte Anstrengung, sich samt Anzug und Tornister hochzuhieven.

Die manuelle Steuerung für die Innenluke befand sich direkt unter der elektrischen Kontrolltafel. Anfangs klemmte sie genauso, aber dann gelang es Jamie, das Rad zu drehen, und die Innenluke ließ sich langsam aufkurbeln.

»Okay, ich gehe rein«, sagte er.


»Ich auch«, sagte Trumball. Jamie hörte ihn ächzen, als er sich in die Luftschleuse hievte, und grinste heimlich, dass Dex sich beim Hochklettern genauso anstrengen musste wie er.

Im Innern herrschte ein wüstes Durcheinander. Sie hatten alle vier Skorbut gehabt, als die Russen ihnen zu Hilfe gekommen waren. Sie hatten den Rover verlassen, ohne einen Gedanken ans Aufräumen zu verschwenden. Die Laken auf den Liegen waren zerknittert, so wie sie sie zurückgelassen hatten. Jamie fand, dass sie immer noch verschwitzt aussahen, obwohl er wusste, dass alle Feuchtigkeit schon vor Jahren verdunstet sein musste.

Er hörte Trumball hinter sich. »Hier ist es also passiert.«

Die Stimme des jüngeren Mannes war weicher als sonst.

Jamie drehte sich um und sah ihn an. Dex spähte durch die Schleuse ins mittlere Segment des Rovers, das in ein mobiles Biologielabor umgewandelt worden war.

»Hier haben Brumado und Malater die Flechte entdeckt«, sagte Trumball, fast so, als sähe er einen heiligen Schrein vor sich.

»Das stimmt«, sagte Jamie. Die Erinnerung kam zurück, und er sah Joanna, die ängstliche, schöne Joanna mit ihren großen dunklen Augen und dem Gesicht eines einsamen, verletzlichen Straßenkindes. Die Kindfrau, in die er sich verliebt hatte. Die Tochter von Alberto Brumado, die er geheiratet hatte. Die Frau, die endlich erwachsen geworden war und ihn verlassen hatte.

Sie hat mich nie geliebt, dachte Jamie zum millionsten Mal. Vielleicht hat sie's anfangs geglaubt, aber sie hat mich nie geliebt. War ich wirklich verliebt in sie? Er schüttelte in seinem Helm den Kopf und dachte: Wie auch immer, du hast die ganze Sache jedenfalls gründlich vermasselt.

»Mann, was die Museen bezahlen würden, um dieses Teil in die Finger zu kriegen«, sagte Trumball, und die Ehrfucht in seiner Stimme wich der Erregung.

Jamie setzte zu einer scharfen Erwiderung an, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Dieses Teil ist viel zu schwer, als dass wir es zur Erde mitnehmen könnten, sagte er sich.

Die Aufstiegssektion des L/AV könnte es unmöglich tragen.

Als läse er Jamies Gedanken, fuhr Trumball fort: »Wir machen ein Ausstellungsstück für die Besucher draus.

Vielleicht parken wir ihn wieder unten auf dem Boden des Canyons, wo die Entdeckung gemacht wurde, und karren die Touristen mit Bussen hin.«

Vor Jamies geistigem Auge erstand ein Bild der Navajo-Frauen, die auf den Gehwegen am zentralen Platz von Santa Fe ihre Decken ausbreiteten, um den Touristen Schmuck zu verhökern.

»Alles in Ordnung?«, fragte Stacy Deschurowas Stimme in ihren Helmlautsprechern.

»Wir sind drin«, berichtete Jamie. »Keine Probleme.«

»Ich komme rein«, sagte sie. »Wir müssen die elektrischen Systeme durchchecken.«

»Gut.«

Fast eine Stunde später verkündete Deschurowa, was sie bereits gewusst hatten. »So tot wie ein Dinosaurier«, sagte sie vom Fahrersitz aus.

Jamie, der hinter ihr stand und auf die leeren Monitore und leblosen Instrumente der Kontrolltafel schaute, nickte in seinem Helm. Was hast du erwartet, fragte er sich. Er steht seit sechs Jahren hier draußen, jede Nacht hundert Grad minus, die Solarpaneele von Staub bedeckt. Die Batterien müssen innerhalb von ein paar Tagen oder höchstens einer Woche leer gewesen sein. Die Brennstoffzellen sind hinüber, der Wasserstoff ist diffundiert.

»Wir werden ihn abschleppen müssen«, meinte Trumball.

»Wenn wir können«, sagte Jamie.

»Warum nicht?«

Jamie wollte die Achseln zucken, aber der hartschalige Anzug verhinderte es. »Wir müssen's einfach ausprobieren.«


»Okay«, sagte Deschurowa. »Machen wir uns an die Arbeit, bevor die Sonne untergeht.«


SONNENUNTERGANG: SOL 15

Jamie verspürte immer noch einen leichten, unbehaglichen Schauder, wenn er zur Sonne hinaufblickte; sie war merkwürdig klein und geschrumpft, ein sichtbares Zeichen dafür, wie weit entfernt von zu Hause sie waren.

Jetzt streifte die ferne Sonne fast schon den unregelmä

ßigen Horizont, ein starres, warnendes rotes Auge an einem glühenden, kupferfarbenen Himmel. Jamie musste in dem schwerfälligen Raumanzug den ganzen Körper drehen, um in die andere Richtung zu schauen. Dort war der Himmel dunkel, und ein paar Sterne glänzten bereits hell. Die Erde war nun ein Abendstern, wie er wusste, aber er hatte keine Zeit, sie zu suchen oder auf die Polarlichter zu warten.

Als die Schatten der Abenddämmerung über die Felswände auf sie zukrochen, zogen sie ein Buckyball.Seil von der Trommel der Winde, die aus der Nase ihres Rovers ragte, zu einem Befestigungshaken am Heck des alten Gefährts, dann gingen sie nacheinander in ihr eigenes Fahrzeug zurück. Sie brauchten eine weitere halbe Stunde, um den Staub abzusaugen, obwohl keiner von ihnen aus seinem Anzug stieg.

Deschurowa schob das Visier hoch und stapfte zum Cockpit. Trudy Hall saß auf dem rechten Sitz. In ihrem Overall wirkte sie klein, beinahe elfenhaft.

Stacy warf einen Blick auf die Instrumente und startete die Radmotoren. Jamie und Dex standen hinter den beiden Frauen. Beide Männer hatten ihre Visiere hochgeschoben und die Handschuhe ausgezogen.

»Bist du sicher, dass die Räder im Leerlauf sind?«, fragte Trumball.

Jamie nickte in seinem Helm. »Alle Räder mit Antrieb werden auf Leerlauf gestellt, sobald die Motoren aus sind, außer wenn man absichtlich einen Gang einlegt.«


»Oder sie mit ›Parken‹ arretiert«, fügte Dex hinzu.

»Sie sind nicht arretiert«, beharrte Jamie. »Ich war dabei: Wir haben die Räder nicht arretiert, als wir in den Staub gefallen sind. Ganz im Gegenteil, wir haben versucht, rückwärts aus dem Krater zu fahren.«

»Dann sind sie vielleicht noch im Rückwärtsgang.«

»Sie sind im Leerlauf«, sagte Jamie fest.

Trumballs Blick glitt von Jamie zu Deschurowa, die mit dem Rücken zu ihnen auf dem Fahrersitz saß. »Ich wünschte jedenfalls, wir hätten die Radeinstellungen überprüfen können«, brummte er.

»Geht nicht«, sagte Stacy von ihrem Sitz aus. »Dazu hätten wir eine Stromleitung zu dem alten Rover legen und das elektrische System hochfahren müssen.«

»Vielleicht sollten wir das tun«, meinte Trumball.

»Probieren wir erst mal, ob wir uns die Mühe sparen und ihn so rausziehen können«, schlug Jamie vor.

»Ich spule das Seil auf«, sagte Deschurowa leise und startete die Fahrmotoren. Jamie konnte ihren Kopf nicht sehen, nur das Oberteil ihres glänzenden weißen Helms.

»Ganz vorsichtig jetzt«, sagte Trumball.

»Halt den Mund, Dex!«, fauchte sie. »Ich weiß, was ich tue.«

Dex verstummte. Neben ihm starrte Jamie geradeaus auf das gekrümmte Heck des alten Rovers, das zehn Meter vor der Windschutzscheibe aufragte.

Die Motoren heulten auf, als Deschurowa langsam mit dem Rover zurücksetzte. Das Seil spannte sich.

»Komm schon, komm schon, mein Süßer«, redete Deschurowa dem alten Rover sanft zu, so leise, dass Jamie es kaum hören konnte. Dann verfiel sie ins Russische, ein sanftes, zärtliches Gurren.

Jamie, der hinter Trudys Sitz stand, staunte über die kühle, freundliche, beinahe mütterliche Sanftheit von Stacys eindringlichem Geflüster. Ist das dieselbe Frau, die noch vor ein paar Stunden wie ein Motorradrocker über einen Schraubenzieher geflucht hat?

Der Rover schwankte leicht, und Jamie hielt sich an der Rücklehne von Halls Sitz fest. Die Fahrmotoren heulten lauter. Jamie fand, dass es verbrannt roch.

»Komm schon, Baby«, gurrte Deschurowa.

Trumball sagte leise: »Er rührt sich nicht …«

Der Rover schaukelte erneut, und Jamie streckte die freie Hand aus, um sich an Trumball festzuhalten. Dex grapschte unbeholfen nach Jamies Arm, kippte in seinem Anzug nach hinten und wäre beinahe umgefallen.

»Da kommt er!«, rief Deschurowa.

Das abgerundete Ende des alten Rovers rollte in Zeitlupe auf sie zu, wurde größer und größer.

»Festhalten!«

Das Heck das alten Fahrzeugs prallte so heftig auf die Windentrommel an der Nase ihres Rovers, dass Jamie gegen das hintere Schott des Cockpits taumelte. Beide Fahrzeuge blieben stehen.

Einen langen Moment sagte keiner von ihnen ein Wort.

Dann kicherte Trudy Hall und erklärte: »Schleudertrauma!

Wo ist der nächste Anwalt?«

Sie lachten alle zittrig.

»Die Räder des alten Vogels waren wohl doch im Leerlauf«, gab Trumball zu.

»Ja, scheint mir auch so«, sagte Deschurowa.

Jamie sah, dass sie die Räder ihres Rovers in der Parkstellung arretierte, bevor sie sich vom Fahrersitz hochstemmte.

»Ich muss mal«, verkündete sie fröhlich.

Beim Abendessen überlegten sie, wie sie den alten Rover am besten zum Rand des Canyons hinaufschleppen konnten. Die beiden Frauen saßen wie üblich auf der einen unteren Liege, Jamie und Trumball auf der anderen.

»Warum nehmen wir ihn nicht gleich mit zur Basis?«, drängte Trumball.

»Würde ein Loch in unsere Treibstoffreserve reißen«, sagte Deschurowa und sah Jamie über den Klapptisch hinweg an.

»Aber nur ein kleines«, entgegnete Trumball.

Jamie sagte: »Sofern es um die Sicherheit geht, ist es deine Entscheidung, Stacy. Ich muss genau wissen, wie viel von unserem Treibstoff fürs Abschleppen draufgehen würde.«

»Ich kann dir eine Schätzung geben, aber wie hoch unser Verbrauch mit dem Ding im Schlepptau genau wäre, weiß ich nicht.«

»Dann eben eine möglichst exakte Schätzung«, sagte Jamie.

»Früher oder später werden wir den Rover ja doch in der Basis haben wollen«, fuhr Trumball fort. »Also können wir ihn auch gleich mitnehmen.«

»Falls wir's können«, sagte Jamie.

»Klar. Aber ich gehe jede Wette ein, dass wir das ohne große Probleme schaffen.«

»Wir werden sehen.«

»Ja, Daddy«, spöttelte Dex.

Nach dem Abendessen räumten sie den Tisch weg und klappten die oberen Liegen herunter. Trumball begab sich in den Waschraum, und die beiden Frauen gingen zusammen ins Cockpit. Jamie hockte sich im Schneidersitz auf seine Liege, klappte seinen Laptop auf und setzte sich mit der Basis in Verbindung. Rodriguez war am Kommunikationspult.

»Hast du das Bildmaterial gekriegt, das ich dir gestern Abend geschickt habe?«, fragte er mit einem besorgten Ausdruck in dem fleischigen Gesicht.

»Ja, ich hatte nur noch keine Gelegenheit, es mir anzuschauen.«

»Gibt nicht viel zu sehen. Der Schwebegleiter eignet sich nicht so gut für die Art Daten, die du haben wollest.«

Jamie zuckte die Achseln. »Was anderes haben wir im Moment aber nicht.«

»Ja, das stimmt.«

Er ging mit Rodriguez den Tagesbericht durch. Possum Craig hatte das Bohrgerät wieder zum Laufen gebracht. Fuchida plante seine Exkursion zum Olympus Mons. Rodriguez selbst begann mit der Montage des bemannten Raketenflugzeugs, das ihn und den Biologen zum Gipfel des höchsten Berges im Sonnensystem bringen würde.

Jamie hörte zu, sah sich die Bestandsverzeichnisse an, die über seinen Bildschirm flimmerten, und wartete geduldig, bis er sich schließlich fragen hörte: »Und was hat Shektar gemacht?«

»Vijay? Die kümmert sich um Fuchidas Garten und um die Tierchen, die Possum mit seinem Bohrer raufholt. Willst du sie sprechen?«

»Klar. Ja.«

Trumball kam vom Waschraum zurück und beugte sich tief genug herunter, um Jamie anzugrinsen. »Bleib nicht zu lange auf, Chief. Großer Tag morgen.«

»Ja, ja, schon gut«, sagte Jamie. Er griff nach dem Headset, das zum Laptop gehörte, steckte sich den Stöpsel ins Ohr und zog den Mikrofonarm herunter, bis das Stiftmikro beinahe seine Lippen berührte.

Als Trumball sich auf die obere Liege schwang, wich Rodriguez' Gesicht auf dem Bildschirm dem von Vijay Shektar.

Sie schien zu glänzen, als wäre ihre Haut eingeölt worden.

Jamie dachte wieder, was für ein Vergnügen es wäre, sie mit Duftölen zu massieren.

Sie lächelte und plauderte ganz unverkrampft, beantwortete Jamies Fragen über die eisenfressenden Bakterien, die Craigs Bohrgerät jetzt aus etlichen Kilometern Tiefe heraufholte.

»Sie sind magnetisch aktiv«, berichtete sie. »Sie richten sich an Magnetfeldern aus.«

»Muss an dem Eisen liegen, das sie aufnehmen«, vermutete Jamie.

»Ja, aber was für einen Vorteil haben sie davon? Das Magnetfeld des Mars ist so schwach, dass ich nicht verstehe, wie ihnen das beim Überleben hilft.«


»Vielleicht tut es das gar nicht«, sagte Jamie. »Vielleicht ist es bloß Zufall.«

Sie machte ein skeptisches Gesicht.

»Kann auch sein, dass der Mars früher ein viel stärkeres Magnetfeld hatte«, meinte er, »und dass es sich mit der Zeit abgeschwächt hat.«

»Das wäre möglich«, sagte Vijay nachdenklich. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Sie vermehren sich ganz ordentlich in der Kultur. Sie teilen sich im Schnitt jede Stunde.«

»Unter Umweltbedingungen?«

»Mitsuo hat eine spezielle Hochdruckbox für sie gebaut«, antwortete sie. »Man muss sie in totaler Dunkelheit halten.

Licht tötet sie.«

»Was ist mit Wärme?«

Ihre Augen blitzten. »Oh ja, sie sind termophil. Bei sechsundzwanzig Grad schalten sie von Zellteilung auf Konjugation um. Du solltest sie sehen, Jamie. Die eifrigen kleinen Kerlchen paaren sich wie die Kaninchen!«

»Genau das, was wir brauchen«, sagte Jamie leise. »Sexbesessene Bakterien.«

»Sie sind halt wie die meisten Männer«, sagte Vijay mit einem strahlenden Lächeln. »Sie tun es nur im Dunkeln –

und unter großem Druck.«

»Wie die meisten australischen Männer, meinst du«, sagte er.

»Gilt auch für manche Yanks.«

Darauf hatte er keine Antwort.

Immer noch lächelnd, fragte Vijay: »Und wie läuft's bei euch?«

Jamie war dankbar für den Themenwechsel. Er kehrte in die sicheren Gefilde der Arbeit zurück, die sie gerade machten. Als er ihr erzählte, wie sie den alten Rover aus dem Sand gezogen hatten, kam ihm der Gedanke, dass diese höchst begehrenswerte Frau die Expedition zugrunde richten konnte, wenn ihr der Sinn danach stand.

Er erinnerte sich an Ilona Malater, die selbst ernannte Sextherapeuten der ersten Expedition. Sie hatte Spannungen ausgelöst, die nahezu unerträglich geworden waren, besonders bei den Russen.

Vijay war anders. Jünger zum Beispiel. Und sie schien immer über irgendeinen geheimen, internen Witz zu lachen.

Sie gab zu, einen bösartigen Humor zu besitzen, aber Jamie spürte, dass sie professionell genug war, ihn – und ihre anderen Leidenschaften – im Zaum zu halten.

Das will ich ihr auch geraten haben, sagte er sich.

Dann fragte eine Stimme in seinem Kopf: Und wenn sie's nicht tut? Was machst du dann?


BILDMATERIAL

Tomas Rodriguez trommelte im Rhythmus zu den Trompeten und Geigen der Mariachi-CD, die er gerade hörte, mit den Fingern geistesabwesend auf die Tischplatte, während er mit zusammengekniffenen Augen konzentriert auf den Bildschirm des Computers starrte und den Kamerabildern des Schwebegleiters irgendetwas Gescheites zu entnehmen versuchte.

Es war weit nach Mitternacht. Er saß allein im Geologielabor der Kuppel, umgeben von Borden voller roter, zernarbter Steine und Kunststoffbehälter mit rostrotem Erdreich. In der Kuppel war es dunkel und still, und er hatte die Musik ganz leise gedreht; sie war gerade laut genug, um ihm Gesellschaft zu leisten, während alle anderen schliefen.

Rodriguez wünschte sich sehnlichst, zu sehen, was Jamie Waterman gesehen zu haben glaubte: ein künstliches Gebilde, das in eine Nische im oberen Drittel der steilen, zerklüfteten nördlichen Felswand von Tithonium Chasma hineingebaut war. Er gab sich alle Mühe, es zu sehen.

Das Bild auf dem Schirm zeigte die Nische, eine dunkle Spalte in der massiven Felswand unter einem vorgewölbten Felsüberhang. Wegen des Überhangs lag die Nische im Schatten, obwohl die Sonne auf die Felswand schien. Das Flugzeug eignet sich nicht für so was, dachte Rodriguez, während er zusah, wie die Nische immer größer wurde und dann aus dem Bild glitt, als der Schwebegleiter abdrehte und aus dem Canyon emporstieg.

Mit einem geduldigen Seufzer ging er zum Anfang der Sequenz zurück, ließ sie ein weiteres Mal ablaufen, diesmal langsamer, und schaute noch aufmerksamer hin. Der Gleiter flog fast frontal auf die Felswand zu, seine nach vorn gerichteten Kameras hatten die Nische direkt im Visier.

Rodriguez' Finger flogen über die Tastatur des Computers und schalteten auf höchste Helligkeitsstufe. Die Felswand wurde nahezu weiß, aber das Innere der Nische blieb aufreizend undeutlich.

Er hieb mit dem dicken Zeigefinger auf eine Taste und fror das Bild ein. Ja, da war etwas drin, eine Gesteinsformation, die heller war als der Rest. Und es sah so aus, als würde sie annähernd parallel zum Rand der Nische verlaufen. Ziemlich gerade.

Eine Mauer? Rodriguez stieß den angehaltenen Atem aus.

Quien sabe?

»Ist das Jamies Dorf?«

Beim Klang ihrer Stimme schreckte er hoch. Rodriguez wirbelte auf seinem kleinen fahrbaren Stuhl herum und sah Vijay Shektar im Eingang der Laborkabine stehen, einen Plastikbecher in jeder Hand. Sie trug einen Overall, wie alle anderen auch. Aber der Klettverschluss vorne stand ein paar Zentimeter weit offen – weit genug, dass er es bemerkte. Mein lieber Mann, sie ist wirklich sexy, dachte Tomas.

»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte sie. »Dachte, heißer Tee würde vielleicht helfen.«

Tomas sah, dass die beiden Becher ein bisschen dampften.

Und ihm wurde bewusst, dass Vijays Stimme, wenn sie so leise sprach, ein kehliges, erotisches Schnurren war.

»Ich hab die Musik gehört. Mexikanisch, oder?«, sagte sie und betrat das Labor. »Ich dachte, du hättest vielleicht auch gern ein Tässchen.«

Er nahm den Becher und wollte sich bedanken, merkte aber, dass ihm die Worte im Hals stecken blieben. Wie ein kleiner dummer Junge, dachte er. Er holte Luft und sagte dann vorsichtig: »Mexikanisch, ganz recht. Mariachi. Das Gegenstück zu Country and Western.«

»Wirklich?«

Er nickte. »Ja. Das gleiche Zeug: Ich hab dich geliebt, aber du hast mich verlassen. Mein Herz ist gebrochen, weil du mir untreu warst.«


»Und meinen Pickup mitgenommen hast«, fügte sie hinzu.

»Und meinen Hund.«

Vijay lachte. Dann sagte sie: »Irgendwer hat mir mal erklärt, das sei Musik für Verlierer.«

Rodriguez zuckte die Achseln. »Mir gefällt's.«

»Ist das Jamies Dorf?«, fragte sie erneut. Sie blieb stehen und schaute an ihm vorbei auf den Bildschirm.

Der Becher Tee in seiner Hand war heiß. Er seufzte. »Das ist kein Dorf.«

»Bist du sicher?«

»Ziemlich.«

Er hatte das Gefühl, dass der Tee noch zu heiß war, um ihn zu trinken, aber sie führte den Becher zum Mund und trank ohne Bedenken. Vorsichtig nahm er einen kleinen Schluck. Das Zeug war kochend heiß. Tomas unterdrückte einen Schmerzensschrei und stellte den Becher aufs Pult.

»Hol dir einen Stuhl«, sagte er und fragte sich, ob seine Zunge Blasen werfen würde, »dann zeig ich dir, was wir haben.«

Vijay nahm auf dem anderen kleinen fahrbaren Stuhl des Labors Platz. »Du bist noch reichlich spät auf.«

»Du auch.«

Sie zuckte die Achseln, und die Bewegung erregte ihn.

»Ich schlafe ziemlich wenig. Schon seit jeher.«

»Mhm.«

»Aber was ist mit dir? Brauchst du nicht deinen Schlaf?

Du solltest dich wirklich schonen. Morgen früh musst du wieder hellwach und topfit sein.«

Den Expeditionsvorschriften zufolge trug Rodriguez während Jamies und Stacy Deschurowas Abwesenheit die Verantwortung in der Kuppel. Er war der zweite Astronaut, und deshalb hatte er das Kommando, wenn die erste Astronautin und der Missionsleiter fort waren. Nicht dass die Wissenschaftler solchen Protokollfragen auch nur die geringste Beachtung schenkten. Sie würden seinen Befehlen höchstens dann Folge leisten, wenn es einen Notfall gab, glaubte Rodriguez. Vielleicht nicht einmal dann.

»Mir geht's gut«, sagte er und dachte, dass er mehr als bereit wäre, auf der Stelle ins Bett zu gehen, wenn sie mitkäme.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu. »Du glaubst also nicht, dass es ein Dorf oder irgendwas Künstliches ist?«

Sie hatte Parfüm aufgelegt, da war er sicher. Ein schwacher, aber irgendwie femininer Duft. Es kostete ihn einige Anstrengung, seine Hände bei sich zu behalten und sie nicht in die Arme zu nehmen. Widerstrebend drehte Tomas sich wieder zum Bildschirm um und fand die Kraft, »Sieh selbst!« zu sagen.

Die nächste halbe Stunde studierten sie das Bildmaterial des Schwebegleiters: Infrarot, Radar, Falschfarben, selbst den kurzen Datenburst aus dem Gas-Chromatographen, der ihnen nur Informationen über die Zusammensetzung der Luft im Canyon gab.

Sie saß neben ihm, so nah, dass ihre Schultern sich beinahe berührten. Tomas spürte, wie sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Oberlippe bildete.

Vijay seufzte erregend. »Da stehen jedenfalls keine Schilder mit der Aufschrift ›Willkommen, Erdlinge‹, stimmt's?«

Macht sie das absichtlich?, fragte sich Tomas. Weiß sie, wie das auf Männer wirkt?

»Wenn es jemand anders als Jamie wäre, würde ich sagen, wir verschwenden unsere Zeit«, erklärte er ihr.

»Aber bei Jamie ist das was anderes?«

»Er ist der Expeditionsleiter«, sagte Rodriguez. »Und er war schon mal hier.«

»Und deswegen hat er Recht?«

Er überlegte einen Augenblick. »Nein. Aber es bedeutet, dass wir uns mehr anstrengen als sonst, seiner Ahnung nachzugehen.«


Vijay schaute ihm direkt in die Augen. »Wie sehr würdest du dich für Jamie anstrengen?«

»Für Jamie? Wie meinst du das?«

»Angenommen, Jamie würde dich bitten, mit ihm in dieses Gebiet zu fahren, um in der Nische rumzustöbern und nachzusehen, was wirklich drin ist. Würdest du mitfahren?«

»Ja. Klar.«

»Weil er der Expeditionsleiter ist?«

Rodriguez zögerte. »Wahrscheinlich. Aber … ich würde wohl auch mitfahren wollen, wenn er nicht der Boss wäre.«

»Warum?«

Er merkte, wie sich seine Stirn in Falten legte. Das ist ein Psychotest, erkannte er. Darum geht es ihr also. Sie macht das nur, um ihren gottverdammten Psychoreport über mich auszufüllen.

»Ich mag Jamie«, sagte er. »Ich vertraue ihm. Ich glaube, wenn er mich bäte, mit ihm zum Canyon zu fahren, wäre ich irgendwie geschmeichelt.«

Vijay nickte. »Er ist liebenswert, nicht?«

»Ja.«

»Aber was das Dorf betrifft, irrt er sich.« Sie sagte es leise, mit echter Traurigkeit in der Stimme.

»Du magst ihn auch, stimmt's?«

Vijay Shektar starrte auf das Monitorbild der verschatteten Nische hoch oben in der Felswand und antwortete sehr leise: »Ja, ich mag ihn auch.«

Abrupt drehte Rodriguez sich zum Computer um und schaltete ihn aus. Das Bild der Felsennische erlosch. Der Schirm wurde dunkel.

»Du hast Recht«, sagte er beinahe zornig. »Es ist spät. Ich sollte lieber ein bisschen schlafen.«

Shektar erhob sich von ihrem Stuhl. »Ja, ich glaube, das sollte ich auch.«

Rodriguez stand auf und bemerkte zum ersten Mal, wie klein sie in Wirklichkeit war. Geradezu winzig. Wie eine kleine Puppe. Mit Kurven. Ich könnte sie mit einer Hand hochheben.

Sie blickte zu ihm auf und sagte: »Tut mir Leid, dass ich dich gestört habe, Tom. Schlaf gut.«

Sie drehte sich um, ging zur Tür und ließ Rodriguez allein im Geologielabor stehen.

Sie mag Jamie, sagte er sich. Sie mag ihn, nicht mich. Ich bin nur einer ihrer Patienten, eins ihrer gottverdammten Studienobjekte. Tut ihr Leid, dass sie mich gestört hat. Von wegen. Sie weiß verdammt genau, welche Wirkung sie auf mich hat. Es macht sie an, mich schwitzen zu sehen.

Mit Wunschphantasien von ihr im Kopf schlief er ein.


MITTAG: SOL 18

Als die Kuppel ihres Basislagers endlich über dem rostroten Horizont auftauchte, hörte Jamie innerlich die Musik von Peter und der Wolf: den klimaktischen Marsch, zu dessen Klängen Peter den gefangenen Wolf zum Haus seines Großvaters zurückbringt.

Sie schleppten den alten Rover hinter sich her, eine triumphale Rückkehr ins Basislager mit einem zusätzlichen Ausrüstungsstück für ihr Inventar.

Sofern Possum Craig und die beiden Astronauten ihn instand setzen konnten.

Jamie fuhr den Rover, Trumball saß rechts neben ihm. Stacy Deschurowa machte eine wohlverdiente Pause, nachdem sie praktisch den ganzen Rückweg vom Canyon am Steuer gesessen hatte. Trudy Hall war bereits hinten an der Luftschleuse und zwängte sich in den Anzug, um ihre Flechtenproben ins Labor der Kuppel zu tragen.

Wir sollten einen Zugangstunnel bauen, dachte Jamie, damit wir von der Luke des Rovers ins Innere der Kuppel gelangen können, ohne uns in die verdammten Raumanzüge quetschen zu müssen.

»Weißt du, was wir bräuchten?«, fragte Trumball, einen Fuß lässig auf die Kontrolltafel gestellt. Ohne Jamies Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Einen flexiblen Tunnel. Du weißt schon, so was wie die Fluggastbrücken auf Flughäfen.

Dann …«

Die Klänge des Triumphmarschs verstummten. Jamie erinnerte sich, dass es in der Wissenschaft nicht darauf ankommt, wer als Erster die Idee gehabt hat, sondern darauf, wer sie als Erster publiziert.

Mit einem halbherzigen Lächeln sagte er: »Das ist eine gute Idee, Dex. Ein Zugangstunnel wäre überaus sinnvoll.«

In Trumballs Augen blitzte freudige Überraschung auf, aber er unterdrückte sie rasch.

Den ganzen Nachmittag über untersuchte Jamie zusammen mit Possum den alten Rover. Es war eng darin, weil sie beide ihre Raumanzüge trugen. Über Helmlautsprecher hörte Jamie Craig seufzen und stöhnen wie einen Handwerker aus der Nachbarschaft, der herauszufinden versucht, wie viel er verlangen kann, ohne den Job loszuwerden.

»Brennstoffzellen sind total hinüber«, brummte Craig.

Und dann etwas später: »Batterien sind auch im Arsch.«

Sie gingen wieder hinaus und stiegen die in die Flanke des vorderen Moduls eingebaute Leiter hinauf, um die Solarpaneele zu inspizieren. Craigs ernster Ton wurde geradezu düster. »Aus den Brüdern hier kriegt man nich mal mehr

'nen feuchten Furz raus.«

Als sie wieder in der Kuppel waren und sich aus ihren Anzügen geschält hatten, war Jamie bereit, den Rover komplett abzuschreiben.

Aber Craig rieb sich mit einer Hand das stoppelige Kinn und sagte: »Tja, großer Chef, wenn der Bohrer weiter brav is und die Scheiße auch sonst unterm Deckel bleibt, krieg ich ihn in einer Woche wieder hin, schätz ich mal.«

Überrascht entfuhr es Jamie: »In einer Woche?«

»Paar Tage mehr oder weniger.«

»Wirklich?« Jamie setzte sich auf die Bank, die sich an den Spinden für die Raumanzüge entlangzog.

Craig nickte weise und pflanzte einen Fuß auf die Bank, gleich neben Jamie. »Im Großen und Ganzen isser in Ordnung. Ersatzbatterien und zusätzliche Solarpaneele hamwer im Lagerbestand.«

»Genug …?«

»Muss das Inventar im Computer durchchecken und die Scheißdinger dann in der Ladebucht finden. Aber es müsste eigentlich klargehen.«

»Prima!«

»Die Brennstoffzellen sind wirklich das Letzte«, beklagte sich Craig. »Alte Dinger, die noch mit Wasserstoff und Sauerstoff laufen. Da werden wir wohl 'n bisschen Wasser aus dem Reserveaufbereiter elektrolytisch zerlegen müssen.«

Die Brennstoffzellen der neueren Rover arbeiteten mit Methan und Sauerstoff, wie Jamie wusste.

»Schon komisch«, fuhr Craig fort. »Ich hab mir eher Sorgen wegen Schäden an der Windschutzscheibe gemacht

… Du weißt schon, Schrammen oder sogar kleine Risse von den Sandstürmen. Aber den vorderen Teil hatteste ja fein säuberlich in den Sand eingebuddelt, drum is mit der Windschutzscheibe alles okay.«

Jamie stand ein bisschen wacklig auf. »Ich hätte nie geglaubt …«

»Für den Elektrokram hamwer Reservematerial«, fuhr Craig fort. »Aber wenn die Windschutzscheibe im Eimer gewesen wär, dann – Adios.«

Als Jamie einen Blick ins Kommunikationszentrum warf, sah er Rodriguez mit mürrischer Miene an der Konsole sitzen. Und ihm fiel auf, dass der junge Astronaut sich offenbar einen Schnurrbart wachsen lassen wollte; auf seiner Oberlippe sprossen ein paar kurze, dunkle Haare.

» Què tal, Tomas?«

Rodriguez blickte beinahe schuldbewusst zu ihm auf.

»Probleme, Mann.«

»Was ist denn los?« Jamie zog sich den anderen fahrbaren Stuhl heran und setzte sich neben ihn.

»Ich hab den Kontakt zu Nummer zwei verloren.«

»Dem Schwebegleiter?« Jamie fühlte eine dunkle Vorahnung in seinen Eingeweiden.

Rodriguez nickte unglücklich. »Hab versucht, den Kontakt wieder herzustellen. Nichts zu machen.«

»Wo war der Gleiter?«

»Erkundungsflug über Olympus Mons.«

Der unbemannte Schwebegleiter kartierte den riesigen Vulkan für Fuchidas bevorstehende Mission zu dessen Gipfel.


»Was ist passiert?«

Der Astronaut schüttelte den Kopf. »Ich hab mir die Flugdaten angesehen. Während des Aufstiegs ist er bei zirka zwanzigtausend Meter in irgendeine Turbulenz geraten, aber dann hat's wieder aufgehört.«

Olympus Mons war annähernd dreißigtausend Meter hoch, mehr als dreimal so hoch wie der Mount Everest.

»Vielleicht war's die Windscherung«, meinte Rodriguez,

»aber in der Höhe ist die Luft so dünn, dass das eigentlich kein Problem sein dürfte.«

»Wie lange ist der Kontakt zu dem Gleiter schon abgerissen?«

Rodriguez warf einen raschen Blick auf die Digitaluhr an der Kommunikationskonsole. »Dreiundfünfzig, vierundfünfzig Minuten.«

Jamie stieß den Atem aus. »Na ja, wenigstens haben wir noch Nummer eins und einen Ersatzgleiter im Lagerbestand.«

»Aber nur den einen.«

»Wir werden ihn benutzen müssen, wenn Nummer zwei abgestürzt ist.«

»Ja, ich weiß. Aber ich will den Reservegleiter erst zum Berg schicken, wenn ich rausgefunden habe, was mit Nummer zwei schief gelaufen ist.«

Jamie stand auf. Er schaute noch einmal in Rodriguez'

trübsinniges Gesicht hinunter, legte ihm dann die Hand auf die stämmige Schulter und drückte sie.

»Mach dir keine Vorwürfe deswegen, Tomas. Es ist nicht deine Schuld.«

Der Astronaut schüttelte traurig den Kopf. »Woher willst du das wissen?«

Zum ersten Mal seit fast zwei Wochen saßen alle acht Forscher beim Abendessen zusammen. Trumball monopolisierte die Unterhaltung mit seinen Plänen zur Bergung der Pathfinder-Sonde und des kleinen Sojourner-Rovers im Ares Vallis. Zwischen Rodriguez und ihm entbrannte eine hitzige Diskussion über die Zuverlässigkeit der Landetriebwerke des Reserve-Treibstoffgenerators.

»Ist mir egal, was die Computersimulationen sagen«, erklärte Rodriguez mit ungewohnter Heftigkeit. »Du riskierst deinen Hals auf der Basis von Annahmen, die irgendein Ingenieur ins Simulationsprogramm eingegeben hat.«

Jamie wusste, dass der Astronaut noch immer vom Verlust des unbemannten Schwebegleiters schockiert war.

»Du meinst«, verbesserte Trudy Hall, »auf der Basis der Annahmen irgendeines Programmierers, die auf den Annahmen des Ingenieurs basieren.«

»Die alle beide für das Unternehmen arbeiten, das die Raketentriebwerke gebaut hat«, ergänzte Stacy Deschurowa.

»Nun hört aber auf«, protestierte Trumball. »Es gibt ja schließlich Testdaten, Herrgott noch mal. Die haben diese Triebwerke Dutzende Male gestartet.«

Jamie ließ sie diskutieren. Soll Tomas ruhig ein bisschen Dampf wegen dem Gleiter ablassen. Er macht sich Vorwürfe, weil er ihn verloren hat, oder zumindest, weil er nicht rausfinden konnte, was mit ihm passiert ist. Soll er ruhig diskutieren und mit Nachdruck darauf hinweisen, wie wichtig Sicherheit und Vorsicht sind. Das wird uns allen nützen.

Jamie hatte beschlossen, die Entscheidung über den Lufttransport des Reservegenerators Pete Connors und den Raketenexperten auf der Erde zu überlassen. Trumball würde nur dann nach Ares Vallis fahren, wenn die Spitzenfachleute auf dem Gebiet zustimmten, dass der Generator zuverlässig dorthin geflogen werden konnte, wo sie ihn für die Exkursion benötigten. Aber Dex schien jeden Aspekt bedacht zu haben. Er arbeitet schon lange an diesem Plan, dachte Jamie. Wahrscheinlich hat er schon vor unserem Abflug von der Erde damit angefangen. Er ist wirklich geschickt. Ein sehr cleverer Bursche.

Vijay Shektar saß Jamie gegenüber. Sie war ebenso stumm wie er. Ihr Blick ruhte auf Trumball, der seine Idee vehement gegen die vereinte Skepsis von Possum Craig und den beiden Astronauten verteidigte.

Craigs Einstellung amüsierte Jamie. Er murmelte dunkel:

»Murphys Gesetz, Dex: Wenn irgendwas schief gehen kann, dann geht's auch schief. Und dann biste verdammt weit von jeder Hilfe entfernt.«

Trumball ließ sich von solchen Warnungen nicht im Mindesten beirren.

Jamie erkannte jedoch, dass Craig den heiklen Punkt genau getroffen hatte. Den Expeditionsvorschriften zufolge durfte keine Exkursion so weit von der Basis wegführen, dass ein Hilfsteam einen gestrandeten Rover nicht erreichen konnte. Falls Trumball draußen im Ares Vallis in Schwierigkeiten geriet, würde es keine Möglichkeit geben, ihn zu retten, außer wenn Stacy oder Rodriguez mit dem Raketenflugzeug hinfliegen konnten. Selbst dann konnte das Flugzeug nur jeweils zwei Personen transportieren. Wir müssten also zwei Rettungsflüge unternehmen. Riskant, dachte Jamie. Sehr riskant, aber es dürfte gerade eben reichen, um den Sicherheitsvorschriften zu genügen. Jamie nickte vor sich hin und erkannte erneut, dass Dex jeden Aspekt dieses Trips zum Ares Vallis berücksichtigt hatte.

Er richtete den Blick wieder auf Vijay, die Trumball immer noch mit einem kleinen amüsierten Lächeln auf den Lippen beobachtete.

Wenn Dex seinen Arsch riskieren will, meinetwegen, dachte Jamie. Dann fiel ihm wieder ein, dass Dex nicht allein fahren würde. Schade, dachte er. Und hatte sofort ein schlechtes Gewissen.


ABEND: SOL 18

»… also, so sieht der Plan aus, Dad«, sprach Dex Trumball in das Stiftmikro, das ein paar Millimeter vor seinen Lippen hing. »Du kannst schon mal anfangen, Gebote für Gerätschaften einzuholen, die über ein Vierteljahrhundert auf dem Mars gestanden haben! Dürften wohl ein paar Megabucks dabei rausspringen, hm?«

Trumball saß in seiner Unterkunft auf der Liege, den Laptop auf den Knien, Ohrstöpsel und Mikrofon mit dem Gerät verbunden. Nicht dass er Angst hatte, jemand könnte mithören, obwohl die Trennwände der Kabinen natürlich nicht bis zur Decke der Kuppel reichten. Er rechnete auch nicht mit einer sofortigen Antwort seines Vaters; die Entfernung zur Erde verhinderte das. Außerdem kannte er seinen Dad; der alte Mann würde die Sache eine Weile durchdenken wollen, bevor er seinem Sohn antwortete.

Dex war ziemlich überzeugt, dass sein Vater von seiner Idee beeindruckt sein würde. Die Rückholung des Pathfinders und des kleinen Sojourner-Rovers würde ein Meisterstück sein. Er sah geradezu vor sich, wie sich die Museen und Unterhaltungsmogule in aller Welt mit ihren Geboten überschlugen. Das wird Dad garantiert gefallen, sagte er sich. Es bringt Kohle aufs Konto.

Darryl C. Trumball war in seinem Büro und telefonierte mit dem Leiter seiner Londoner Niederlassung. Die Immobilienpreise in Osteuropa waren erneut im Sturzflug begriffen, und Trumball senior sah, dass ihn wieder einmal eine Gelegenheit anlachte. Billig kaufen, teuer verkaufen: Das war sein Leben lang seine Devise gewesen. Er hatte damit noch nie Schiffbruch erlitten.

Eine Wand von Trumballs Büro bestand aus einem riesigen Fenster mit einem überwältigenden Ausblick auf den Hafen von Boston. Er konnte die Masten von Old Ironsides an dessen Pier in Charleston ausmachen. Trumball testete damit an jedem klaren Tag seine Sehkraft. Die Wand gegenüber war eine Smartscreen, die Panoramabilder von allem zeigen konnte, was er zu sehen wünschte. Er hatte seinen Angestellten die Videos vom Mars vorgeführt, die sein Sohn ihm persönlich geschickt hatte. Sie waren alle gebührend beeindruckt gewesen.

Im Moment war der größte Teil des Wandbildschirms leer; nur das glatte, gut aussehende Gesicht des Leiters der Londoner Niederlassung war in einer Ecke zu sehen.

»Die Franzosen versuchen leider nach Kräften, uns Schwierigkeiten zu machen«, sagte der Leiter der Londoner Niederlassung trübselig.

»Auf welche Weise?«, fragte Trumball.

Der Mann war das Inbild eines gediegenen Angehörigen der britischen Oberschicht: silbernes Haar, gestutzter Schnurrbart, Jackett aus der Savile Row. »Sie haben irgendwelche ziemlich überholten Vorschriften der Europäischen Union bezüglich der Steuersätze für Immobilien ausgegraben …«

Während der Londoner sprach, begann das Licht an der Telefonkonsole auf Trumballs Schreibtisch zu blinken. Er drückte mit dem eleganten Füllfederhalter darauf, den er nervös zwischen den Fingern hin und her gedreht hatte.

Auf dem kleinen Display der Konsole erschien der Text: PERSÖNLICHE NACHRICHT VON IHREM SOHN.

»… deshalb fürchte ich, dass wir die Franzmänner entweder irgendwie ablenken oder uns damit abfinden müssen, eine zusätzliche Steuer auf jede …«

»Ich rufe Sie wegen dieser Angelegenheit noch mal zurück«, sagte Trumball abrupt.

Der Engländer machte ein überraschtes Gesicht.

»Mir ist gerade etwas Privates dazwischengekommen.

Mein Sohn. Er ist bei der Marsexpedition, wissen Sie.«

»Ich hoffe, es gibt keine Probleme.«

»Das bezweifle ich. Ich melde mich wieder. Überlegen Sie in der Zwischenzeit, ob wir die Franzosen nicht irgendwie beschwatzen können, die Dinge so zu sehen wie wir.«

Beschwatzen war Trumballs Ausdruck für Bestechung.

Der Engländer schaute skeptisch drein, sagte jedoch: »Ich werde das prüfen.«

»Gut.«

Trumball löschte den Wandbildschirm und rief dann die Nachricht seines Sohnes auf. Dex' Gesicht ragte riesengroß über ihm auf. Trumball justierte das Bild rasch auf normale Größe.

»Dad, ich hab das Geschäft des Jahrhunderts für dich«, begann Dex. Er grinste wie eine Katze, die gerade einen Kanarienvogel verspeist hatte.

Trumball hörte sich den Plan seines Sohnes zur Bergung der alten Gerätschaften an. Er fand, dass der Junge dünner wirkte als sonst. Wenn seine Mutter das sah, würde sie einen hysterischen Anfall bekommen und ihm sagen wollen, dass er mehr essen und ja seine Vitaminpräparate nehmen sollte.

Doch als Dex die Details seines Planes abspulte, vergaß er das physische Erscheinungsbild seines Sohnes sehr rasch.

Bei Gott, dachte Trumball. Da hat der Junge wirklich mal eine gute Idee gehabt. Ein Dutzend Anrufe, und ich hätte ein Dutzend Bieter für diesen alten Schrott. Mehr wäre nicht nötig. Vielleicht nicht mal so viele. Letztendlich würde es Hunderte von Bietern aus jedem Winkel des Globus geben.

Dann kam ihm ein neuer Gedanke. Wie wär's, wenn wir die Sachen den Franzosen anböten? Die müssen doch irgendein Wissenschaftsmuseum haben, das sie gern hätte.

Oder das Pariser Disneyland!

Er lachte laut auf. Beschwatzen wir die Franzosen mit diesem alten Haufen Raumschrott, damit sie sich bei dem Osteuropageschäft nicht quer stellen. Das würde bestimmt funktionieren! Wenn ich das den Leuten in der Londoner Niederlassung erzähle. Denen zeige, wer der Mann ist, der ihre Probleme lösen kann. Ihnen sage, dass ich eigentlich ihre Jahresprämien kriegen müsste!

Er spielte Dex' Nachricht noch einmal von vorn ab und rief dann seinen hauseigenen Wissenschaftsberater an, einen Physiker vom MIT, den er auf Honorarbasis beschäftigte. Anschließend führte er noch zwei weitere Telefonate.

Eines mit dem Generaldirektor des Unternehmens, das die Landetriebwerke für die Trägerrakete des Treibstoffgenerators hergestellt hatte, das andere mit den Leuten im Kontrollzentrum in Tarawa. Es war bereits dunkel, als er genug Informationen hatte, um seine Entscheidung zu treffen. Erst dann schickte er seinem Sohn auf dem Mars eine Nachricht.

Am nächsten Morgen hatte Dex reichlich zu tun. Er katalogisierte die aus Tithonium Chasma mitgebrachten Gesteins- und Bodenproben und testete ausgewählte Steine darauf, ob sie Hydrate enthielten. Wie ein Chirurg, der einen Tumor seziert, schnitt er mehrere Steine mit einer Diamantsäge auf und trennte so dünne Scheiben heraus, dass er hindurchschauen konnte.

Wie jeder Chirurg hatte er eine Assistentin, die ihm zu Hand ging: Trudy Hall, deren Interesse am Wassergehalt der Steine ebenso groß war wie seines. Sie verbrachten den ganzen Tag im Geologielabor und untersuchten die Steine mit dem Gaschromatographen und Massenspektrometer.

Das Gerät verwandelte eine mikroskopische Menge der Gesteinsprobe mit einem Energieblitz seines winzigen Lasers zu Dampf und trennte diesen anschließend in seine molekularen Bestandteile auf. Am Ende des Tages waren sie beide müde, und ihnen taten alle Knochen weh, weil sie sich lange Stunden ununterbrochen über Laborgeräte gebeugt hatten. Dennoch hüpfte Trudy beinahe, als sie das Geologielabor verließen und sich auf den Weg zur Messe machten.

Dex grinste von einem Ohr zum anderen.

»Ihr beiden seht ja glücklicher aus als Flitterwöchner«, sagte Possum Craig, der von der Werkbank aufblickte, wo er das störrische Ventil einer Luftpumpe reparierte.

»Worauf du dich verlassen kannst, Wiley«, sagte Trumball mit einem Zwinkern. »Wenn sie kochen könnte, würde ich sie heiraten.«

»Ich kann kochen«, gab Hall schlagfertig zurück, »aber ich bin noch viel zu jung, um ans Heiraten zu denken.«

Jamie Waterman kam mit einer Spur Neugier in seinem gleichmütigen Gesicht quer durch die Kuppel auf sie zu.

»Was gefunden?«, fragte er und gesellte sich zu Trumball und Hall, die zum Heißwasserbehälter gingen.

»Doch, ja«, sagte Trudy. »Sogar eine ganze Menge.«

Auf Jamies Gesicht erschien ein verwirrtes Lächeln. »Und, wollt ihr uns davon erzählen?«

»Ich finde, wir sollten damit bis zum Abendessen warten«, sagte Trumball, immer noch mit breitem Grinsen,

»wenn alle ums Lagerfeuer versammelt sind.«

»Wie wär's mit einer kleinen Vorschau?«, fragte Jamie.

Trumball sah Trudy Hall an. »Sollen wir's ihm sagen?«

Sie sah Jamie an und wandte sich dann wieder an Dex.

»Na ja, er ist immerhin der Chef.«

»Schon, aber …«

Jamie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun mal los, ihr zwei! Was habt ihr rausgefunden?«

»Ganz einfach«, antwortete Trudy, die vor Aufregung beinahe übersprudelte. »Die Steine, die Hydrate enthalten, tragen auch Flechten. Die trockenen Steine haben keine Flechten.«

»Die Flechte muss die Hydrate spüren können«, sagte Trumball. »Sie kann die Anwesenheit von Wasser irgendwie riechen, selbst wenn es nicht flüssig ist.«

»Selbst wenn es chemisch in die molekulare Struktur des Gesteins eingebunden ist!«, fügte Hall hinzu.

Sie hatten den Heißwasserspender erreicht, aber keiner von ihnen griff nach einem Becher.

Jamie fragte langsam: »Seid ihr euch da sicher?«

»Jede Probe, die wir untersucht haben«, erwiderte Dex.

»Hydrate und Flechte zusammen; keine Hydrate, keine Flechte.«


Kopfschüttelnd sagte Jamie: »Nein, ich meine, dass die Flechten Wasser spüren.«

»Wie lässt sich das sonst erklären?«, fragte Hall.

»Nun, vielleicht sterben die Flechten, die sich in Gestein ohne Hydrate anzusiedeln versuchen, einfach an Wassermangel ab.«

Trudy machte ein langes Gesicht. »Oh.«

»Also Moment mal«, sagte Trumball. »Das wäre eine Möglichkeit, okay, aber das heißt nicht …«

»Ockhams Skalpell, Dex«, sagte Hall niedergeschlagen.

»Wie?«

»Ockhams Skalpell«, wiederholte sie. »Wenn es zwei mögliche Erklärungen für ein Phänomen gibt, ist die einfachere für gewöhnlich die zutreffende.«

»Das heißt nicht, dass er Recht hat«, sagte Trumball beinahe streitsüchtig.

»Doch, ich fürchte schon«, sagte Trudy. Ihre Stimme war nur noch ein Wispern. »Wir waren so begeistert über die Hydratfunde, dass wir die auf der Hand liegende Erklärung übersehen haben.«

Trumball sah sie mit finsterer Miene an und wandte sich dann an Jamie. »Ich finde trotzdem, dass wir uns die Sache genauer anschauen sollten. Vielleicht kann die Flechte wirklich Hydrate im Gestein spüren.«

»Vielleicht«, gab Jamie zu. »Aber solltet ihr eure Zeit nicht lieber auf die Frage verwenden, wie sie die Wassermoleküle aus dem Gestein löst? Das ist ein echtes Problem.«

Halls Gesicht hellte sich wieder auf. »Ja, das ist das Problem, nicht wahr? Was für eine unglaubliche Anpassungsleistung!«

Jamie nickte und ging davon. Erst als er hinter der geschlossenen Tür seiner Kabine in Sicherheit war, erlaubte er sich ein Lächeln, dass er Dex' Ballon hatte platzen lassen.

Während des Abendessens erstatteten Trudy und Dex dem ganzen Team ausführlich Bericht darüber, was sie an diesem Tag getan hatten. Alle waren sich einig, dass Jamies Erklärung für das Fehlen von Flechten in wasserlosem Gestein wahrscheinlicher war: Flechten, die sich in trockenem Gestein anzusiedeln versuchten, starben an Wassermangel.

Trumball trat zähneknirschend für die Idee ein, dass die Flechte irgendwie die Hydrate spüren konnte, aber seine Versuche waren halbherzig und gingen bald in dem aufgeregten Palaver darüber unter, wie die Organismen wohl nutzbares Wasser aus den Hydraten extrahierten.

Fünfzehn verschiedene Theorien kamen in ebenso vielen Minuten auf den Tisch; alle trugen ihre Ideen vor, kaum dass sie ihnen eingefallen waren. Alle außer Rodriguez, der in missmutigem Schweigen dasaß, wie Jamie bemerkte. Er gibt sich immer noch die Schuld am Verlust des Schwebegleiters, dachte er. Wie kann ich ihn da herausholen?

Possum Craig hatte auch eine Theorie über die Flechte:

»Ich glaub, die kleinen Racker ham alle 'n Diplom in Chemie und bau'n winzige Chemielabors in den Steinen.«

Die anderen johlten und stöhnten.

»Nein, wartet«, sagte Trudy Hall, als das Gelächter erstarb. Sie saß Craig gegenüber und schaute ihm direkt in die Augen. »Possum hat im Grunde absolut Recht.«

Am Tisch wurde es still.

»Wenn die Flechten tatsächlich nutzbares Wasser aus den Hydraten extrahieren, müssen sie ausgezeichnete Chemiker sein und über eine außergewöhnliche chemische Ausrüstung verfügen.«

Mitsuo Fuchida, der am Ende des Tisches saß, ergriff das Wort. »Da kommt mir gerade ein Gedanke: Was passiert mit den Lichenoiden, wenn sie das gesamte Wasser in einem gegebenen Stein verbraucht haben?«

Alle drehten sich zu ihm um.

Fuchida fuhr fort: »Ein einzelner Stein enthält nur eine begrenzte Menge Wasser, nicht wahr? Was machen die Lichenoiden also, wenn sie das ganze Wasser im Stein aufgebraucht haben?«

»Sie werden wohl an Austrocknung sterben«, sagte Hall widerstrebend.

»Aber vorher werden sie sich bestimmt vermehren und ihre Samen zu anderen Steinen schicken«, meinte Vijay Shektar.

»Vielleicht gehen sie in ein Sporenstadium über«, schlug Trumball vor, »und warten, bis eine andere Wasserquelle verfügbar wird.«

»Wir haben keine Sporen gesehen.«

»Ihr habt auch nicht nach welchen gesucht.«

»Das stimmt«, gab Hall zu.

»Augenblick mal«, sagte Jamie. »Da stellt sich eine bedeutsame Frage, nicht? Es gib nur eine begrenzte Menge hydrathaltiger Steine. Was passiert, wenn die Flechten alle trockengelegt haben?«

»Vielleicht sind die Steine ohne Hydrate von den Flechten schon früher leergesaugt worden«, sagte Trumball.

Hall schüttelte den Kopf. »So etwas würde Jahrtausende dauern … äonenlang, um Himmels willen.«

»Das is der Zeitrahmen für planetare Entwicklungen«, sagte Craig. »Wie schon der alte Carl Sagan gesagt hat: Abermilliarden von Jahren.«

»Es ist auch der Zeitrahmen für die evolutionäre Entwicklung von Lebensformen«, fügte Fuchida hinzu.

»Jesus und alle Heiligen«, sagte Trumball leise. »Es ist genau, wie Lowell gesagt hat – dieser Planet stirbt.«

»Lowell … war das der mit den Kanälen?«, fragte Stacy Deschurowa.

Mit einem Nicken erwiderte Trumball: »Er glaubte, Kanäle gesehen zu haben, und behauptete, der Mars sei von intelligenten Wesen bewohnt, die ums Überleben kämpften.«

»Tun wir das nicht alle?«, witzelte Trudy.

»Was?«

»Ums Überleben kämpfen.«

»Nein, im Ernst«, sagte Trumball. »Lowells Kanäle resultierten aus Ermüdungserscheinungen der Augen und optischen Täuschungen. Aber sein zentraler Gedanke war, dass der Mars seine Luft und sein Wasser verlor, dass der ganze Planet starb …«

Trudy Hall sagte mit gedämpfter Stimme: »Und genau das zeigen unsere Forschungsergebnisse.«

»Die Flechten kämpfen ums Überleben«, sagte Jamie,

»aber ihnen gehen die notwendigen Ressourcen aus.«

»Sie verbrauchen die Hydrate im Gestein.«

»Und sterben langsam ab.«

»Aber sie sterben.«

»Oder gehen in ein Sporenstadium über«, rief Trumball ihnen ins Gedächtnis. »Vorübergehende Einstellung aller Lebensfunktionen. Sie warten auf bessere Bedingungen, unter denen sie wieder zum Leben erwachen können.«

»Wie lange können sie das durchhalten?«, fragte Craig.

Fuchida sagte: »Auf der Erde sind schon Sporen aus der Zeit der Dinosaurier wieder belebt worden.«

»Also Millionen Jahre.«

»Dutzende Millionen.«

»Sporen haben sogar auf dem Mond überlebt«, erklärte Deschurowa. »Trotz Vakuum und harter Strahlung.«

»Lunare Sporen?«, fragte Trumball.

»Sporen, die wir mitgebracht hatten, ohne es zu wissen«, antwortete die Kosmonautin. »Sie warteten in der alten Apollo-Abstiegsstufe, als wir über vierzig Jahre später dorthin kamen.«

»Haben sie die Mondfähre nicht dekontaminiert, bevor sie zum Mond geflogen sind?«

»Doch, natürlich, aber das hat nicht alle Bazillen umgebracht. Die sind sehr zäh.«

Craig schnaubte verächtlich. »Da fragt man sich, was wir so alles mit uns rumschleppen, nich?«

»Der entscheidende Punkt ist doch folgender«, sagte Jamie. »Die Flechte deutet offenbar darauf hin, dass der Mars früher einmal viel reicher an Leben war. Und dass er jetzt stirbt.«

Sie nickten alle zustimmend. Jamie dachte: Ja, der Mars stirbt. Früher hat es hier Leben in Hülle und Fülle gegeben.

Früher hat es hier intelligente Marsianer gegeben, die ihre Städte in die Felswände gebaut haben. Ich weiß es! Ich muss hinfahren und es beweisen.

Dex Trumball sah Jamies Gesichtsausdruck und wusste genau, was im Kopf des Indianers vorging. Er errichtet ein theoretisches Kartenhaus, um sich zu beweisen, dass es keine Fata Morgana war, was er in dieser Nische im Canyon gesehen hat, sondern ein von intelligenten Marsianern erbautes Gebilde.

Dex behielt seine Meinung jedoch für sich und hielt bis zum Ende der Diskussion bei Tisch durch; die anderen kamen bald vom Hundertsten ins Tausendste, wiederholten sich, überlegten laut und stellten wilde Vermutungen an, nur um sich reden zu hören. Er blieb die ganze Zeit sitzen, weil er die fröhlich debattierende Runde nicht als Erster verlassen wollte. Schließlich tippte Jamie jedoch auf seine Armbanduhr und schlug vor, dass sie den Tisch abräumten und schlafen gingen.

Dex lächelte innerlich. Er sagt immer »geht schlafen«. Nie

»geht ins Bett«. Ich möchte wissen, wie lange es her ist, dass er mit jemandem im Bett war. Zum Teufel, es ist schon bei mir viel zu lange her, und er führt sich auf wie ein heiliger Mann der Navajos. Er ist wirklich ein Heiliger, unser edler Führer: Sankt Jamie vom Mars.

Dex lachte in sich hinein und ging in seine Unterkunft. Er schaltete den Laptop ein. Dad müsste meine letzte Nachricht inzwischen beantwortet haben. Tatsächlich, da war eine Botschaft von seinem Vater. Und auch eine von Mom.

Viel länger als die von Dad. Dex ignorierte die Nachricht seiner Mutter und holte das hagere, strenge Gesicht seines Vaters auf den Bildschirm. Er sieht aus wie eine Eisskulptur, dachte Dex: kalt und hart, unmenschlich. Dad war offenbar in seinem Büro. Durch das Fenster hinter dem Schreibtisch sah Dex die Skyline von Boston.

»Dex, ich finde es eine gute Idee, die alte Pathfinder-Sonde zu bergen. Ich habe schon ein paar ausgewählte Persönlichkeiten kontaktiert und ihren Speichelfluss aktiviert. Wir könnten bei diesem Geschäft ein ganz anständiges Sümmchen einstreichen.«

Sag: Gute Arbeit, Dex, dachte er. Oder: Ich bin stolz auf dich, mein Junge.

Aber der Alte fuhr fort: »Mir ist allerdings klar, dass dein Plan nicht ungefährlich ist. Ich habe mich mit den Leuten unterhalten, die sich mit diesen Dingen auskennen, und sie sagen mir, es sei zwar technisch machbar, aber riskant.

Wenn etwas schief geht, bestehen nur sehr geringe Aussichten auf Hilfe.«

Das stimmt, Dad, antwortete er stumm. Du sagst doch immer, ich hätte noch nie meinen Arsch riskiert, bei gar nichts. Ich hätte es immer leicht gehabt. Jetzt werde ich dir mal zeigen, wie sehr du dich in mir irrst.

»Aus diesem Grund will ich sicherstellen, dass diejenigen Personen für diese Mission ausgewählt werden, die für den Erfolg und die Sicherheit der Expedition am unwichtigsten sind. Sorg dafür, dass Dr. Waterman diesen mexikanischen Astronauten losschickt, Rodriguez. Und den Texaner, wie heißt er noch gleich … Craig, stimmt's? Die werden sich gut verstehen, und wenn ihnen was zustößt, ist das kein so großer Verlust.«

Dex starrte mit großen Augen auf den kleinen Bildschirm.

»Du hast doch keinen blassen Schimmer, Dad«, sagte er leise. »Du hast doch nicht die mindeste Ahnung.«

Aber sein Vater sagte: »Du darfst unter gar keinen Umständen an dieser Mission teilnehmen. Hörst du, Dex? Ich verbiete es dir ausdrücklich. Du bleibst dort, wo du in Sicherheit bist. Sollen die anderen die Arbeit machen; du heimst dann den Ruhm ein.«


MORGEN: SOL 21

»Drei Wochen auf dem Mars«, sagte Vijay Shektar. »Wir sollten heute Abend feiern.«

Jamie saß auf einem Hocker mit spindeldürren Beinen in Shektars Krankenrevier. Das Oberteil seines Overalls war heruntergezogen, und er hatte eine Manschette zum Messen des Blutdrucks um den linken Unterarm und ein halbes Dutzend medizinische Sensorpflaster auf Brust und Rücken.

»Die erste Expedition ist vierundfünzig Sols geblieben«, sagte er. »Warten wir, bis wir ihren Rekord gebrochen haben.«

»Du bist ein Spielverderber, Jamie.« Vijay schnitt ein Gesicht, irgendwo zwischen einem Schmollen und einem Grinsen.

»Oder noch besser, warten wir, bis wir etwas mehr zu feiern haben als ein Kalenderdatum.«

Vijay warf einen Blick auf die Monitore, auf denen Jamies Blutdruck, Puls, Temperatur und Haut-PH-Wert angezeigt wurden. Als sie wieder zu Jamie schaute, tanzten ihre Augen.

»Nun«, sagte sie, »Weihnachten steht vor der Tür – auf der Erde.«

»Schön. Wir können Weihnachten feiern.«

»Ohne Baum.«

»Wir machen uns einen aus Aluminium. Oder aus Plastik.«

Sie begann, die Sensorscheiben abzuziehen. »Du bist langweilig gesund, Kamerad. Nur deine Hautfarbe ist nicht so gut. Du solltest dich öfter mal unter die Höhensonne legen.«

»Ich könnte ohne Raumanzug in die Luftschleuse gehen«, schlug er grinsend vor, während er den Overall wieder hochzog und einen Arm in den Ärmel fummelte.

»Das UV-Licht da drin ist ein bisschen zu stark fürs Braunwerden.«

»Hätte nie gedacht, dass jemand mit meiner Hautfarbe Höhensonne brauchen würde«, sagte Jamie.

»Und was ist mit mir?«

»Du hast eine Dauerbräune.«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen, als ich zum ersten Mal in eine Drogerie gegangen bin und hautfarbenes Pflaster kaufen wollte.«

Jamie musterte sie eingehend. In ihrer Miene war keine Spur von Boshaftigkeit. Ganz im Gegenteil.

»Du bist ja heute Morgen so gut gelaunt«, sagte er und drückte den Klettverschluss vorn an seinem Overall zu.

»Und du bist sachlich und nüchtern, wie immer.«

»Das ist mein Job.«

»Du solltest dir mal ein bisschen Entspannung gönnen«, sagte sie. »Du weißt schon: Arbeit macht das Leben süß, Faulheit stärkt die Glieder.«

Jamie überlegte rasch. »Wie wär's mit einem Spaziergang?«

»Draußen?«

»Wo sonst?«

»Trudy joggt jeden Tag in der Kuppel. Sie hat sich eine regelrechte Route zurechtgelegt.«

»Nein«, sagte Jamie. »Ich meine draußen.«

»Denkst du, wir sollten?«

»Ich hab heute Nachmittag ein bisschen Zeit, kurz vor dem Abendessen. Willst du mit mir spazieren gehen?«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Du bist bestimmt seit dem Tag, an dem wir gelandet sind, nicht mehr draußen gewesen«, sagte Jamie leichthin.

»Oh nein, das stimmt nicht. Dex und ich sind ein paar Mal rausgegangen. Aber seit er so mit der Planung dieser Exkursion zum Ares Vallis beschäftigt ist, natürlich nicht mehr.«

»Natürlich nicht«, erwiderte Jamie. Das war ein echter Dämpfer gewesen.

Vijay kicherte. »Dex wollte mich überzeugen, dass wir zu zweit in einen Raumanzug passen.«

»Ach wirklich?«, knurrte Jamie.

Sie grinste ihn breit an. »Was meinst du, Jamie? Du bist ein bisschen kräftiger als Dex. Glaubst du, wir beide könnten uns in einen Anzug kuscheln?«

Jamie wusste nicht, was er sagen sollte, bis ihm ein alter Spruch eines Kommilitonen an der Uni einfiel. »Du solltest deinen Mund keinen Scheck ausstellen lassen, Vijay, den dein Körper nicht einlösen kann.«

Nun war ausnahmsweise einmal sie sprachlos.

Jamie grinste. »Sechzehn Uhr. Wir treffen uns bei den Spinden. Okay?«

Sie salutierte militärisch. »Aye-aye, Sir.«

Dex Trumball schäumte noch immer vor Wut über den Befehl seines Vaters. Die Planung der Exkursion zum Ares Vallis verschlang immer mehr Zeit, vor allem jetzt, wo sie das Lenksystem für die Trägerrakete des Treibstoffgenerators testeten. Jamie hatte eine einschneidende Änderung in Dex' und Craigs Arbeitsplänen genehmigt, sodass sie ihre Zeit nun weitgehend auf die Vorbereitung der Exkursion verwenden konnten; allerdings mussten sie dafür einen großen Teil ihrer regulären Arbeit aufschieben, unter anderem auch die stratigraphischen Untersuchungen, die so wichtig für das Verständnis der Zeiträume waren, in denen die geologischen Kräfte auf dem Mars ihr Werk verrichteten.

Jamie übernahm einen Teil dieser Arbeit, da er Geologe war. Er konnte versuchen, die Bedeutung der verschiedenen Gesteinsschichten zu analysieren und den Zeitpunkt ihrer Ablagerung festzustellen. Aber Dex wusste, dass er das eigentlich selbst machen sollte; er vernachlässigte seine eigene Arbeit – und Jamie ließ es zu. Na klar, dachte er.

Wenn jemand sich über die Vernachlässigung der geologischen Arbeit beklagt, kann er mir die Schuld in die Schuhe schieben.

Dex hatte niemandem etwas davon erzählt, dass sein Vater ihm verboten hatte, auf die Exkursion zu gehen. Er hatte die widerwärtige Botschaft seines Vaters sofort gelöscht und sich in den Hauptcomputer der Expedition gehackt, um sich zu vergewissern, dass keine Kopie in den Unterlagen war. Er will nicht, dass ich fahre, knurrte Dex in sich hinein, während er auf das Display des Steuercomputers starrte. Possum Craig war draußen und brachte einen Satz Sensoren an der Trägerrakete an, sodass sie wissenschaftlichen Nutzen aus dem bevorstehenden Flug zur Xanthe-Terra-Region östlich vom Lunae Planum ziehen konnten. Stacy Deschurowa würde den Flug von der Basiskuppel aus steuern. Dex arbeitete mit ihr daran, sämtliche Flugparameter festzulegen.

Er will nicht, dass ich fahre, weil er glaubt, dass ich's vermassle. Er vertraut mir nicht. Ich bin auf dem Mars, verdammt noch mal, und er vertraut mir immer noch nicht!

Selbst wenn alles bestens läuft und wir die alten Geräte hierher bringen, ohne dass es Probleme gibt, könnte er dann immer noch behaupten, ich hätte es ja nicht getan, ich hätte nicht den Grips oder den Mumm gehabt, loszufahren und sie zu holen.

Zur Hölle mit dir, Pop! Ich fahre. Und du kannst rein gar nichts dagegen tun. Ich fahre persönlich hin und zeige dir, dass ich's schaffe. Bevor du's erfährst, mein lieber Daddy, bin ich schon unterwegs. Deine Verbote kannst du dir sonst wo hin stecken, du alter Furzer. Du schreibst mir nichts mehr vor. Ganz gleich, was du sagst oder tust, hier draußen mache ich, was ich will.

»Hast du nicht gesagt, du hättest frei?« Vijays Stimme in Jamies Helmlautsprechern klang ein wenig belustigt.

Die beiden gingen zu dem Raketenflugzeug, das Rodriguez in den letzten Wochen zusammengebaut hatte. Wie die ferngesteuerten Schwebegleiter bestand es aus einer hauchdünnen Kunststoffhaut, die sich über einen Cerplast-Rahmen aus Keramik und Kunststoff spannte. Jamie fand, dass es wie ein überdimensionales Modellflugzeug aus einer Art Küchenfolie mit einem merkwürdig gebogenen sechsflügeligen Propeller an der Nase aussah.

Aber es war groß genug, um zwei Personen zu transportieren. Geradezu riesig im Vergleich zu den unbemannten Schwebegleitern. Rodriguez sagte, es sei nur ein Treibstofftank mit Flügeln. Die weit gespannten Tragflächen krümmten sich an den Spitzen nach unten.

Das Cockpit, nicht mehr als eine durchsichtige Blase am vorderen Ende, wirkte winzig. Den an der Nahtstelle von Flügelwurzeln und Rumpf angebrachten Raketentriebwerken traute man gar nicht zu, dass sie das Ding vom Boden hochbrachten, so klein waren sie.

Das Flugzeug sollte seine Raketentriebwerke zum Starten verwenden, aber sobald es eine gewisse Höhe erreicht hatte, würde es mit dem Propeller fliegen. Auf die Oberseiten der Tragflächen aufgesprühte Solarzellen würden den Strom für den Elektromotor liefern. In der Marsatmosphäre gab es zu wenig Sauerstoff für ein Düsentriebwerk; die Raketen waren der Hauptmuskel des Flugzeugs, die Solarzellen seine sekundäre Energiequelle.

»Für mich ist das Freizeit«, erwiderte Jamie. »Wir könnten Tomas hallo sagen, wenn wir schon mal hier sind, meinst du nicht?«

»Überall um uns herum ist der Mars, und da gehst du zufällig gerade in diese Richtung«, konterte sie.

Ihr koboldhaft neckischer Ton entging ihm keineswegs.

Statt sich auf ein Geplänkel mit ihr einzulassen, rief Jamie Rodriguez zu: » Hola, Tomas! Què pasa? «

Der Astronaut kniete in seinem Raumanzug unter einer Flügelspitze des Flugzeugs. Seine beschuhten Hände steckten in einer offenen Wartungsklappe in der Triebwerksverkleidung. Man konnte nicht erkennen, ob er im Helm den Kopf drehte, aber seine besorgte Stimme kam aus ihren Helmlautsprechern: » Tengo um probleina con esta maldita …


äh, Einspritzdüse.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Shektar.

»Wo liegt das Problem?«, fragte Jamie auf Englisch.

Er hörte Rodriguez glucksen. »Schön, dass du auf Englisch umschaltest, Mann. Ich glaub nicht, dass mein Spanisch gut genug ist, um mich über Gelenke mit gasdynamischer Schmierung und Tieftemperatur-Zündsysteme auszulassen.«

Rodriguez schien seinen Katzenjammer über den Verlust des unbemannten Schwebegleiters überwunden zu haben.

Jamie hatte ihn aufmerksam beobachtet, weil er wusste, dass Tomas Fuchida mit dem bemannten Flugzeug in dasselbe Gebiet bringen sollte, in dem der Schwebegleiter verloren gegangen war. Der Astronaut hatte alle Anstrengungen unternommen, den Verlust des unbemannten Gleiters aufzuklären, aber je näher sein eigener Flug rückte, desto weniger schien er sich für die Absturzursache zu interessieren.

Jamie und Rodriguez plauderten eine Weile im Techniker-Kauderwelsch; Shektar verstand kein Wort von dem, was sie sagten.

Schließlich fragte Jamie: »Also, was ist – wird es fliegen, Orville?«

Rodriguez lachte. »Es wird, Wilbur. Und wenn ich die verdammten widerspenstigen Treibstoffpumpen mit meinem eigenen Blut schmieren muss.«

Jamie erkannte, dass Rodriguez es trotz seines lockeren Tonfalls vollkommen ernst meinte. Er würde diesen Vogel fliegen, mit Fuchida als Passagier. Wenn etwas schief ging, war es um ihn geschehen.

Und um mich auch, erkannte Jamie. Ich muss ihnen das endgültige Okay für den Flug geben. Es spielt überhaupt keine Rolle, wie viele Techniker auf der Erde seine Arbeit noch mal nachprüfen und für gut befinden. Die endgültige Verantwortung trage ich. Ist Tomas seelisch bereit für diese Mission? Vielleicht sollte ich mit Vijay darüber sprechen.


Ihm fiel etwas ein, das Conners ihm damals während des Trainings erzählt hatte, noch vor der ersten Expedition.

»Siehe die primitive Schildkröte«, hatte der Astronaut zitiert. »Sie kommt nur voran, wenn sie den Kopf herausstreckt und damit den Hals riskiert.«

Pilotenweisheit. Astronautenhumor. Aber Jamie wusste, dass es stimmte. Wenn wir hundertprozentige Sicherheit wollten, säßen wir noch in unseren vier Wänden auf der Erde. Zum Teufel, wir würden noch in Höhlen leben und hätten zu große Angst, um Feuer zu machen.

»Mir ist ein Spaziergang draußen auf dem Land versprochen worden«, erinnerte ihn Skektar.

»In Ordnung«, sagte er rasch. »Bleib dran, Tomas.«

»Was hab ich sonst schon zu tun?«

Jamie und Vijay umrundeten das hohe, weit ausladende Schwanzende des Flugzeugs und gingen auf die untergehende Sonne zu. Sie schalteten ihren Anzugfunk von der allgemeinen Kommunikationsfrequenz auf eine andere, die es ihnen erlaubte, sich zu unterhalten, ohne Rodriguez oder jemand anderen in der Kuppel zu stören, der die allgemeine Frequenz vielleicht gerade überwachte.

»Mit Tommy scheint jetzt wieder alles in Ordnung zu sein«, sagte Vijay übergangslos.

Überrascht erwiderte Jamie: »Hat er dir von seinen Problemen erzählt?«

»Der? Nie im Leben, Kamerad.«

»Woher weißt du dann …?«

»Ich wäre eine tolle Psychologin, wenn mir nicht aufgefallen wäre, wie geknickt er dreingeschaut hat, oder?«

Shektars Stimme klang ein wenig amüsiert. »Ich meine, der arme Kerl ist ja wie Falschgeld durch die Gegend gelaufen.«

»Er hat sich für den Absturz des Gleiters verantwortlich gefühlt.«

»Er ist drüber weg.«

»Mit deiner Hilfe?«

Ein oder zwei Herzschläge lang antwortete sie nicht.


Dann: »Oh, ich hab ihn ein paar Mal strahlend angelächelt und ihm auf die Schulter geklopft. Schien ihn ein bisschen aufzumuntern.«

»Wird er fliegen können?«

»Wäre sogar das Beste für ihn«, gab sie zurück. »Wenn du ihn jetzt von der Mission abziehen würdest, wäre er am Boden zerstört.«

Jamie nickte in seinem Helm und fragte sich, wie viel von diesen Maßnahmen zur Hebung der Moral Eingang in Vijays offizielle Unterlagen fand.

Sie entfernten sich langsam von der Kuppel, gingen über den mit Steinen übersäten roten Sand.

»Oh Gott, das ist ja noch öder als das Outback«, meinte Vijay leise.

»Aber schön«, sagte Jamie.

»Das findest du schön?« Ungläubigkeit sprach aus ihrem Ton.

»Du vergleichst es mit der Erde, mit einem Ort, den du kennst oder vielleicht sogar liebst.«

»Dagegen ist Coober Pedy der Garten Eden.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Zieh keine Vergleiche. Das ist eine andere Welt, Vijay. Nimm sie so, wie sie ist. Betrachte sie mit neuen Augen.«

Noch während er das sagte, erkannte Jamie, dass er selbst die marsianische Landschaft instinktiv mit der felsigen Ein

öde des Navajo-Reservats verglich. Befolge deinen eigenen Rat, dachte er. Betrachte sie mit neuen Augen.

Und er sah Schönheit. Die Welt vor ihren Augen war eine Sinfonie der Rottöne: Überall lagen rostfarbene Felsbrocken herum, sanfte Dünen in Ocker und Kastanienbraun erstreckten sich bis zum hügeligen, unebenen Horizont, der Himmel war von einem zarten Rosa, das sich über ihnen zu Blau verdunkelte. Eine leise Brise strich über sie hinweg; er hörte ihr freundliches Raunen durch seinen Helm. Es war richtig, harmonisch, eine ausgewogene Welt ohne Druck, lärmende Menschenmengen, riesenhafte Gebäude oder verkehrsreiche Straßen.

Ohne Menschen, erkannte er. Vielleicht sollten wir nicht in übervölkerten Städten leben. Vielleicht sollten wir in kleinen Familien leben, in kleinen Gruppen mit viel freiem Raum um uns herum.

»Weißt du«, sagte Vijay langsam, »es ist wirklich irgendwie schön, auf gewisse Weise. Friedlich.«

Ja, dachte Jamie. Friedlich. Aber wenn Dex seinen Willen bekommt, dann werden hier Touristen durchtrampeln und Bauunternehmer Städte bauen, und ein Heer von Ingenieuren wird überall herumwuseln, um all das zu ändern und ein zweites Phoenix, Tokio oder New York daraus zu machen.

»Natürlich ist es hier nur friedlich, weil wir nicht aus diesen Anzügen herauskönnen«, fuhr Vijay fort. »Es ist schön, weil wir hier eigentlich nicht leben können, wir können nur zu Besuch kommen.«

»Der Mars duldet uns«, sagte Jamie. »Solange wir seine Welt respektieren.«

»Im Grunde sind wir gar nicht auf dem Mars, nicht wahr?

Ich meine, wir können den Wind nicht spüren und nicht barfuß über den Sand laufen.«

»Nein. Wir sind Besucher. Gäste.«

Sie trat näher zu ihm, und Jamie versuchte, ihr den Arm um die Schultern zu legen. In den überdimensionalen hartschaligen Anzügen mit den klobigen Tornistergeräten war das jedoch unmöglich.

Stattdessen fasste er sie am Arm und führte sie wortlos auf den Kamm einer niedrigen, bogenförmigen Felsenkette.

Die Spätnachmittagssonne warf ihre langen Schatten über die kahlen Sanddünen, die in symmetrischer Anordnung bis zu dem beunruhigend nahen Horizont marschierten.

Das Sonnenlicht enthielt keine Wärme; ohne die schützenden Anzüge, die sie umhüllten, wären sie schnell erfroren. Und ohne die Luft aus den Tanks in ihren Tornistern wären sie noch schneller erstickt.


Dennoch brachte sie mit ihrer unheimlichen Schönheit eine Saite in Jamie zum Klingen, diese rote Welt. Es war eine sanfte Landschaft, kahl und leer, aber irgendwie freundlich und verlockend. Was ist jenseits des nächsten Hügels, fragte er sich. Und hinter dem Horizont?

Dennoch blieb er stehen.

»Warum bleibst du stehen?«, fragte sie. »Gehen wir zu diesen Dünen hinüber.«

Jamie berührte mit der einen Hand ihre Schulter und zeigte mit der anderen nach hinten. »Wir wären außerhalb des Kamerabereichs.«

Hinter ihnen ragte eine der auf Masten montierten Überwachungskameras gerade eben noch über den Horizont.

Ihre nebeneinander herlaufenden Stiefelabdrücke waren in dem eisenhaltigen Sand deutlich zu sehen. Sie werden bis zum nächsten großen Sturm erhalten bleiben, sagte sich Jamie. Der sanfte Wind, der hier weht, hat nicht genug Kraft, um die rostigen Sandkörner zu bewegen.

»Gehen wir eine Weile auf diesem Kamm entlang«, sagte er zu Vijay. »Es ist noch früh, wir haben Zeit.«

»Gern.«

»Wir können aber nicht sehr lange draußen bleiben«, schränkte er ein. »Sobald die Sonne untergeht, wird es rasch dunkel.«

»Stacy hat mir erzählt, dass du ihr die Polarlichter gezeigt hast.«

»Ja, das stimmt.«

Nachdem sie ein paar Minuten lang stumm dahingegangen waren, blieb Jamie stehen und drehte sich ganz herum. Im Osten wurde der Himmel bereits dunkel, obwohl die Sonne noch nicht ganz den welligen westlichen Horizont berührte.

Jamie dachte: Dort müsste … ja! Da ist er!

Er berührte Vijay an der Schulter und zeigte mit der anderen Hand hin. »Schau, da oben.«

»Wo? Was ist – ein Flugzeug!«


»Nein«, korrigierte sie Jamie, »das ist Phobos, der nähere Mond.«

Ein heller Funken bewegte sich dort oben zielstrebig dahin, ohne zu blinken, ohne Eile, zog über den dunkelnden Himmel, als wäre er in einer eigenen Mission unterwegs.

»Er ist so klein, dass man ihn nicht als Scheibe sehen kann«, erklärte Jamie, »und so nah an dem Planeten, dass er sich wie ein künstlicher Satellit in einer niedrigen Umlaufbahn von Osten nach Westen bewegt.«

»Ich sehe einen Stern«, sagte sie und zeigte hin.

»Wahrscheinlich Deimos, der größere Mond.« Jamie folgte ihrem ausgestreckten Arm mit dem Blick und erkannte, dass er sich irrte. Er merkte, wie ihm der Atem entwich.

»Das ist die Erde«, sagte er. Oder flüsterte er vielmehr.

»Die Erde?«

Jamie nickte in seinem Helm. »Groß und blau. Das ist die Erde. Für die nächsten paar Monate ist sie hier der Abendstern.«

»Die Erde.« Vijays Stimme klang dumpf vor Staunen.

Stacy Deschurowas Stimme zerstörte den Zauber des Augenblicks. »Basis an Waterman. Die Sonne ist am Horizont. Macht euch auf den Rückweg.«

Er drehte sich um und sah, dass die Sonne tatsächlich die fernen Hügel berührte. »Okay«, sagte er widerstrebend.

»Wir kommen.«

Sicherheitsvorschriften. Trotz der Helmlampen war es nicht erlaubt, nachts draußen herumzulaufen; das wäre auch ziemlich unklug gewesen, sofern es keinen dringenden Grund dafür gab. Trotzdem hätte Jamie es genossen, zumindest für ein paar Minuten mit Vijay und dem funkelnden Nachthimmel des Mars allein zu sein.

»Keine Polarlichter heute, tut mir Leid«, sagte er bedauernd.

»Stacy ist eifersüchtig.«

»Nein, sie hält sich nur an die Vorschriften.«

»Tja … danke für den Spaziergang«, sagte sie, als sie den Rückweg antraten.

»Freut mich, dass es dir gefallen hat«, sagte er.

»Ich sollte öfter mal rausgehen. Ich war zu lange in dieser Kuppel eingepfercht.«

»Macht es dir nichts aus, in einen Anzug eingepfercht zu sein?«

»Eigentlich nicht. Dir?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich fühle mich hier draußen irgendwie frei, beinahe so, als könnte ich den Anzug ausziehen und zum Horizont laufen.«

»Wirklich?«

Die plötzliche Veränderung ihres Tonfalls alarmierte Jamie. »Oh-oh. Das hätte ich der Psychologin des Teams gegenüber nicht zugeben dürfen, wie?«

Sie lachte. »Keine Sorge. Es bleibt unter uns.«

Jamie wusste es besser. Er versuchte, es auf die leichte Schulter zu nehmen. »Ich habe keine richtigen Wahnvorstellungen, weißt du.«

»Noch nicht«, gab sie neckisch zurück.

»Ich hab mich schon gefragt, wozu wir bei dieser Mission eine Psychologin brauchten«, sagte er. »Auf der ersten Expedition sind wir prima ohne eine ausgekommen.«

»Ihr braucht eine Psychologin, weil ihr alle an der Grenze zum Wahnsinn seid«, gab Vijay zurück.

»Zum Wahnsinn?«

»Wer, wenn nicht ein Wahnsinniger, würde Millionen von Kilometern zu dieser eisigen Wüste fliegen? Ich könnte einen Forschungsbericht über jeden Teilnehmer dieser Mission schreiben. Jeden einzelnen.«

»Auch über die Frauen?«

»Ja«, antwortete sie gelassen. »Auch über mich. Manchmal denke ich, ich muss die Verrückteste von uns allen sein.«

»Du?« Er war ehrlich überrascht.

»Ja, ich.«

»Aber du bist so ausgeglichen. Immer guter Dinge und so.«

Sie seufzte. »Irgendwann muss ich dir mal meine Lebensgeschichte erzählen.«

»Jederzeit.«

»Mittlerweile habe ich den Eindruck«, sagte sie, und ihr Ton war jetzt völlig ernst, »dass du ganz gut mit Dex klarkommst.«

»Dex ist gar nicht so schlimm … solange er kriegt, was er will.«

»Er ist ein sehr ehrgeiziger junger Mann und absolut daran gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen. Je mehr du ihm nachgibst, desto mehr Forderungen wird er an dich stellen.«

Und welche Forderungen stellt er an dich? wollte Jamie fragen. Aber er verdrängte es und sagte stattdessen: »Als Missionsleiter habe ich die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass keine persönlichen Konflikte entstehen, die sich störend auf die Arbeit der Expedition auswirken.«

»Das ist Unfug, Jamie. Weder du noch sonst jemand kann persönliche Konflikte verhindern. Du hast vier sehr intelligente, hoch motivierte und total individualistische Wissenschaftler unter deiner Fuchtel. Nicht zu vergessen die beiden Astronauten, die ebenfalls ihre Macken haben.«

»Und auch die Ärztin und Psychologin der Expedition.«

»Die auch«, gab Vijay zu.

»Und dir zufolge sind wir alle Beinahe-Irre.«

»Wir leben unter extrem belastenden Bedingungen«, konterte sie. »Wir sind Millionen Kilometer von zu Hause entfernt, Jamie.«

»Wir sind alle dazu ausgebildet, damit fertigzuwerden.«

»Mag sein, aber es wird trotzdem Konflikte geben«, fuhr sie todernst fort. »Du wirst nicht ständig jedermann beschwichtigen können.«

Sie gingen einige Minuten in unbehaglichem Schweigen dahin und passierten dabei das Flugzeug, an dem Rodriguez gearbeitet hatte. Nichts von ihm zu sehen; er muss schon drin sein, dachte Jamie.


»Tja«, sagte er lahm, »die ersten drei Wochen haben wir ja recht gut überstanden.«

Die Sonne tauchte jetzt hinter die Hügel. Sie befanden sich im Schatten. Die Dämmerung war nur kurz, wenn kein neuer Sandsturm die Luft mit Partikeln füllte, die das erlöschende Sonnenlicht streuten. Die Krümmung der Kuppel zeichnete sich gerade eben über dem Rand des Hügels vor ihnen ab. Auf dem Weg zur Luftschleuse drehte Jamie sich um und warf einen letzten Blick auf die rote Welt.

»Ich bin sehr gern hier.« Die Worte überraschten ihn. Er hatte nicht gewusst, was er sagen würde, bis sie ihm von den Lippen purzelten.

Vijay folgte seinem Blick über die Gesteinstrümmer, die über die rostige Landschaft verstreut waren, und die vom Wind geformten Dünen, die darauf warteten, dass der nächste große Sandsturm sie neu strukturierte.

»Es ist so kahl«, sagte sie. »So kalt und trostlos.«

»Ich fühle mich hier wie zu Hause.«

»Das ist doch kein Zuhause, Jamie. Es ist eine sehr fremde Welt, die dich im Bruchteil einer Sekunde töten könnte.«

Er richtete den Blick einen Moment lang auf ihre vom Raumanzug umhüllte Gestalt. »Der Mars ist eine sanfte Welt, Vijay. Er will uns nichts Böses.«

»Warte ab, bis dir die Luft in deinem Anzug ausgeht.«

Er versuchte, die Achseln zu zucken. »Ja, das stimmt natürlich.«

»Jedes Geschöpf will überleben«, sagte sie. »Irgendwann macht sich die Realität bemerkbar. Sie setzt unseren Träumen Grenzen.«

»Mag sein.«

Sie stapften zur schützenden Zuflucht zurück. Jamie sah, wie der runde Buckel der Kuppel bei jedem Schritt ein kleines Stück höher über den Horizont stieg. Er spürte ein gewisses Widerstreben; er wusste, er würde eigentlich lieber über das Dünenfeld gehen, hinaus ins Unbekannte, über das Antlitz dieser roten Welt.


»Du warst mit Joanna Brumado verheiratet, nicht wahr?«

Überrascht von ihrer Frage, antwortete Jamie: »Es hat nicht funktioniert.«

»Gibst du dir die Schuld daran?«, fragte Vijay.

Er blieb stehen, sodass sie ebenfalls stehen bleiben und sich zu ihm umdrehen musste.

»Arbeitest du gerade wieder an meinem psychologischen Profil?«, fragte er kalt.

»Schon möglich.«

»Wenn das so ist: Nein, ich gebe mir nicht die Schuld an der Scheidung. Ich gebe niemandem die Schuld. Es hat einfach nicht geklappt, das ist alles.«

»Ich verstehe.«

»Scheidung in gegenseitigem Einvernehmen. Niemand hat Schuld.«

»Ja.«

Jamie fragte sich, warum er so wütend war. »Ich verstehe nicht, was meine Ehe mit meiner Arbeitsleistung hier zu tun hat. Zum Teufel, die Ehe hat nicht mal drei Jahre gehalten.«

»Tut mir Leid, dass ich gefragt habe«, sagte Vijay. »Ich wusste nicht, dass dich das derart aufwühlen würde.«

»Ich bin nicht aufgewühlt!«

»Nein, das sehe ich.«


TAGEBUCHEINTRAGUNG

Was wirklich schmerzt, ist, dass sie mich nicht respektieren. Sie dulden mich in ihrem Kreis, aber hinter meinem Rücken lachen sie über mich. Ich bin so gut wie jeder von ihnen, aber sie halten mich alle für zweitklassig oder schlimmer. Alle. Ohne Ausnahme.


ABEND: SOL 21

Jamie trank gemächlich eine Tasse dünnen Kaffee. Er war beinahe zufrieden.

»Viertausend Kilometer«, sagte Vijay. »Niemand hat bisher auch nur die Hälfte dieser Distanz geschafft.«

Sie saß als Einzige noch mit Jamie am Tisch in der Messe.

Das Abendessen war vorbei, der Tisch abgeräumt, bis auf ihr Geschirr. Rodriguez und Fuchida waren ins Biologielabor abgezogen, während Trumball, Craig und Deschurowa ins Geologielabor gegangen waren. Sie planten zwei Exkursionen: eine fast viertausend Kilometer weite Fahrt zum Ares Vallis und einen Flug zum höchsten Berg im Sonnensystem. Hall hatte die letzte Schicht im Kommunikationszentrum übernommen, bevor sie alle schlafen gingen.

»Ich glaube, der Ausflug zum Olympus Mons wird bei den Medien größere Aufmerksamkeit erregen«, sagte Jamie.

»Dex ist aber so begeistert über die Bergung der alten Pathfinder-Sonde. Glaubst du, die Medien werden auch begeistert sein?«

Er zuckte die Achseln. »Vermutlich, wenn die beiden erst mal dort sind. Aber Dex und Possum werden etliche Wochen durch die Gegend fahren. Ziemlich langweilig.«

»Außer wenn sie in Schwierigkeiten geraten.«

»Ja«, sagte Jamie. »Das stimmt natürlich.«

Er war ein wenig überrascht gewesen, als die technischen Leiter in Tarawa ihre Zustimmung zu der Fernexkursion gegeben hatten. Gott weiß, was für einen Druck Trumball und die anderen Finanziers auf sie ausgeübt haben, dachte Jamie. Muss ziemlich heftig gewesen sein.

»Glaubst du wirklich, dass der Flug zum Vulkan die Aufmerksamkeit die Medien mehr fesseln wird?«, fragte Vijay.

»Es ist nicht ganz das Gleiche wie die Erstbesteigung des Mount Everest«, erwiderte er, »aber es dürfte eine Menge Interesse erregen.«

Sie schien darüber nachzudenken, bevor sie ihm zustimmte. »Wenn das Virtual-Reality-Gerät funktioniert, können Millionen Menschen mit dabei sein.«

Die VR-Ausrüstung machte seit über einer Woche Mucken.

»Ich hätte nicht auf diesen Felsblock klettern sollen«, gab Jamie zu. »Dabei hab ich wohl irgendwas lose gerüttelt.«

»Das ist der Terminus technicus dafür«, sagte Vijay mit einem Grinsen.

Possum Craig hatte sich das VR-Gerät kurz angesehen und keinen erkennbaren Defekt gefunden. Dennoch funktionierte die Ausrüstung jetzt nur noch sporadisch; eine Weile ging alles gut, dann stellte sie unversehens den Betrieb ein.

»Ich wünschte, Possum hätte mehr Zeit«, sagte Jamie.

»Tarawa macht mir Druck, weil es nur noch so wenige VR-

Übertragungen gibt.«

»Dex sagt, wir verlieren Geld. Er meint, wir verdienen nicht so viel, wie wir könnten, wenn die VR-Sendungen glatt gingen.«

Jamie nickte düster. »Ich habe ein halbes Dutzend Botschaften von Dex' Vater bekommen. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen.«

»Dürfte ich mir die wohl mal anschauen?«, fragte sie.

Jamie merkte, wie er die Augenbrauen hochzog. »Trumballs Botschaften an mich?«

»Es könnte mir helfen, Dex zu verstehen«, erklärte sie.

»Wenn ich sehe, was für einen Vater er hat.«

Jamie überlegte kurz, dann sagte er: »Okay, komm mit.«

Er stand auf und machte sich auf den Weg zum Kommunikationszentrum. Vijay ging neben ihm her. Als sie sich dem Geologielabor näherten, hörten sie die leidenschaftlichen Stimmen von Dex und Stacy, die hitzig diskutierten.

Dann unterbrach Craig die beiden mit seinem ruhigen, näselnden texanischen Akzent. »Ihr beiden kriegt euch völlig umsons' in die Haare. Is doch egal, welche Stelle ihr als Landeplatz für den Treibstoffgenerator aussucht, der wird sowieso nicht genau da landen, darauf könnt ihr eur'n Arsch verwetten.«

Jamie warf einen Blick hinein, als sie an der offenen Labortür vorbeikamen. Dex funkelte Possum an, aber Stacys ausgeprägte, grobe Züge wirkten gleichmütig und emotionslos.

»Er hat Recht, Dex«, sagte die Kosmonautin. »Ich kann den Vogel genau da landen, wo du ihn haben willst, aber ich wette, dass exakt an der Stelle ein Haufen großer, blöder Felsbrocken rumliegt und wir ihn zu einem ebeneren Gebiet umdirigieren müssen.«

»Aber wir haben doch die Satellitenbilder von dem Gelände«, beharrte Dex.

»Ja, mit 'ner Auflösung von einem Meter«, knurrte Craig.

»Hast du 'ne Ahnung, was ein metergroßer Stein mit den Landebeinen deiner Treibstoffmühle anstellen kann?«

Vijay lachte leise. »Es ist schwer, mit Possum zu diskutieren. Er macht den Mund erst auf, wenn er die Fakten kennt.«

»Wenn er bloß rausfinden könnte, was mit dem VR-Gerät los ist«, sagte Jamie.

»Wie steht's mit dem Ersatzgerät?«

»Das nimmt Mitsuo mit auf die Exkursion zum Olympus Mons.«

»Oh. Natürlich.«

Sie gingen durch die offene Tür ins Kommunikationszentrum. Obwohl die Trennwände nur zweieinhalb Meter hoch waren, kam der Raum Jamie wärmer vor als jeder andere in der Kuppel. Vielleicht liegt es daran, dass die Geräte permanent laufen und Wärme abgeben, dachte er. Aber das Lebenserhaltungssystem lief auch immer, und in jenem Teil der Kuppel fand er es nicht so warm. Mit einem unmerklichen Achselzucken sagte er sich: Es ist nur Einbildung. Spielt sich alles bloß in deinem Kopf ab.


Trudy saß an der Hauptkonsole und wippte im Rhythmus der urtümlichen Rockmusik aus dem Kopfhörer, den sie aufgesetzt hatte. Jamie hörte den schweren, dumpfen Beat trotz ihres Kopfhörers.

Sie drehte sich um und nahm das Headset ab. Ein Schwall schrillen Lärms ergoss sich ins Kommunikationszentrum; Trudy stellte die Musik rasch aus.

»Wie hast du uns reinkommen hören?«, fragte Jamie ungläubig.

»Hab ich nicht«, sagte Hall, »aber ihr seid ja keine Vampire, oder?«

»Hm?«

Sie reckte einen Daumen zum Monitor. »Ich hab eure Spiegelbilder auf dem Bildschirm gesehen.«

»Oh.«

»Ich bin hier fertig.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl.

»Alles unter Dach und Fach für die Nacht.«

»Du solltest dieses Zeug wirklich nicht so laut hören«, sagte Vijay ziemlich ernst. »Es kann dein Gehör schädigen.«

»Was?« Trudy legte eine Hand ans Ohr, als wäre sie taub.

Beide Frauen lachten, und Trudy ging mit einem unbekümmerten »Danke« zur Tür.

Als Trudy mit federnden Schritten das Kommunikationszentrum verließ, kam sie an dem gedrungenen, kastenartigen Immersionstisch vorbei. Ich sollte mir mehr Zeit dafür nehmen, meine eigene Tour zu der Felsenbehausung zu planen, sagte sich Jamie. Ich sollte mir so viel Zeit dafür nehmen, wie Dex sie sich für seine schwachsinnige Exkursion zum Ares Vallis nimmt, aber statt meine eigene Exkursion zu planen, habe ich die Stratigraphiearbeit am Hals, die er eigentlich machen sollte.

Beinahe müde ließ er sich auf einem der Drehstühle nieder und holte die Botschaften des älteren Trumball auf einen der Bildschirme. Vijay setzte sich neben ihn und schaute stumm auf den alten Mann, der eisig seine Forderungen stellte. Bisher waren sechs Botschaften eingegangen, keine unter zwölf Minuten lang.

»… das ist eine absolut inakzeptable Situation, Waterman«, sagte Darryl C. Trumball. »Absolut inakzeptabel! Jede VR-Übertragung bringt uns über dreißig Millionen Dollar ein. Dreißig Millionen Dollar! So viel Geld pissen Sie in die Siele, weil Sie und Ihr Haufen brillanter Wissenschaftler außerstande sind, dafür zu sorgen, dass ein simples elektronisches Gerät anständig funktioniert!«

Vijay saß während aller sechs immer giftiger werdenden Tiraden Trumballs wortlos da. Als die letzte zu Ende war, sagte sie: »Du meine Güte!«

Jamie löschte den Bildschirm. »Ich bin froh, dass hundert Millionen Kilometer zwischen uns liegen.«

»Damit hat Dex sich sein Leben lang rumschlagen müssen«, sagte sie leise. »Kein Wunder, dass er so besessen ist.«

Jamie sagte nichts. Sie macht sich keine Gedanken dar

über, womit ich mich abgeben muss; sie denkt an Dex.

»Wie willst du ihn besänftigen?«, fragte Vijay.

Jamie sagte: »Nichts wird ihn besänftigen, bis wir die VR-

Übertragungen wieder aufnehmen. Ich hab daran gedacht, die Reserveausrüstung einzusetzen, aber Mitsuo wird sie am Olympus Mons brauchen, und ich will nicht riskieren, dass sie vorher kaputtgeht.«

»Das ist wohl richtig.« Vijay nickte nachdenklich. »Und Possum kann dieses Gerät nicht reparieren?«

»Er hat es sich angesehen, aber er findet nicht raus, was damit los ist. Er nennt es die Technikerhölle: Alles ist in Ordnung, aber nichts funktioniert.«

Zwei winzige Furchen bildeten sich zwischen Vijays Augenbrauen. Sie sah aus, als versuchte sie, die Situation zu klären, indem sie konzentriert darüber nachdachte.

»Der Fehler muss im Computer des VR-Systems liegen«, sagte Jamie. »Die Kameras und Datenhandschuhe scheinen in Ordnung zu sein.«

»Können wir einen anderen Computer …?«


»Nein, er ist fest ins System eingebaut.«

Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Dann hast du ein Problem, Kamerad.«

»Es ist ein Ärgernis«, sagte Jamie, »kein Problem. Ich kann mich nicht allzu sehr darüber aufregen, auch wenn Dex'

Dad deswegen einen Schlaganfall kriegt.«

Sie sah ihn neugierig an. »Also, ich würde mich jedenfalls aufregen, wenn jemand so auf mich losginge wie er auf dich.«

Jamie lächelte. »Was will er denn machen, mich etwa feuern?«

»So gesehen, hast du natürlich Recht.« Sie erwiderte sein Lächeln.

»Manche Dinge sind wichtig, andere nicht. Man muss einen Weg finden, der es einem ermöglicht, sich mit den wichtigen Dingen zu befassen.«

»Und die anderen ignorieren?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht ignorieren. Nur dafür sorgen, dass das richtige Verhältnis gewahrt bleibt.«

Vijays Blick veränderte sich ein wenig. »Weißt du, Jamie, du bist vielleicht der normalste Mensch, den ich kenne.«

»Ich dachte, wir wären alle verrückt.«

»Oh, das sind wir auch«, sagte sie und stand auf. »Ganz ohne Zweifel. Aber für einen Irren bist du ziemlich ausgeglichen.«

Er stand neben ihr auf und bemerkte erneut, dass sie ihm kaum bis zu den Schultern reichte. »Magst du ausgeglichene Männer?«

Sie legte den Kopf schief, als würde sie nachdenken.

»Eigentlich finde ich die Verrückten interessanter.«

»Ist das eine persönliche oder berufliche Einstellung?«

»Ein bisschen von beidem, glaube ich.«

Ohne zu überlegen, ohne auch nur zu wissen, was er tun würde, legte Jamie ihr die Arme um die Taille, zog sie an sich und küsste sie.

Vijay verweilte ein paar atemlose Momente in seinen Armen, dann löste sie sich sanft von ihm.

»Ich finde, wir sollten nicht …«

»Bin ich dir etwa nicht verrückt genug?«

Sie trat einen Schritt von ihm zurück. »Das ist es nicht, Jamie. Es liegt nicht an dir, nicht daran, wer oder was du bist.

Es liegt an … an diesem Ort hier. Wir sind hundert Millionen Kilometer von zu Hause entfernt, verdammt noch mal. Was wir hier tun, was wir empfinden … das sind nicht wirklich wir. Es sind Einsamkeit und Angst.«

»Ich bin nicht einsam, und ich habe keine Angst«, sagte Jamie leise. »Mir gefällt es hier.«

»Dann bist du wirklich der Verrückteste von uns allen«, flüsterte Vijay. Sie drehte sich um und floh aus dem Kommunikationszentrum.

Jamie stand allein da und dachte: Unter ihren Scherzen und Späßen hat sie Angst. Sie hat Angst vor dem Mars. Sie hat Angst, dass ihre Empfindungen nicht echt sind, dass sie nur eine Reaktion auf unsere Anwesenheit hier sind.

Er fragte sich, ob sie Dex gegenüber wohl auch so empfand. Empfindet sie Dex gegenüber genauso?


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