ZWEITES BUCH. DIE ERSTEN EXKURSIONEN

Das Volk kam durch drei Welten herauf und ließ sich auf der vierten, der blauen Welt nieder. Es war von einer dieser Welten nach der anderen vertrieben worden, weil seine Angehörigen ständig miteinander im Streit lagen und Ehebruch begingen. Auf den früheren Welten hatte es keine anderen seinesgleichen gefunden, aber auf der blauen Welt fand es welche.

Das Volk vergaß seine früheren Welten und bewahrte sich nur die Sagen, die man sich von den Alten erzählte. Aber die anderen, die Fremden, sie blickten voller Staunen zu den anderen Welten. Sie wollten sie sehen, wollten auf ihnen herumlaufen. Sie wussten nicht, dass Cojote mit ihnen kommen und versuchen würde, sie allesamt zu vernichten.


ABEND: SOL 45

Was für eine langweilige Party, dachte Jamie. Aber was kann man schon erwarten, wenn einem zehn oder zwanzig Millionen Fremde dabei zusehen?

Am Mittag nach Ortszeit hatten sie den Rekord der ersten Expedition gebrochen, die Feier jedoch bis nach dem Abendessen verschoben. Dex hatte den Zeitpunkt für ihre

›Party‹ in Absprache mit den PR-Leuten in Tarawa und New York festgelegt – als ob er nicht schon genug zu tun hätte, schimpfte Jamie in sich hinein.

Dex hatte also nun die Virtual-Reality-Reservekameras wie ein zusätzliches Augenpaar am Kopf und die genoppten Datenhandschuhe an den Händen, während die acht Forscher mit Fruchtsaft, Kaffee und Tee feierlich auf den neuen marsianischen Ausdauerrekord anstießen.

In New York war es früher Nachmittag. Roger Newell saß hinter seinem breiten, ausladenden, tipptopp aufgeräumten Schreibtisch und nahm an der steifen kleinen Feier auf dem Mars teil. Seinen Informationen zufolge wurde sie zu über zehn Millionen VR-Geräten übertragen, aber sein Network würde in den Abendnachrichten Ausschnitte für all jene zeigen, die sich keinen solchen Apparat leisten konnten.

»Nicht mehr als eine Minute«, murmelte Newell im Innern des VR-Helms vor sich hin. »Höchstens dreißig Sekunden.« Himmelherrgott, was für ein Haufen von Amateuren, dachte er. Diese Wissenschaftler bringen es fertig, selbst eine Party langweilig wirken zu lassen.

»Und hier«, sagte Dex Trumball, »haben wir Dr. James Waterman, unseren Missionsleiter. Er war auch bei der ersten Expedition dabei.«

Als Dex so vor ihm stand und ihn mit diesem zusätzlichen elektronischen Augenpaar am Kopf anstarrte, hatte Jamie auf einmal das Gefühl, keinen Ton herausbringen zu können. Er hatte dem Programm, das Dex mit den PR-Leuten ausgearbeitet hatte, keine Aufmerksamkeit geschenkt.

Aber er wusste, dass er etwas sagen musste.

»Wir freuen uns sehr, hier auf dem Mars zu sein und mehr über diesen Planeten zu erfahren«, faselte er, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Unbewusst hob er den Becher, aus dem er getrunken hatte, und erklärte: »Natürlich gibt es bei uns keine alkoholischen Getränke, aber die Fruchtsäfte, die wir trinken, stammen aus unserem eigenen Garten. Sie sollten unseren Gästen den Garten zeigen, Dex.«

»Später«, erwiderte Dex und versuchte, seinen Ärger zu verbergen. »Aber erzählen Sie uns doch bitte zuerst, was für die nächsten Phasen der Expedition geplant ist.«

»Oh, Sie meinen den Flug zum Olympus Mons.«

»Ja, genau … und die Fernexkursion zur Sagan-Station.«

»Aber natürlich«, sagte Jamie, erleichtert, dass er etwas Konkretes hatte, worüber er sprechen konnte.

Darryl C. Trumball sah sich die Sendung auf dem flachen Wandbildschirm in seinem Büro an. Er hatte weder Zeit noch Lust, einen VR-Helm aufzusetzen und diese widerlichen Handschuhe überzustreifen.

Dex versucht, die verdammte Rothaut dazu zu bringen, das Publikum für die Bergung der Pathfinder-Sonde zu begeistern, aber dieser Indianer redet bloß über diesen blöden Vulkan!

Robert Sonnenfeld hatte die insgesamt achtzehn VirtualReality-Helme und Handschuhsätze erbettelt, geborgt und sogar mit seinem eigenen Geld bezahlt, damit seine ganze Klasse die Sendungen vom Mars miterleben konnte.

Jetzt hatten er und seine siebzehn faszinierten Middle-School-Schüler das Gefühl, als würden sie tatsächlich durch den überkuppelten Garten gehen, den die Forscher auf dem rostroten Sand des Mars angelegt hatten. Eine Engländerin führte sie herum und erklärte ihnen, was sie sahen.

»Das hier ist eine stark spezialisierte Version eines Systems namens Living-Machine. Es wurde in den Vereinigten Staaten entwickelt, um Brauchwasser zu reinigen und wieder Trinkwasser daraus zu machen.«

Trudy Hall blieb bei einem sehr großen Bottich voller dickem, schlammig-braunem Wasser stehen. »Dieser Prozess beginnt mit Bakterien«, erläuterte sie. »Sie bauen zunächst die Abfall- und Giftstoffe im Wasser ab …«

Fünfzehn Minuten später stand sie zwischen Reihen von Plastikkästen mit allerlei grünen Blattpflanzen darin.

»Im hiesigen Boden können wir keine Pflanzen züchten, weil er mit Peroxiden gesättigt ist«, erklärte Trudy. »Er hat eher Ähnlichkeit mit einem sehr starken Bleichmittel. Indem wir jedoch mit Hydrokulturen arbeiten – das heißt, unsere Pflanzen in Kästen anbauen, durch die wir nährstoffreiches Wasser leiten …«

Li Chengdu war fasziniert von der Führung. Als Missionsleiter der ersten Expedition war er im Orbit um den Mars geblieben und hatte nie einen Fuß auf den Boden des Roten Planeten gesetzt. Jetzt ging er durch einen von Menschenhand geschaffenen hydroponischen Garten, der unter einer Kunststoffkuppel angelegt worden war, einen Garten, der das Wasser der Expedition wieder aufbereitete und nicht nur sauberes Trinkwasser, sondern auch frische Nahrung lieferte. Erstaunlich. Er schlenderte virtuell neben Trudy Hall her, die langsam einen Gang zwischen Hydro-Kästen entlangging und nach links und rechts zeigte, während sie sprach.

»Und ab hier dient das Wasser dann zur Nährstoffversorgung unserer Gartengemüse. Sojabohnen, natürlich. Kopfsalat, Reismelde, Auberginen … und in den größeren Kästen da drüben sind die Melonen und Erdbeeren.«

Sie streckte die Hand aus und berührte ein leuchtend grünes Blatt. Li fühlte es in seinen beschuhten Fingern.

Endlich bin ich auf dem Mars, dachte er verwundert.

Jamie und die anderen hatten sich langsam zu den Tischen in der Messe begeben, nachdem Dex und Trudy in den Garten hinausgegangen waren. Jetzt, wo die Kameras nicht mehr auf sie gerichtet waren, saßen sie herum und fachsimpelten.

»Gut, dass die VR-Ausrüstung heute Abend funktioniert«, sagte Stacy Deschurowa. »Tarawa hat sich täglich darüber beklagt, dass sie kaputt ist.«

Tarawa, dachte Jamie, leitete nur das Gejaule des älteren Trumball in Boston weiter.

»Also, ich nehm sie nach Ares Vallis mit«, sagte Possum Craig, beide Hände um seinen Becher mit erkaltendem Kaffee gelegt. »Unterwegs bastle ich so lange dran rum, bis sie sich wieder anständig aufführt.«

»Viel Glück«, brummte Rodriguez.

Die Luftschleuse öffnete sich seufzend und Trudy und Dex kamen hereingeschlendert. Dex hatte die VR-Kameras abgenommen, wie Jamie sah.

»Okay«, verkündete er. »Wir haben das Provinzlerpack da unten echt vom Hocker gerissen. Trudy ist ein VR-Naturtalent. Ihr hättet sie sehen sollen.«

Hall lächelte höflich und machte einen winzigen Knicks.

»Demnächst starte ich eine Karriere im Showbusiness.«

Vijay entschuldigte sich, als Dex zum Spender ging und sich eine Tasse Kaffee einschenkte. Jamie fiel auf, dass er sich nicht erbot, Trudy etwas mitzubringen; sie saß am Tisch und schöpfte Atem, als hätte sie gerade einen Wettlauf hinter sich gebracht.

Als Dex zum Tisch zurückkam, sagte er, den Blick auf Jamie gerichtet: »Ihr wisst gar nicht, wie wichtig diese VR-

Übertragungen sind. Wir haben weit über zehn Millionen Zuschauer, die miterleben, was wir ihnen zeigen.«

»Mucho dinero«, sagte Rodriguez.

»Es geht nicht nur ums Geld«, fuhr Trumball auf. »Es geht um die Unterstützung. Diese Zuschauer haben das Gefühl, wirklich bei uns auf dem Mars gewesen zu sein. Sie werden uns unterstützen, wenn es um zukünftige Expeditionen geht. Sie werden sogar selber herkommen wollen.«

Bevor Jamie etwas erwidern konnte, kehrte Vijay mit strahlendem Lächeln und einem Halbliter-Plastikbehälter an den Tisch zurück.

»Was ich hier bei mir habe«, sagte sie und hielt den Behälter hoch, damit jeder ihn sehen konnte, »ist eine gewisse Menge medizinischer Alkohol. Nachdem die Kameras ja nun abgeschaltet und wir vor neugierigen Blicken sicher sind, wollen wir mal mit der richtigen Party loslegen!«


VORMITTAG: SOL 48

Ein bedeutsamer Vormittag, dachte Jamie. Der bedeutsamste, den der Mars seit unserer ersten Landung hier je gesehen hat.

»Es wird einsam hier sein«, sagte Stacy Deschurowa beim Frühstück mürrisch.

»Wir werden nicht so lange fortbleiben«, entgegnete Mitsuo Fuchida. »Nicht mal eine ganze Woche.«

»Und wir höchstens vier Wochen«, sagte Dex Trumball.

Zu Jamies Überraschung wirkte die russische Kosmonautin beinahe melancholisch. Normalerweise war Stacy immer gelassen und sachlich. »In der Kuppel wird es ziemlich ruhig werden«, sagte sie und schaute von Trumball zu Fuchida.

Dex grinste sie an. »Ja, aber wenn wir zurückkommen, haben wir die alte Pathfinder-Sonde dabei. Und den kleinen Sojourner-Wagen auch.«

Jamie bemerkte, dass der japanische Biologe sein Frühstücksmüsli bis auf den letzten Bissen verdrückt hatte. Dex'

Schüssel dagegen war trotz seiner gespielten Tapferkeit noch fast voll, als er sie wegschob.

Jamie hatte beschlossen, sie am selben Tag zu ihrer jeweiligen Exkursion aufbrechen zu lassen, sofern es Stacy gelang, den Treibstoffgenerator annähernd im richtigen Gebiet von Xanthe Terra zu landen; sonst war Dex' Reise von vornherein zum Scheitern verurteilt.

An diesem Vormittag stand also Folgendes auf dem Programm: erstens den Generator starten und sicher in Xanthe landen. Zweitens Dex und Possum auf die Reise schicken.

Drittens Fuchidas und Rodriguez' Abflug zum Olympus Mons organisieren.

Ein bedeutsamer Vormittag. Ein großer Tag. Insgeheim machte Jamie sich jedoch Sorgen, dass sie sich mehr vorgenommen hatten, als sie bewältigen konnten.

Das ist keine gute Planung, sagte er sich. Es gibt null Spielraum für Fehler. Es ist nicht klug, nicht sicher. Und unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten ist es auch kaum zu vertreten. Dex knapst vier Wochen von seiner Arbeitszeit und der von Possum ab … wofür? Um Geld zu machen.

Um Ruhm zu ernten.

Alle drängelten sich im Kommunikationszentrum, als Deschurowa die letzten Vorbereitungen zum Start des Generators traf. Alle außer Jamie, der seinen Anzug anlegte und durch die Luftschleuse hinausging, um den Start mit eigenen Augen zu verfolgen.

Er wusste, dass er die Sicherheitsvorschriften bis zum Zerreißen dehnte, aber er ging trotzdem allein zum Kamm des kleinen Höhenzugs, der vom Rand eines alten Kraters geformt wurde. Die Sicherheitsvorschriften sind zu restriktiv, gestand er sich ein. Früher oder später müssen wir sie überarbeiten.

Von seinem Aussichtspunkt aus sah er die Trägerrakete am Horizont stehen. Der Treibstoffgenerator saß darauf, wie immer. Possum, Dex und er hatten schwer geschuftet, um den Reserve-Wasseraufbereiter wieder an seinem ursprünglichen Platz in der Gerätebucht einzubauen.

Die Haupttanks der Trägerrakete waren mit flüssigem Methan und Sauerstoff gefüllt. Jamie konnte einen dünnen Faden weißen Dampfs von einem Ventil auf halber Höhe des zylindrischen Raketenrumpfs aufsteigen sehen, aber keine Spuren von Kondensationsreif an der Außenhaut des Tanks; dafür enthielt die marsianische Atmosphäre einfach nicht genug Feuchtigkeit.

In seinen Helmlautsprechern hörte er den automatischen Countdown: »Vier … drei … zwei … eins …«

Ein Lichtblitz schoss unten aus der Rakete, und sie war im Nu in eine schmutzige, rosa-graue Wolke aus Wasserdampf und Staub eingehüllt. Einen Herzschlag lang glaubte Jamie, sie sei explodiert, aber dann stieg die Trägerrakete durch die Wolke empor, und er hörte – selbst durch seinen Helm –

das heulende Brüllen der Triebwerke.

Immer höher, immer schneller stieg die Rakete in den hellen, wolkenlosen Himmel. Jamie beugte sich so weit zurück, wie es sein Raumanzug erlaubte, und sah, wie die Rakete am Himmel zu einem winzigen Fleck schrumpfte. Und dann war sie verschwunden.

Als er wieder durch die Luftschleuse hineingegangen war und seinen Anzug ausgezogen hatte, hörte er Jubelrufe und Freudengeschrei aus dem Kommunikationszentrum. Er ließ den Anzug liegen, um ihn später abzusaugen, und gesellte sich eilig zu den anderen.

»Weg ist sie«, sagte Deschurowa. Sie saß zusammengekauert vor dem Bildschirm, und die Hände mit den dicken Fingern schwebten über der Tastatur wie die einer Konzertpianisten, die gleich losspielen würde.

Aber sie berührte die Tasten nicht. Das war gar nicht nötig. Der Bildschirm zeigte eine Kurve der geplanten Abstiegsbahn der Rakete in Rot sowie eine Kurve ihres tatsächlichen Kurses in Grün. Die beiden Linien deckten sich nahezu vollständig.

»Der Wind ist steifer, als wir erwartet haben«, sagte Deschurowa. »Aber neh problemeh

Rodriguez, der hinter ihr saß, schaute so gespannt drein wie ein kleines Kind. Die anderen drängten sich hinter ihnen zusammen wie ein etwas zu kleines Football-Team.

»Fünfzehn Sekunden bis zum Touchdown«, rief Rodriguez aus.

»Sieht gut aus«, sagte Deschurowa angespannt.

»Sieht toll aus«, rief Possum Craig.

»Zehn … neun …«

»Ich hab's euch ja gesagt, da gibt's keine Felsbrocken«, meinte Dex Trumball zu niemand Bestimmtem.

Jamie sah Vijay neben Dex stehen; seine Hand lag in ihrem Kreuz. Er merkte, wie seine Nasenflügel vor kaum unterdrücktem Zorn bebten.


»Vier … drei … zwei … Touchdown!«, verkündete Rodriguez.

»Sie ist gelandet. Wohlbehalten und sicher«, sagte Deschurowa, wirbelte auf ihrem Stuhl herum und nahm mit schwungvoller Geste den Kopfhörer ab.

»Wir sind startklar für die Fahrt zur Sagan-Station«, krähte Dex, vor Zufriedenheit strahlend.

»Erst, wenn wir den Treibstoffgenerator durchgecheckt haben, Partner«, warnte Craig. »Der Kasten muss schon pikobello in Schuss sein, bevor wir so 'ne weite Reise antreten.«

»Ja, klar«, erwiderte Dex, aber sein triumphierendes Grinsen wurde nur eine Spur schwächer.

Binnen einer Stunde hatten sie sämtliche Daten, die sie benötigten. Der Bohrer des Wasseraufbereiters war auf Permafrost gestoßen, und der Treibstoffgenerator funktionierte, als wäre er nie bewegt worden; er füllte bereits die Treibstofftanks der Trägerrakete auf.

Trumball und Craig stiegen in ihre Anzüge. Jamie und Vijay überprüften sie: Jamie kümmerte sich um Possum, Vijay um Dex.

»Hoffentlich kriegen wir das VR-Gerät wieder hin«, sagte Dex, während er den Helm vom Bord hob. Selbst in dem klobigen Anzug strahlte er Erregung aus; er zitterte geradezu wie ein Kind an Heiligabend.

»Tja, jetzt hab ich endlich mal Zeit, es richtig aus'nanderzunehmen und nachzuschauen, was, zum Teufel, mit dem Ding los is«, meinte Craig.

Jamie half ihm, das Tornistergerät anzulegen. Craig trat zurück, und Jamie ließ die Verschlüsse einrasten. Dann trat Possum von dem Gestell weg, an dem das Tornistergerät gehangen hatte.

»Stromanschlüsse okay?«, fragte Jamie.

Craig spähte auf das Displayfeld an seinem rechten Handgelenk. »Alles grün«, meldete er.

»Gut.« Jamie steckte den Luftschlauch in Craigs Halsring.


»Alles klar für den Funkcheck«, sagte Vijay zu Trumball.

Dex zog sein Visier herunter und verriegelte es. Jamie hörte seine gedämpfte Stimme, als er Stacy Deschurowa rief, die wie üblich im Kommunikationszentrum Dienst tat.

Kurz darauf schob er das Visier wieder hoch und reckte den Daumen in die Höhe.

»Funk ist okay.«

Craig brauchte noch ein paar Minuten, um seinen Anzug zu verschließen und sein Funkgerät zu testen. Trumball marschierte ruhelos auf und ab. In dem Anzug mit den dicksohligen Stiefeln kam er Jamie vor wie Frankensteins Monster, das ungeduldig auf den Bus wartete.

»Wir sind so weit«, sagte Dex, sobald Craigs Funkcheck abgeschlossen war. Er drehte sich zur Luftschleuse um.

»Moment noch«, sagte Jamie.

Trumball blieb stehen, drehte sich jedoch nicht wieder zu Jamie um. Craig schon.

»Ich weiß, dass ihr den Rover von A bis Z durchgecheckt habt«, sagte Jamie, »aber bitte denkt daran, dass er ein altes Gefährt ist und sechs Jahre draußen in der Kälte gestanden hat.«

»Das wissen wir«, sagte Trumball zur Schleusenluke.

»Ich will, dass ihr beim ersten Anzeichen von Problemen umkehrt«, befahl Jamie. »Ist das klar? Die Fahrzeuge, die ihr bergen wollt, sind kein Menschenleben wert, ganz gleich, wie viel Geld sie auf der Erde einbringen könnten.«

»Klar«, sagte Dex ungeduldig.

»Keine Sorge, ich bin kein Held«, setzte Craig hinzu.

Jamie holte tief Luft. »Possum, ich übertrage dir das Kommando bei dieser Expedition. Du bist der Boss. Dex, du befolgst jederzeit seine Anweisungen. Verstanden?«

Jetzt drehte Trumball sich in dem klobigen Raumanzug langsam und schwerfällig zu Jamie um.

»Was soll der Quatsch?« Seine Stimme war leise und ruhig.

»Befehlshierarchie, Dex. Possum ist älter und hat erheblich mehr praktische Erfahrung als wir beide. Er hat die Leitung. Immer, wenn ihr beide nicht einer Meinung seid, hat Possum das Sagen.«

Auf Trumballs Gesicht zeichneten sich im Bruchteil eines Moments alle möglichen Gefühle ab. Jamie wartete auf die Explosion.

Aber dann setzte Dex ein jungenhaftes Grinsen auf.

»Okay, Häuptling. Possum ist der Medizinmann und ich bin bloß ein niedriger Krieger. Ich kann damit leben.«

»Gut«, sagte Jamie und verbarg vor Trumball, wie sehr ihm dessen spöttische Anspielungen auf seine Navajo-Herkunft zuwider waren.

Trumball zeigte mit einer beschuhten Hand auf die Schleuse und sagte zu Craig: »Okay, Boss, dann solltest du wohl als Erster durch die Luftschleuse gehen.«

Craig warf Jamie einen Blick zu, zog dann sein Visier herunter und stampfte zur Luke.

Vijay sagte: »Alles Gute.«

»Wird schon schief gehen«, antwortete Trumball. Craig winkte stumm, während er über die Schwelle der offenen Luke stieg.

Die drei standen in unbehaglichem Schweigen da, während die Pumpen der Luftschleuse arbeiteten. Als das Licht an der Tafel wieder auf Grün sprang, öffnete Trumball die Luke und ging hinein.

Bevor er sie jedoch schloss, drehte er sich zu Jamie und Vijay um.

»Übrigens, Jamie, ich hatte keine Gelegenheit mehr, mich von meinem Vater zu verabschieden. Würdest du ihn wohl anrufen und ihm sagen, dass ich unterwegs bin?«

»Natürlich«, sagte Jamie, verblüfft von Trumballs freundlichem, vernünftigem Ton.

Die Luke glitt zu. Jamie machte sich auf den Weg zum Kommunikationszentrum. Shektar ging neben ihm her.

»War das unbedingt nötig?«, fragte sie.

»Was?«


»Ihn zu demütigen.«

»Zu demütigen?« Jamie verspürte einen Stich, aber es war nicht Überraschung. Es war Enttäuschung, dass Vijay seine Entscheidung so sah.

»Du hast ihn Possum offiziell unterstellt«, fuhr sie fort.

»Damit setzt du ihn herab.«

Während sie an den Trennwänden zwischen den Schlafkabinen des Teams entlanggingen, sagte Jamie: »Das war kein Affront gegen Dex, sondern Unterstützung für Possum.«

»Wirklich?«

»Dex würde bei jeder Meinungsverschiedenheit versuchen, Possum zu überrollen. So ist Possum am Drücker und kann die endgültigen Entscheidungen treffen. Das könnte beiden das Leben retten.«

»Wirklich?«, fragte sie erneut.

»Ja, wirklich.«

Er blickte auf sie hinab. Aus ihrer Miene sprach eine Menge Ungläubigkeit.

Als sie das Kommunikationszentrum erreichten, waren Craig und Trumball bereits in den Rover gestiegen und hatten den Stromgenerator angeworfen.

»Der Boss lässt mich fahren«, rief Dex. Seine Funkstimme quoll über vor gespielter Freude. »Juhu, juhu!«

Stacy Deschurowa ging die Rover-Checkliste mit ihm durch und gab ihnen dann die Starterlaubnis.

»Wir sind unterwegs zum Zauberer von Oz«, sagte Dex.

»In zirka einem Monat sind wir wieder da.«

»Eher«, setzte Craigs Stimme hinzu.

»Eher wäre besser«, sagte Rodriguez, der neben Deschurowa saß, in sein Lippenmikro. »In vier Wochen ist Thanksgiving.«

»Bewahrt mir 'ne Keule auf«, sagte Dex.

Auf Deschurowas Bildschirm sah Jamie, wie der Rover vibrierend zum Leben erwachte und sich dann schwankend in Bewegung setzte. Er rollte zuerst langsam vorwärts, schlug dann einen Viertelkreis und fuhr Richtung Osten davon.

»Oh, Jamie«, rief Trumball, während sie zum Horizont rumpelten, »bitte vergiss nicht, meinen Vater anzurufen, okay?«

»Du kannst ihn selbst anrufen, jetzt sofort«, erwiderte Jamie.

»Nein, ich will mich aufs Fahren konzentrieren. Tu du's für mich, hm? Bitte.«

»Sicher«, sagte Jamie. »Ich schicke ihm sofort eine Nachricht.«

»Besten Dank, Chief.«


NACHMITTAG: SOL 48

Jamie ging in seine Unterkunft und schickte eine kurze Botschaft zur Erde, in der er Darryl C. Trumball mitteilte, sein Sohn sei auf dem Weg zum Ares Vallis und wolle ihn wissen lassen, dass alles gut laufe.

Als er vom Bildschirm seines Laptops aufblickte, sah er Stacy Deschurowa in der offenen Tür. Sie schaute noch mürrischer drein als beim Frühstück; ihre Miene wirkte beinahe gequält.

»Was ist los, Stacy?«

Die Kosmonautin betrat Jamies Kabine, nahm jedoch nicht auf dem leeren Schreibtischstuhl Platz. Sie blieb stehen.

Mit einem Kopfschütteln, bei dem ihre Haare hin und her flogen, antwortete sie: »Ich kann mir nicht helfen, ich finde, ich sollte bei den beiden im Rover sein.«

Jamie fuhr seinen Computer herunter und schloss den Deckel. »Stacy, das haben wir doch schon ein paar hundert Mal durchexerziert. Du kannst nicht überall sein.«

»Die Sicherheitsvorschriften besagen, dass bei jeder Exkursion ein Astronaut dabei sein muss.«

»Ich weiß, aber Dex' Treck ist ein zusätzlicher Programmpunkt, der nicht eingeplant war.«

»Trotzdem …«

»Setz dich«, sagte Jamie und zeigte auf den Stuhl. Er kam sich sofort albern vor; es gab nur diesen einen in der Kabine.

Sie ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, wie eine müde alte Frau, und Jamie beugte sich vom Rand seiner Liege aus zu ihr vor. »Wir haben einfach nicht genug Leute, um dich mitzuschicken. Das weißt du.«

»Ja.«

»Und Possum ist ja schließlich auch ziemlich gut – für jemanden, der kein Astronaut ist.«


»Ja«, sagte sie erneut.

»Den beiden wird schon nichts passieren.«

»Aber wenn doch«, sagte sie, »dann werde ich mich dafür verantwortlich fühlen. Es ist mein Job, die Wissenschaftler zu begleiten und dafür zu sorgen, dass sie nicht ums Leben kommen.«

Jamie setzte sich aufrechter hin. »Wenn etwas passiert, trage ich die Verantwortung, nicht du. Ich habe die Entscheidung getroffen, Stacy.«

»Ich weiß, aber …« Sie verstummte.

»Hör zu: Tomas muss Mitsuo begleiten, da kommen wir nicht drum herum. Dich brauchen wir hier in der Basis.

Und andere Astronauten haben wir nun mal nicht! Was erwartest du denn von mir, soll ich dich vielleicht klonen?«

Ein mattes Grinsen legte sich auf ihre verdrossene Miene.

»Ich verstehe. Aber es gefällt mir nicht.«

»Sie werden schon heil und gesund wiederkommen. Possum ist kein Draufgänger.«

»Da hast du wohl Recht.«

»Wie macht sich Tomas?«

Das Grinsen verblasste. »Er hat eine ordentliche Portion zu Mittag gegessen. Er macht sich keine Sorgen wegen des Fluges.«

Jamie stellte fest, dass er das Mittagessen ausgelassen hatte. »Ich nehme an, er freut sich schon.«

»Ich würde mich jedenfalls freuen.«

Liegt es daran?, fragte sich Jamie. Ist sie sauer, weil Tomas zum Olympus fliegt und nicht sie? Aber sie hat gewusst, dass es so laufen würde. Himmel noch mal, diese Entscheidung haben wir schon getroffen, bevor wir nach Tarawa gefahren sind.

In den letzten drei Wochen hatte Rodriguez Testflüge mit dem Raketenflugzeug gemacht. Seine Spritztouren hatten mit einem einfachen Kreis um ihr Basislager begonnen und sich allmählich bis zum Olympus Mons und wieder zurück ausgedehnt. Stacy hatte kein einziges Mal darum gebeten, das Flugzeug fliegen zu dürfen. Sie hatte sich nie anmerken lassen, dass sie unglücklich darüber war, weil Tomas der Pilot sein würde, während sie die Kommunikationskonsole hier in der Basis ›flog‹.

Jetzt zeigte sie jedoch, wie unglücklich es sie machte.

Astronauten sind Flieger, dachte Jamie. Sie ist Pilotin, aber sie darf nicht fliegen. Er erinnerte sich daran, wie er sich gefühlt hatte, als er den Eindruck gehabt hatte, bei der Auswahl für die Expedition zum Mars übergangen zu werden.

Er beugte sich näher zu ihr. »Stacy, die Navajos lehren, dass jeder Mensch den richtigen Weg für sein Leben finden muss. Tut mir Leid, dass dein Weg dich auf dem Boden festhält, während Tomas fliegen darf. Aber es wird andere Flüge geben, andere Missionen. Du kommst noch in die Luft, bevor wir den Mars verlassen, das versprechen ich dir.«

Ihr Gesicht hellte sich nur ein wenig auf. »Ich weiß. Ich bin egoistisch. Aber trotzdem … verdammt! Ich wünschte, ich dürfte fliegen.«

»Du bist für uns im Moment zu wichtig, als dass wir dich auf einer Exkursion riskieren könnten. Wir brauchen dich hier, Stacy. Ich brauche dich hier.«

Deschurowa blinzelte überrascht. »Du?«

»Ja, ich.«

»So habe ich das nicht gesehen.«

»Finde den richtigen Weg, Stacy. Finde das Gleichgewicht, das Schönheit ins Leben bringt.«

»So machen es die Navajos, hm?«

»So funktioniert das.«

Sie wandte den Blick ab.

»Na schön«, sagte er und stand auf. »Dex und Possum sind unterwegs, und Tomas und Mitsuo müssten jetzt gerade in ihre Anzüge steigen, stimmt's?«

»Stimmt.« Sie stand ebenfalls auf.

Jamie schaute in ihre himmelblauen Augen und setzte ihr zuliebe ein Lächeln auf. »Es ist ja nicht so, als hättest du hier nichts zu tun«, sagte er.

Stacy zwang sich, sein Lächeln zu erwidern. »Ja. Du hast Recht.«

Sie ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal um.

»Ich wünschte einfach, ich wäre dort, wo was los ist.«

»Was du hier tust, ist außerordentlich wichtig«, gab Jamie zurück. »So ziemlich alles hängt von dir ab, Stacy.«

»Ja. Natürlich.«

Sie drehte sich um und verließ seine Kabine. Jamie stand einen Moment lang da und dachte, dass ihre Augen nur auf der Erde himmelblau waren. Der Marshimmel war fast immer in Schattierungen von Orangebraun gefärbt.


DOSSIER:

AANASTASIA ESCHUROWA

Die Amerikaner nannten sie Stacy. Der Kosename ihres Vaters für sie lautete Nastasia.

Ihr Vater war Raketentechniker, ein hart arbeitender, nüchterner, humorloser Mann, dessen Arbeit ihn oftmals für lange Monate von ihrer Moskauer Wohnung wegführte.

Meistens reiste er zu der riesigen Startanlage in der eintönigen, staubbraunen Wüste von Kasachstan und kam dann müde und griesgrämig, aber immer mit einer Puppe oder einem anderen Geschenk für seine kleine Tochter nach Hause zurück. Nastasia war die einzige Freude in seinem Leben.

Anastasias Mutter war Konzertcellistin im Moskauer Sinfonieorchester, eine heitere, intelligente Frau, die schon sehr früh in ihrer Ehe lernte, dass sich das Leben angenehmer gestaltete, wenn ihr Mann tausend Kilometer weit weg war. Dann konnte sie Parties geben, und die Wohnung hallte von Gelächter und Musik wider. Oftmals blieb einer der Männer die ganze Nacht.

Als Nastasia größer wurde und immer mehr mitbekam und verstand, ließ ihre Mutter sie schwören, dass sie nichts verraten würde. »Wir wollen deinem Vater doch nicht wehtun«, erklärte sie ihrer zehnjährigen Tochter. Später, als Nastasia ein Teenager war, pflegte ihre Mutter zu sagen: »Und du glaubst wirklich, er ist mir all die Monate treu, wenn er weg ist? So sind die Männer nicht.«

Auf der höheren Schule fand Nastasia heraus, wie die Männer waren. Einer ihrer Mitschüler lud sie zu einer Party ein. Auf dem Heimweg hielt er den Wagen an (er gehörte seinem Vater) und wurde zudringlich. Als Nastasia sich wehrte, zerriss er ihr die Kleider und vergewaltigte sie. Ihre Mutter weinte mit ihr und rief dann die Polizei. Die Ermittler gaben Nastasia das Gefühl, sie hätte das Verbrechen begangen und nicht der Junge. Der Vergewaltiger ging straflos aus, und sie war gebrandmarkt. Selbst ihr Vater stellte sich gegen sie; er sagte, sie habe dem Jungen offenbar den Eindruck vermittelt, sie sei leicht zu haben.

Als sie einen Studienplatz an der technischen Universität in Novosibirk bekam, verließ sie Moskau bereitwillig und mit Freuden und vergrub sich in ihrem Studium. Sie vermied jeden Umgang mit Männern und stellte fest, dass sie bei anderen Frauen Liebe, Wärme und Geborgenheit fand. Sie stellte auch fest, dass sie sehr intelligent und sehr tüchtig war. Es bereitete ihr große Freude, Männer auf Gebieten zu schlagen, auf denen sie sich für überlegen hielten.

Sie lernte fliegen und wurde anschließend Kosmonautin; und nicht nur das, sie wurde die erste Kosmonautin, die ein Orbitalteam von zwölf Männern kommandierte; die erste Kosmonautin, die einen neuen Ausdauerrekord für den Aufenthalt an Bord einer Raumstation aufstellte; die erste Kosmonautin, die zum Mars flog.


NACHMITTAG: SOL 48

Es hatte eine zusätzliche Trägerrakete erforderlich gemacht, das Flugzeug und seine Ersatzteile zum Mars mitzunehmen. Die unbemannten Schwebegleiter waren klein und leicht, kaum mehr als Segelflugzeuge mit Solarmotoren, die sie vom Boden abheben ließen und auf eine Höhe brachten, in der sie sich von den Luftströmungen des Mars tragen lassen konnten. Das bemannte Flugzeug musste grö

ßer sein. Es musste Platz für zwei zerbrechliche Menschen und deren Lebenserhaltungssysteme bieten. Es musste genug Vorräte transportieren, um sie mehrere Tage am Leben zu erhalten. Es musste in unebenem Gelände starten und landen können. Und es musste genug Treibstoff und Sauerstoff mitnehmen können, um sie zum Olympus Mons und wieder zurück zu bringen, ohne zwischendurch aufzutanken.

»Das Ding ist ein fliegender Tanklaster«, witzelte Rodriguez mehr als einmal, während er das Flugzeug testete, seine Leistung prüfte und sich mit seinen Eigenarten vertraut machte. »Fliegt sich auch wie ein Tanklaster.«

Sie hatten mehrere Tage gebraucht, um eine Start- und Landebahn für das Flugzeug zu räumen und zu planieren.

Die beiden kleinen Traktoren der Expedition, die darauf programmiert waren, unter Aufsicht aus der Kuppel selbsttätig zu arbeiten, schoben Felsen beiseite und ebneten kleinere Sanddünen ein, bis die Ingenieure auf der Erde mit der provisorischen Piste zufrieden waren. Der Landeplatz auf dem Olympus Mons würde nicht so eben sein, obwohl die Videos und Fotos, die der Schwebegleiter bei einem Dutzend Erkundungsflüge aus der Nähe aufgenommenen hatte, ausgedehnte Gebiete auf dem höchsten Berg des Sonnensystems zeigten, die so eben und frei von Hindernissen zu sein schienen, dass sie als Landeplatz dienen konnten.

Der ungeklärte Absturz eines der unbemannten Gleiter hatte Fuchidas Exkursion verzögert. Deschurowa, Rodriguez und die Missionsleiter in Tarawa versuchten eine Woche lang herauszufinden, warum der Schwebegleiter verschwunden war. Während der nächsten drei Wochen schickten sie die anderen beiden unbemannten Gleiter täglich zum Olympus Mons, ließen sie dieselbe Route fliegen wie den vermissten Gleiter und suchten nach Wrackteilen, Hinweisen, Erklärungen.

Endlich kam Jamie zu dem Schluss, dass es ihnen nicht gelingen würde, die Ursache für den Absturz des Gleiters zu eruieren. Entweder mussten sie Fuchidas Mission komplett streichen oder ihn trotz des Unglücks fliegen lassen.

Jamie entschied sich für die Exkursion. Nach einem mehrtägigen, hektischen Meinungsaustausch mit Tarawa und Boston wurde seine Entscheidung bestätigt. Die endgültige Entscheidung über die Landung auf dem Vulkan würde allein bei Rodriguez liegen. Falls ihn diese Verantwortung nervös machte oder mit Sorge erfüllte, so ließ er es sich nicht anmerken. Als er und Fuchida in ihre Anzüge stiegen, wirkte er so glücklich wie ein junger Hund, der auf einem alten Strumpf herumkauen konnte.

»Ich werde ins Guinness-Buch der Rekorde kommen«, erklärte er Jamie fröhlich, als dieser ihm beim Anlegen des Anzugs half. Trudy Hall assistierte Fuchida, während Stacy Deschurowa im Kommunikationszentrum saß und die Systeme der Kuppel sowie die Ausrüstung draußen überwachte. Jamie hatte keine Ahnung, wo Vijay war, wahrscheinlich in ihrem Krankenrevier.

»Landung und Start mit einem Flugzeug vom höchstgelegenen Punkt«, quasselte Rodriguez munter, während er seine Finger in die Handschuhe des Anzugs fädelte.

»Längster Flug mit einem bemannten Flugzeug mit Solarantrieb. Größte Höhe für ein bemanntes Flugzeug mit Solarantrieb. Ich könnte sogar den Rekord für den unbemannten Flug mit Solarantrieb brechen.«

»Ist es nicht unfair, einen Flug auf dem Mars mit Flügen auf der Erde zu vergleichen?«, fragte Trudy, während sie Fuchida half, den Lebenserhaltungstornister auf dem Rücken seines Raumanzugs zu befestigen.

Rodriguez schüttelte entschieden den Kopf. »Das Einzige, was in den Rekordbüchern zählt, sind die Zahlen, chica. Nur die Zahlen.«

»Werden sie nicht ein Sternchen neben die Zahlen setzen und eine Fußnote anfügen, in der steht: ›Das war auf dem Mars‹?«

Rodriguez versuchte, die Achseln zu zucken, aber nicht einmal er schaffte das in dem hartschaligen Anzug. »Wen interessiert's, solange sie meinen Namen richtig schreiben?«

Jamie fiel auf, dass Fuchida während der Ankleideprozedur kein Wort gesagt hatte. Tomas redet genug für beide, dachte er. Aber er fragte sich, ob Mitsuo sich Sorgen machte oder nervös war. Er wirkt ganz ruhig, aber vielleicht ist das nur eine Maske. Und überhaupt, so wie Tomas plappert, muss er dermaßen aufgedreht sein, als würde er gleich abheben – na ja, das tut er ja auch. Rodriguez quasselte in einem fort, wie ein Vertreter mit Maschinengewehr-Mundwerk. Jamie fragte sich, ob es die Anspannung war oder die Erleichterung darüber, auf sich selbst gestellt zu sein und das Sagen zu haben. Vielleicht war der Bursche aber auch einfach überglücklich über die Aussicht, fliegen zu dürfen, dachte Jamie.

Schließlich steckten beide Männer in ihren Anzügen, die Helmvisiere waren geschlossen, die Lebenserhaltungssysteme funktionierten und die Funkchecks waren beendet. Jamie und Trudy gingen mit ihnen zur Luftschleuse: zwei Erdenmenschen, die zwei schwerfällige Roboter begleiteten.

Jamie gab Rodriguez die Hand. Mit seinen bloßen Fingern kam er kaum um den Handschuh des Astronauten mit den servogesteuerten Exoskelett-›Knochen‹ auf dem Handrücken herum.


»Alles Gute, Tomas«, sagte er. »Geh da draußen keine unnötigen Risiken ein.«

Rodriguez grinste hinter seiner Sichtscheibe. »He, du weißt doch, wie es heißt: Es gibt alte Piloten und tollkühne Piloten, aber keine alten, tollkühnen Piloten.«

Jamie schmunzelte höflich. »Denk daran, wenn du da draußen bist«, sagte er.

»Mach ich, Boss. Keine Angst.«

Fuchida trat an die Luke, sobald Rodriguez hindurchgegangen war. Selbst in dem klobigen Anzug und mit der spatzenartigen Trudy Hall an seiner Seite wirkte er klein und irgendwie verletzlich.

»Alles Gute, Mitsuo«, sagte Jamie.

Der geschlossene Helm dämpfte Fuchidas Stimme, aber sie klang furchtlos. »Ich glaube, mein größtes Problem ist, dass ich mir auf dem ganzen Weg bis zum Berg Tommys Geplapper anhören muss.«

Jamie lachte.

»Und auf dem Rückweg wahrscheinlich auch«, setzte Fuchida hinzu.

Das Anzeigelämpchen sprang auf Grün, und Trudy drückte auf den Knopf, der die Innenluke öffnete. Fuchida ging mit seiner tragbaren Lebenserhaltungstasche in einer Hand hindurch.

»Sag Vijay, sie soll gut auf den Garten aufpassen«, rief er, als die Luke zuglitt. »Die Rüben brauchen viel Pflege.«

Es ist alles in Ordnung mit ihm, sagte sich Jamie. Er hat keine Angst, er macht sich nicht mal Sorgen.

Sobald sie auf die nebeneinander liegenden Sitze des Flugzeugs geklettert waren und sich an dessen interne Strom- und Lebenserhaltungssysteme angeschlossen hatten, veränderten sich beide Männer.

Rodriguez wurde sachlich und nüchtern. Kein Geplapper mehr. Er überprüfte die Flugzeugsysteme mit ein paar stenographischen Worten der Fliegerfachsprache an Stacy Deschurowa, die als Flugkontrolleurin fungierte.


Fuchida wiederum hämmerte der Puls so laut in den Ohren, dass er sich fragte, ob das Funkgerät in seinem Anzug es aufnahm. Die Kurven auf den medizinischen Monitoren mussten jedenfalls fast schon im roten Bereich sein, so sehr raste sein Herz.

Jamie, Vijay und Trudy Hall drängten sich um den Bildschirm auf dem Pult im Kommunikationszentrum, um über Deschurowas Schulter hinweg den Start zu verfolgen.

Als Flugplatz ließ die Basis viel zu wünschen übrig. Die provisorische Start- und Landebahn war nicht ganz zwei Kilometer lang. Eine Rollbahn gab es nicht; Rodriguez und ein Helfer – oftmals Jamie – drehten das Flugzeug nach der Landung einfach um, sodass es die Piste wieder vor der Nase hatte. Einen Windsack gab es ebenfalls nicht. Die Atmosphäre war so dünn, dass die Windrichtung beim Start kaum eine Rolle spielte. Die Raketentriebwerke brachten das Flugzeug in die Luft und auf die erforderliche Geschwindigkeit, damit die Tragflächen genug Auftrieb für den Flug erzeugten.

Jamie fühlte ein dumpfes Pochen in seinem Kiefer, als er sich über Deschurowa beugte und die letzten Momente vor dem Start mit ansah. Mit einer bewussten Anstrengung löste er die zusammengebissenen Zähne.

Das hier bereitet dir größere Sorgen als der Start des Generators, sagte er sich. Und wusste sofort, warum. In dem Flugzeug saßen zwei Menschen. Wenn etwas schief ging, wenn sie abstürzten, würden sie alle beide ums Leben kommen.

»Startfreigabe erteilt«, sprach Deschurowa mechanisch in ihr Lippenmikro.

»Verstanden, Startfreigabe«, sagte Rodriguez' Stimme aus den Lautsprechern.

Stacy schaute ein letztes Mal auf die Bildschirme um sie herum, dann sagte sie: »Klar zur Zündung.«

»Zündung.«

Auf einmal schoss eine tosende Stichflamme aus den beiden Raketentriebwerken unter den Flügelwurzeln, und das Flugzeug setzte sich abrupt in Bewegung. Während es, verfolgt von der Kamera, über die Start- und Landbahn holperte und dabei immer schneller wurde, schienen die langen, herabhängenden Tragflächen sich zu versteifen und auszustrecken.

»Komm schon, Baby«, sagte Deschurowa leise.

Jamie sah alles wie in Zeitlupe geschehen: Das Flugzeug rollte die Piste entlang, der Abgasstrahl der Triebwerke wurde so heiß, dass die Flamme unsichtbar wurde, Staub-und Sandwolken wallten hinter dem Flugzeug auf, als es immer schneller, immer schneller die Piste entlangraste. Die Nase hob sich.

»Sieht gut aus«, flüsterte Deschurowa.

Das Flugzeug hob rasant ab, schoss wie ein Pfeil in den makellosen Himmel und ließ eine wogende Wolke aus Staub und Dunst zurück, die sich auf ganzer Länge der Piste langsam auflöste. Für Jamie sah es so aus, als wollte die Wolke nach dem Flugzeug greifen und es wieder zu Boden ziehen.

Doch nun war das Flugzeug kaum mehr als ein Fleck am hellen, orangefarbenen Himmel.

Rodriguez' Stimme kam knisternd aus den Lautsprechern.

»Nächste Haltestelle: Mount Olympus.«


OLYMPUS MONS

Der höchste Berg im Sonnensystem ist ein massiver Schildvulkan, der seit mehreren zehn oder vielleicht sogar hundert Millionen Jahren untätig ist.

Früher einmal stellten seine gewaltigen Lavaströme jedoch alles andere auf dem Planeten in den Schatten. Mit der Zeit entstand durch sie ein Berg, der dreimal so hoch ist wie der Mount Everest und eine Sohlfläche von der Größe Iowas hat. Die Ränder dieser Sohlfläche sind zerklüftete, über einen Kilometer hohe Felswände aus Basalt. Der Gipfel des Berges, wo riesige Calderen die Schlote kennzeichnen, die einst geschmolzenes Gestein spien, liegt etwa siebenundzwanzig Kilometer über der Ebene, auf der er ruht: 27

000 Meter. Zum Vergleich: Der Mount Everest ist 8848 Meter hoch.

Olympus Mons ist so hoch, dass sein Gipfel auf der Erde weit über die Troposphäre – die unterste Luftschicht, in der sich die Wettervorgänge abspielen – und beinahe auch noch über die gesamte Stratosphäre hinausragen würde. Auf dem Mars ist die Atmosphäre jedoch so dünn, dass der Luftdruck auf dem Gipfel von Olympus Mons nur zehn Prozent niedriger ist als am Boden.

Das Kohlendioxid, der Hauptbestandteil der Marsatmosphäre, kann in dieser Höhe ausfrieren, auf dem kalten, nackten Gestein kondensieren und es mit einer dünnen, unsichtbaren Trockeneisschicht überziehen.


NACHMITTAG: SOL 48

»Na, wie findest du's, uns alle drei für dich allein zu haben?«, fragte Vijay.

Jamie und die drei Frauen hatten sich gerade zu einem späten Mittagessen hingesetzt. Rodriguez und Fuchida würden in weniger als einer Stunde auf dem Olympus Mons landen. Trumball und Craig hatten vor ein paar Minuten berichtet, dass sie ohne Probleme Richtung Xanthe rollten.

Vijay hatte bei diesen Worten ein teuflisches Grinsen im Gesicht. Jamies Augenbrauen zogen sich zu einem leichten Stirnrunzeln zusammen.

»Ja«, fügte Trudy Hall hinzu. »Du hast die anderen Männer sehr geschickt aus dem Weg geräumt, nicht?«

Um seine Verlegenheit zu verbergen, wandte sich Jamie an Deschurowa. »Hast du nicht auch noch was dazu beizusteuern, Stacy?«

Stacy mampfte bereits ein eilig zusammengestoppeltes Sandwich. Sie kaute nachdenklich, schluckte und sagte dann: »Wie heißt das amerikanische Wort dafür? Kinky?«

Alle drei Frauen lachten; Jamie brachte ein gezwungenes Lächeln zustande und konzentrierte sich dann auf seinen Teller mit Pasta aus der Mikrowelle und Tofu-Kräutersalat.

Er war dankbar, als die Frauen miteinander über das Essen, den Geschmack des aufbereiteten Wassers und die Tatsache zu reden begannen, dass die Waschmaschine mit integriertem Trockner ihre Sachen ausbleichte. Sie trugen alle den üblichen Overall, aber Jamie fiel auf, dass jede von ihnen ihre Kleidung individualisiert hatte: Deschurowa hatte schicke russische Logos aus ihrer Zeit als Astronautin in Staatsdiensten auf ihre Brusttaschen genäht; Hall steckte sich immer glitzernden Modeschmuck an; Shektar fügte ein buntes Halstuch oder eine farbenfrohe Schärpe um die Taille hinzu.

»Wir sollten es mal mit dem Kleiderreinigungssystem der Mondbasis probieren«, sagte Deschurowa. »Das ist viel schonender fürs Material.«

»Davon hab ich gehört«, sagte Trudy. »Die bringen die Kleider einfach nach draußen, nicht?«

Stacy nickte eifrig. »Ja. Im Vakuum auf dem Mond blättert der Schmutz einfach ab. Und das ungefilterte ultraviolette Licht der Sonne sterilisiert alles.«

»Wir haben kein Vakuum draußen«, wandte Vijay ein.

»Aber beinahe«, entgegnete Stacy.

»Und jede Menge UV-Licht«, sagte Trudy.

»Was meinst du, Vijay?«, drängte Stacy. »Ist doch einen Versuch wert, nicht?«

»Wir bräuchten irgendeinen Behälter, oder? Man hängt die Sachen ja wohl nicht einfach auf die Leine.«

»Könnten wir aber tun, glaube ich«, sagte Trudy.

»In der Mondbasis packen sie die Kleider in einen großen Drahtkorb und lassen ihn auf einem Gleis hin und her fahren, das sie gebaut haben«, erklärte Stacy. »Der Korb dreht sich, wie die Trommel in einer Waschmaschine.«

»So was haben wir hier nicht.«

»Ich könnte eins bauen«, sagte Stacy zuversichtlich.

»Müsste ganz einfach sein.«

»Glaubst du wirklich?«

Sie nickte ernst. »Possum ist hier nicht der Einzige mit geschickten Händen.«

»Was meinst du, Jamie?«, fragte Vijay.

Dankbar dafür, dass sie ihn nicht mehr aufzogen, antwortete er: »Was ist mit dem Staub? Der würde doch an die Kleider kommen, oder?«

»Auf dem Mond gibt es auch Staub«, meinte Trudy.

»Aber keinen Wind.«

»Oh. Ja.«

Stacy sagte: »Wir könnten das Korbgleis auf Pfähle bauen, ein Stück über dem Boden.«


»Wäre machbar«, gab Jamie zu.

»Sonst bleichen unsere Sachen immer mehr aus und werden immer dünner.«

»Früher oder später fallen sie dann vollständig auseinander«, sagte Trudy.

Vijays boshaftes Grinsen kehrte zurück. »Da hätte Jamie nichts dagegen, nicht wahr, Jamie?«

Er versuchte, sie so lange zu fixieren, bis sie wegschaute, gab es dann jedoch auf und stieß sich stattdessen vom Tisch zurück. »Tomas müsste sich in etwa fünf Minuten melden.«

Als er aufstand und ins Kommunikationszentrum floh, war er sicher, sie hinter seinem Rücken kichern zu hören.

Rodriguez war glücklich. Das Flugzeug reagierte auf alles, was er tat, wie eine schöne Frau, sanft und gutartig.

Sie schnurrten in – er warf einen raschen Blick auf den Höhenmesser – achtundzwanzigtausendsechs Metern dahin. Mal sehen, überlegte er. Ein Meter entspricht ungefähr drei Komma zwei Fuß, das sind also neunundachtzigtausend, fast neunzigtausend Fuß. Nicht schlecht. Gar nicht schlecht.

Er wusste, dass der Weltrekord für ein Flugzeug mit Solarantrieb bei über hunderttausend Fuß lag. Aber das war ein ULF gewesen, ein unbemanntes Luftfahrzeug. Kein Pilot war mit einem solarbetriebenen Flugzeug jemals so hoch geflogen, das wusste er. Hinter der Sichtscheibe seines Helms lächelte er den großen Sechsblattpropeller an, der vor seinen Augen träge rotierte.

Fuchida neben ihm gab keinen Mucks von sich und rührte sich nicht. Er könnte in seinem Anzug genauso gut tot sein, ich würde den Unterschied nicht merken, dachte Rodriguez. Er hat Angst, schlicht und einfach Angst. Er vertraut mir nicht. Er fürchtet sich davor, mit mir zu fliegen. Wahrscheinlich wär's ihm lieber gewesen, wenn Stacy ihn geflogen hätte und nicht ich.

Tja, mein schweigsamer japanischer Freund, aber nun hast du mich am Hals, ob's dir gefällt oder nicht. Also sitz ruhig wie eine beschissene Statue da, mir ist das piepegal.

Mitsuo Fuchida spürte, wie sich eine ungewohnte Ranke der Furcht durch seine Eingeweide schlängelte. Das verblüffte ihn, weil er nun seit beinahe zwei Jahren wusste, dass er zum Gipfel des Olympus Mons fliegen würde. Er hatte Hunderte von Simulationsflügen gemacht. Diese ganze Exkursion war seine Idee gewesen; er hatte hart darum gekämpft, dass sie in den Expeditionsplan aufgenommen wurde.

Als Biologiestudent hatte er Fliegen gelernt und war zum Präsidenten des Fliegerclubs der Universität gewählt worden. Mit der unbeirrbaren Zielstrebigkeit eines Bewerbers, der wusste, dass er die Besten der Besten schlagen musste, um ins Team der zweiten Marsexpedition aufgenommen zu werden, hatte Fuchida sich die Zeit genommen, sich über den Bergen im Innern von Kyushu, seiner Heimat, als Pilot von Ultraleichtfliegern zu qualifizieren, und hatte anschließend Schwebegleiter über die zerklüfteten Gipfel von Sinkiang gelenkt. Er hatte noch nie Angst vor dem Fliegen gehabt. Ganz im Gegenteil: Er war in der Luft immer entspannt und glücklich gewesen, frei von all dem Druck und den Sorgen des Lebens.

Doch als die Sonne nun zum felsigen Horizont sank und die öde Landschaft in ein unheimliches rotes Licht tauchte, merkte Fuchida, dass er Angst hatte. Was, wenn das Triebwerk versagt? Wenn Rodriguez eine Bruchlandung auf dem Berg baut? Einer der unbemannten Schwebegleiter war bei einem Erkundungsflug über dem Berg abgestürzt; was, wenn uns dasselbe widerfährt? Selbst im rauen Sinkiang gab es eine vernünftige Chance, eine Notlandung zu überleben. Man konnte die Luft atmen und zu einem Dorf gehen, auch wenn man dazu viele Tage unterwegs war. Hier auf dem Mars aber nicht.

Was, wenn Rodriguez sich verletzt, während wir dort draußen sind? Ich habe dieses Flugzeug nur im Simulator geflogen; ich weiß nicht, ob ich es tatsächlich fliegen könnte.


Rodriguez schien sich absolut wohlzufühlen, er war glücklich und begeistert, dass er fliegen konnte. Er beschämt mich, dachte Fuchida. Trotzdem … ist er wirklich tüchtig?

Wie wird er in einem Notfall reagieren? Fuchida hoffte, er würde es nicht herausfinden müssen.

Links von ihnen lag Pavonis Mons, einer der drei riesigen, hintereinander aufgereihten Schildvulkane auf der Ostseite des Tharsis-Buckels. Er war so groß, dass er sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte, ein massiver Höcker aus festem Gestein, der einst glühend heiße Lava über ein Gebiet von der Größe Japans geschüttet hatte. Jetzt war er still. Kalt und tot. Für wie lange?

Eine ganze Reihe kleinerer Vulkane erstreckte sich bis zum Horizont, und hinter ihnen lag der ungeheure Olympus Mons. Was war hier geschehen? Wodurch war hier eine tausend Kilometer lange Kette von Vulkanen entstanden? Fuchida versuchte, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, aber seine Gedanken wanderten immer wieder zu den Risiken zurück, die er einging.

Und zu Elisabeth.


DOSSIER:

MITSUO FUCHIDA

Ihre Hochzeit hatte geheim gehalten werden müssen.

Verheiratete durften nicht mit auf die Marsexpedition.

Noch schlimmer, Mitsuo Fuchida hatte sich in eine Ausländerin verliebt, eine junge irische Biologin mit feuerrotem Haar und einer Haut wie weißes Porzellan.

»Schlaf mit ihr«, hatte sein Vater ihm geraten, »amüsier dich mit ihr, so viel du willst. Aber mach ihr keine Kinder!

Du darfst sie auf gar keinen Fall heiraten.«

Elizabeth Vernon schien damit zufrieden zu sein. Sie liebte Mitsuo.

Sie hatten sich an der Universität von Tokio kennen gelernt. Wie er war sie Biologin. Anders als er hatte sie weder das Zeug noch den Drang, sich im Konkurrenzkampf um eine feste Stelle und eine Professur zu behaupten.

»Ich komme schon zurecht«, erklärte sie Mitsuo. »Mach dir deine Chance auf den Mars nicht kaputt. Ich werde auf dich warten.«

In Fuchidas Augen war das weder gut noch fair. Wie konnte er zum Mars fliegen, Jahre fern von ihr verbringen und erwarten, dass sie ihre Gefühle so lange auf Eis legte?

Sein Vater stellte ebenfalls andere Ansprüche an ihn.

»Der einzige Mensch, der bei der ersten Marsexpedition ums Leben gekommen ist, war dein Neffe Konoye. Er hat uns alle entehrt.«

Isoruku Konoye hatte bei dem Versuch, den kleineren Mond des Mars – Deimos – zu erkunden, einen tödlichen Herzschlag erlitten. Sein russischer Teamkamerad Leonid Tolbukhin sagte, Konoye sei in Panik geraten, erschrocken darüber, nur in einem Raumanzug außerhalb ihres Raumschiffs zu sein, desorientiert von Deimos' bedrohlich näherrückender felsiger Masse.

»Du musst die Ehre der Familie wiederherstellen«, betonte Fuchidas Vater nachdrücklich. »Du musst dafür sorgen, dass die Welt Japan respektiert. Dein Namensvetter war ein großer Krieger. Du musst seinem Namen neue Ehre machen.«

Mitsuo wusste also, dass er Elizabeth nicht offen und ehrlich heiraten konnte, wie er es am liebsten getan hätte. Stattdessen ging er mit ihr in ein Kloster in den abgelegenen Bergen von Kyushu, wo er seine Kletterkünste perfektioniert hatte.

»Das ist nicht nötig, Mitsuo«, protestierte Elizabeth, sobald ihr klar wurde, was er im Schilde führte. »Ich liebe dich. Eine Zeremonie wird daran nichts ändern.«

»Wäre dir ein katholischer Ritus lieber?«, fragte er.

Sie schlang ihm die Arme um den Hals. Er spürte Tränen auf ihrer Wange.

Als der Tag des Abschieds kam, versprach er Elizabeth, dass er zu ihr zurückkommen würde. »Und dann werden wir noch einmal heiraten, in aller Öffentlichkeit, sodass es die ganze Welt sieht.«

»Einschließlich deines Vaters?«, fragte sie ironisch.

Mitsuo lächelte. »Ja, sogar einschließlich meines wackeren Vaters.«

Dann flog er zum Mars, fest entschlossen, dem Namen seiner Familie Ehre zu machen und zu der Frau zurückzukehren, die er liebte.


SONNENUNTERGANG:

SOL 48

Fuchidas Exkursionsplan sah vor, dass sie spätnachmittags landeten, fast schon bei Sonnenuntergang, wenn die tief stehende Sonne die längsten Schatten warf. Dadurch konnten sie den Flug bei hellem Tageslicht absolvieren und hatten bei ihrer Ankunft auf dem Olympus Mons die beste Sicht auf ihr Landegebiet. Jeder Felsblock, jeder Stein würde plastisch hervortreten, sodass sie die geeignetste Stelle für die Landung aussuchen konnten.

Das hieß aber auch, dass sie unmittelbar nach der Landung die dunklen, eisigen Nachtstunden durchstehen mussten. Was, wenn die Batterien versagten? Die Lithiumpolymer-Batterien waren jahrelang getestet worden, wie Fuchida wusste. Sie speicherten Strom, der bei Sonnenschein von den Solarzellen erzeugt wurde, und hielten die Ausrüstung des Flugzeugs während der langen, kalten Stunden der Dunkelheit in Gang. Was jedoch, wenn sie versagten, und das bei Temperaturen von siebzig bis neunzig Grad minus?

Rodriguez gab ein seltsames Stöhnen von sich. Fuchida drehte sich abrupt zu dem neben ihm sitzenden Astronauten um, sah aber nur das Innere seines eigenen Helms.

Er musste sich in den Schultern drehen, um den Piloten in seinem Raumanzug zu sehen – er summte tonlos vor sich hin.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Fuchida nervös.

»Klar.«

»War das ein mexikanisches Lied, was du da gesummt hast?«

»Nee. Die Beatles. ›Lucy in the Sky with Diamonds‹.«

»Oh.«


Rodriguez seufzte glücklich. »Da ist sie«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Miss Mount Olympus.« Er zeigte nach vorn.

Fuchida sah keinen Berg, sondern nur den Horizont. Jetzt, wo er genauer hinschaute, wirkte er rundlich: ein riesiger, sanft ansteigender Buckel.

Er wuchs, als sie näher kamen. Und wuchs. Und wuchs.

Und wuchs. Olympus Mons war eine ungeheure Insel für sich, ein Kontinent, der sich aus der trostlosen roten Ebene erhob wie ein gigantisches, mythisches Untier. Die Flanken über den steilen Abhängen an seinem Fuß stiegen sanft an.

Diese Steigung konnte man mühelos erklimmen, dachte Fuchida. Dann wurde ihm klar, dass man bei den gewaltigen Dimensionen des Berges Wochen brauchen würde, um vom Fuß zum Gipfel zu gelangen.

Rodriguez summte wieder, ruhig und entspannt, wie ein Mann, der zu Hause in seinem Lieblingssessel sitzt.

»Du fliegst gern, nicht wahr?«, meinte Fuchida.

»Du weißt ja, wie es heißt«, erwiderte Rodriguez, ein heiteres Lächeln in der Stimme. »Fliegen ist das Zweitaufregendste, was ein Mann tun kann.«

Fuchida nickte in seinem Helm. »Und das Aufregendste ist bestimmt Sex, nicht wahr?«

»Nein. Das Landen.«

Fuchida versank in düsteres Schweigen.

Jamie war im Kommunikationszentrum, schaute konzentriert auf den Immersionstisch und versuchte, nicht auf seine Armbanduhr zu blicken.

Tomas ruft gleich nach der Landung an. Es hat keinen Sinn, dass er sich meldet, bevor sie sicher unten sind. Inzwischen hat er wahrscheinlich den Berg erreicht, sieht sich um und vergewissert sich, dass das Gebiet tatsächlich für eine Landung geeignet ist.

Hinter sich hörte er Stacy Deschurowa kurz und knapp sagen: »Sie sind jetzt über dem Berg. Funksignal ist stark und klar, Telemetriedaten kommen durch. Keine Probleme.«

Jamie nickte, ohne sich umzudrehen. Der Immersionstisch zeigte eine dreidimensionale Karte von Tithonium Chasma, aber wenn man den Kopf wegzog, verlor man die räumliche Wahrnehmung und musste eine ganze Weile die Augen zusammenkneifen und den Kopf hin und her bewegen, bis man die Karte wieder in 3D sah.

Er hatte das elektronische Display markiert, sodass sich die Nische in der Felswand mit dem … Artefakt darin, wie Jamie es nannte, deutlich in Weiß abhob. Ist nicht so weit von dem Erdrutsch entfernt, auf dem wir zum Grund des Canyons hinuntergefahren sind, dachte er. Aber wir würden uns eine Tagesreise sparen, wenn wir direkt zu der Stelle führen und ich mich dann an einem Seil runterlassen würde. Hat keinen Sinn, in den Canyon hinunterzufahren; die Nische ist im obersten Viertel der Felswand.

Er wusste, dass es auch noch andere Nischen in der Wand des Canyons gab. Enthielten auch sie Gebäude? Und wir haben uns noch nicht mal die Südwand des Canyons angesehen. In den Felswänden könnten sich Dutzende von Dörfern aneinander reihen. Hunderte.

Hinter sich hörte er jemanden ins Kommunikationszentrum kommen, dann fragte Vijays leise, kehlige Stimme:

»Schon was von ihnen gehört?«

»Noch nicht«, sagte Stacy.

Dann fragte Trudy: »Gibt's irgendwas Neues?«

»Noch nicht«, wiederholte Deschurowa.

Jamie gab den Versuch auf, seine Exkursion zu planen. Er schaltete das dreidimensionale Display ab, und es verwandelte sich in einen normalen Glastisch. Dann drehte er sich zu Deschurowa um, die an der Kommunikationskonsole saß. Der Hauptbildschirm zeigte eine Reliefkarte von Olympus Mons und einen winzigen, leuchtend roten Punkt, der langsam darüber hinwegkroch: das Flugzeug mit Rodriguez und Fuchida an Bord.

»Rodriguez an Basis«, kam die Stimme des Astronauten auf einmal knisternd aus dem Lautsprecher. »Mache einen Probeüberflug über das Landegebiet. Schicke euch mein Kamerabild rüber.«

»Basis an Rodriguez«, antwortete Deschurowa kühl und sachlich. »Probeüberflug, verstanden.« Ihre Finger flogen über die Tastatur, und auf dem Hauptbildschirm war auf einmal eine pockennarbige, mit Felsblöcken übersäte Strecke aus nacktem Gestein zu sehen. »Wir haben Ihr Bild.«

Jamie merkte, wie sein Mund trocken wurde. Wenn dies das Landegebiet ist, kommen sie nie im Leben heil runter.

Rodriguez brachte das Flugzeug in eine leichte Querlage, damit er den Boden besser sehen konnte. Für Fuchida sah es so aus, als würde das Flugzeug auf der linken Flügelspitze stehen, während der harte, nackte Stein unten sich langsam im Kreis drehte.

»Tja«, sagte Rodriguez, »wir haben die Wahl: Felsblöcke oder Krater.«

»Wo ist die freie Fläche, die uns die Schwebegleiter gezeigt haben?«, fragte Fuchida.

»›Frei‹ ist ein relativer Begriff«, murmelte Rodriguez.

Fuchida schluckte Galle. Sie brannte in seiner Kehle.

»Rodriguez an Basis. Ich umrunde das Landegebiet noch mal. Sagen Sie mir, ob Sie irgendwas sehen, was mir entgeht.«

»Verstanden, erneute Umrundung.« Stacy Deschurowas Ton war knapp, professionell.

Rodriguez spähte angestrengt auf den Boden hinunter.

Die sinkende Sonne warf lange Schatten, die jeden Kiesel und jede Kuhle dort unten hervorhoben. Zwischen einem neu aussehenden Krater und verstreuten Steinen war eine relativ freie, über einen Kilometer lange Fläche. Platz genug zum Landen, wenn die Bremsraketen auf Befehl zündeten.

»Sieht gut aus, finde ich«, sagte er in sein Helmmikro.

»Das nun nicht gerade«, erwiderte Deschurowas Stimme.

»Die Räder werden mit kleinen Steinen fertig.«

»Stoßdämpfer sind kein Ersatz für ebenen Boden, Tomas.«


Rodriguez lachte. Er und Deschurowa hatten diese Diskussion schon ein paar Dutzend Mal geführt, seit die ersten Erkundungsfotos der ULFs eingegangen waren.

»Wende zum Landeanflug«, meldete er.

Deschurowa antwortete nicht. Als Flugkontrolleurin hatte sie die Befugnis, ihm die Landung zu verbieten.

»Setze zum Landeanflug an.«

»Ihr Bild wackelt ein bisschen.«

»Lichtstärke nimmt rasch ab.«

»Ja.«

Fuchida sah den Boden auf sich zurasen. Er war mit Felsbrocken übersät und von Kratern zernarbt und wirkte so hart wie Beton, oder noch härter. Sie kamen zu schnell herunter, dachte er. Er wollte den t-förmigen Steuerknüppel vor sich packen und die Maschine hochziehen, die Raketentriebwerke zünden und dann nur weg, nichts wie weg, solange sie noch die Chance dazu hatten. Stattdessen kniff er die Augen zu.

Etwas traf das Flugzeug so hart, dass Fuchida glaubte, er würde durch das Kanzeldach geschleudert. Sein Sicherheitsgurt hielt jedoch, und fast im selben Moment hörte er das heulende Kreischen der winzigen Bremsraketenmotoren. Das Vorderteil des Flugzeugs schien in Flammen zu stehen. Holpernd und hüpfend ratterten sie dahin wie eine Blechdose, die jemand über ein Geröllfeld gekickt hatte.

Dann ein letztes Schwanken, und aller Lärm und jede Bewegung hörten auf.

»Wir sind unten«, schrie Rodriguez. »Kinderspiel.«

»Gut«, sagte Deschurowas Stimme gleichmütig.

Fuchida musste dringend pinkeln.

»Okay«, sagte Rodriguez zu seinem Partner. »Jetzt bleiben wir einfach bis Sonnenaufgang hier drin sitzen.«

Wie zwei Sardinen in einer Dose, dachte Fuchida, während er sich in den eingebauten Abführschlauch in seinem Anzug erleichterte. Dass sie versuchen sollten, in den Cockpit-Sitzen zu schlafen, eingeschlossen in ihren Anzügen, behagte ihm gar nicht. Aber das war der Preis, den man für die Ehre bezahlen musste, als erste Menschen den Fuß auf den höchsten Berg im Sonnensystem zu setzen.

Beinahe hätte er gelächelt. Ich werde auch ins Guinness-Buch der Rekorde kommen, dachte er.

»Alles in Ordnung?«, fragte Rodriguez.

»Ja, natürlich.«

»Du bist so still, Mitsuo.«

»Ich bewundere die Aussicht«, sagte Fuchida.

Nichts als eine kahle Fläche aus nacktem Gestein, wohin man auch schaute. Der Himmel über ihnen wurde rasch dunkel. Fuchida konnte schon ein paar Sterne sehen, die auf sie herabblickten.

»Jetzt sind wir endlich ganz oben!«, witzelte Rodriguez.

Er gluckste fröhlich, als könnte ihn nichts auf der Welt erschüttern. Nichts auf zwei Welten.


DOSSIER:

TOMAS RODRIGUEZ

»Zeig niemals Furcht.« Tomas Rodriguez lernte das als dürres, asthmatisches Kind, das in einem von Verbrechen und Gewalt geprägten Barrio in der Innenstadt von San Diego aufwuchs.

»Zeig ihnen nie, dass du Angst hast«, erklärte ihm sein älterer Bruder Luis. »Drück dich nie vor einem Kampf.«

Tomas war zwar nicht stark, aber sein großer Bruder beschützte ihn. Meistens. Dann fand er gewissermaßen Zuflucht in dem heruntergekommenen Fitness-Center des Viertels, wo er stundenlang wischte und sauber machte und dafür kostenlos die Geräte benutzen durfte. Als er an Muskelmasse zulegte, brachte Luis ihm die Anfangsgründe des Straßenkampfs bei. In der Middle School sah ihn ein älterer Koreaner, der an der Schule unentgeltlich Kampfkünste lehrte, und nahm ihn in seine Gruppe auf.

Auf der High School entdeckte er, dass er intelligent war, so intelligent, dass er Algebra nicht nur verstand, sondern verstehen wollte, ebenso wie die anderen Geheimnisse der Mathematik und der Wissenschaft. Er befreundete sich mit den Außenseitern und den Sportskanonen und beschützte Erstere oftmals vor den Schikanen und der beiläufigen Grausamkeit Letzterer.

Er wuchs zu einem kräftigen, breitschultrigen Jugendlichen mit schnellen Reflexen heran, der jedoch klug genug war, Konfrontationen eher mit Worten als mit den Fäusten zu klären. Er suchte keinen Streit, konnte sich aber durchaus behaupten, wenn eine Prügelei unausweichlich wurde.

Er arbeitete, er lernte, er hatte jene sonnige Grundeinstellung – und entschlossene körperliche Courage –, die selbst die übelsten Rabauken in der Schule dazu brachte, ihn in Ruhe zu lassen. Er spielte nie in einer der Schulmannschaften, und er nahm nie Drogen. Er rauchte auch nicht. So einen Luxus konnte er sich nicht leisten.

Er ging nicht einmal in die Falle, in der sich die meisten seiner Freunde fingen: Vaterschaft. Ob sie nun heirateten oder nicht, die meisten Jungs waren sehr schnell an eine Frau gebunden. Tomas hatte jede Menge Mädchen und lernte noch vor der High School die Freuden des Sex kennen. Aber er ging nie eine dauerhafte Beziehung ein. Er wollte es nicht. Die Mädchen aus dem Viertel waren attraktiv, das schon, aber nur, bis sie anfingen zu reden. Tomas konnte allein schon die Vorstellung nicht ertragen, einer von ihnen mehr als ein paar Stunden zuhören zu müssen.

Sie hatten nichts zu sagen. Ihr Leben war leer. Er sehnte sich nach mehr.

Die meisten Lehrer an der High School waren Nullen, aber einer – der müde alte Mann, der Mathe unterrichtete –

ermutigte ihn, sich um ein Stipendium fürs College zu bewerben. Zu Tomas' gewaltiger Überraschung gewann er eins: die kompletten Studiengebühren für ein Studium an der University of California in San Diego. Da er sich die anderen Ausgaben trotzdem nicht leisten konnte, hörte er erneut auf den Rat seines Mentors und ging zur Air Force.

Uncle Sam übernahm sämtliche anfallenden Kosten für sein Studium, und sobald er seinen Abschluss in der Tasche hatte, wurde er Kampfpilot. »Macht mehr Spaß als Sex«, pflegte er zu behaupten, und fügte immer hinzu: »Fast.«

Zeig niemals Furcht. Das hieß, dass er nie vor einer Herausforderung zurückweichen durfte. Niemals. Ob in einem Cockpit oder einer Bar, der stämmige kleine Latino mit dem breiten Lächeln ging keinem Konflikt aus dem Wege. Das sprach sich herum.

Die Furcht war immer da, fortwährend, aber er ließ sie sich nie anmerken. Und da war auch immer dieser geheime Zweifel. Dieses Gefühl, dass er irgendwie nicht hierher gehörte. Sie erlaubten dem kleinen chicano, so zu tun, als wäre er so schlau wie die weißen Jungs, erlaubten ihm, mit seinem kleinen Stipendium das College zu absolvieren, erlaubten ihm, die Fliegeruniform zu tragen und mit den tollen Düsenjägern zu spielen.

Aber in Wirklichkeit gehörte er nicht zu ihnen. Das machten sie ihm jeden Tag überdeutlich klar, auf tausend kleine Weisen. Er war ein Tacofresser, der nur solange geduldet wurde, wie er an dem ihm zugewiesenen Platz blieb. Versuch nicht, zu weit aufzusteigen; gib nicht zu sehr an; und vor allem, Finger weg von den Frauen, außer es sind welche von ›Deinen‹. Mit der Fliegerei war das jedoch etwas anderes. Allein in einem Flugzeug, fünfzehn-, sechzehntausend Meter hoch am Himmel, gab es nur ihn und Gott, und der Rest der Welt war weit weg; aus den Augen, aus dem Sinn.

Dann kam die Chance, sich das Astronautenabzeichen zu verdienen. Er musste sich der Herausforderung stellen.

Wieder machten die anderen klar, dass er im Kreis der Bewerber nicht willkommen war. Aber Tomas nahm trotzdem an dem Auswahlverfahren teil – und eroberte sich einen Platz im Trainingscorps der Astronauten. »Die Vorzüge der Minderheitenförderung«, höhnte einer der anderen Piloten.

Ganz gleich, was er erreichte, immer versuchten sie, ihm den Spaß daran zu verderben. Nach außen hin kümmerte Tomas sich nicht um sie, wie üblich; er hielt seine Wunden geheim und blutete nur innerlich.

Zwei Jahre, nachdem er sein Abzeichen erworben hatte, wurden Astronauten für die zweite Marsexpedition gesucht. Tomas bewarb sich mit seinem breitesten Lächeln.

Keine Furcht. Er zeigte niemandem seine zusammengebissenen Zähne und bekam den Job.

»Na toll«, sagten seine Kumpels. »Du wirst hinter so 'ner russischen Braut die zweite Geige spielen.«

Tomas zuckte die Achseln und nickte. »Ja«, gab er zu. »Ich werde wohl von jedermann Befehle entgegennehmen müssen.«


Im Stillen fügte er hinzu: Aber ich bin dann auf dem Mars, ihr Arschgeigen, und ihr seid immer noch hier unten.


NACHT: SOL 48

Es war bereits Nacht auf der weiten, welligen Ebene von Lunae Planum, aber Possum Craig fuhr trotzdem weiter –

vorsichtig, mit nur zehn Stundenkilometern. Dex Trumball und er waren der Meinung gewesen, sie könnten nach Sonnenuntergang noch ein paar Extrameilen hinter sich bringen, bevor sie für die Nacht Halt machten.

Trumball hatte das Funkgerät auf die allgemeine Kommunikationsfrequenz geschaltet, sodass sie Rodriguez und Fuchida zur gleichen Zeit landen hörten wie die vier im Basislager.

»Die armen Kerle kommen bis zu ihrer Rückkehr zur Kuppel nich mehr aus ihren Anzügen raus«, sagte Craig.

»Sieh's mal von der positiven Seite, Wiley. Sie dürfen das FBS testen.«

Die Anzüge hatten eine Spezialvorrichtung, mit der eine luftdichte Verbindung zum Sitz der chemischen Toilette möglich sein sollte. Die Techniker nannten es das Fäkalien-Beseitigungs-System.

»Der gute alte Donnerbalken«, brummelte Craig. »Wetten, dass sie am Schluss Kaoprompt einschmeißen?«

Dex, der neben ihm im Cockpit saß, erwiderte grinsend:

»Während wir hier einen Komfort wie zu Hause haben.«

Craig machte ein nachdenkliches Gesicht. »Für so 'ne alte Gurke hält sich die Kutsche hier ziemlich gut. Keine Klagen.«

»Noch nicht.«

Dex hatte den größten Teil des Tages in seinem Anzug verbracht. Sie hatten alle hundert Klicks angehalten, damit er draußen Geo/Met-Baken aufstellen konnte. Jetzt saß er entspannt da, in seinem Overall, und beobachtete den kleinen Ausschnitt des Bodens, der von den Scheinwerfern des Rovers beleuchtet wurde.


»Du könntest ihn auf zwanzig hochkitzeln«, stachelte Dex ihn an.

»Ja, und ich könnt ihn in 'nen Krater schlittern lassen, bevor wir anhalten oder abbiegen könnten«, gab Craig zurück. Er tippte mit einem Zeigefinger auf das Display der Digitaluhr. »Is sowieso Zeit, für heute Schluss zu machen.«

»Schon müde?«

»Nein, und ich will nicht fahren, wenn ich müde bin.«

»Ich könnte 'ne Weile fahren«, sagte Dex.

Craig trat sanft auf die Bremspedale. »Machen wir Schluss, Kumpel. Wir haben ordentlich was geschafft.

Genug ist genug.«

Trumball schien einen Moment darüber nachzudenken, dann hievte er sich aus dem Sitz im Cockpit. »Okay. Du bist der Boss.«

Craig lachte. »Na klar bin ich der.«

»Was soll das denn nun heißen?«, fragte Trumball über die Schulter hinweg, während er nach hinten zu der winzigen Kombüse ging.

Craig schob den wärmehaltenden Kunststoffschirm über die Windschutzscheibe, stand dann auf und streckte sich so ausführlich, dass Dex seine Sehnen knacken hörte.

»Das heißt, ich bin der Boss, solang du einverstanden bist.«

»Ich bin einverstanden«, sagte Dex.

»Dann is ja alles bestens.«

Trumball nahm eine der Fertigmahlzeiten von der Ablage im Gefrierschrank und sagte: »Nein, im Ernst, Wiley. Jamie hat dir die Leitung übertragen. Ich hab da nichts dran auszusetzen.«

Craig reckte sich immer noch. Seine Hände kratzten über die Deckenkrümmung. »Okay. Gut.«

»Nervt dich irgendwas?«

»Nee. Vergiss es.«

Als er die Schale mit dem Essen in die Mikrowelle stellte, sagte Dex: »Nun komm schon, Wiley. Hier draußen sind wir ganz unter uns. Wenn irgendwas nicht in Ordnung ist, sag's mir.«

In Craigs Miene mischte sich Ärger mit Verlegenheit.

»Ach, ich glaub, es ist irgendwie albern.«

»Was ist es denn, Herrgott noch mal?«

Craig stieß müde den Atem aus und ließ sich auf seine Liege sinken.

»Na ja, es stinkt mir eben, dass ich hier nur 'n Bürger zweiter Klasse bin.«

Trumball sah ihn erstaunt an. »Bürger zweiter Klasse?«

»Ja, du weißt schon – die denken alle, ich bin bloß so 'ne Art Mechaniker, Scheiße noch mal.«

»Also …«

»Ich bin Wissenschaftler, genau wie du und die anderen«, knurrte Craig. »Kann schon sein, dass ich meinen Abschluss nich an 'ner Uni mit 'nem großen Namen gemacht hab, kann auch sein, dass ich fast immer bei Ölfirmen gearbeitet hab, aber ich hatte genug auf der Pfanne, um 'nen Haufen Jungs mit schickerem Stammbaum zu schlagen.«

»Na klar bist du 'n Wissenschaftler.«

»Dieser Fuchida. Der verdammte Japs is dermaßen steif, dass ich Angst hab, er fällt aus'nander, wenn er bloß niest.

Schaut mich an, als wär ich 'n Diener oder so.«

»Das ist nun mal seine Art.«

»Und die Frauen! Die benehmen sich alle, als wär ich 'n Opa. Verdammt, ich bin jünger als Jamie. Ich bin jünger als Stacy, weißt du das?«

Zum ersten Mal begriff Dex Trumball, dass Craig gekränkt war. Und verletzlich. Dieser zottelige, gutmütige Bär von einem Mann mit den Hängebacken, der vorspringenden Nase und den ewigen nachmittäglichen Bartstoppeln wollte mit Respekt behandelt werden. Das machte ihn benutzbar, erkannte Dex.

»Hör mal, Wiley«, begann er, »ich wusste nicht, dass wir dich gekränkt haben.«

»Du gar nicht so sehr. Es sind die andern. Die denken, ich bin bloß als ihr verdammter Handwerker hier. Du nennst mich wenigstens Wiley. Possum hat mir nie gefallen. Mein Name ist Peter J. Craig.«

Die Mikrowelle gab einen Glockenton von sich. Dex ignorierte ihn und setzte sich auf seine eigene Liege, gegenüber von Craig. »Dann werd ich die anderen dazu bringen, dich Wiley zu nennen. Oder Peter, wenn dir das lieber ist.«

»Wiley 's okay.«

Ein Lächeln kroch über Trumballs Gesicht. »Gut. Dann also von jetzt an Wiley. Ich sorge schon dafür, dass Jamie und die anderen es mitkriegen.«

Mit verlegener Miene murmelte Craig: »Irgendwie albern, was.«

»Nein, nein«, sagte Dex. »Wenn Jamie und die anderen dir auf die Nerven gehen, hast du jedes Recht, dich darüber zu beschweren.«

Bei sich dachte Trumball: Falls und wenn es so weit kommt, dass ich die Sache mit Jamie austragen muss, brauche ich Wiley an meiner Seite. Wiley und so viele andere, wie ich kriegen kann.

Nach dem Abendessen sprach Jamie fast eine Stunde lang mit Rodriguez und Fuchida auf dem Olympus Mons. Sie verbrachten die Nacht sitzend im Cockpit des Flugzeugs. So als wollte man in einem Passagierflugzeug schlafen, dachte Jamie. In der Touristenklasse. In den Raumanzügen. Er beneidete sie wahrhaftig nicht. Anschließend sah er –

immer noch im Kommunikationszentrum – die Nachrichten durch, die sich während des langen, ereignisreichen, kräftezehrenden Tages angesammelt hatten. Dafür brauchte er mehr als eine weitere Stunde: alles von einer Bitte des Internationalen Rats der naturwissenschaftlichen Lehrkräfte um mehr VR-Sendungen bis zu einer Erinnerung, dass sein wöchentlicher aktueller Lagebericht morgen früh fällig war.

Eine Nachricht kam von Darryl C. Trumball. Da sie mit PERSÖNLICH UND VERTRAULICH gekennzeichnet war, speicherte Jamie sie ab, weil er sie sich eigentlich in seiner Kabine ansehen wollte. Doch als er alle anderen Nachrichten durchgearbeitet hatte, blickte er vom Bildschirm auf und sah, dass die Kuppel bereits für die Nacht abgedunkelt worden war. Er fröstelte auf einmal, als würde die Kälte der Marsnacht durch die Kunststoffwände der Kuppel einsickern. Offenbar war niemand mehr wach. Keine Stimmen, nur die Hintergrundgeräusche der Geräte und, wenn er konzentriert genug lauschte, das leise Seufzen des Nachtwinds draußen.

Also öffnete er Trumballs persönliche Nachricht.

Darryl C. Trumballs Augen loderten. Sein totenschädelartiges Gesicht sah so grimmig aus wie der Tod.

»Wer, zum Teufel, hat Ihnen erlaubt, meinen Sohn auf diese Exkursion zur Sagan-Station zu schicken?«, begann er wütend, ohne Einleitung.

»In Dreiteufelsnamen, Waterman, ich hatte ausdrückliche Anweisung gegeben, dass Dex nicht auf diese Exkursion gehen darf!«

Und so ging es weiter, fast fünfzehn mörderische Minuten lang. Jamie betrachtete Trumballs zorniges Gesicht, zuerst sprachlos, dann zunehmend wütend.

Doch während der ältere Mann weiterschimpfte, verflog Jamies Wut langsam. Hinter Trumballs Tirade erblickte er einen Mann, der sich Sorgen um die Sicherheit seines Sohnes machte, einen an Macht und Autorität gewöhnten Mann, der nun jedoch völlig frustriert war, weil es keine Möglichkeit gab, die Männer und Frauen auf dem Mars zu kontrollieren. Keine Möglichkeit, seinen eigenen Sohn zu kontrollieren.

Er kann nicht mal von Angesicht zu Angesicht mit uns sprechen, dachte Jamie. Er kann nur toben und schimpfen und abwarten, ob wir darauf reagieren.

Schließlich ging Trumball langsam die Luft aus, und er schloss mit: »Merken Sie sich eins, Waterman: Sie können nicht einfach ungestraft gegen meine Anweisungen handeln. Dafür werden Sie bezahlen! Und wenn meinem Sohn etwas zustößt, werden Sie mit Ihrem gottverdammten Blut bezahlen!«

Der Bildschirm wurde dunkel. Jamie ließ die ganze Botschaft noch einmal von vorn ablaufen und fror Trumballs zorniges Gesicht mit den gefletschten Zähnen dann am Schluss ein. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und fragte sich, ob er hart oder konziliant sein sollte. Eine linde Antwort stillt den Zorn, dachte er, aber Trumball wird sich nicht so leicht beschwichtigen lassen. Hier geht es nicht nur um einen Zank zwischen Trumball und mir, sagte er sich.

Dieser alte Mann ist der Motor der Finanzierungskampagne für diese Expedition – und für die nächste. Wenn du der nächsten Expedition den Weg ebnen willst, sagte sich Jamie, musst du dafür sorgen, dass Trumball im Team bleibt.

Doch als er das kalte, wütende Gesicht auf dem Monitor ansah, begann es erneut in Jamie zu gären. Trumball hat kein Recht, mich oder sonst jemanden derart anzupfeifen.

Wenn er wütend auf seinen Sohn ist, sollte er es an Dex auslassen, nicht an mir. Und wenn ich ihm den Eindruck vermittle, dass er mich rumschubsen kann, wird er weitere Forderungen stellen. Er ist ein Tyrann; je mehr ich ihm nachgebe, desto mehr wird er verlangen.

Was ist der beste Weg, Großvater? Wie kann ich die Sache regeln, ohne noch mehr Schmerz zu verursachen?

Er atmete tief durch und aktivierte dann mit einem Tastendruck die winzige Kamera des Computers. Jamie sah, wie ihr rotes Auge aufleuchtete, direkt über Trumballs Standbild auf dem Monitor.

»Mr. Trumball«, begann er langsam, »ich kann Ihre Sorge um die Sicherheit Ihres Sohnes verstehen. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie eine Nachricht geschickt hatten, der zufolge Dex nicht an der Exkursion zur Bergung der Pathfinder-Handware teilnehmen sollte. Eine solche Nachricht ist nicht an mich adressiert worden. Und bei allem gebührenden Respekt, Sir, nicht Sie haben das Kommando über diese Expedition, sondern ich. Sie sind nicht berechtigt, irgendjemandem Anweisungen zu erteilen.«

Jamie schaute direkt in die Kamera und fuhr fort: »Weder Dex noch sonst jemand hier wird irgendwelche Sonderprivilegien erhalten. Es war seine Idee, den Pathfinder zu bergen, und er wollte zweifelsohne auf diese Exkursion gehen. Selbst wenn mir Ihre Wünsche bekannt gewesen wären, hätte ich sie Ihnen abschlagen müssen, fürchte ich. Das ist Dex' Job, und ich bin sicher, er wird ihn erledigen, ohne dass es Probleme gibt.

Er hat unseren besten Mann bei sich: Dr. Craig. Falls sie in Schwierigkeiten geraten, werden sie zur Basis zurückkehren. Ich hatte … ich habe nicht die Absicht, das Leben meiner Leute durch törichte Aktionen aufs Spiel zu setzen.«

Jamie beugte sich unbewusst näher zur Kamera und schloss: »Ich weiß, dass Sie geholfen haben, den größten Teil des Geldes für diese Expedition aufzubringen, und wir sind alle sehr dankbar dafür, aber das gibt Ihnen nicht die Befugnis, Entscheidungen über unsere Arbeit hier zu treffen. Sie können zum IUK gehen und sich dort beschweren, wenn Sie wollen. Aber offen gesagt, ich wüsste auch nicht, was man dort für Sie tun könnte. Wir sind hier, über hundert Millionen Kilometer von der Erde entfernt, und wir müssen unsere eigenen Entscheidungen treffen.

Tut mir Leid, dass diese eine Entscheidung Sie derart aufgeregt und beunruhigt hat. Vielleicht werden Sie anders empfinden, wenn Dex mit dem Pathfinder und dem Sojourner zurückkommt. Gute Nacht.«

Er tippte zweimal auf die Tastatur: einmal, um die Kamera abzuschalten, das zweite Mal, um die Nachricht an Trumball abzusenden. Erst dann löschte er das Bild des alten Mannes vom Monitor.

»Ich hätte ihm gesagt, er soll es sich in den Arsch stecken.«

Jamie fuhr herum und sah Vijay im Eingang an der Trennwand lehnen. Sie hielt einen dampfenden Becher in beiden Händen, als wollte sie sich daran wärmen.


»Wie lange bist du schon hier?«

Sie kam herein und setzte sich neben ihn. »Ich hab mir gerade was zu trinken geholt, als ich Dex' Dad schimpfen hörte.«

Sie trug ihren unförmigen, korallenroten Rollkragenpullover und weite Jeans statt des üblichen Overalls, und sie saß so nahe bei ihm, dass Jamie den zarten Duft des Kräutertees roch, den sie trank, und seine Wärme spürte.

»Der alte Mann muss Dex verboten haben, auf diese Exkursion zu gehen«, erklärte er, »aber Dex hat mir nichts davon gesagt.«

Vijay trank einen Schluck aus dem dampfenden Becher.

»Hätte er das tun sollen?«

»Es wäre ganz hilfreich gewesen.«

»Vielleicht hatte er Angst, du würdest die Exkursion absetzen, wenn du's wüsstest.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Das könnte ich nicht. Wenn jemand wie Trumball erst mal glaubt, er könnte einen rumkommandieren, dann wird man ihn nie wieder los.«

Ein knappes, zustimmendes Nicken. »Da ist was dran.«

»Ich hoffe nur, dass nichts passiert, während Dex dort draußen ist«, sagte Jamie.

»Hast du das nicht sowieso gehofft? Schon vor Trumballs Anpfiff, meine ich.«

»Ja sicher, aber … du weißt, was ich meine.«

»Ja, ich glaub schon.«

»Du hast mit ihm geschlafen, stimmt's?«, entfuhr es Jamie.

»Mit Dex?«

»Während des Fluges.« Jamie war schockiert, dass er das Thema ansprach. Die Worte waren herausgekommen, bevor ihm klar wurde, was er sagen würde.

Vijay nickte. Ihre Miene war unergründlich. »Ja. Einmal.«

»Einmal«, wiederholte er.

Mit einem seltsamen kleinen Lächeln sagte Vijay: »Man erfährt eine Menge über einen Mann, wenn er die Hosen runtergelassen hat.«


Jamie wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.

»Ich hab dir gesagt, er ist ein Alpha-Männchen«, fuhr sie fort. »Genau wie du.«

Er nickte bedrückt.

»Ich fühle mich zu Alpha-Männchen hingezogen.«

»Du fühlst dich also zu ihm hingezogen.«

»Damals, ja. Jetzt fühle ich mich zu dir hingezogen.«

»Zu mir?«

Sie lächelte. »Siehst du sonst noch jemanden hier?«

Jamie war durcheinander. Sie macht sich über mich lustig.

Sie macht sich bestimmt über mich lustig.

Vijay stellte ihren Becher auf den Rand der Konsole. »Du fühlst dich doch auch zu mir hingezogen, nicht?«

»Äh … sicher.«

Sie stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. »Bleibt also nur noch eine Frage: zu mir oder zu dir?«

Jamie erhob sich langsam. Er war nicht sicher, ob seine Beine ihn tragen würden. »So einfach ist das nicht, Vijay.

Das hast du selbst gesagt.«

»Das war damals. Jetzt ist jetzt.«

»Aber …«

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Mein Gott, Jamie, du bist ja genauso schlimm wie die meisten Aussie-Kerle!«

»Ich wollte nicht …«

Sie trat zu ihm und legte ihm die Arme um den Hals.

»Fühlst du dich nie einsam?«, sagte sie leise. »Hast du nie Angst? Wir sind so allein hier. So weit weg von zu Hause.

Macht dir das nie zu schaffen?«

Jetzt war ihr Ton nicht mehr neckisch. Er hielt sie fest und spürte, wie sie zitterte. Unter all dem flapsigen Gerede zitterte sie vor Angst.

»Ich will heute Nacht nicht allein sein, Jamie.«

»Ich auch nicht«, gestand er. »Ich auch nicht.«


DOSSIER:

VARUNA JARITA SHEKTAR

Es war schon schlimm genug, eine weitere Tochter in einer Familie mit vier Mädchen und einem Jungen zu sein. Dass sie intelligent und attraktiv war, machte die Sache nur noch schlimmer. Dass sie als dunkelhäutige Hindu-Frau in Melbourne unter blonden Aussies aufwuchs, die gegenüber Frauen entweder kein Wort herausbrachten oder den aggressiven Macho mimten, half auch nicht gerade.

In der Grundschule riefen die Lehrer sie bei dem Namen, der in der Schulakte stand: V.J. Shektar. Die anderen Kinder tauften sie sofort Vijay, und sie nahm den Namen beglückt an, weil sie sich damit wohler fühlte als mit Varuna Jarita, den Namen, die ihre Eltern ihr gegeben hatten.

Ihre Mutter hatte sie als Baby der mächtigen Göttin Sakti geweiht, deren Name ›Energie‹ bedeutet. In dem weit gespannten Hindu-Pantheon verkörpert Sakti jungfräuliche Unschuld und blutrünstige Zerstörung: eine ewige Jungfrau, aber auch die Göttin der verbotenen Freuden.

Ihr Vater ignorierte sie meistens, außer wenn er sich den Kopf darüber zerbrach, woher er angesichts seines kargen Gehalts als beeidigter Wirtschaftsprüfer bei einem kleinen Rechnungsführer, dessen Klientel fast ausschließlich aus lokalen indischen Firmen bestand, das Geld für eine weitere Mitgift nehmen sollte.

Als jüngste Tochter der Familie hatte sie Mut und Energie in die Wiege gelegt bekommen. Ihre Mutter versuchte, Vijay mädchenhafte Tugenden beizubringen, während ihre älteren Schwestern anfingen, sich mit Jungen zu treffen, und dann eine nach der anderen von der höheren Schule abgingen, um zu heiraten und selbst Babies zu kriegen. Ihr Bruder ging ans College, der Stolz seines Vaters.


Vijay weigerte sich, die Schule zu verlassen und sich einen Mann zu suchen. Als ihr Vater drohte, ihr Gehorsam einzubläuen, zog sie zu Hause aus und lebte auf sich allein gestellt mit mehreren Freunden und Freundinnen zusammen.

Nachts arbeitete sie in Restaurants, Videoläden und überall, wo man eine ernsthafte, ehrliche High-School-Absolventin im letzten Schuljahr einstellte, die nicht die Absicht hatte, sich von einem Mann verführen zu lassen.

Anschließend ging sie mit einem Stipendium aus dem australischen Ausbildungsförderungsprogramm an die Melbourne University und versprach, dem Staat den größten Teil davon zurückzuzahlen, sobald sie ihren Abschluss in der Tasche hatte und ihr eigenes Geld verdiente. Während sie ihren Lebensunterhalt immer noch aus eigener Kraft bestritt, qualifizierte sie sich mit Leichtigkeit für ein Medizinstipendium. Ihre Mutter gab alle Hoffnung auf, dass sie jemals heiraten und eine anständige Familie gründen würde. Ihr Vater erlag in ihrem letzten Jahr an der Universität einem Krebsleiden und gab erst auf dem Totenbett zu, dass er stolz darauf war, was sie erreicht hatte.

Zu der Zeit, als Vijay ihr Praktikum im Universitätskrankenhaus ableistete, hatte sie gelernt, dass Sex nicht nur Spaß machte, sondern auch als Machtmittel eingesetzt werden konnte. Für gewöhnlich wählte sie den Spaß, obgleich sie es auch ziemlich oft genoss, von der Macht Gebrauch zu machen, die der Sex ihr verlieh. Während die meisten ihrer Freundinnen sich beklagten, die australischen Männer seien

›entweder Flegel oder Trottel‹, stellte Vijay fest, dass es in ihrer Welt eine Menge intelligenter und nachdenklicher Männer gab. Die meisten waren anfangs schüchtern, aber das machte sie nur umso anziehender, soweit es sie betraf.

Für Vijay war Sex eine Art des Lernens statt eine alles verzehrende Leidenschaft. Sie genoss die Macht, die er ihr verlieh, und sie bewahrte sich die Freiheit, sich auszusuchen, wen, wann und was sie wollte. Natürlich wurde sie verletzt; mehr als einmal. Doch als sie in dem heruntergekommenen Krankenhaus des St.-Kilda-Viertels, wo sie aufgewachsen war, als Notärztin zu arbeiten begann, hielt sie sich für eine erfahrene, weltläufige Frau.

Unglücklicherweise verliebte sie sich bis über beide Ohren in einen älteren Mann, einen verheirateten Arzt. Vijay stellte fest, dass selbst eine weltläufige Frau auf einen kultivierten, wohlhabenden Schuft hereinfallen kann, der überzeugend zu lügen vermag. Als sie der Wahrheit schließlich ins Auge blickte, wusste sie, dass sie von diesem Mann weg musste, weg aus Melbourne und aus Australien überhaupt. Und sie wusste, dass sie sich nie wieder so von der Liebe überwältigen lassen würde.

Ihre Reise nach Kalifornien war zunächst ein Urlaub, eine Zeit, um ihre seelischen Wunden verheilen zu lassen und frische Luft zu schöpfen. Sie blieb fünf Jahre und schlug eine neue Laufbahn in der Raumfahrtmedizin ein. Anfangs bei der amerikanischen NASA, später dann bei der Masterson Aerospace Corporation wurde Vijay Spezialistin für die Auswirkungen geringer Schwerkraft auf den menschlichen Körper und Geist.

Sie verbrachte dreimal neunzig Tage auf Raumstationen und erwog gerade, sich für ein Jahr auf die Mondbasis zu verpflichten, als sie von der zweiten Marsexpedition hörte.

Vijay Shektar bekam den Posten der Expeditionsärztin und – psychologin. Leicht war das nicht. Sie musste ihr Können in der Chirurgie, der Strahlenmedizin und sogar der Notfall-Zahnmedizin unter Beweis stellen. Das Auswahlverfahren war ungemein anspruchsvoll. Aber sie gewann. Obwohl sie sich schwor, dass sie mit keinem der Entscheidungsträger schlafen würde, bekam sie den Posten.

Vijay hatte nämlich gelernt, wie sie ihre Wünsche realisieren konnte. Und sie wusste, wenn sie hart genug arbeitete, all ihre Kraft und ihre Fähigkeiten einsetzte, bekam sie für gewöhnlich, was sie wollte. Das Kunststück war, zu wissen, was sie wollte. Das war das Schwierige.

Sie dachte oft an ihre Schutzgöttin. Liebe und Zerstörung, die beiden untrennbaren Attribute von Sakti. Sie glaubte nicht an die alte Religion, aber sie war sicher, dass der Liebe eine schreckliche Zerstörungskraft innewohnte, eine Macht, von der sie sich unter gar keinen Umständen noch einmal verletzen lassen wollte.


MORGEN: SOL 49

Gleich nach dem Astronauten kletterte Mitsuo Fuchida steif die Leiter vom Cockpit des Flugzeugs hinunter und setzte den Fuß auf den Gipfel des höchsten Berges im Sonnensystem.

Im blassen Licht der aufgehenden Sonne sah dieser Gipfel für ihn gar nicht wie einer aus. Er war in Japan und Kanada viel geklettert, und dies hier hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den zerklüfteten, schneebedeckten Granitbrocken, auf denen der Wind wie ein geworfenes Messer pfiff und die Wolken unter einem vorbeizogen.

Er schien sich auf nichts Dramatischerem als einer ausgedehnten, ziemlich flachen Ebene aus nacktem Basalt zu befinden. Da und dort lagen ein paar Kieselsteine und größere Felsbrocken herum, aber es waren weit weniger als bei der Basiskuppel. Von den Kratern, die sie aus der Luft erblickt hatten, war keine Spur zu entdecken; zumindest sah er nichts, was einem Krater ähnelte. Doch als er den Blick hob, erkannte er, wie hoch oben sie waren. Der Himmel hatte nicht seine übliche Karamellfarbe, sondern er war tiefblau; die Staubpartikel, die den Marshimmel röteten, waren tief unter ihnen. Auf der Erde wären sie in dieser Höhe bereits in den oberen Bereichen der Stratosphäre gewesen.

Fuchida fragte sich, ob er durch seine Sichtscheibe irgendwelche Sterne sehen, vielleicht sogar die Erde entdecken konnte. Er drehte sich um und versuchte, sich an der aufgehenden Sonne zu orientieren.

»Vorsicht«, warnte ihn Rodriguez' Stimme in seinen Helmlautsprechern. »Es ist …«

Fuchidas Stiefel rutschte unter ihm weg, und er fiel schmerzhaft auf den Hintern.

»… glatt«, schloss Rodriguez lahm.

Der Astronaut schlurfte vorsichtig zu Fuchida, mit den Bewegungen eines Mannes, der in Straßenschuhen eine Eisbahn überquert. Er streckte eine Hand aus, um dem Biologen aufzuhelfen.

Fuchida, dem ohnehin alles wehtat und der noch völlig steif war von der im Sitzen verbrachten Nacht im Cockpit, verspürte nun auch noch einen pochenden Schmerz am Hintern. Ich werde da einen hässlichen blauen Fleck bekommen, sagte er sich. Was für ein Glück, dass ich nicht auf dem Tornister gelandet bin und mir das Lebenserhaltungssystem kaputtgemacht habe.

»Fühlt sich an wie Eis unter den Füßen«, sagte Rodriguez.

»Unmöglich. Wir sind zu hoch oben, als dass sich Wassereis bilden könnte …«

»Trockeneis vielleicht?«

»Ah.« Fuchida nickte in seinem Helm. »Trockeneis. Kohlendioxid aus der Atmosphäre schlägt sich am kalten Gestein nieder.«

»Ja.«

»Aber Trockeneis ist nicht glatt …«

»Dieses Zeug hier schon.«

Fuchida überlegte rasch. »Vielleicht bewirkt der Druck unserer Stiefel auf dem Trockeneis, dass eine dünne Schicht verdunstet …«

»… und wir eine Schicht Kohlendioxidgas unter den Stiefeln haben.« Rodriguez erfasste die Situation sofort.

»Genau. Wir schlittern auf einem Gasfilm dahin, wie gasgeschmierte Kugellager.«

»Dann werden wir aber verdammte Schwierigkeiten haben, hier herumzulaufen.«

Fuchida wollte sich den Hintern reiben, obwohl er wusste, dass es in dem Raumanzug unmöglich war. »Die Sonne wird das Eis wegbrennen.«

»Glaub nicht, dass es hier oben warm genug wird, damit es verdunstet.«

»Es sublimiert bei achtundsiebzig Komma fünf Grad Celsius unter Null«, sagte Fuchida.


»Bei normalem Druck«, betonte Rodriguez.

Furchida warf einen Blick auf das Thermometer an seiner rechten Manschette. »Wir haben jetzt schon zweiundvierzig Grad minus«, sagte er, und zum ersten Mal hob sich seine Laune. »Außerdem, je niedriger der Druck, desto niedriger der Siedepunkt.«

»Ja. Das stimmt.«

»Diese Stelle ist offenbar von der Tragfläche des Flugzeugs beschattet worden«, meinte Fuchida. »Ansonsten scheint der Boden eisfrei zu sein.«

»Dann wollen wir mal an den Strand und uns bräunen«, sagte Rodriguez humorlos.

»Nein, wir gehen zur Caldera, wie geplant.«

»Glaubst du wirklich, wir können gefahrlos herumlaufen?«

Fuchida nickte in seinem Helm und machte einen zögernden Schritt. Der Boden fühlte sich glatt an, aber nicht glitschig. Noch ein Schritt, und noch einer.

»Vielleicht hätten wir Fußballstollen mitbringen sollen.«

»Nicht nötig. Der Boden ist jetzt in Ordnung.«

Rodriguez grunzte. »Sei trotzdem vorsichtig.«

»Aber ja.«

Während Rodriguez über Anzugfunk seinen morgendlichen Bericht durchgab, der von dem stärkeren Sender im Flugzeug weitergeleitet wurde, entriegelte Fuchida die Luke der Ladebucht und ließ ihren Ausrüstungsschlitten zu Boden gleiten. Wieder staunte er darüber, dass dieses Flugzeug aus Kunststoff und anderem hauchdünnem Material sie und ihre Ausrüstung tragen konnte. Es schien völlig unmöglich zu sein, dennoch war es so.

»Bist du so weit?«, fragte er Rodriguez. Er konnte es kaum erwarten, endlich loszuziehen.

»Jawohl. Ich will nur eben noch den Kreiselkompass checken …«

Fuchida wartete nicht ab, bis der Astronaut mit seinem Check fertig war. Er kannte die Richtung zur Caldera, als wären ihre Koordinaten in sein Herz eingeprägt.

Beim Aufwachen stellte Jamie fest, dass er allein war. Seine Augen fühlten sich verklebt an, und er wünschte sich sehnlichst, noch ein oder zwei Stunden schlafen zu können.

Doch das rote Digitaldisplay der Uhr zeigte 06.58 an, und sieben Uhr war der offizielle Beginn des Arbeitstages.

Er setzte sich auf und lächelte. Die Liege roch nach Sex. Es war großartig gewesen: zuerst hastig, gierig und fordernd, dann träger, sanfter, liebevoller. Zwischen den Aufwallungen der Leidenschaft hatten sie miteinander geredet, miteinander geflüstert. Jamie erfuhr ein wenig über die Dinge, mit denen eine dunkelhäutige Frau in einer männlich geprägten Welt fertig werden musste: in der Familie, der Schule, ja sogar in ihrem Beruf – Vijay hatte es nicht leicht gehabt. Ihre Attraktivität hatte ihr ebenso viel geschadet wie genützt.

Er blinzelte, rieb sich die Augen und versuchte, sich zu entsinnen, wie viel er ihr von sich erzählt hatte. Er erinnerte sich, dass er von Al und dem verborgenen Zug von Navajo-Mystizismus gesprochen hatte, der bei seinem Großvater hin und wieder durchgebrochen war. Er hatte ihr von den Himmelstänzern erzählt und versprochen, sie ihr heute Nacht zu zeigen.

Heute Nacht. Jamies Lächeln verblasste zu besorgter Unsicherheit. War die letzte Nacht eine einmalige Sache, oder ist es der Anfang von etwas Ernstem? Er wusste es nicht. Seine letzte Beziehung mit einer Frau hatte auf dem Mars begonnen und mit der Scheidung geendet.

Mit einem bekümmerten Seufzen stand er auf und blickte dem Tag ins Auge.

Blasses Morgenlicht fiel schräg durch die gekrümmte Windschutzscheibe des Rovers, während Dex stetig über die wellige, mit Steinen übersäte Ebene fuhr. Jeder Kiesel, jede Rinne warf lange Morgenschatten. Das Sonnenlicht sieht hier anders aus, dachte Dex. Schwächer, rosafarbener

… irgendwas.


Er und Craig waren seit ungefähr einer Stunde unterwegs, als Dex plötzlich ein rotes Licht an der Kontrolltafel aufleuchten sah.

»He, Wiley«, rief er über die Schulter. »Wir haben hier ein Problem.«

Craig schlurfte ins Cockpit und ließ sich auf den rechten Sitz fallen. »Was heißt hier ›wir‹, weißer Mann?«

Dex tippte mit einem Finger auf das Warnlicht.

»Oh-oh«, sagte Craig.

»Das klingt nicht so gut, Wiley.«

»Die Brennstoffzellen entladen sich. Das solltense nich.«

»Wir müssen doch nicht anhalten, oder?«

»Nee«, sagte Craig. »Ich schau sie mir mal an.«

Er ging zum hinteren Ende des Rover-Moduls. Die Brennstoffzellen waren das Reservestromsystem, das zum Einsatz kommen sollte, wenn die Solarpaneele draußen die Batterien nicht aufladen konnten, die die Systeme des Rovers nachts in Betrieb hielten. Die Brennstoffzellen dieses alten Rovers arbeiteten mit Wasserstoff und Sauerstoff; das hieß, sie lieferten als ›Abfall‹-Produkt Trinkwasser. Die Brennstoffzellen der neueren Rover arbeiteten mit Methan und Sauerstoff, die aus Permafrost-Wasser und Elementen der Marsatmosphäre erzeugt wurden.

Trumball fuhr weiter durch die monotone Landschaft.

»Endlos weit nichts als endlose Weite«, murmelte er vor sich hin. Er wusste, er sollte das Land mit den neugierigen Augen eines Geologen studieren, die Gesteinsformationen kategorisieren, die Struktur der Sanddünen beobachten, die Dichte des überall verstreuten Gesteins registrieren, nach Kratern suchen. Stattdessen langweilte er sich einfach nur.

Genau zur vollen Stunde läutete der Timer an der Tafel.

Dex rief zu Craig nach hinten: »Wir müssen anhalten und eine Bake aufstellen, Wiley.«

»Fahr weiter«, sagte Craig. »Ich zieh mich an. Muss sowieso raus, um mir die verdammten Brennstoffzellen anzusehen.«


Dex ließ den Rover weiterrollen, während Craig sich allein in seinen Raumanzug zwängte. Als er verkündete, er sei so weit, stoppte Dex das Fahrzeug und ging nach hinten, um den Anzug und den Tornister Craigs zu überprüfen.

»Sieht gut aus, Wiley«, sagte er schließlich.

»Okay«, kam Craigs Stimme, gedämpft von seinem verschlossenen Helm. »Gib mal 'ne Bake.«

Dex tat es und stieg dann in seinen eigenen Anzug. Diese verdammten, bescheuerten Sicherheitsvorschriften, dachte er, als Craig durch die Luftschleuse hinausging. Ich muss hier in dieser Blechdose rumstehen wie ein Vollidiot, nur weil Wiley draußen ist. Wenn irgendwas schief geht, kommt er sowieso schleunigst wieder zur Luftschleuse rein; wird überhaupt nicht nötig sein, dass ich rausgehe und ihn rette.

Während Dex so vor sich hingrummelte, dachte er kurz über die Sicherheitsvorschrift nach, derzufolge eine zweite Person seinen Anzug überprüfen musste. Wie, zum Teufel, soll das gehen, wenn der zweite Mann schon draußen ist, moserte er stumm. Er hatte eh nicht die Absicht, hinauszugehen, jedenfalls nicht, solange Craig nicht in irgendwelche unvorstellbaren Schwierigkeiten geriet. Die Schwachköpfe, die diese Vorschriften abfassen, müssen die Art Typen sein, die Hosenträger und Gürtel zugleich tragen, sagte er sich. Alte Fürze wie Jamie.

Dex stampfte zum Cockpit zurück und setzte sich unbeholfen in den linken Sitz. Alle Lichter am Armaturenbrett waren grün, außer dem für die Brennstoffzellen.

»Wie läuft's, Wiley?«, rief er über Bordfunk.

»Checke grade diese beschissenen Brennstoffzellen. Gib mir 'n paar Minuten.«

»Lass dir Zeit«, sagte Dex.

Während er untätig herumsaß, suchte er mit dem Blick den Horizont ab. Nichts. So tot wie Beethoven. Toter. Nichts als Steine und Sand und jede Nuance von Rot, die das menschliche Auge wahrnehmen konnte. Nichts bewegte sich dort draußen …

Er setzte sich abrupt kerzengerade auf, was in dem Raumanzug gar nicht so einfach war. Da draußen bewegte sich doch etwas! Nur ein Flackern, weit entfernt am Horizont, dann war es weg.

Dex ging nach hinten zu den Gerätefächern unter den Liegen im mittleren Teil des Moduls. Sich in dem Anzug zu bücken war schwierig; er musste sich auf die Knie niederlassen, um die Riegel der Fächer zu erreichen. Den Anzug und seine Handschuhe verfluchend, wühlte er die säuberlich geordneten Werkzeugsätze durch, bis er das elektronisch verstärkte Fernglas fand. Dann eilte er wie ein altes Filmungeheuer, das zu galoppieren versucht, ins Cockpit zurück.

Da das Visier seines Helms hochgeklappt war, konnte Dex das Fernglas an die Augen setzen, um den Horizont abzusuchen. Nichts. Was immer es war, es war fort, verschwunden.

Moment! Ein Flackern …

Dex justierte die Schärfe, und es wurde deutlich sichtbar.

Ein Staubteufel. Ein strudelnder kleiner Staubwirbel, rot wie ein echter Teufel. Im Alten Testament hätte man das als Feuersäule bezeichnet, dachte Dex, nur dass diese da auf dem Mars war, nicht in Israel oder Ägypten. Ihm fiel ein, dass es auf dem Mars eine Region namens Sinai gab, südlich des Grand Canyon.

» Da solltest du sein, Freundchen«, sagte er leise, während er zusah, wie der Mini-Zyklon zuckend über den fernen Horizont tanzte.

Als Dex das Fernglas absetzte, dachte er an die gewaltigen Staubstürme, die den Mars manchmal fast von Pol zu Pol bedeckten. Normalerweise im Frühling. Er schüttelte im Helm den Kopf. Eigentlich ist es dafür schon zu spät; wir haben die Landung zeitlich so gelegt, dass die Stürme vorbei sein würden. Außerdem hat es dieses Jahr gar keine gegeben.


Noch nicht, warnte ein winzige Stimme in seinem Kopf.

Auf dem Mars dauert der Frühling sechs Monate.

Beim Frühstück fühlte Jamie sich ziemlich unwohl. Für gewöhnlich nahmen die Teammitglieder ihre Morgenmahlzeit ein, wann sie wollten; es gab keinen festgelegten Zeitpunkt, zu dem sich alle morgens in der Messe versammelten. Doch wie der Zufall es wollte, saßen die drei Frauen schon am Tisch, als Jamie aus seiner Unterkunft kam, hatten die Köpfe zusammengesteckt und schwatzten munter.

Als sie Jamie kommen sahen, verstummte das Geplauder.

Er sagte ihnen guten Morgen, und sie erwiderten den Gruß im Chor. Dann wachsames Schweigen, als er sich eine Frühstückspackung aus der Gefriertruhe auswählte. Er spürte ihre Blicke im Rücken.

»In ein paar Tagen müssten wir die Erdbeeren pflücken können«, sagte er zu niemand Bestimmtem.

»Ja, und die Tomaten auch«, antwortete Trudy Hall.

Jamie nahm am Kopfende des Tisches Platz. Trudy und Stacy saßen zu seiner Linken, Vijay am anderen Ende, ihm gegenüber. Sie lächelte ihn an, und er lächelte befangen zurück.

»Gut geschlafen?«, fragte Trudy, ihre Miene das Inbild unschuldiger Neugier.

Jamie nickte und wandte seine Aufmerksamkeit der Schüssel Instant-Müsli zu, die vor ihm stand.

Die Unterhaltung war anstrengend. Ganz gleich, was Hall oder Deschurowa sagten, alles klang für Jamie wie eine versteckte Anspielung auf Sex. Vijay wirkte jedoch völlig entspannt. Ihr macht dieses Geschäker Spaß, dachte Jamie.

Er schaufelte sein Essen so schnell in sich hinein, wie er konnte, und ging dann zum Kommunikationszentrum.

»Ich muss mich mit den anderen in Verbindung setzen«, erklärte er den Frauen.

»Ich habe schon mit beiden Teams gesprochen«, rief Stacy seinem entschwindenden Rücken nach. »Possum hat eine streikende Brennstoffzelle, aber ansonsten ist alles okay.«

Jamie blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Und Tomas?«

»Sie sind unterwegs zur großen Caldera, genau nach Plan.«

»Gut«, sagte Jamie. Dann machte er sich wieder auf den Weg zum Kommunikationszentrum.

Ein paar Minuten, nachdem er mit Fuchida gesprochen hatte, schlüpfte Vijay in die Kabine und setzte sich neben ihn.

»Es ist kein Verbrechen, weißt du«, sagte sie. Ihre Lippen verzogen sich zu einem leisen Lächeln.

»Ich weiß.«

»Wir sind schließlich erwachsene Menschen.«

»Ich weiß«, wiederholte er.

»Hast du gedacht, die anderen wären eifersüchtig?«

»Ach, komm schon, Vijay …«

Sie lachte fröhlich. »Schon besser. Mann, warst du vorhin verkrampft!«

»Wissen sie Bescheid?«

»Ich hab nichts gesagt, aber so wie du dich benommen hast, müssen sie's erraten haben.«

»Verdammt.«

»Kein Grund, sich zu schämen.«

»Ich weiß, aber …«

»Es ist nun mal passiert, Jamie. Jetzt vergiss es. Mach einfach so weiter wie bisher. Du brauchst dich zu nichts verpflichtet zu fühlen. Daran liegt mir nichts.«

Er war erleichtert und enttäuscht zugleich. »Vijay, ich …

sieh mal, das kompliziert irgendwie alles.«

Sie schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Kamerad. Keine Komplikationen. Es ist passiert, und es war sehr nett.

Vielleicht wird's wieder passieren, wenn der Mond richtig steht. Vielleicht auch nicht. Denk nicht weiter drüber nach.«

»Wie, zum Teufel, soll ich das anstellen, nicht weiter dar

über nachzudenken?«


Ihr Lächeln kehrte zurück. »Das wollte ich von dir hören, Jamie. Das ist alles, was ich hören wollte.«


NACHMITTAG: SOL 49

Rodriguez fühlte, wie ihn ein eisiger, beklemmender Schauer überlief, als er in die Caldera starrte. Es war, als stünde man am Rand eines riesigen Lochs in der Welt, eines Lochs, das bis in die Hölle hinunterführte.

»Nietzsche hatte Recht«, sagte Fuchida. In Rodriguez'

Helmlautsprechern klang seine Stimme ehrfürchtig, fast ängstlich.

Rodriguez musste den gesamten Oberkörper drehen, um den japanischen Biologen anzusehen, der neben ihm stand.

In seinem klobigen Raumanzug war er nur an den blauen Streifen an den Armen zu erkennen.

»Du meinst das mit dem Abgrund, in den man schaut, und der dann irgendwann in einen zurückschaut.«

»Hast du Nietzsche gelesen?«

Rodriguez grunzte. »Auf Spanisch.«

»Das muss interessant gewesen sein. Ich habe ihn auf Japanisch gelesen.«

Mit einem leisen Glucksen sagte Rodriguez: »Deutsch kann also offenbar keiner von uns beiden, hm?«

Es war eine so gute Art wie jede andere, die Spannung zu lösen. Die Caldera war riesig, eine Mammutgrube, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte. An ihrem Rand zu stehen und in die dunklen, schattigen Tiefen zu schauen, die wer weiß wie weit hinabreichten, war ausgesprochen verstörend.

»Das ist 'n höllisches Loch«, murmelte Rodriguez.

»Es könnte den kompletten Mount Everest schlucken«, sagte Fuchida. Seine Stimme klang ein wenig dumpf vor Ehrfurcht.

»Wie lange ist dieses Biest schon tot?«

»Mindestens zehn oder zwanzig Millionen Jahre.

Vielleicht auch viel länger. Das ist eins der Dinge, die wir hier herausfinden wollen.«

»Was meinst du, ist demnächst 'n neuer Ausbruch fällig?«

Fuchida lachte zittrig. »Wir würden ausreichend vorgewarnt werden, keine Angst.«

»Was, ich und Angst?«

Sie begannen, die Ausrüstung abzuladen, die sie auf dem Schlitten mitgeschleppt hatten. Die beiden Kufen waren mit kleinen, teflonbeschichteten Rädern bestückt, sodass die Muskelkraft der beiden Männer ausreichte, um ihn auch über unebenen Boden zu ziehen. Ein großer Teil der Ausrüstung war Bergsteigermaterial: Klemmkeile, Haken und lange Rollen Buckyball-Seil.

»Willst du wirklich da runter?«, fragte Rodriguez, während er Löcher in den harten Basalt bohrte, damit Fuchida Geo/Met-Baken aufstellen konnte.

»Ich habe viel Zeit mit der Erforschung von Höhlen verbracht«, antwortete Fuchida, der eine der Baken in seiner beschuhten Hand hielt. »Ich habe mich lange darauf vorbereitet.«

»Dann bist du also fest entschlossen, da runter zu gehen, hm?«

Fuchida merkte, dass er eigentlich nicht gehen wollte. Jedes Mal, wenn er auf der Erde eine Höhle betrat, hatte er eine irrationale Furcht verspürt, aber er hatte sich gezwungen, die Kavernen zu erforschen, weil er wusste, dass es ein wichtiger Punkt war, der im Wettbewerb um einen Platz bei der Marsexpedition zu seinen Gunsten sprechen würde.

»Ja, ich bin fest entschlossen«, antwortete der Biologe und rammte ächzend die erste Bake in ihr Loch.

»Ist ein schmutziger Job«, scherzte Rodriguez über das Elektromotorgeheul des Bohrers hinweg, »aber irgendjemand muss es ja machen.«

»Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss«, gab Fuchida mit derselben gespielten Tapferkeit wie sein Teamkamerad zurück.


Rodriguez lachte. »Das ist nicht von Nietzsche.«

»Nein. Von John Wayne.«

Sie stellten die restlichen Baken auf und gingen zum Rand der Caldera zurück. Langsam. Widerwillig, dachte Rodriguez. Na ja, sagte er sich, selbst wenn wir uns beim Rumstöbern da unten das Kreuz brechen, haben wir zumindest die Baken fertig.

Fuchida blieb stehen, um die Messdaten der Baken zu überprüfen.

»Sender alle okay?«, fragte Rodriguez.

»Ja«, kam die Antwort in seinen Helmlautsprechern. »Interessant …«

»Was?«

»Der Wärmestrom aus dem Boden ist hier viel stärker als bei der Kuppel oder sogar unten im Canyon.«

Rodriguez fühlte, wie seine Augenbrauen nach oben krochen. »Du meinst, er ist noch aktiv?«

»Nein, nein, nein. Unmöglich. Aber da unten gibt es immer noch eine gewisse Menge thermischer Energie.«

»Wir hätten also Grillwürstchen mitbringen sollen.«

»Vielleicht. Oder vielleicht ist da unten etwas, das nur darauf wartet, uns zu verspeisen.« Die Stimme des Biologen klang aufgeregt.

»Was soll das heißen?«

»Wärmeenergie! Energie für Leben, vielleicht.«

Rodriguez sah blitzartig ein Bild aus schlechten Filmen vor sich: schleimige Alien-Monster mit Tentakeln und hervorquellenden Augen. Er zwang sich, nicht laut zu lachen.

Keine Sorge, die sind nur scharf auf Blondinen mit dicken Titten.

Fuchida rief: »Hilf mir, die Seile zu befestigen, und vergewissere dich, dass die Anker fest eingebettet sind!«

Kein Widerwille mehr, dachte Rodriguez. Er kann es kaum erwarten, in dieses riesige Loch runterzusteigen und nachzusehen, was für außerirdische Kreaturen er dort finden kann.


»Wasserstoff is das sturste Zeug im Universum, verdammich noch eins«, brummte Craig am Steuer des Rovers. Das rote Warnlämpchen an der Kontrolltafel leuchtete immer noch.

Dex, der neben ihm saß, sagte: »Aber Gott muss Wasserstoff geliebt haben …«

»… weil er so viel davon gemacht hat«, beendete Craig den Satz für ihn. »Ja, ich weiß.«

»Neunzig Prozent des Universums bestehen aus Wasserstoff, Wiley. Oder noch mehr.«

»Deshalb is das Universum ja auch so verdammt eigensinnig.«

»Was hast du denn gegen Wasserstoff – mal abgesehen davon, dass er aus den Brennstoffzellen entweicht?«

»Entweicht aus allem, das Zeug is 'n echter Schleicher, sickert durch Verschlüsse und Dichtungen, durch die nichts andres durchkommt.«

»Die Dichtungen dieser Brennstoffzellen sollten keinen Wasserstoff durchlassen«, sagte Trumball in ernsterem Ton.

»Der Hersteller wird eine Geldstrafe zahlen müssen, weil er die Dichtungen nicht wasserstofffest gemacht hat.«

»Wird uns höllisch viel nützen, wenn wir hier draußen krepieren.«

»He, Kopf hoch, Wiley! So schlimm ist es nicht. Wir kommen schon klar.«

»Gefällt mir nich, dass wir mit 'ner toten Reservestromversorgung immer weiter von der Basis wegfahren.«

»Wenn wir beim Treibstoffgenerator sind, können wir Wasserstoff nachfüllen«, sagte Trumball.

»Mh-mh. Der Generator erzeugt Methan und Sauerstoff.

Keinen Wasserstoff.«

»Der Wasseraufbereiter ist auch mit dabei, erinnerst du dich?«

»Ja.«

»Also«, Trumball wedelte mit der Hand, »nehmen wir zusätzliches Wasser an Bord und zerlegen es elektrolytisch in Sauerstoff und Wasserstoff. Voilà! «

Craig warf ihm einen verdrießlichen Blick zu. »Aha. Wir zerlegen das Wasser.«

»Genau. Mit Strom aus den Solarpaneelen.«

»Und was trinken wir, Amigo?«

»Wasser aus den Brennstoffzellen.«

»Also, nun mal …«

»Nein, hör mir zu, Wiley. Die Sache läuft so: Wir nehmen das Wasser an Bord, zerlegen es und betreiben mit dem Wasserstoff die Brennstoffzellen.«

»Was ist mit dem Sauerstoff?«

»Den speichern wir oder lassen wir ab, ist doch egal. Sauerstoff haben wir ja in rauen Mengen. So weit alles klar?«

»Wir pumpen den Wasserstoff in die gottverdammten leckenden Brennstoffzellen. Tolle Sache.«

»Ja, aber wir holen uns unseren Nachtstrom aus den Brennstoffzellen statt aus den Lithiumbatterien.«

»Also, weshalb, zum Teufel …«

»Dann macht es nichts aus, wenn die Brennstoffzellen lecken; wir lassen sie arbeiten und bekommen Strom von ihnen, noch ehe der Wasserstoff entweichen kann.«

Beide Hände am Lenkrad des Rovers, den Blick auf das Gelände vor ihnen gerichtet, schaute Craig drein wie jemand, der darauf wartete, von einem KartenhAl beschummelt zu werden.

»Und was erzeugen die Brennstoffzellen noch, außer Strom?«, fragte Trumball und grinste bis über beide Ohren.

»Wasser.«

»Davon trinken wir ein bisschen was und spalten den Rest in Sauerstoff und frischen Wasserstoff auf, mit dem wir dann wieder die Brennstoffzellen betreiben!«

Craig schüttelte den Kopf. »Toll. Du hast das Perpetuum Mobile erfunden.«

»Quatsch. So dumm bin ich nicht, Wiley. Wir werden die ganze Zeit Wasserstoff verlieren, schon klar. Aber das wird so langsam gehen, dass wir unseren Nachtstrom auf dem ganzen Weg bis zum Ares Vallis und zurück zum Generator von den Brennstoffzellen beziehen können! Und die Batterien halten wir in Reserve.«

»Haste's mal durchgerechnet?«

»Grob überschlagen. Ich schick's durch den Computer, sobald du mir genaue Zahlen für die normale Leistung der Brennstoffzellen gibst.«

Craig rieb sich das stoppelige Kinn. »Die Daten müssten im Computer sein.«

»Okay, dann her damit.«

Craig zögerte. »Wir brauchen 'ne Genehmigung. Ich muss Jamie sagen, was wir vorhaben, und er wird's wahrscheinlich nach Tarawa weiterleiten.«

Trumball zeigte ihm sein breitestes Grinsen. »Meinetwegen kannst du um so viele Genehmigungen bitten, wie du willst, Wiley, solange wir's trotzdem machen.«

»Also, Moment mal …«

»Was werden sie sagen?«, unterbrach ihn Trumball.

»Wenn sie nein sagen, brechen sie die Exkursion de facto ab. Und das werden wir nicht zulassen, oder?«

»Du meinst, selbst wenn sie nein sagen, machen wir's trotzdem?«

»Klar! Warum nicht? Wie wollen die uns dran hindern?«

»Ihr wollt die Brennstoffzellen für die Nachtstromversorgung benutzen?«, fragte Jamie. Er war nicht sicher, ob er Craig richtig verstanden hatte.

»Is ungefähr so, als würde man aus 'ner Zitrone Zitronenlimonade machen«, erwiderte Possum.

Jamie schaute auf den Bildschirm. Craigs unrasiertes Gesicht war völlig ernst. Er schien in seinem Overall im Cockpit zu sitzen. Dex saß offenbar direkt neben ihm am Steuer des Rovers. Ein Blick auf die Daten auf den Monitoren neben dem Hauptbildschirm zeigte, dass der Rover mit stetigen dreißig Stundenkilometern dahinpflügte.

»Klingt riskant, finde ich«, sagte Jamie, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.


»Wir haben's durchgerechnet«, erwiderte Craig. »Müsste hinhauen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann fahren wir ohne Reservestromversorgung weiter, so wie jetzt.«

»Gefällt mir nicht.«

»Die Alternative wäre«, warf Trumballs Stimme ein, »die Exkursion abzubrechen und mit eingeklemmtem Schwanz zurückzukommen.«

»Das will dein Vater«, sagte Jamie. Er hatte vorgehabt, bis zum Abend damit zu warten und mit Dex unter vier Augen über den Zorn des älteren Trumball zu sprechen. Dex' Vater hatte in den vergangenen zwölf Stunden drei Antworten auf Jamies letzte Botschaft geschickt, jede wütender als die vorherige.

Eine Hand verdunkelte das Bild vom Cockpit des Rovers und drehte die Kamera zu Dex.

»Der gute alte Dad neigt zu Wutausbrüchen«, sagte er lässig und grinste. »Leite seine Nachrichten einfach an mich weiter. Ich werde schon mit ihm fertig.«

»Kann sein, dass du gerade der nächsten Expedition den Geldhahn zudrehst, Dex«, sagte Jamie.

Trumball schüttelte energisch den Kopf. »Garantiert nicht.

Wenn wir die Pathfinder-Sonde mitbringen, werden uns die Investoren die Bude einrennen und uns das Geld nur so in den Hintern blasen.«

Sodass du zum Mars zurückkommen und alles plündern kannst, was du in die Finger kriegst, dachte Jamie.

Er stellte sich Trumball mit dem eisernen Kürass und dem Helm eines Conquistadors vor.

Eine Hand schwenkte die Kamera erneut herum. »Ich mach mir keine Sorgen um die nächste Expedition«, sagte Craig düster. »Ich will nur diese Exkursion heil hinter mich bringen.«

»Ich werde mit Tarawa reden müssen«, sagte Jamie und verabscheute sich zugleich dafür, dass er die Entscheidung nach oben abschob.

»Okay, in Ordnung«, sagte Trumballs Stimme. »Wir brauchen noch mindestens eine Woche bis zum Generator.«

Verdammt, dachte Jamie, während er das Gespräch mechanisch weiterführte. Dex weiß ganz genau, dass die Chance, sie zurückzurufen, umso geringer ist, je weiter sie weg sind.

Sobald er sich verabschiedet und die Verbindung zum Rover abgebrochen hatte, schlängelte sich ein anderer Gedanke in sein Bewusstsein: Je länger sie da draußen unterwegs sind, desto länger ist Dex weg von hier. Weg von Vijay.

Dafür verabscheute er sich noch mehr.

»Fertig?«, fragte Rodriguez.

Fuchida hatte sich das Klettergeschirr um den Raumanzug geschnallt. Das Seil war in das Joch eingeklinkt, das unter seinen Armen hindurchlief.

»Ich bin so weit«, gab der Biologe mit einer Selbstsicherheit zurück, die er in Wirklichkeit nicht verspürte. Der dunkle, gähnende Abgrund weckte eine urtümliche Furcht in beiden Männern, aber Fuchida wollte sich das nicht eingestehen und es erst recht nicht seinem Teamkameraden gegenüber zugeben.

Rodriguez hatte den Vormittag damit verbracht, alles für die Kletterpartie vorzubereiten, während Fuchida Steinproben sammelte und dann eine halbstündige VR-Show für die Zuschauer auf der Erde inszenierte. Die Steine waren hier oben auf dem Gipfel des Olympus Mons dünner gesät als unten auf der Ebene, und keiner von ihnen wies die farbigen Intrusionen auf, die auf Kolonien der Marsflechte hindeuteten.

Trotzdem war das Sammeln von Proben der erste Punkt auf der Tagesordnung des Biologen. Er betrachtete es als sein Geschenk an die Geologen, weil er das unerfreuliche, aber sichere Gefühl hatte, dass hier auf dem Dach dieser Welt keine biologischen Prozesse stattfanden. Aber unten, in der Caldera … das war vielleicht etwas anderes.

Fuchida trug immer noch das Virtual-Reality-Gerät an seinem Helm. Sie würden nicht in Echtzeit senden, aber die Aufzeichnung des ersten Abstiegs in die Hauptcaldera des Olympus Mons würde sowohl für die Wissenschaft als auch für die Unterhaltungsbranche von großem Wert sein.

»Okay«, sagte Rodriguez. Sein Widerwille war ihm deutlich anzuhören. »Meinetwegen kann's losgehen.«

Fuchida nickte in seinem Helm. »Dann sollten wir anfangen.«

»Vorsicht jetzt«, sagte Rodriguez, als der Biologe langsam von ihm zurücktrat.

Fuchida antwortete nicht. Er drehte sich um und stieg über den sanft gerundeten Rand des riesigen Loches im Boden. Die Caldera war so groß, dass er eine halbe Stunde brauchen würde, bis er so tief unten war, dass Rodriguez ihn nicht mehr sehen konnte, ohne seine Position an der Seilwinde zu verlassen.

Ich hätte zur Vorbereitung auf dieses Unternehmen Dantes Inferno lesen sollen, dachte Fuchida bei sich.

Der Weg zur Hölle neigte sich ganz allmählich, wie er wusste. Er würde bald steil genug werden.

Dann rutschten ihm beide gestiefelten Füße unter dem Leib weg.


TAGEBUCHEINTRAGUNG

Manchmal glaube ich, ich bin unsichtbar. Sie sehen mich einfach nicht. Ich bin mitten unter ihnen und mache meine Arbeit, aber für sie bin ich nicht da. Ich spreche, aber sie hören mich nicht.

Zumindest hören sie nicht zu. Ich bin genauso gut wie jeder von ihnen, aber sie schauen fast immer einfach durch mich hindurch.

Unsichtbar. Ich bin für sie nicht vorhanden.


NACHMITTAG: SOL 49

»Alles in Ordnung?«, fragte Rodriguez' Stimme aus Fuchidas Helmlautsprechern. Er klang nervös.

»Ich habe eine glatte Stelle erwischt. Hier muss es im Schatten Flecken geben, wo das Gestein von Trockeneis überzogen ist.«

Der Biologe lag auf der Seite; seine Hüfte pochte schmerzhaft von seinem Sturz. Wenn das so weitergeht, dachte er, bin ich von der Taille abwärts bald grün und blau.

»Kannst du aufstehen?«

»Ja. Natürlich.« Fuchida war eher peinlich berührt als verletzt. Er hielt sich wütend am Seil fest und zog sich hoch.

Selbst bei der Drittelschwerkraft des Mars kostete ihn das einige Anstrengung, weil der Anzug und das Tornistergerät schwer auf ihm lasteten und die ganze Ausrüstung an seinem Gurt und seinem Geschirr baumelte.

Sobald er auf den Beinen war, starrte er erneut in die Dunkelheit des gähnenden Schlunds der Caldera. Wie das Maul eines riesigen Tieres, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Wie das Tor zur ewigen Hölle.

Er holte tief Luft und sagte dann in sein Helmmikrofon:

»Okay. Ich steige weiter hinunter.«

»Sei vorsichtig, Mann.«

»Danke für den guten Tipp«, knurrte Fuchida.

Sein Ärger schien Rodriguez nicht zu stören. »Vielleicht sollte ich das Seil straffer halten«, schlug er vor. »Damit es nicht so durchhängt.«

Fuchida, der seinen Jähzorn bereute, stimmte zu: »Ja, dann kann ich mich vielleicht besser auf den Beinen halten.« Die Hüfte tat wirklich weh, und sein Hintern schmerzte noch von dem ersten Sturz.

Was für ein Glück, dass der Anzug nicht beschädigt worden ist, dachte er. Oder das Tornistergerät.


»Okay, ich hab die Spannung justiert. Also, immer mit der Ruhe.«

Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzelnen Schritt. Mitsuo Fuchida zitierte Laotses alten Spruch, als er einen gestiefelten Fuß auf den Boden vor sich setzte. Der nackte Fels schien guten Halt zu bieten.

Man kann das Eis nicht sehen, sagte er sich. Die Schicht ist zu dünn, als dass sie sichtbar wäre. Mehrere Dutzend Meter rechts von ihm fiel das Sonnenlicht auf die langsam steiler abfallende Flanke der Caldera. Dort wird kein Eis sein, dachte Fuchida. Er bewegte sich langsam in diese Richtung und prüfte bei jedem Schritt, ob seine Füße festen Halt fanden.

Das Seil war vorn an der Brust angebracht, damit er es leicht aushaken konnte, wenn nötig. Wegen der stärkeren Spannung des Seils fiel ihm das Gehen nun sehr viel schwerer. Fuchida kam sich beinahe wie eine Marionette an einem Faden vor.

»Lass ein bisschen lockerer«, rief er Rodriguez zu.

»Bist du sicher?«

Er drehte sich um, schaute zu seinem Teamkameraden hoch und stellte verblüfft fest, dass der Astronaut nicht mehr als ein winziger Klecks hoch oben am Rand war, eine kleine Gestalt im hellen Sonnenschein vor dem tiefblauen Himmel.

»Ja, ich bin sicher«, sagte er mit erzwungener Geduld.

Kurz darauf fragte Rodriguez: »Wie ist es so?«

Der Unterschied war kaum wahrnehmbar, aber Fuchida antwortete: »Besser.«

Etwa zwanzig Meter weiter unten sah er ein von der Sonne beschienenes Sims und beschloss, dorthin zu gehen.

Langsam und vorsichtig stieg er ab.

»Ich sehe dich nicht.« Rodriguez' Stimme klang nicht übermäßig besorgt.

Fuchida schaute nach oben. Er sah nur den tiefblauen Himmel und das sanft abfallende, kahle Gestein. Und das Seil, das ihn hielt, seine Rettungsleine.

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Ich zeichne meinen Abstieg mit den VR-Kameras auf. Da unten ist ein Sims, da mache ich Halt und schlage ein paar Steinproben ab.«

»Ich sag dir was: Wir hätten zum Landeplatz des Pathfinder fliegen sollen«, sinnierte Wiley Craig, während er den Rover durch den trockenen, kalten Nachmittag über die kahle Ebene steuerte.

»Keine Lust mehr zu fahren?«, fragte Dex Trumball, der auf dem rechten Cockpitsitz hockte.

»Bisschen langweilig momentan.«

»Hab ich alles gründlich durchdacht«, sagte Dex. »Das Raketenflugzeug hat nicht die erforderliche Reichweite für den Flug zum Ares Vallis.«

»Wir hätten zum Treibstoffgenerator fliegen und da auftanken können, so wie wir's mit der Karre hier machen.«

»Vielleicht. Aber wir hätten mehrmals auftanken müssen, und das hätte mindestens noch zwei Sprünge für den Generator bedeutet. Und zwei weitere Landungen für das Flugzeug.«

»Zu riskant, hm?«

»Ach, das Risiko würde mir nichts ausmachen«, sagte Dex rasch. »Aber das Raketenflugzeug könnte die alten Geräte gar nicht transportieren. Jedenfalls nicht zusammen mit einer vollen Treibstoffladung.«

Craig ließ einen langen Seufzer ertönen, der fast schon ein Stöhnen war. »Also fahren wir.«

»Wir kommen schon hin, Wiley.«

»Aber furchtbar langsam.«

»Wir stellen einen neuen Rekord für eine Überlandtraverse auf einer anderen Welt auf. Wenn wir wieder in der Basis sind, haben wir annähernd zehntausend Klicks zurückgelegt.«

»Mehr als die Jungs, die das Mare Imbrium auf dem Mond umrundet haben?«

»Auf alle Fälle. Die haben nur zweitausendfünfhundert Kilometer geschafft.«

»Hm.«

»Schlappe Säcke.«

»Dödelkram.«

Trumball grinste seinen Partner an. Auf beider Kinn und Wangen machten sich die stoppeligen Ansätze eines Bartes breit; sie hatten vereinbart, sich bis zur Rückkehr zur Basis nicht zu rasieren.

»Wir fahren über einen ehemaligen Meeresboden«, sagte Trumball mit einer Handbewegung zu dem hügeligen Gelände draußen. »Wenn wir anhalten und ein bisschen graben würden, fänden wir unter Garantie jede Menge Fossilien.«

Craig sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und woran willste erkennen, ob irgendwas 'n Fossil is oder ob du's nur mit altem Gestein zu tun hast? Denkste, du findest Trilobiten oder einen gekammerten Nautilus, der genauso aussieht wie die Fossilien auf der Erde?«

Dex atmete tief durch. Es klang fast wie ein Seufzer. »Ich weiß das, Wiley. Das hab ich Jamie schon an dem Tag erklärt, als wir gelandet sind.«

Craig grunzte.

Nach einem kurzen Schweigen sagte Dex: »Ich will dich mal was fragen, Wiley.«

»Was denn?«

»Es geht um diese Diskussion, ob wir die Basis in den Canyon verlegen sollten: Auf welcher Seite stehst du? Auf meiner oder auf der von Jamie?«

Jamie starrte das dreidimensionale Bild der Felswand an.

Er beugte sich über das Display des Immersionstisches und konzentrierte sich, als könnte er das alte Dorf durch reine Willenskraft zwingen, vor seinen Augen zu erscheinen.

Stacy Deschurowa saß wie üblich an der Kommunikationskonsole. Trudy und Vijay kümmerten sich um den hydroponischen Garten. Und Jamie wurde immer ungeduldiger.


Ich hätte Dex gar nicht erst zu dieser verrückten Exkursion aufbrechen lassen dürfen, sagte er sich. Nicht nur, dass ich deshalb Krach mit seinem Vater kriege, es vermasselt mir auch noch die Mission zu dem alten Dorf.

Jamie wusste, dass er nicht zum Canyon fahren konnte, solange vier Expeditionsmitglieder draußen unterwegs waren. Er musste warten, bis sie zur Kuppel zurückkehrten.

Fuchida und Rodriguez würden in ein paar Tagen wiederkommen, sofern sie nicht in Schwierigkeiten gerieten. Aber Trumball und Craig würden frühestens in rund vier Wochen zurück sein.

Mach dich deswegen nicht verrückt, sagte er sich stumm.

Hab Geduld. Wenn es sich bei dem, was sich da in die Klippen schmiegt, wirklich um ein altes Dorf handelt, dann ist es schon sehr, sehr lange dort. Ein paar Wochen mehr oder weniger machen da auch nicht viel aus.

Trotzdem brannte er darauf, dorthin aufzubrechen, aus dieser Kuppel herauszukommen, hinaus ins Gelände, weg von den anderen.

Weg von Vijay, erkannte er.

Sie hat es geschafft, dass ich so angespannt bin wie eine bis zum Anschlag aufgezogene Feder. Erst nein, dann ja, und jetzt vielleicht. Tut sie das mit Absicht? Will sie mich verrückt machen? Ist das ihre Art von Humor?

Seltsamerweise merkte er, dass er bei dem Gedanken grinste. Wir sind ja schon verrückt. Sonst wären wir nicht hier. Das verleiht dem Irrsinn nur eine weitere, neue Dimension.

Sei gelassen, riet der Navajo in ihm. Suche den Weg des Gleichgewichts. Nur wenn du im Gleichgewicht bist, kannst du Schönheit finden.

Sex. Wir machen ein Riesengewese darum. Und weshalb?

Sie wird nicht schwanger werden. Nicht hier. Nicht, wenn sie es nicht wirklich will, und dazu ist sie zu klug. Was macht es also schon aus, wenn man mal kurz miteinander in die Kiste springt?


Dann dachte er an ihr Geständnis, dass sie mit Trumball geschlafen hatte, und begriff, dass Sex ein Kurzschluss sein konnte, der eine Explosion auslöste.

Immer eins nach dem anderen, dachte er. Einen Tag nach dem anderen. Dann grinste er erneut. Eine Nacht nach der anderen.

Deschurowas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Jamie, das solltest du dir ansehen.«

Jamie richtete sich auf, merkte, wie seine Wirbel knackten, und drehte sich zur Kommunikationskonsole um, wo Stacy mit einem Headset auf dem strähnigen, sandblonden Haar saß.

»Was gibt's?«

»Die letzte Wettervorhersage von Tarawa.«

Jamie sah eine Polarprojektionskarte beider Hemisphären des Mars nebeneinander auf Deschurowas Hauptbildschirm. Meteorologische Isobaren und Symbole für Hoch-und Tiefdruckgebiete waren darauf verteilt.

Stacy tippte mit einem Fingernagel auf ein rotes T weit unten in der südlichen Hemisphäre. Jamie fiel auf, dass ihre Nägel manikürt und dunkelrot lackiert waren.

»Das ist ein Staubsturm«, sagte sie.

Jamie beugte sich über ihre Schulter, um sich die Karte genauer anzusehen. Er nickte. Und bemerkte, dass Stacy ein blumiges Parfüm aufgelegt hatte.

»Ganz unten auf der anderen Seite von Hellas«, murmelte er.

»Aber sie sagen voraus, dass er wachsen wird.« Sie drückte auf eine Taste, und die Karte für den nächsten Tag erschien auf dem Bildschirm. Der Sturm war größer und zog nach Westen.

»Immer noch ein gutes Stück unterhalb des Äquators«, sagte Jamie.

»Trotzdem.«

»Kannst du ein Echtzeitbild des Gebiets aufrufen?«

»Auf zwei«, erwiderte sie. Der Bildschirm direkt zu ihrer Rechten wurde hell und zeigte ein Satellitenbild der Region.

»Ein Staubsturm, klarer Fall«, sagte Jamie. »Ganz schön groß.«

»Und er wird größer.«

Er überlegte laut. »Selbst wenn er zu globaler Größe heranwächst, wird es über eine Woche dauern, bis er uns hier zu schaffen macht. Bis dahin sind Fuchida und Rodriguez längst zurück.«

»Aber Dex und Possum …«

Jamie stellte sich Dex' Reaktion vor, wenn er wegen der Möglichkeit, in einen Staubsturm zu geraten, zur Basis zurückbeordert wurde. Ich müsste ihm den Befehl erteilen zurückzukommen, dachte Jamie. Und es könnte sein, dass er ihn einfach ignoriert.

»Sag Tarawa, dass ich sofort mit den Meteorologen sprechen muss«, wandte er sich an Stacy.

»Okay.«

»He, Mitsuo«, rief Rodriguez.

Fuchida blickte automatisch auf. Aber der Astronaut war nicht mehr zu sehen. Fuchida war allein auf dem Sims unten in der abschüssigen, steinernen Flanke der Caldera. Das Buckyball-Seil, das ihn mit der Winde oben verband, übertrug auch den Anzugfunk, über den sie miteinander sprachen.

»Was ist?«, erwiderte er, froh darüber, Rodriguez' Stimme zu hören.

»Wie sieht's aus, Mann?«

»Kommt darauf an«, sagte Fuchida.

»Worauf?«

Der Biologe zögerte. Er arbeitete nun schon stundenlang an diesem Felsensims, schlug Proben ab, maß den Wärmestrom, trieb geduldig einen Bohrer in den harten Basalt, um zu sehen, ob in dem Gestein womöglich Wassereis eingeschlossen war.

Er befand sich jetzt im Schatten. Die Sonne war weitergezogen. Als er hochschaute, sah er erleichtert, dass der Himmel immer noch dunkelblau war. Da oben war es noch hell. Rodriguez würde ihn nicht bis nach Sonnenuntergang hier unten bleiben lassen, das wusste er, dennoch war es ein tröstliches Gefühl, dass es oben noch helllichter Tag war.

»Darauf, wonach man sucht«, antwortete er langsam. »Ob man Geologe oder Biologe ist.«

»Aha«, sagte Rodriguez.

»Ein Geologe wäre hier überglücklich. In diesem Gestein ist noch immer eine beträchtliche Menge Wärme gefangen.

Viel mehr, als allein durch die Sonnenerwärmung zu erklären ist.«

»Du meinst, der Vulkan ist noch aktiv?«

»Nein, nein, nein. Er ist tot, aber der Leichnam ist noch warm – jedenfalls ein bisschen.«

Rodriguez antwortete nicht.

»Ist dir klar, was das bedeutet? Dieser Vulkan muss viel jünger sein, als man bisher dachte. Viel jünger!«

»Wie jung?«

»Vielleicht nur ein paar Millionen Jahre alt«, sagte Fuchida aufgeregt. »Nicht älter als zehn Millionen.«

»Klingt für mich ziemlich alt, Amigo.«

»Aber es könnte hier Leben geben! Wenn Wärme vorhanden ist, enthält das Gestein vielleicht auch flüssiges Wasser.«

»Ich dachte, Wasser kann auf dem Mars nicht flüssig bleiben.«

»Nicht an der Oberfläche.« Fuchida spürte, dass er vor Aufregung vibrierte. »Aber tiefer drin, im Gestein, wo der Druck höher ist … da vielleicht schon …«

»Sieht ziemlich finster aus da unten.«

»Ist es auch«, antwortete Fuchida und spähte über den Rand des Simses, auf dem er saß. Die Anzugheizung schien bestens zu funktionieren; in diesem Halbdunkel mochte es über siebzig Grad unter Null sein, aber ihm war angenehm warm.

»Gefällt mir nicht, dass du da unten im Dunkeln bist.«


»Mir auch nicht, aber deshalb sind wir hier, oder?«

Keine Antwort.

»Ich meine, wir haben noch etliche hundert Meter Seil auf der Rolle, stimmt's?«

Rodriguez sagte: »Elfhundertzweiundneunzig, der Anzeige zufolge.«

»Dann kann ich noch ein ganzes Stück weiter hinunter.«

»Die Dunkelheit gefällt mir nicht.«

»Meine Helmlampe funktioniert prima.«

»Trotzdem …«

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte Fuchida mit Nachdruck und brachte den Astronauten damit zum Schweigen. Es war schon schlimm genug, seine eigenen Ängste bekämpfen zu müssen; mit denen von Rodriguez wollte er sich nicht auch noch belasten.

»Ich habe eine Spalte am Ende dieses Simses gesehen«, erklärte er dem Astronauten. »Sieht aus wie die Öffnung eines alten Lavaschlots. Er führt wahrscheinlich ein beträchtliches Stück in die Tiefe.«

»Findest du, das ist eine gute Idee?«

»Ich werde mal einen Blick hineinwerfen.«

»Geh aber kein unnötiges Risiko ein.«

Fuchida stand langsam auf. Er verzog das Gesicht. Sein ganzer Körper schmerzte von den Prellungen, die er sich bei seinen Stürzen zugezogen hatte, und er war völlig steif, nachdem er so lange auf dem Sims gesessen hatte. Beweg dich vorsichtig, warnte er sich. Das Gestein hier unten ist zwar wärmer, aber es könnte trotzdem vereiste Stellen geben.

»Hast du gehört?«, rief Rodriguez.

»Wenn ich deinen Rat befolgt hätte, läge ich in Nagasaki in meinem Bett«, sagte er und bemühte sich, es locker und witzig klingen zu lassen.

»Na klar doch.«

Steif ging er auf die Spalte zu, die er zuvor gesehen hatte.

Seine Helmlampe leuchtete hell, aber er musste sich ein wenig bücken, damit das Licht den Boden erreichte.

Da war sie. Ein schmales, leicht gerundetes Loch in der Basaltwand. Wie der Eingang zu einer Piratenhöhle.

Fuchida trat in die Öffnung und drehte sich von einer Seite zur anderen, sodass der Lichtkegel seiner Helmlampe über die Wände der Höhle strich.

Es war ein Lavaschlot, gar keine Frage. Wie ein von einem riesigen, extraterrestrischen Wurm gegrabener Tunnel wand er sich abwärts. Wie tief mochte er wohl hinuntergehen?

Fuchida erstickte eine Stimme in seinem Kopf, die von Angst und Gefahr wisperte, und ging in den kalten, dunklen Lavaschlot hinein.


SONNENUNTERGANG:

SOL 49

Dex Trumball runzelte die Stirn, als er Jamie über die Satellitenverbindung des Rovers zuhörte.

»Die Meteorologen rechnen nicht damit, dass der Sturm den Äquator überquert, aber sie behalten ihn im Auge.«

»Und wo liegt dann das Problem?«, fragte Trumball mit einem Blick zu Craig, der den Rover fuhr.

Das Gelände, das sie durchquerten, stieg ein wenig an und war rauer als zuvor. Eine Kette zerklüfteter Hügel erhob sich zu ihrer Linken, und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne warfen ins Riesenhafte verlängerte Schatten und verwandelten selbst die kleinsten Steine in Phantome, die sich ausstreckten, um ihnen den Weg zu versperren.

»Es ist eine Frage des Timings«, erwiderte Jamie. »Ihr entfernt euch mit jedem Tag weiter von der Basis. Wenn wir euch erst zurückrufen, sobald der Sturm eine wirkliche Gefahr darstellt, könnte es zu spät sein.«

»Aber ihr wisst nicht, ob der Sturm eine wirkliche Gefahr darstellen wird, oder?«

»Das Klügste wäre, jetzt umzukehren und die Exkursion auf den Sommer zu verschieben, wenn die Sturmgefahr praktisch gleich Null ist.«

»Ich will aber nicht wegen einer theoretischen Gefahr umkehren, die wahrscheinlich nie zu einer echten werden wird.«

»Immer noch besser, als in einen Staubsturm zu geraten, Dex.«

Trumball sah wieder zu Craig hinüber. Der warf ihm einen Seitenblick zu und schaute dann wieder konzentriert nach vorn.


»Du hast doch schon mal einen Staubsturm überstanden, oder?«, sagte er.

Er dauerte eine Weile, bis Jamie antwortete. »Wir hatten keine andere Wahl. Ihr schon.«

»Also, ich will dir mal was sagen, Jamie. Ich wähle die Möglichkeit, weiterzufahren, Ich werde nicht wegen eines saublöden Sturms anhalten und umkehren, der ein paar tausend Klicks entfernt ist.«

Jamie, der vor der Kommunikationskonsole saß – Stacy neben ihm, Vijay in seinem Rücken –, knetete seine Oberschenkel mit den Fäusten.

Wenn ich ihm umzukehren befehle und er sich weigert, verliere ich jede Autorität über diese Leute, die ich jetzt noch habe. Aber wenn ich ihn weiterfahren lasse, gebe ich damit zu erkennen, dass Dex mir nach Lust und Laune auf der Nase herumtanzen kann.

Ihm wurde klar, dass Dex derjenige war, der die Entscheidungen traf. Craig die Leitung der Expedition zu übertragen, war von Anfang an eine Farce gewesen. Possum blieb stumm, er sagte kein einziges Wort.

Was soll ich tun? Welchen Weg soll ich einschlagen? Jamie dachte eine Weile gründlich nach. Vor seinem geistigen Auge entstand ein Bild von Trumballs Route durch Lunae Planum und nach Xanthe Terra hinein.

»Bleib einen Moment dran, Dex«, sagte er und unterbrach die Verbindung.

Er wandte sich an Deschurowa. »Zeig mir ihre Route, Stacy.«

Sie holte das Bild auf den Monitor vor Jamies Stuhl. Eine schwarze Linie schlängelte sich über die Karte; Blips kennzeichneten die erwartete Position am Ende jedes Tages. Jamie überflog sie rasch, dann drückte er wieder auf die Sendetaste.

»Dex?«

»Wir sind noch da, Chief.«

»Falls der Sturm den Äquator überquert und euch bedroht, wird das frühestens in vier oder fünf Tagen geschehen. Dann ist eure Entfernung zur Basis schon größer als die zum Treibstoffgenerator.«

»Und?« Trumballs Stimme klang wachsam.

»In zwei Tagen müsstet ihr genau in der Mitte zwischen Basis und Generator sein.«

»Stimmt.«

»Das ist der Moment der Entscheidung. Der Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Dann werde ich entscheiden, ob ihr weiterfahren könnt oder umkehren müsst.«

»In zwei Tagen.«

»Ja. In der Zwischenzeit werden wir den Sturm sehr genau beobachten. Und ihr meldet euch stündlich bei uns.«

Diesmal war es Trumball, der eine Weile zögerte, bevor er antwortete. »Okay. Geht klar.«

»Gut«, sagte Jamie.

»In einer Stunde gehen wir schlafen«, sagte Trumball. »Ich melde mich dann noch mal.«

»Gut«, wiederholte Jamie.

Er beendete die Verbindung und lehnte sich zurück. Er fühlte sich, als hätte er zehn Runden mit einem Profiboxer im Ring gestanden.

Eine Viertelstunde später war Jamie im Geologielabor und führte eine Analyse der Kernproben durch, die Craigs Bohrer heraufbefördert hatte. Er war froh darüber, mit Steinen und Erde zu tun zu haben statt mit Menschen. Sedimentäre Ablagerungen, kein Zweifel. Diese Kuppel steht auf dem Grund eines uralten Meeres. Wenn wir vor ein paar hundert Millionen Jahren hier gewesen wären, dachte er, hätten wir eine Taucherausrüstung gebraucht.

»Jamie«, ertönte Stacy Deschurowas scharfe Stimme aus den Lautsprechern, »wir haben einen Notruf von Rodriguez.«

Als Deschurowas Stimme durch die Kuppel hallte, vergaß er seine Grübeleien sofort. Er ließ die Kernprobe im eingeschalteten Elektronenmikroskop und sprintete durch die Kuppel zum Kommunikationszentrum.

Deschurowa gab Jamie wortlos und mit grimmiger Miene ein Headset.

Rodriguez' Stimme war ruhig, aber man hörte seine nervliche Anspannung. »… jetzt schon über zwei Stunden da unten, und der Funkkontakt ist abgebrochen«, sagte der Astronaut gerade.

Jamie setzte sich wieder auf den Bürostuhl neben Deschurowa, während er das Stiftmikro zurechtbog. »Hier ist Jamie. Was ist los, Tomas?«

»Mitsuo ist wie geplant in die Caldera runtergestiegen.

Ungefähr fünfzig, sechzig Meter weiter unten hat er einen Lavaschlot entdeckt und ist reingegangen. Dann ist der Funkkontakt mit ihm abgebrochen.«

»Wie lange …«

»Jetzt schon über eine halbe Stunde. Ich hab am Seil gezogen, aber er reagiert nicht.«

»Was hältst du davon?«

»Entweder er ist bewusstlos, oder sein Funkgerät streikt.

Ich meine, ich hab richtig an dem Seil gezerrt. Nichts.«

Die dritte Möglichkeit, dass Fuchida tot war, erwähnte der Astronaut nicht, aber der Gedanke loderte in Jamies Geist.

»Du sagst, der Funkkontakt mit ihm ist abgebrochen, als er im Lavaschlot war?«

»Ja, genau. Schon vor über 'ner halben Stunde.«

Tausend Möglichkeiten schossen Jamie durch den Kopf.

Das Seil ist garantiert nicht gerissen, dachte er. Diese Buckyballs sind unglaublich belastbar.

»Es wird bald dunkel«, sagte Rodriguez.

»Du wirst ihm folgen müssen«, erklärte Jamie.

»Ich weiß.«

»Geh nur so weit, dass du feststellen kannst, was ihm zugestoßen ist. Finde raus, was passiert ist, und melde dich dann wieder hier.«

»Ja. Ist gut.«


»Es gefällt mir nicht, aber es geht nicht anders.«

»Mir gefällt's auch nicht«, sagte Rodriguez.

Durch einen Nebel aus Schmerz erkannte Mitsuo Fuchida die Ironie der Situation. Er hatte eine grandiose Entdeckung gemacht, aber er würde wahrscheinlich nicht lange genug leben, um jemandem davon zu erzählen.

Schon beim Betreten des Lavaschlots hatte er eine ungewohnte Furcht verspürt, wie eine Figur in einem alten Horrorfilm, die mit nichts als einer flackernden Kerze in der Hand langsam und ängstlich den engen Korridor eines Spukhauses entlanggeht. Nur dass dieser Korridor hier ein Schacht war, den ein uralter Strom rot glühender Lava ins massive Gestein geschmolzen hatte, und dass Fuchidas Licht von der Lampe im Helm seines Raumanzugs stammte.

Unsinn!, fauchte er stumm. In deinem Raumanzug bist du sicher, und das Seil verbindet dich mit Rodriguez oben an der Oberfläche. Aber er rief den Astronauten und schwatzte dummes Zeug mit ihm, nur um sich zu vergewissern, dass er in diesem engen, dunklen Gang hier unten nicht völlig vom Rest des Universums abgeschnitten war.

Die VR-Kameras an seinem Helm zeichneten alles auf, was er sah, aber Fuchida dachte, dass sich nur Geologen für diesen engen, klaustrophobischen Tunnel interessieren würden.

Der Schlot führte schräg nach unten, und die Wände waren ziemlich glatt, an manchen Stellen sogar beinahe glasig. Das schwarze Gestein glänzte im Lichtschein der Lampe. Ab und zu wurde der Tunnel noch enger, dann verbreiterte er sich wieder, obwohl er nirgends so breit war, dass Fuchida die Arme ganz zu den Seiten ausstrecken konnte.

Schweiß trat ihm auf Lippen und Stirn und tröpfelte ihm kalt über die Rippen. Hör auf mit dem Unsinn, ermahnte er sich. Du warst schon in engeren Höhlen als dieser.

Er dachte an Elizabeth, die in Japan auf ihn wartete und die subtilen Brüskierungen des tief sitzenden Rassismus hinnahm, weil sie ihn liebte und bei ihm sein wollte, wenn er zurückkam. Ich werde zu dir zurückkommen, schwor er, auch wenn dieser Tunnel in die Hölle selbst hinabführt.

Das Seil schien sich hin und wieder zu verhaken. Er musste stehen bleiben und daran ziehen, um es wieder zu befreien. Vielleicht experimentierte Rodriguez auch mit der Seilspannung herum, dachte er. Immer tiefer ging er in den Tunnel hinein, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, fuhr hin und wieder mit den beschuhten Händen über die sonderbar glatten Wände.

Fuchida verlor jedes Zeitgefühl, während er hier und dort etwas von den Tunnelwänden abschlug und die Probenbeutel füllte, die am Gurt seines Geschirrs baumelten. Das vor der Brust befestigte Seil erschwerte ihm das Gehen; er musste es über die Schulter oder um die Taille herumführen und kam nur mit Mühe voran.

Dann fiel ihm im Lichtkreis seiner Helmlampe zur Linken eine Einbuchtung auf, eine Mini-Nische, die heller wirkte als die übrigen glänzend schwarzen Tunnelwände. Fuchida schob sich näher heran und beugte sich ein kleines Stück in die Nische, um sie zu untersuchen.

Das Produkt einer Lavablase, dachte er. Die Nische war kaum groß genug für einen Mann – einen Mann, der nicht mit einem hartschaligen Raumanzug und einem klobigen Tornistergerät befrachtet war, hieß das. Fuchida stand am Eingang der kleinen Nische und spähte staunend hinein.

Und dann fiel ihm ein roter Streifen auf, der die Farbe von Eisenrost hatte. Rost? Wieso hier und nicht woanders?

Er schob sich näher heran, zwängte sich in die enge Öffnung, um den Rostfleck zu inspizieren. Ja, eindeutig die Farbe von Eisenrost. Er holte einen Schaber aus dem Werkzeug-Set an seiner Taille und hatte Schwierigkeiten, ihn mit den ungeschickten, von Handschuhen behinderten Fingern festzuhalten. Wenn ich ihn fallen lasse, kann ich mich nicht bücken, um ihn aufzuheben – nicht in dieser engen Spalte, dachte er. Der rote Fleck zerbröselte unter der Berührung des Schabers. Merkwürdig, dachte Fuchida. Das sieht dem Basalt gar nicht ähnlich. Könnte er … nass sein? Nein! Bei diesem niedrigen Luftdruck gibt es kein flüssiges Wasser.

Aber wie hoch ist der Druck im Innern des Gesteins?

Vielleicht …

Das rote Zeug ließ sich problemlos in den Probenbeutel bröseln, den er mit zitternden Fingern darunterhielt. Es muss Eisenoxid sein, das irgendwie von Wasser zerfressen wird. Wasser und Eisen. Siderophile Organismen! Bakterien, die Eisen und Wasser umwandeln! Fuchida war sich dessen so sicher wie seiner eigenen Existenz. Sein Herz raste. Eine Kolonie eisenfressender Bakterien, die in der Caldera von Olympus Mons lebten! Wer wusste, was tiefer im Innern noch alles zu finden sein mochte?

Erst als er den Probenbeutel verschloss und in der an seinem Gurt hängenden Plastikbox verstaute, hörte er das seltsame Grollen. Wegen seines dicken Helms klang es gedämpft und weit entfernt, aber trotzdem, jedes Geräusch so tief im Innern des Tunnels war alarmierend.

Fuchida trat von der bröckeligen, rostroten Spalte zurück.

Das Grollen schien lauter zu werden, wie das Knurren einer sich anschleichenden Bestie. Es war natürlich Unsinn, aber er glaubte, dass die Tunnelwände leicht erbebten und erzitterten. Du bist derjenige, der zittert, du Narr, ermahnte er sich.

Ganz weit hinten in seinem Kopf sagte eine Stimme: Angst ist gesund. Man muss sich nicht dafür schämen, wenn man …

Das rostige Gestein verschwand in einem Schwall aus explodierendem Dampf, der Fuchida von den Füßen hob und ihn schmerzhaft an die gegenüberliegende Wand des Lavaschlots schleuderte.


ABEND: SOL 49

Fuchida wäre beinahe ohnmächtig geworden, als sein Kopf gegen die Rückseite des Helms knallte. Er sackte auf den Boden des Tunnels. Seine Sichtscheibe war völlig beschlagen, grelle Supernovae blitzten ihm in die Augen, sein Schädel dröhnte vor Schmerz.

Zähneknirschend und unter Aufbietung eiserner Willenskraft hinderte er sich daran, in die Bewusstlosigkeit zu entgleiten. Trotz des dumpfen Pochens in seinem Schädel zwang er sich, wach und wachsam zu bleiben.

Nicht das Bewusstsein verlieren, befahl er sich. Nicht den feigen Weg nehmen. Du musst wach bleiben, wenn du am Leben bleiben willst. Er merkte, wie sich Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten und ihm in die Augen rannen, sodass er zwinkern und blinzeln musste.

Dann spülte eine Woge des Zorns über ihn hinweg. So etwas Dummes, schalt er sich. Ein Hydrothermalschlot.

Wasser. Flüssiges Wasser, hier auf dem Mars. Du hättest es wissen müssen. Du hättest darauf kommen müssen. Der Wärmestrom, das rostige Eisen. Es muss hier siderophile Organismen geben, Bakterien, die Eisen und Wasser umwandeln. Sie haben die Wand geschwächt, und du hast so viel davon abgekratzt, dass der Druck sie gesprengt hat. Du hast einem Geysir ein Ventil geschaffen.

Ja, stimmte er sich zu. Jetzt, wo du diese Entdeckung gemacht hast, musst du weiterleben, um dem Rest der Welt davon zu berichten.

Seine Sichtscheibe war noch immer völlig beschlagen. Fuchida tastete nach dem Bedienungsknopf an seinem Handgelenk, um das Gebläse des Anzugs hochzudrehen und die Sichtscheibe frei zu machen. Er glaubte, die richtige Taste gefunden zu haben und drückte darauf. Nichts änderte sich. Tatsächlich, jetzt, wo er auf das leise Summen des Gebläses horchte, konnte er es überhaupt nicht mehr hören.

Außer den Geräuschen seines eigenen mühsamen Atmens war alles still.

Warte. Sei ruhig. Denk nach.

Ruf Rodriguez. Sag ihm, was passiert ist.

»Tomas, ich hatte einen kleinen Unfall.«

Keine Antwort.

»Rodriguez! Hörst du mich?«

Stille.

Langsam und vorsichtig bewegte er beide Arme, dann die Beine. Er hatte Schmerzen am ganzen Körper, schien sich aber nichts gebrochen zu haben. Trotzdem blieb das Gebläse stumm, und Schweiß tropfte ihm in die Augen. Zwinkernd und blinzelnd sah er, dass die Sichtscheibe von selbst wieder klar zu werden begann. Offenbar ist das kein sehr starker Hydrothermalschlot gewesen, dachte er dankbar.

Das Grollen war verstummt; der Tunnel schien nicht mehr zu beben.

Fast widerstrebend hob er den Arm bis in Augenhöhe und hielt die Handgelenkstastatur nah an die Sichtscheibe.

Das Display war leer. Die Elektrik funktionierte nicht!

Verzweifelt tippte er auf der Tastatur herum: nichts. Heizung, Wärmetauscher, Gebläse, Funk – alles aus.

Ich bin ein toter Mann.

Kalte Panik traf ihn wie ein Schlag aufs Herz. Deshalb hörst du die Luftzirkulationsventilatoren nicht mehr! Die Anzugbatterie muss beim Aufprall an die Wand beschädigt worden sein.

Das Herz schlug Fuchida dröhnend laut in den Ohren. Beruhige dich, befahl er sich. So schlimm ist es nicht. Die Luft im Anzug reicht noch für mindestens eine Stunde. Und der Anzug ist sehr gut isoliert; erfrieren wirst du nicht – zumindest nicht in den nächsten Stunden. Du kommst auch ohne kühlendes Gebläse aus. Für eine Weile.

Erst als er aufzustehen versuchte, bekam er es wirklich mit der Angst. Schmerz loderte in seinem rechten Knöchel auf. Er ist gebrochen oder böse verstaucht, dachte Fuchida.

Ich kann nicht darauf stehen. Ich komme hier nicht heraus!

Dann wurde ihm die Ironie der Situation klar. Ich könnte der erste Mensch sein, der auf dem Mars an einem Hitzschlag stirbt.

Das Problem ist, dachte Rodriguez, dass wir nur ein Klettergeschirr mitgebracht haben, und das trägt Mitsuo.

Bis ich zum Flugzeug zurückgegangen bin, das andere Geschirr geholt habe, wieder hier bin und es angelegt habe, könnte er tot sein. Ich muss da runter, und zwar ohne Seil, ohne auch nur eins der Kletterwerkzeuge, die er bei sich hat.

Scheiße! Rodriguez schüttelte den Kopf. Ich kann ihn nicht da unten lassen. Es wird schon dunkel, und die Nacht überlebt er nicht.

Andererseits stehen die Chancen verdammt gut, dass wir beide da unten sterben.

Scheiße hoch zwei.

Eine Zeit lang starrte er sinnlos in die dunklen Tiefen der Caldera hinunter, die jetzt, wo die Sonne näher an den fernen Horizont herankroch, vollständig im Schatten lag.

Zeig keine Furcht, wiederholte Rodriguez bei sich. Nicht einmal dir selbst gegenüber. Er nickte in seinem Helm.

Ja, leicht gesagt. Jetzt musst du nur noch die Schlangen in deinem Bauch davon überzeugen, dass du dich wirklich nicht fürchtest. Trotzdem machte er sich auf den Weg nach unten. Langsam und bedächtig stieg er in die Tiefe und hielt sich dabei Hand über Hand am Seil fest.

Kaum hatte er den Rand der Caldera ein paar Schritte hinter sich gelassen, wurde es auch schon vollständig dunkel.

Das einzige Licht stammte von seiner Helmlampe, und das dunkle Gestein überall um ihn herum schien es gierig zu schlucken. Er setzte seine Stiefel vorsichtig und bedächtig auf, weil er wusste, dass das Kohlendioxid aus der Luft bereits an dem bitterkalten Stein auszufrieren begann.

Rodriguez schaute zum dunkler werdenden Himmel hinauf wie ein Gefangener, der noch einen letzten, verzweifelten Blick auf die Freiheit erhascht, bevor er sein Verlies betritt.

Immerhin kann ich dem Seil folgen, dachte er. Seine Bewegungen waren schwerfällig und besonnen, weil er Angst hatte, auf vereisten Stellen auszurutschen. Wenn ich außer Gefecht gesetzt werde, sind wir beide im Arsch, sagte er sich. Immer mit der Ruhe. Nur nichts überstürzen. Mach keine Fehler.

Langsam, ganz langsam stieg er hinunter. Als er am Seil entlang zur Mündung des Lavaschlots gelangte, konnte er das kleine Stückchen Himmel oben nicht mehr sehen; es war absolut schwarz. Falls ihn dort oben Sterne anfunkelten, so drang ihr Licht nicht durch die getönte Sichtscheibe seines Helms.

Er spähte in den Tunnel. Es war, als würde man in einen pechschwarzen Schacht starren.

»Hey, Mitsuo!«, rief er. »Kannst du mich hören?«

Keine Reaktion. Er ist entweder tot oder bewusstlos, dachte Rodriguez. Er liegt irgendwo tief drin in diesem Tunnel, und ich muss ihn finden. Oder das, was von ihm übrig ist.

Er holte tief Luft. Keine Furcht, rief er sich ins Gedächtnis.

Er stapfte in den dunklen Tunnel hinein, ohne das Flattern in seinen Eingeweiden oder die Stimme in seinem Kopf zu beachten, die ihm erklärte, er sei weit genug gegangen, der Bursche sei tot, es habe keinen Sinn, wenn er hier unten auch noch umkomme, also nichts wie raus hier, und zwar sofort.

Ich kann ihn nicht hier lassen, rief Rodriguez der Stimme wortlos zu. Ob er nun tot oder lebendig ist, ich kann ihn nicht hier unten lassen.

Ist deine Beerdigung, entgegnete die Stimme.

Ja, klar. Und wenn ich wohlbehalten zur Basis zurückkomme, aber ohne ihn? Was werden sie von mir denken?

Wie soll ich …

Er sah die zusammengesunkene Gestalt des Biologen, ein unförmiger Haufen aus einem Raumanzug und einem Wirrwarr von Ausrüstungsgegenständen an einer Wand des Tunnels.

»Hey, Mitsuo!«, rief er.

Die Gestalt rührte sich nicht.

Rodriguez eilte zu dem Biologen und versuchte, durch die Sichtscheibe seines Helms zu schauen.

»Mitsuo«, rief er. »Alles in Ordnung?« Es klang idiotisch, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte.

Aber Fuchida hob plötzlich die Hand und packte ihn an den Schultern.

»Du bist am Leben!«

Immer noch keine Antwort. Sein Funkgerät ist kaputt, erkannte Rodriguez. Und die Luft ist so dünn, dass sie meine Stimme nicht trägt.

Er legte seinen Helm an den von Fuchida. »He, Mann, was ist denn passiert?«

»Batterie«, antwortete der Biologe. Seine Stimme war gedämpft, aber verständlich. »Batterie funktioniert nicht. Und mein Knöchel. Kann nicht laufen.«

»Herr im Himmel! Kannst du aufstehen, wenn ich dich stütze?«

»Weiß ich nicht. Mein Lüftung ist aus. Ich habe Angst, mich zu bewegen; ich will keine zusätzliche Körperwärme erzeugen.«

So ein Mist, dachte Rodriguez. Ob ich ihn wohl bis zur Oberfläche hinauftragen muss?

Als Fuchida dort in der Falle saß wie ein dummer Schuljunge bei seiner ersten Höhlenerkundung, wünschte er sich, er hätte seinen buddhistischen Mentoren mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Dies wäre ein guter Zeitpunkt, um zu meditieren, nach innerem Frieden zu suchen und einen ruhigen Alpha-Zustand zu erreichen. Oder war es ein Beta-Zustand?

Da das Belüftungssystem nicht arbeitete, gab es in dem stark isolierten Anzug so gut wie keine Luftzirkulation. Die von seinem Körper erzeugte Wärme konnte nicht zum Wärmetauscher im Tornister abgeführt werden; die Temperatur im Anzug stieg stetig. Noch schlimmer, es wurde immer schwieriger, das ausgeatmete Kohlendioxid aus dem Anzug zu befördern und atembare Luft hereinzubekommen. Er konnte an seinen eigenen Gasen ersticken. Da gab es nur eins: Er musste möglichst still liegen, sich nicht bewegen, nicht einmal zwinkern. Sei ruhig. Erreiche den Zustand der Leere. Rühr dich nicht. Warte. Warte auf Hilfe.

Rodriguez wird mich holen kommen, sagte er sich. Tomas lässt mich nicht hier unten sterben. Er kommt mich holen.

Wird er rechtzeitig kommen? Fuchida versuchte, die Möglichkeit des Todes aus seinen Gedanken auszuschließen, wusste jedoch, dass er letzten Endes unvermeidlich war.

Das Verrückte daran ist, dass ich einen Beutel voller siderophiler Bakterien habe! Ich werde berühmt sein. Postum.

Dann sah er das tanzende Licht einer Helmlampe auf sich zukommen. Vor Erleichterung wäre er fast in Tränen ausgebrochen. Rodriguez tauchte auf, in dem klobigen Raumanzug eine schwerfällig dahintappende, roboterartige Kreatur. Für Fuchida war er schöner als ein Engel.

Sobald Rodriguez begriffen hatte, dass sie ihre Helme aneinander legen mussten, um sich zu verständigen, fragte er:

»Wie, zum Teufel, hast du das angestellt, dich so rumstoßen zu lassen?«

»Hydrothermalschlot«, antwortete Fuchida. »Hat mich quer durch den Tunnel geschleudert.«

Rodriguez grunzte. »Old Faithful schlägt auf dem Mars zu.«

Fuchida versuchte zu lachen; heraus kam ein zittriges Kichern.

»Kannst du dich bewegen? Aufstehen?«

»Ich glaube schon …« Als Rodriguez ihn unter den Achseln packte und hochzog, kam Fuchida langsam auf die Beine. Er holte tief Luft, dann hustete er. Als er versuchte, das Gewicht ein Stück weit auf seinen schlimmen Knöchel zu verlagern, wäre er beinahe zusammengebrochen.

»Immer langsam, Kumpel. Stütz dich auf mich. Wir müssen dich zum Flugzeug zurückbringen, bevor du erstickst.«

Jamie strich unentwegt um Trudy Hall herum, die jetzt an der Kommunikationskonsole saß. Deschurowa hatte darauf bestanden, weiter Dienst zu machen, aber Jamie hatte ihr befohlen, in die Kombüse zu gehen und etwas zu essen. Er war dankbar, als sie gehorchte, auch wenn sie es offenkundig nur widerstrebend tat.

»Du solltest dich auch mal ausruhen, Kamerad«, erklärte ihm Vijay. Sie hatte ihm einen Teller mit Abendessen ins Kommunikationszentrum gebracht.

»Sobald sie wohlbehalten im Flugzeug sind«, sagte Jamie.

»Dann können wir alle für heute Schluss machen.«

»Wie lange ist es jetzt her?«, fragte Vijay.

Jamie warf einen Blick auf die Digitaluhr über dem Hauptbildschirm. »Über eine Stunde, seit Rodriguez ihm nachgegangen ist.«

Dex Trumball fuhr langsam durch die tintenartige Schwärze der Marsnacht.

»Abendbrot steht auf dem Tisch«, rief Craig. »Komm und iss was, oder ich werf's den Schweinen vor.«

»Weshalb fahren wir nicht weiter, Wiley?«, fragte Trumball über die Schulter hinweg.

»Weil wir uns nich unsere Baumwollpflückerhälse brechen wollen, deshalb. Stell die Motoren ab, Dex.«

»Ach komm, Wiley. Nur noch ein paar Klicks.«

»Jetzt«, sagte Wiley mit Eisen in der Stimme.

Seufzend stieg Trumball auf die Bremspedale und brachte den Rover langsam und weich zum Stehen.

Nachdem er die Fahrmotoren abgestellt hatte und nach hinten zum Tisch zwischen den Liegen gekommen war, sank Dex auf den Rand seiner Liege nieder und starrte eine Weile auf die Schale mit dem Fertiggericht.


»Ich weiß, was du vorhast, Amigo«, sagte Craig, der ihm auf seiner eigenen Liege gegenübersaß.

Dex grinste ihn an. »Ja? Was?«

»Du willst so weit kommen, dass wir in Jamies Moment der Entscheidung näher am Generator als an der Basis sind.

Stimmt's?«

Nickend erwiderte Trumball: »Warum nicht?«

»Haste keine Angst vor 'nem Staubsturm?«

»Wiley, wenn Jamie bei der ersten Expedition so einen Sturm überstanden hat, warum sollten wir das dann nicht auch können?«

»Wär klüger, in der Basis zu sein, wenn ein Sturm kommt.

Warm und gemütlich.«

» Wenn ein Sturm kommt. Was würdest du denken, wenn wir die Flucht ergreifen und zur Kuppel zurückfahren würden, und dann gibt's gar keinen Sturm?«

»Wie schön, dass ich am Leben bin.«

Trumball betrachtete ihn einen Moment lang eingehend.

Dann steckte er seine Plastikgabel in das unidentifizierbare Zeug in der Schale vor sich und fragte: »Wenn Jamie uns umzukehren befiehlt, was machst du dann?«

Craig erwiderte traurig seinen Blick. Die eisblauen Augen mit den Tränensäcken sahen Dex unverwandt an. »Weiß ich noch nich«, antwortete er. »Aber ich überleg's mir schon die ganze Zeit.«

Trumball grinste ihn an. »So? Na, dann überleg mal Folgendes mit, Wiley. Es wird einen Finderlohn für diejenigen geben, die die Pathfinder-Sonde bergen. Eine hübsche Stange Geld für die Jungs, die sie zurückholen. Und das sind wir beide.«

»Wie viel?«

Trumball zuckte die Achseln. »Sechsstellig, schätze ich.«

»Hmm.«

Trumball beobachtete das Gesicht des älteren Mannes genau. »Ich brauch das Geld natürlich nicht«, setzte er hinzu.

»Ich wäre bereit, dir meine Hälfte abzutreten, Wiley. Wenn wir weiterfahren, ganz gleich, was Jamie sagt.«

Craigs Miene war ausdruckslos, aber er sagte: »Also, das klingt ziemlich interessant, alter Freund. Wirklich ziemlich interessant.«

Rodriguez hatte das Eis vergessen.

Er schleifte Fuchida halb durch den Tunnel. Die kleine Lichtpfütze seiner Helmlampe war das Einzige, was die totale, überwältigende Dunkelheit um sie herum durchbrach.

»Wie geht's, Kumpel?«, fragte er den japanischen Biologen. »Sprich mit mir.«

Fuchida drückte seinen Helm an den des Astronauten und antwortete: »Mir ist heiß. Kochend heiß.«

»Da hast du aber Glück. Ich frier mir den Arsch ab. Ich glaube, meine Anzugheizung ist im Kühlmodus.«

»Ich … ich weiß nicht, wie lange ich ohne Ventilation überleben kann«, sagte Fuchida. Seine Stimme zitterte leicht. »Mir ist ein bisschen schwummrig.«

»Kein Problem«, erwiderte Rodriguez mit gespielter Zuversicht. »Wird 'n bisschen stickig werden in deinem Anzug, aber ersticken wirst du nicht.«

Der erste Kosmonaut, der einen Raumspaziergang gemacht hatte, wäre beinahe am einem Hitzschlag gestorben, erinnerte sich Rodriguez. Alexei Leonow sagte, er habe in seinem Anzug »bis zu den Knien« im Schweiß gestanden, bevor er wieder in seine um die Erde kreisende Raumkapsel zurückkam. Sein Anzug habe gequatscht, wenn er sich bewegte. Die verdammten Anzüge halten alle Körperwärme im Innern; deshalb müssen wir die wassergekühlte Unterwäsche anziehen und haben Wärmetauscher dabei. Aber wenn die Ventilatoren die Luft nicht mehr umwälzen, sind die Tauscher verdammt nutzlos.

Rodriguez behielt eine Hand am Seil. In dem schwachen Licht seiner Helmlampe sah er, dass es nach oben führte, aus diesem Abgrund heraus.

»In einer halben Stunde sind wir wieder im Flugzeug, vielleicht sogar noch eher. Dann kann ich dein Tornistergerät reparieren.«

»Gut«, sagte Fuchida. Dann hustete er wieder.

Es schien Stunden zu dauern, bis sie aus dem Tunnel kamen, zurück auf das Sims an der Flanke der riesigen Caldera.

»Komm, halt dich am Seil fest. Wir gehen rauf.«

»In Ordnung.«

Aber Rodriguez rutschte der Stiefel weg, und er fiel schmerzhaft auf die Knie.

»Verdammt«, brummte er. »Es ist glatt.«

»Das Eis.«

Der Astronaut hockte sich hin. Beide Knie pochten schmerzhaft.

»Ist es zu glitschig zum Hochsteigen?« In Fuchidas Stimme schwangen erste Ansätze von Panik mit.

»Ja. Wir werden uns von der Winde raufziehen lassen müssen.« Er legte sich auf den Bauch und bedeutete dem Biologen, dasselbe zu tun.

»Ist das nicht gefährlich? Was ist, wenn wir uns dabei die Anzüge aufreißen?«

Rodriguez klopfte auf die Schulter von Fuchidas Anzug.

»Hart wie Stahl, Amigo. Die reißen nicht auf.«

»Bist du sicher?«

»Willst du die Nacht hier unten verbringen?«

Fuchida packte das Seil mit beiden Händen.

In sich hineingrinsend, ergriff Rodriguez ebenfalls das Seil und befahl Fuchida, die Winde in Gang zu setzen.

Innerhalb von Sekunden spürten sie, wie das Seil erschlaffte.

»Stopp!«

»Was ist los?«, fragte Fuchida.

Rodriguez zog ein paar Mal leicht an dem Seil. Es fühlte sich lose an, die vorherige Spannung war verschwunden.

»Heilige Scheiße«, sagte er leise.

»Was ist?«

»Wir sind zu schwer für das Gerät, wenn wir beide am Seil hängen. Wir ziehen es da oben aus dem Boden.«

»Heißt das, wir sitzen hier fest?«


NACHT: SOL 49

»Ich sehe schon, dass keiner von uns zum Schlafen kommen wird.«

Stacy Deschurowa lächelte, als sie das sagte, aber ihre strahlenden blauen Augen waren todernst. Trudy Hall hatte noch Dienst an der Kommunikationskonsole. Stacy saß neben ihr, während Jamie langsam hinter ihr auf und ab ging. Vijay hatte sich einen anderen Stuhl herangezogen, saß am Eingang und beobachtete sie alle.

In der Kabine des Kommunikationszentrums war es eng und warm, weil sie sich alle vier darin zusammendrängten.

Jamie antwortete nicht auf Deschurowas Bemerkung; er marschierte nur weiter auf und ab, fünf Schritte von einer Trennwand zur anderen, dann wieder zurück.

»Tommy muss ihn inzwischen gefunden haben«, sagte Trudy und drehte ihren Stuhl dabei ein kleines Stück zu Stacy.

»Warum meldet er sich dann nicht?«, fragte Stacy beinahe zornig.

»Sie sind bestimmt noch unten in der Caldera«, meinte Jamie.

»Es ist Nacht«, erklärte Stacy geradezu anklagend.

Jamie nickte und ging weiter hin und her.

»Das Warten ist das Schlimmste«, meldete sich Vijay zu Wort. »Nicht zu wissen, was …«

»Hier ist Rodriguez«, kam es knisternd aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Wir haben hier ein kleines Problem.«

Jamie war wie der Blitz an der Kommunikationskonsole und beugte sich zwischen den beiden Frauen vor.

»Was ist los, Tomas?«

»Fuchida lebt. Aber er hat sich den Tornister angeschlagen, und die Batterie arbeitet nicht. Keine Heizung, keine Ventilation, nichts in seinem Anzug funktioniert.«


Rodriguez' Stimme klang angespannt, aber beherrscht, wie die eines Piloten, dessen Düsentriebwerk gerade in Brand geraten ist: Probleme, aber nichts, was sich nicht beheben ließe. Bis zum Aufschlag.

Dann fügte er hinzu: »Wir sitzen auf einem Sims ungefähr fünfzig Meter unterhalb des Randes fest und kommen nicht mehr rauf, weil das Gestein mit Trockeneis überzogen und zu glitschig zum Klettern ist.«

Als der Astronaut anschließend schilderte, dass sich die Seilwinde bei dem Versuch der beiden, sich den Hang hinaufziehen zu lassen, beinahe aus ihrer Verankerung gelöst hatte, tippte Jamie Hall auf die Schulter und befahl ihr, die technischen Daten des Luftzirkulationssystems im Raumanzug auf den Bildschirm zu holen.

»Okay«, sagte er, als Rodriguez verstummte. »Ist einer von euch verletzt?«

»Ich hab ein paar blaue Flecken, Mitsuo hat einen schlimmen Knöchel. Er kann nicht darauf stehen.«

Einer der Bildschirme an der Konsole zeigte jetzt ein Schaubild des Luftzirkulationssystems der Anzüge. Auf dem Bildschirm nebenan ließ Hall eine lange Liste durchlaufen.

»Wie geht es dir, Mitsuo?«, fragte Jamie, um Zeit zu gewinnen, Zeit zum Nachdenken, Zeit, die Informationen zu bekommen, die er brauchte.

»Sein Funkgerät ist kaputt«, erklärte Rodriguez. Ein Zögern, dann: »Aber er sagt, ihm ist warm. Er schwitzt.«

Vijay nickte und meinte leise: »Hyperthermie.«

Seltsamerweise gluckste Rodriguez. »Mitsuo sagt auch, er hat siderophile Organismen in der Caldera entdeckt! Er will, dass Trudy das weiß.«

»Ich hab's gehört«, sagte Trudy, die immer noch die technischen Daten des Anzugs über den Bildschirm laufen ließ. »Hat er Proben genommen?«

Wieder eine Pause, dann antwortete Rodriguez: »Jawoll.

Im Gestein ist Wasser. Flüssiges Wasser. Mitsuo meint, du musst es publizieren … ins Netz stellen.«

»Flüssig?« Trudy stoppte den Bildlauf. Ihre Augen wurden groß. »Bist du sicher, dass …«

»Das ist jetzt nicht so wichtig«, unterbrach Jamie, der die Zahlen auf Trudys Bildschirm studierte. »Den technischen Daten des Anzugs zufolge habt ihr genug atembare Luft für mindestens zwei Stunden, selbst wenn die Lüftung aus ist.«

»Dann können wir hier unten nicht bis zum Tagesanbruch warten«, erwiderte Rodriguez.

Jamie sagte: »Tomas, ist Mitsuos Geschirr noch mit der Winde verbunden?«

»Soweit ich sehe, ja. Aber wenn wir versuchen, uns mit der Winde rauszuziehen, reißen wir das Gerät damit aus dem Boden.«

»Dann muss Mitsuo allein nach oben.«

»Allein?«

»Ganz recht«, sagte Jamie. »Er soll sich von der Winde hochziehen lassen. Dann nimmt er das Geschirr ab und schickt es dir runter, damit du raufkommen kannst.

Verstanden?«

Im fahlen Licht der Helmlampen konnte Fuchida Rodriguez' Gesicht hinter der getönten Sichtscheibe nicht sehen, aber ihm war klar, was der Astronaut empfinden musste.

Er drückte seinen Helm an den von Rodriguez und sagte:

»Ich kann dich nicht allein und obendrein ohne Seil hier unten zurücklassen.« Rodriguez' Helmmikro musste seine Stimme aufgenommen haben, weil Waterman eisenhart erwiderte: »Keine Diskussion, Mitsuo. Du beförderst deinen Arsch da rauf und schickst das Geschirr wieder runter. Es sollte nicht mehr als ein paar Minuten dauern, bis ihr beide oben seid.«

Fuchida setzte zu Einwänden an, aber Rodriguez schnitt ihm das Wort ab. »Okay, Jamie. Klingt gut. Wir melden uns wieder, sobald wir oben sind.«

Fuchida hörte, wie die Verbindung abbrach.

»Ich kann dich nicht hier lassen«, sagte er. Er war beinahe verzweifelt.

»Das musst du aber, Mann. Sonst wird's keiner von uns schaffen.«

»Dann geh du zuerst und schick das Geschirr wieder zu mir herunter.«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Rodriguez. »Ich kann dich mit deinem schlimmen Knöchel nicht hier unten alleinlassen. Außerdem bin ich darauf trainiert, mit gefährlichen Situationen fertigzuwerden.«

Fuchida sagte: »Aber es ist meine Schuld …«

»Quatsch!«, fauchte Rodriguez. Dann fügte er hinzu: »Ich bin größer und härter als du, Mitsuo. Jetzt komm in die Hufe und hör auf, Zeit zu verschwenden!«

»Wie willst du das Geschirr denn im Dunkeln finden? Es könnte zwei Meter vor deiner Nase baumeln, und deine Helmlampe würde es trotzdem nicht erfassen.«

Rodriguez gab ein fast schon verächtliches Schnauben von sich. »Binde eine der Baken dran und schalte das Licht ein.«

Fuchida war beschämt. Daran hätte ich denken müssen.

Es ist so einfach. Ich muss wirklich durcheinander sein, mein Verstand funktioniert nicht so, wie er sollte.

»Los jetzt«, sagte Rodriguez. »Leg dich wieder auf den Bauch und starte die Winde.«

»Warte«, sagte Fuchida. »Da ist etwas …«

»Was?«, fragte Rodriguez ungeduldig.

Fuchida zögerte, dann sagte er sehr schnell: »Falls … falls ich es nicht schaffe … falls ich sterbe … würdest du dich mit jemandem in Verbindung setzen, wenn du zur Erde zurückkommst?«

»Du wirst nicht sterben.«

»Ihr Name ist Elizabeth Vernon«, fuhr Fuchida fort, voller Angst, dass er nicht weitersprechen könnte, wenn er jetzt innehielt. »Sie ist Laborassistentin im Fachbereich Biologie der Tokioter Universität. Sag ihr … dass ich sie liebe.«

Rodriguez verstand die Bedeutung der Worte seines Gefährten. »Deine Freundin ist keine Japanerin?«


»Meine Frau«, erwiderte Fuchida.

Rodriguez stieß einen leisen Pfiff aus. »Okay, Mitsuo.

Klar. Ich werd's ihr sagen. Aber du kannst es ihr selbst sagen. Du wirst nicht sterben.«

»Natürlich nicht. Aber falls doch …«

»Ja. Ich weiß. Los jetzt!«

Widerstrebend gehorchte Fuchida. Er hatte schreckliche Angst vor tausend Gefahren – von der Möglichkeit, dass sein Anzug aufreißen könnte, bis zu der Aussicht, dass er seinen Partner hier im Dunkeln erfrieren lassen könnte.

Aber noch mehr Angst hatte er davor, hier zu bleiben und nichts zu tun.

Noch schlimmer, ihm war heiß. Er ging in dem Anzug vor Hitze ein. Zähneknirschend klammerte er sich mit aller Kraft, die die Servomotoren seiner Handschuhe aufbieten konnten, am Seil fest. Dann wurde ihm klar, dass er eine freie Hand brauchte, um die Windensteuerung an seinem Klettergeschirr zu betätigen.

Er tastete nach dem Bedienungsknopf, versuchte verzweifelt, sich darauf zu besinnen, welcher die Winde in Gang setzte. Er fand ihn und drückte darauf. Einen Moment lang geschah gar nichts.

Dann wurde er plötzlich von dem Sims gerissen und den harten, felsigen Hang der Caldera hinaufgeschleift. Sein Anzug schabte knirschend und kreischend über den rauen Stein.

Ich werde es nie schaffen, erkannte Fuchida. Selbst wenn der Anzug nicht kaputtgeht, werde ich hier drin ersticken, bevor ich oben ankomme.


NEW YORK

Es war ein paar Minuten nach achtzehn Uhr in Manhattan, ein kalter, windiger, regnerischer grauer Herbsttag im Big Apple. Menschen eilten in Scharen an Schaufenstern vorbei, die von Lichtern und kunstvollen Weihnachtsdekorationen erstrahlten, hasteten durch den starken, strömenden Regen und in die feuchten, lärmigen U-Bahn-Tunnels, auf dem Weg nach Hause, zu ihren Familien, dem Abendessen und den abendlichen Halloween-Ausflügen – Spuk oder Süßes –

mit den Kindern.

Im Gegensatz dazu herrschte in dem mit dunklem Holz vertäfelten Salon des Metropolitan Club gedämpfte Stille.

Während der Wind die kahlen Äste im Central Park schüttelte und an den Lämpchen in den Bäumen draußen vor dem überdachten Eingang des Clubs rüttelte, lehnte sich Darryl C. Trumball in seinen Lieblingsledersessel zurück, um sich seinen ersten Old Fashioned des Abends schmecken zu lassen.

Im Sessel gleich neben ihm saß Walter Laurence, geschäftsführender Direktor des Internationalen Universitätskonsortiums. Im Gegensatz zum Selfmademan Trumball stammte Laurence aus sehr reicher Familie, und anders als der Finanzier hatte Laurence sein Erwachsenenleben im öffentlichen Dienst verbracht, zuerst im Außenministerium, später dann in der verworrenen, oftmals chaotischen Welt des akademischen Lebens. Ähnlich wie Trumball genoss es Walter Laurence jedoch, über Macht zu verfügen, und wusste die Vorteile einer hohen Stellung durchaus zu schätzen.

Nun nippte er dezent an einem hohen, eisgekühlten Glas Wodka Tonic und sah aus wie das Inbild des ›elderstatesman‹: glattes, silbernes Haar, dünner grauer Schnurrbart, makellos geschnittener, perlgrauer Anzug.


»Ich verstehe nicht«, sagte er mit seiner leisen, kultivierten Stimme, »warum Sie diesen Nachrichtenmann hierher eingeladen habe. Er ist so ein ungehobelter Kerl.«

Trumball lächelte wissend. Es sah aus wie das zähnebleckende Grinsen eines Totenschädels. »Wissen Sie noch, was Ben Franklin über Sex mit älteren Frauen gesagt hat?«

Eine kaum wahrnehmbare Falte bildete sich in dem Raum zwischen Laurences Augenbrauen. »Im Dunkeln sind alle Katzen grau?«

»Nein, nein.« Trumball wedelte ungeduldig mit der Hand. »Er meinte, das Beste am Sex mit älteren Frauen sei, dass sie hinterher so verdammt dankbar seien!«

»Hmm.«

Trumball beugte sich näher zu ihm und senkte die Stimme. »Ich will Newell – und sein Network – auf unserer Seite haben.«

»Und welche Seite ist das?«

»Wir müssen diesen Indianer da oben, diesen Waterman, los werden.«

»Ihn loswerden? Wie denn? Der Mann ist auf dem Mars.«

»Ich will nicht, dass er die Expedition leitet. Ich wollte es nie, um die Wahrheit zu sagen. Ich habe mich nur von euch anderen dazu beschwatzen lassen.«

Laurence nahm einen größeren Schluck aus seinem hohen Glas. Dann: »Ich wüsste nicht, wie …«

»Er ist ein zu großer Träumer, ganz und gar nicht der Mann, der an der Spitze der Expedition stehen sollte«, sagte Trumball. »Und er befolgt keine Befehle. Er denkt, nur weil er da oben auf dem Mars ist, kann er tun, was er will.«

»Ah«, sagte Laurence. »Haben Sie spezielle Beispiele? Ich meine, das Team scheint sich doch nach dem Plan zu richten, auf den wir uns alle geeinigt hatten – mal abgesehen von dieser zusätzlichen Exkursion zur Bergung der alten Pathfinder-Sonde.«

»Ich habe extra Anweisung gegeben, dass mein Sohn nicht auf diese Reise geschickt werden sollte!«, zischte Trumball, und sein Gesicht wurde blass, während er sich bemühte, die Stimme nicht zu erheben. Trotzdem wandten sich mehrere Leute in der näheren Umgebung mit missbilligendem Stirnrunzeln zu ihm um.

»Ja, das mag sein, aber aus dieser Entfernung können wir nicht viel tun, nicht wahr?«

»Oh doch, das können wir«, sagte Trumball. »Ich will, dass er von seinem Posten als Expeditionsleiter abgelöst wird. Dass er degradiert wird. Fertig gemacht wird.«

Laurence seufzte. »Aber Darryl, verstehen Sie doch, das ist eine reine Formalie. Er wird trotzdem auf dem Mars sein und dort trotzdem die Befehlsgewalt haben. Nach allem, was ich so höre, haben die anderen Mitglieder des Teams eine außerordentlich hohe Meinung von ihm. Er ist ihr Held.«

»Ich will, dass er fertig gemacht wird!«

»Sie werden einen Märtyrer aus ihm machen.«

Trumball funkelte den IUK-Manager an. »Deshalb habe ich Newell zu uns gebeten. Ich will sicherstellen, dass die Nachrichtenmedien diese Story so behandeln, wie ich es wünsche.«

Laurence ließ sich in seinen Lehnsessel zurücksinken. »Ich glaube, Sie entfachen da einen Sturm im Wasserglas.«

»Nein, das tue ich nicht.«

»Es ist völlig egal, ob er offiziell Expeditionsleiter ist oder nicht.«

»Oh nein, keineswegs!«, fauchte Trumball. »Er will losfahren und irgend so ein mythisches Dorf suchen, das er bei der ersten Expedition gesehen zu haben behauptet. Als Missionsleiter kann er eine Expedition losschicken, wann immer er will. Wenn jemand anders die Leitung hat, wird er niemals die Erlaubnis dazu bekommen.«

»Glauben Sie, der neue Leiter würde sich weigern, ihm die Erlaubnis zu so einer Exkursion zu geben?«

»Ja, verdammt, das glaube ich!«

»Aber sie bewundern den Mann alle so sehr. Wer würde ihm die Chance verweigern, nachzusehen, ob sein Dorf wirklich existiert?«

»Der neue Leiter.«

Laurence ging ein Licht auf, aber er stellte die Frage trotzdem, obwohl er wusste, wie Trumballs Antwort lauten würde.

»Und wer könnte das sein?«

»Mein Sohn Dex, natürlich!«

»Natürlich«, murmelte Laurence, »natürlich.«


IN DER HÖLLENGRUBE

Rodriguez sah zu, wie Fuchida nach oben und von ihm weg schlitterte, eine matte Lichtpfütze, die sich langsam, aber stetig entfernte. Das schabende Geräusch, mit dem der Biologe über das vereiste Gestein gezerrt wurde, drang nicht durch die Isolierung seines Helms; er hörte nur seinen eigenen Atem, der viel zu schnell ging. Beruhige dich, befahl er sich. Bleib ruhig, dann wird schon alles gut gehen.

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