DRITTES BUCH. DIE FELSENBE HAUSUNG

Die Himmelsgötter platzierten die rote Welt ferner von Vater Sonne als die blaue Welt, und auch viel näher an den kleinen Welten, von denen es in der Dunkelheit des Nichts immer noch wimmelte, übrig gebliebene Bruchstücke aus der Zeit des Anfangs. Oftmals fuhren diese auf die rote Welt hernieder und zogen dabei, brüllend wie Ungeheuer, ihre dämonische Feuerspur über den blassen Himmel.

Klein und kalt war sie, diese von Himmelsdämonen bombardierte rote Welt, und als die Luft und das Wasser allmählich dahinschwanden, hatten die dort lebenden Geschöpfe schwer zu kämpfen, damit der Lebensfunke in ihrem Innern nicht erlosch. Trotzdem schlug der Tod schnell und erbarmungslos zu.


SOL 99: DER ENTSCHEIDUNGS

PROZESS

»Du kannst nicht allein fahren«, sagte Stacy Deschurowa.

»Warum nicht?«

»Das kommt nicht in Frage, Jamie.«

»Aber Tomas ist verletzt, und es gibt niemand anderen, der mitkommen könnte.«

Sie waren in Stacys Unterkunft. Deschurowa hatte die Kabine nach ihrer Ernennung zur Missionsleiterin in eine Art Büro verwandelt. Dort erledigte sie den größten Teil der Arbeit; sie ließ die Leute zu sich kommen, statt zu ihnen zu gehen, wie Jamie es getan hatte.

Er hockte auf dem Bürostuhl, den Deschurowa für ihre Kabine requiriert hatte; Stacy saß ihm auf dem Schreibtischstuhl steif gegenüber.

Die mit der Leitungsaufgabe verbundene Verantwortung hat sie im Lauf des letzten Monats verändert, dachte Jamie, während er die Linien der Anspannung um ihren Mund und ihre Augen betrachtete. Sie macht ihre Arbeit gut, aber es schlaucht sie ganz schön.

Die Kabine war klinisch sauber: Das Bett war akkurat gemacht, der Schreibtisch aufgeräumt, Papiere und Kleider waren dort verstaut worden, wo sie hingehörten. Statt des üblichen Overalls trug Stacy jetzt meist eine dicke, weite, khakibraune Bluse mit militärischen Epauletten und eine ausgebleichte Jeans aus ihrem persönlichen Spind, und sie hatte ihr sandbraunes Haar zu einem militärischen Kurzhaarschnitt mit ausrasierten Schläfen geschoren; Jamie entdeckte zu seiner Überraschung graue Strähnen darin.

Jamie dagegen fühlte sich gelöster und freier denn je. Er hatte so gut wie keine Pflichten mehr und konnte sich nun voll und ganz der Planung seiner Reise zum Grand Canyon und zu der Nische in der Felswand widmen, wo er das …

Gebäude gesehen hatte. Jamie war sich dessen sicher. Was er in dieser Felsspalte gesehen hatte, war ein Gebäude gewesen. Vielleicht auch mehrere. Gebäude, die von intelligenten Wesen errichtet worden waren.

Ja, er war sich dessen sicher. Aber hatte er Recht? In ein paar Tagen werde ich es herausfinden, sagte er sich. Sobald ich dieses Exkursionspartnerproblem überwunden habe.

»Hör zu, Stacy, ich will dir keine Schwierigkeiten machen«, sagte er, »aber ich weiß einfach nicht, wen du freistellen kannst, damit er mich auf dieser Exkursion begleitet.«

»Dann bleibst du hier«, antwortete sie rundheraus.

»Nun mach aber mal einen Punkt …«

Deschurowa schüttelte störrisch den Kopf. »Jamie, du kennst die Sicherheitsvorschriften so gut wie ich. Niemand darf sich ohne Begleitung über Gehweite hinaus von der Basis entfernen.«

»Aber Tomas wird noch wochenlang nicht zu so einer Art von Arbeit imstande sein.«

»Dann wartest du entweder so lange, oder wir finden jemand anderen, der mitfährt.«

Rodriguez wäre bei einem Unfall mit dem Solarofen, der die Glasbausteine für das Gewächshaus brannte, das sie um die Gartenkuppel herum errichteten, beinahe ums Leben gekommen. Er hatte sich durch den Handschuh seines Raumanzugs hindurch üble Verbrennungen an der Hand zugezogen. Zum Glück war Trudy bei ihm gewesen. Sie hatte die Druckmanschette an seinem Handgelenk verschlossen und den vor Schmerzen stöhnenden Astronauten in die Kuppel zurückgebracht. Jetzt beschränkten sich seine Aufgaben darauf, an der Kommunikationskonsole zu sitzen und als einhändiger Missionsfunker zu dienen.

»Ich schaffe es auch allein«, beharrte Jamie. »Wir können die Regeln ruhig ein bisschen weiter auslegen, Stacy.«

Sie warf ihm einen Blick zu, der auf enervierende Weise jenem seiner Englischlehrerin in der achten Klasse ähnelte, wenn er einen Aufsatz nicht rechtzeitig abgegeben hatte.

»Jamie, du hast mir diese Verantwortung übertragen, weißt du noch?«, sagte sie langsam. »Ich kann dich nicht alleine losfahren lassen. Wenn du ums Leben kommst, würde ich mir das nie verzeihen.«

»Aber es ist niemand verfügbar«, wiederholte Jamie. »Du wirst hier gebraucht. Trudy und Mitsuo haben alle Hände voll mit den biologischen Untersuchungen zu tun. Es wäre nicht fair, von einem der beiden zu verlangen, damit aufzuhören.«

»Tarawa wäre sowieso nicht einverstanden.«

»Ganz recht.«

»Wie wär's mit Wiley?«, fragte Deschurowa.

»Er und Dex sind vollauf damit beschäftigt, die Proben vom Boden des Canyons zu datieren«, antwortete Jamie.

»Außerdem hat er schon genug Zeit im Rover verbracht.«

Stacy zuckte die Achseln und kratzte sich unbewusst an der Schulter. Die Khakibluse juckt bestimmt, dachte Jamie.

»Sonst gibt es niemanden«, sagte er. »Dex ist zu beschäftigt, genau wie Wiley.«

»Vijay?«, fragte Deschurowa.

Sie hatte nicht mehr mit Jamie geschlafen, seit er ihr erklärt hatte, er werde von seinem Leitungsposten zurücktreten. Sie war auf eine kühle, aber zugleich spröde, schmerzhafte Art freundlich. Soweit Jamie wusste, schlief sie mit Dex auch nicht. Er war froh darüber, aber es war ein schwacher Trost.

»Die Ärztin sollte hier bleiben, wo der größte Teil des Teams ist«, meinte Jamie. »Außerdem kümmert sie sich immer noch um Tomas' Hand.«

»Sie ist sowieso nicht qualifiziert, den Rover zu fahren.«

Deschurowa seufzte, fast so, als hätte sie Schmerzen. »Dann wirst du warten müssen, bis Tom wieder arbeiten kann.«

»Ich will nicht warten«, sagte Jamie mit fester Stimme.

»Ich bin bereit, jetzt loszufahren. Ich habe nichts anderes zu tun. Der zusätzliche Rover ist fahrbereit, und ich bin's auch.«

Deschurowa setzte dazu an, nein zu sagen. Jamie sah, wie ihre Lippen das Wort formten. Aber sie zögerte, holte Luft und sagte stattdessen: »Lass mich darüber nachdenken, Jamie. Vielleicht finde ich irgendeine Lösung.«

Jamie begriff, was sie tat: Sie sagte nein, ohne das Wort zu benutzen.

Er erhob sich von dem Stuhl, sodass dieser ein paar Zentimeter über den Plastikfußboden rollte.

»Stacy, morgen sind wir hundert Tage hier auf dem Mars.

Ich fahre morgen mit dem Rover los, ob es dir nun passt oder nicht.«

Er drehte sich um und verließ ihre Unterkunft, bevor sie etwas erwidern konnte.

Während er zu seiner Kabine marschierte, dachte er: Ja, geh raus und nimm dir den Rover. Wie will sie mich daran hindern? Will sie Dex und die anderen dazu bringen, mich zu überwältigen?

Als er jedoch die Tür zu seiner Unterkunft hinter sich zugeschoben hatte und auf seine unordentliche Liege hinunterschaute, sagte er sich: Genau, klau den Rover, dann steht Stacy wie eine machtlose Närrin da. Grandiose Aktion.

Einfach wundervoll. Was für ein tolles Paradebeispiel für ein Arschloch du wärst.

Aber die Alternative war, ein paar Wochen zu warten, vielleicht noch länger. Ein paar Ewigkeiten. Wer wusste schon, welche Probleme sich in ein paar Wochen stellen würden? Irgendwas kommt immer dazwischen. Morgen sind wir hundert Tage hier, und ich bin keinen Schritt näher an diesem Dorf als am Tag unserer Landung.

Stacy brauchte drei Anrufe, um Vijay ausfindig zu machen. Sie war weder im Krankenrevier noch im Biologielabor. Als Deschurowa es im Geologielabor probierte, antwortete Dex' Stimme munter: »Ja, sie ist hier.«

Neunzig Sekunden später klopfte Vijay einmal an die Tür zu Deschurowas Unterkunft und schob sie ein Stück weit auf.

»Dex hat gesagt, du wolltest mich sprechen.«

Stacy nickte und zeigte auf den Stuhl, auf dem Jamie gesessen hatte. Vijay setzte sich, die Knie aneinander gepresst, die Hände auf den Oberschenkeln. Ihr Overall wirkte ein bisschen verschossen, aber sie hatte ein buntes Tuch um die Taille gebunden und ein kleineres lose um den Hals geknotet. Die strahlenden Farben Indiens, dachte Stacy. Im Vergleich zu ihr wirken wir alle wie graue Mäuse.

»Ich habe Schwierigkeiten mit Jamie«, sagte Deschurowa.

Vijays Augen weiteten sich kurz. »Was ist mit Jamie?«

»Du bist die hiesige Psychologin«, sagte Deschurowa. Ihr Mund verzog sich zu einem leisen Lächeln. »Und du kennst Jamie besser als jeder andere hier …«

»Wenn es um unsere persönliche Beziehung geht …«

»Nein. Es geht um die Arbeit dieser Expedition. Und es geht um Jamie und dich … und um Dex.«

»Dex?«

»Hör zu«, sagte Stacy. Dann begann sie zu erklären.

Vijay hörte zu. Dann sagte sie ihre Meinung. Deschurowa dankte ihr und bat sie, Wiley Craig zu ihr zu schicken. Sie sprach fast eine Stunde lang mit Craig.

Als sie an diesem Abend alle acht um den Esstisch versammelt waren, fragte Deschurowa: »Jamie, wie wär's, wenn Dex dich auf der Exkursion begleiten würde?«

Alle hörten auf zu essen. Plastikgabeln blieben mitten in der Luft hängen. Trinkbecher wurden wieder auf den Tisch gestellt. Sogar das Kauen hörte auf.

Verblüfft schaute Jamie über den Tisch hinweg zu Dex und sah, dass er genauso überrascht war.

»Wiley meint, er kann die geologischen Analysen für etwa eine Woche übernehmen …«

»Solang das Kartierungsprogramm nich wieder abstürzt«, unterbrach Craig.

»Dex kann also von seinen regulären Pflichten entbunden werden«, schloss Deschurowa. »Und er ist zweifellos qualifiziert, den Rover zu fahren.«

»Ich schaffe es allein«, meinte Jamie verkniffen.

»Wie schon gesagt, das kommt nicht in Frage«, erklärte Deschurowa.

»Also, wenn ihr mich fragt«, meldete sich Dex mit seinem üblichen unverschämten Grinsen zu Wort, »ich hätte nichts dagegen, noch mal loszufahren. Und ich kann an der Datierung des Gesteins weiterarbeiten, wenn Wiley mir die Daten rüberschickt und Jamie nichts dagegen hat, am Lenkrad zu sitzen.«

Jamies Gedanken überschlugen sich. Ich will Dex nicht auf diesem Trip dabeihaben. Er wird ihn kaputtmachen.

Ruinieren. Irgendwie wird er alles verpfuschen.

Aber dann hörte er die leise Stimme seines Großvaters: Nimm ihn mit. Das ist der einzige Weg, der dir offen steht.

Kämpfe nicht dagegen an. Akzeptiere es.

Sein Blick schweifte von Dex' großspurigem Grinsen zu Vijays Gesicht. Sie wirkte angespannt; ihre großen, dunklen Augen waren auf ihn gerichtet, als wartete sie auf eine Explosion. Wenn Dex mitkommt, wird er nicht hier bei ihr sein, während ich weg bin, dachte Jamie.

Er schaute wieder zu Dex. »Was meinst du, Dex?

Vielleicht jagen wir nur hinter einem Phantom her.«

»Oder wir entdecken die größte Touristenattraktion aller Zeiten«, erwiderte Dex leichthin.

Jamie merkte, wie er mit den Zähnen knirschte. Bei diesem Trip könnte es den ersten Mord auf dem Mars geben, dachte er.


MORGEN: SOL 100

»Ihr habt die besten Brennstoffzellen«, sagte Wiley Craig, als Jamie und Dex in ihre Anzüge stiegen. »Hab sie mit denen in Rover Numero uno ausgetauscht.«

»Mit Staubstürmen dürfte es kein Problem geben«, versicherte ihnen Fuchida. »Das Wetter hat sich stabilisiert. Es ist fast schon Sommer.«

Dex lachte. »Ja. Vielleicht kriegen wir da draußen für 'n paar Stunden Temperaturen über dem Gefrierpunkt.«

Vijay trat beiseite, als die beiden Männer die Arme durch die Ärmel der Raumanzug-Oberteile steckten. Craig half Jamie, Fuchida half Dex.

Stiefel, Unterteil, Oberteil. Die Verschlüsse an den Knöcheln, der Taille und den Handgelenken überprüfen. Tornistergerät. Die Anschlüsse checken: Strom, Luft, Wasser.

»Stacy will euch noch etwas sagen, bevor ihr rausgeht«, erkärte Vijay.

Jamie griff nach seinem Helm auf dem Bord über dem Anzuggestell. »Dann hol sie mal her.«

»Ja«, sagte Dex und zog sich den Helm über den Kopf.

»Wir sind bereit für das große Spiel, Coach.«

Vijay ging rasch fort. Jamie setzte den Helm auf, verschloss den Halsring und führte dann mit Dex den Funkcheck durch.

Stacy kam durch den Gang auf sie zu, der von den Ausrüstungsschränken gebildet wurde. Sie trug den vorschriftsmäßigen Overall. Vijay begleitete sie, und Jamie fiel auf, wie groß, massiv, ja beinahe wuchtig Stacy neben ihr aussah. Vijay, die ebenfalls einen Overall trug, wirkte klein, dunkelhäutig, üppig und blühend.

Und besorgt. Jamie schaute in ihre mitternachtsschwarzen Augen und sah Furcht.

Bevor er etwas zu ihr sagen konnte, ergriff Stacy das Wort. »Ich habe eine volle Woche im Plan freigeräumt. Ich erwarte, dass ihr in spätestens sieben Tagen wieder hier seid.«

»Außer, wenn wir Marsmenschen finden«, witzelte Dex.

Stacy gestattete sich ein steifes Lächeln, das ihre strenge Fassade durchbrach. »Wenn ihr etwas Überraschendes findet, werden wir den Plan natürlich umschreiben müssen.«

Jamie dachte, dass sie sich in eine Bürokratin verwandelte, die sich mehr Sorgen um den Plan machte als darüber, was sie entdecken mochten. Aber sie bewältigt ihre Aufgabe als Expeditionsleiterin besser, als ich es getan habe, gestand er sich ein.

»Die vorgesehenen Exkursionen zu den Vulkanen und noch einmal zum Boden des Canyons müssen bis zu eurer Rückkehr warten«, rief ihnen Stacy ins Gedächtnis. »Unsere gesamte Erkundungsarbeit ist gestoppt, bis ihr wieder hier seid.«

»Ich verstehe«, sagte Jamie leise.

»Die Schwebegleiter haben eure Route detailliert verzeichnet«, fuhr Stacy fort.

»Wir haben das Bildmaterial«, erwiderte Dex.

»Tja … dann alles Gute.« Sie streckte Jamie die Hand hin.

Sie zitterte ein wenig. Sie ist genauso aufgeregt wie ich, erkannte Jamie. Aber sie verbirgt es ziemlich gut.

Dex gab ihr die Hand und warf Vijay dann eine Kusshand zu. Jamie hätte sie gern in die Arme genommen, aber er wusste, das würde in dem hartschaligen Raumanzug unbeholfen und töricht wirken. Sie schaute ihm in die Augen, und er sah Angst, Nervosität und noch etwas anderes, was er nicht einordnen konnte. Aber sie macht sich Sorgen, dachte er. Sie macht sich Sorgen um mich. Oder um Dex.

»Viel Glück«, sagte sie und achtete sorgfältig darauf, dass ihre Stimme ruhig und neutral klang.

»In spätestens einer Woche sind wir wieder da«, versicherte ihnen Dex.


Jamie beachtete die anderen nicht. Sein Blick war nur auf Vijay gerichtet.

»Kommt heil und gesund wieder«, sagte sie und sah ihn direkt an.

Er nickte in seinem Helm. Ich komme zu dir zurück, wollte er sagen. Aber vor all den anderen, vor Dex brachte er die Worte nicht über die Lippen.

Stattdessen klappte er das Helmvisier herunter und machte sich auf den Weg zur Luftschleuse.

»Handschuhe!«, rief Wiley Craig. »Jamie, du musst deine Handschuhe anziehen!«

Jamie blieb abrupt stehen. Seine Handschuhe mit den kraftverstärkenden Miniatur-Servomotoren auf dem Handrücken lagen noch auf der Bank vor seinem Spind, wie zwei tote Hummer.

»Herrgott«, knurrte Craig und reichte Jamie die Handschuhe, »wozu hamwer denn 'ne Checkliste, wenn du sie einfach ignorierst?«

»Danke, Wiley.« Jamie zog sich die steifen Handschuhe an und verschloss die Manschetten um seine Handgelenke.

»Jamie will seine Marsianer mit bloßen Händen fangen und dann an den Marterpfahl binden«, scherzte Dex.

Jamie hielt seine behandschuhten Hände hoch und sagte durchs geschlossene Visier: »Ich werd sie nicht noch mal vergessen.«

»Einmal reicht, dann biste tot«, brummte Craig.

Jamie sah erneut Vijay an. Sie wirkte sehr bekümmert.

Die stets praktisch veranlagte Stacy sagte in bestimmtem Ton: »Ihr beiden überprüft einander ausführlich, bevor ihr den Rover verlasst. Jedes Mal. Meldet euch bei mir, wenn ihr rausgeht, dann gehen wir die Checkliste zusammen durch. Verstanden?«

»Ja, Mama«, sagte Dex mit einem Lachen.

Jamie hielt das für eine verdammt gute Idee.

Vijay löste Rodriguez bis zum Abendessen an der Kommunikationskonsole ab, dann kam der Astronaut ins Kommunikationszentrum zurück.

»Essenszeit«, sagte er und machte mit seiner verbundenen Hand eine Geste in Richtung Messe.

»Warum isst du nicht erst mal was«, erwiderte Vijay. »Ich komme hier schon klar, bis du fertig bist.«

»Hab schon gegessen.« Rodriguez ließ sich auf dem Stuhl neben ihr nieder. »So langsam krieg ich raus, wie das mit einer Hand geht.«

Vijay grinste ihn unwillkürlich an. »Du meinst, du brauchst dich von Trudy nicht mehr füttern zu lassen?«

Seine dunklen Wangen röteten sich merklich. »Nee. Aber sag's ihr bloß nicht!«

Vijay lachte.

»Geh schon essen«, sagte Rodriguez. »Wenn sich die beiden melden, ruf ich dich, okay?«

Widerstrebend nahm Vijay das Headset ab. »Okay.«

Dex schickte einen Routineanruf durch, als sie Halt machten, um zu übernachten; rein geschäftsmäßig, nichts Persönliches. Vijay stocherte in ihrem Abendessen herum und ging dann in ihre Unterkunft.

Stacy fing sie ab. »Komm in mein Büro«, sagte sie. »Wir müssen uns unterhalten.«

Vijay folgte Stacy in ihre Kabine und setzte sich auf den harten kleinen Schreibtischstuhl. Stacy ließ sich auf dem Rand der Liege nieder.

»Ist dir klar, warum ich beschlossen habe, Dex mit Jamie loszuschicken?«, fragte Stacy ohne Einleitung.

»Damit Jamie sich keine Sorgen darüber macht, dass Dex hier bei mir ist, während er draußen auf der Exkursion ist.«

»Zum Teil, ja.«

Vijay spürte, wie sich ihre Augenbrauen in einer stummen Frage hoben.

»Darüber hinaus wollte ich Dex nicht hier haben, wo er –

wie sagt man? – dich anmachen könnte.«

»Damit wäre ich schon fertig geworden«, sagte Vijay verächtlich.


»Vielleicht. Aber so gibt es überhaupt kein Problem. Du brauchst dich gar nicht erst damit zu befassen.«

»Vielen Dank.«

»Ich habe es nicht für dich getan, Vijay, sondern für Jamie.

Ich wollte nicht, dass er sich da draußen deinetwegen Sorgen macht. Er ist ein zu guter Mann, als dass er diese Last tragen müsste.«

»Ich verstehe.«

»Und außerdem« – Deschurowa beugte sich ein wenig vor

– »bin ich nicht so sicher, wie gut du mit Dex fertig werden würdest. Er kann sehr verführerisch sein.«

»Ich hab meinen Spaß mit Dex gehabt«, sagte Vijay und spürte, wie leiser Ärger in ihr aufbrodelte. »Das ist aus und vorbei.«

»Und mit Jamie hast du auch deinen Spaß gehabt?«

»Ich glaube, das geht dich nichts an, oder?«

Stacy lächelte wie eine geduldige Mutter. »Nein, natürlich nicht. Es ist nur so, dass … dass ich Jamie mag. Ich respektiere ihn. Ich möchte nicht, dass er noch einmal verletzt wird.«

»Noch einmal?«

»Seine erste Ehe. Sie hat ihre Spuren bei ihm hinterlassen, weißt du.«

Vijay nickte. »Ja.«

»Liebst du ihn?«

Überrascht von der Frage, fuhr Vijay auf: »Woher soll ich das wissen? Wie kann sich überhaupt einer von uns über seine Gefühle im Klaren sein, solange wir hier sind? Das ist nicht die wirkliche Welt! Wir sind so weit von der wirklichen Welt entfernt, so isoliert und allein …«

Seltsamerweise wurde Deschurowas Lächeln breiter.

»Gut. Das ist eine gute, ehrliche Antwort. Das hatte ich erwartet und erhofft.«

»Wovon redest du?«

Stacy stand von der Liege auf und kam zu Vijay. Sie bückte sich, bis ihr Gesicht ganz nah an dem von Vijay war, und sagte leise: »Es hätte sein können, dass du nur eine heißblütige junge Frau bist, die es genießt, mit starken Männern zu schlafen. Oder schlimmer, eine Närrin, die es für romantisch hält, mit jedem Mann ins Bett zu gehen, der sich zu ihr hingezogen fühlt.«

Vijay schoss hoch.

»Werde nicht wütend«, sagte Deschurowa rasch. »Ich war mir ziemlich sicher, dass du nicht so bist, aber ich musste es selbst herausfinden. So eine Frau könnte dieses Team zerstören. Jemand könnte schlimm verletzt werden, vielleicht sogar ums Leben kommen.«

Vijay bezähmte ihren Groll. »Und zu welchem Schluss bist du gelangt?«, zischte sie.

Stacy klopfte ihr auf die Schulter. »Du bist kein Sicherheitsrisiko. Jedenfalls nicht bewusst. Du bist ein kluger Kopf.«

Vijays Wut schwand. Sie sank auf den Stuhl zurück und blickte zu Deschurowa auf. »Und was soll ich nun wegen Jamie unternehmen?«

Stacy schüttelte den Kopf und ging wieder zu ihrer Liege zurück. »Das darfst du mich nicht fragen. Alles, was ich über Männer weiß, ist, dass sie einen letztendlich immer verletzen.«

»Sieh dir das mal an«, rief Dex Jamie zu.

Er saß im Cockpit. Über den zentralen Bildschirm der Kontrolltafel lief eine Botschaft seines Vaters.

Im Rover waren alle Systeme auf Nachtbetrieb geschaltet.

Morgen würden sie Tithonium Chasma erreichen, und Jamie würde zu der Spalte in der Felswand absteigen und sehen, was es dort zu sehen gab.

Er spürte bereits die Spannung in seinen Eingeweiden, ein erwartungsvolles, aufgeregtes und ängstliches Kribbeln.

Er ging an den Liegen vorbei, trat mit eingezogenem Kopf ins Cockpit und stützte die Arme auf die Lehne von Dex'

Sitz. Auf dem Bildschirm war eine Namensliste zu sehen –

Einzelpersonen, Universitäten, Unternehmen –, und neben jedem Namen standen Dollarzahlen.

»Was ist das?«, fragte Jamie.

»Mein lieber alter Dad mobilisiert schon Geldgeber für die nächste Expedition«, erklärte Dex. »Er hat drei Milliarden aufgetan, einfach so.« Er schnippte mit den Fingern.

Jamie glitt auf den Fahrersitz und schaute auf den Bildschirm. »Global News … Universal EntertAlnment … wer ist Puget Sound Incorporated?«

»Eine Holdinggesellschaft«, sagte Dex. »Sie besitzt oder kontrolliert die Hälfte alle Reiseveranstalter in Nordamerika.«

»Reiseveranstalter?«

Dex nickte. »Reg dich nicht auf. Noch nicht. Wir sind noch weit davon entfernt, Touristen hierher zu bringen.«

»Wieso sollten Reiseveranstalter dann einen Beitrag zur Finanzierung der nächsten Expedition leisten wollen?«

»Um sich Rechte an den VR-Touren zu sichern, vermute ich mal. Auf Reisen gehen, ohne das bequeme Wohnzimmer zu verlassen.«

Jamie sah Dex an. Der jüngere Mann schien es absolut ernst zu meinen.

»Hör mal, Jamie, ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, sie hätten nicht vor, irgendwann Touristengruppen auf den Mars zu bringen. Zum Teufel, es gibt ja inzwischen schon Pauschalreisen zum Mond, oder nicht?«

»Touristen«, murmelte Jamie düster.

»Nun schau mich nicht an, als hätte ich das Massaker am Wounded Knee angeführt, Herrgott noch mal«, sagte Dex.

»Du bist derjenige, der dieses Ziel verfolgt, Dex, nicht ich.«

»Uns bleibt doch gar nichts anderes übrig! Wie, zum Teufel, willst du sonst die erforderlichen Mittel auftreiben, um diesen Planeten zu erforschen?«

»Ich würde mich lieber an die Straßenecke stellen und betteln.«

»Ja, und da würdest du dann Fünf- und Zehncentstücke kriegen«, fauchte Dex. »Hör auf zu träumen!«

Jamie richtete sich auf. »Es muss einen besseren Weg geben, Dex.«

»Klar. Bring die Regierung dazu, die Kosten zu tragen.

Brumado hat zwanzig Jahre gebraucht, um die Finanzierung der ersten Expedition auf die Beine zu stellen, und die Regierung hat sich nicht gerade darum gerissen, diese zu unterstützen, oder?«

»Es muss einen besseren Weg geben.«

»Wenn du ihn findest, sag mir Bescheid.«

Jamie machte sich auf den Weg zur Kombüse. »Ihr werdet den Mars in eine Touristenattraktion verwandeln.«

»Was, zum Teufel, glaubst du denn, wie wir diesmal hergekommen sind?«, sagte Dex hitzig.

Jamie drehte sich zu ihm um. »Weil dein Vater die Finanzierungskampagne durchgepowert hat, ich weiß.«

»Weil ich ihn dazu gebracht habe!« Dex tippte sich mit einem Finger an die Brust. »Er hatte nicht das mindeste Interesse am Mars, verdammt noch mal. Ich hab sein Interesse geweckt.«

»Indem du ihm erzählt hast, er könnte Flugtickets an Touristen verkaufen.«

»Indem ich ihm erzählt habe, er könnte damit Geld machen, ja. Was ist daran falsch?«

»Wir können keine wissenschaftliche Forschung betreiben, wenn es überall um uns herum von Touristen wimmelt.«

»Nun hör aber auf, Jamie! Wir haben hier einen ganzen Planeten! Wir können uns die Touristen vom Leibe halten.«

»Wirklich?« Jamie fühlte, wie der alte, brodelnde Zorn in ihm hochstieg. »Sie werden die interessantesten Orte besuchen wollen, oder? Zum Beispiel den Boden des Canyons, wo wir die Flechte gefunden haben. Sie werden Souvenirs mitnehmen und überall rumstiefeln.«

»Das werden wir nicht zulassen.«

»Und wie wollt ihr das verhindern, Dex? Wo ziehen wir die Grenze, wenn sie erst mal herkommen dürfen? Geld regiert die Welt, ist es nicht so? Wer die Musik bezahlt, bestimmt auch, was gespielt wird, oder nicht?«

Dex marschierte durch den leeren Gang, bis er so dicht vor Jamie stand, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.

»Herrgott noch mal, glaubst du, du bist der einzige Wissenschaftler im ganzen Sonnensystem? Ich will auch gute wissenschaftliche Arbeit machen, weißt du.«

»Wenn deine Touristen es dir erlauben.«

»Verdammt!« Dex schlug mit der Faust gegen die eingeklappte Liege über der seinen. »Dieser verfluchte selbstgerechte Mist! Das steht mir bis hier!« Er zeigte mit seiner anderen Hand auf seinen Adamsapfel.

Jamie spürte, wie ihm selbst die Hitze ins Gesicht stieg.

»Und dann werdet ihr große Touristenanlagen bauen wollen. Hotels. Parks, in denen sie in Hemdsärmels rumlaufen können. Ihr werdet diesen Planeten ruinieren, Dex. Eine ganze Welt wird zerstört werden, und die einheimischen Lebensformen mit ihr.«

»Das liegt noch hundert Jahre oder mehr in der Zukunft.«

»Das geschieht jetzt, Dex. Was wir jetzt tun, gestaltet die Zukunft. Mit jedem Schritt erschaffen wir unseren Weg ins Morgen. Was du vorhast, wird diese Welt ebenso sicher zerstören, wie die Europäer die Welt der amerikanischen Ureinwohner zerstört haben.«

»Glaubst du, ich will, dass es so läuft?«

»Du hast deinen Vater dazu gebracht, diese Richtung einzuschlagen, oder nicht?«

»Anders wären wir nicht hierher gekommen, Jamie! Zum Teufel, die Politiker wollten keine weitere Expedition finanzieren. Was glaubst du, warum es sechs Jahre gedauert hat, bis diese zweite Expedition auf dem Mars landen konnte?«

Jamie funkelte ihn an.

»Ich bin ebenfalls Wissenschaftler«, sagte Dex. »Ich habe meinen Vater beschwatzt, das Geld für uns zu beschaffen, weil ich zum Mars wollte! Glaubst du, du bist der Einzige?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Aber der Preis, Dex. Der Preis.

Es wäre besser gewesen, wenn wir den Mars weitere hundert Jahre in Ruhe gelassen und abgewartet hätten, bis wir nur um der Wissenschaft willen herkommen können.«

»In einer perfekten Welt vielleicht«, erwiderte Dex mit leiserer Stimme. »Aber dann wären wir beide nicht hier, stimmt's?«

»Nein, wohl nicht.«

»Tja, ich will auf dem Mars sein. Jetzt. Ich. Ganz egal, was es kostet. Und du empfindest genauso, sonst wärst du nicht hier.«

Jamie sah ihm ins Gesicht. Das nassforsche Grinsen war verschwunden, die blaugrünen Augen waren tief, und sie wichen seinem Blick nicht aus.

»Vielleicht hast du Recht«, gab Jamie zu und ging wieder nach hinten zur Kombüse. »Aber ich komme mir wie eine Judasziege vor.«

»Oder wie Kit Carson vielleicht?«

Jamie fuhr herum und sah, dass Dex wieder grinste. Er weiß Bescheid über den Langen Marsch, damals, nachdem Carson und die Army das Volk von seinem Land vertrieben hatten.

»Genau«, sagte er gepresst. »Kit Carson. Das bin ich.«


NACHMITTAG: SOL 101

Jamie baumelte sechshundert Meter unter dem Rand der Klippe. Er schwang im Klettergeschirr hin und her, und die rötliche Felswand mit ihrer Schichtenstruktur war nur eine Armeslänge von ihm entfernt. Er berührte sie mit einem gestiefelten Fuß, dann stieß er sich ab. Er kippte Schwindel erregend vor und zurück wie ein Kind auf einer Schaukel.

»Bin fast da«, grunzte er. Er merkte, dass er keuchte und schwitzte, obwohl die motorisierte Winde den größten Teil der Arbeit erledigte.

»Immer mit der Ruhe.« Dex' Stimme klang angespannt und rau in seinen Helmlautsprechern. Die beiden Männer hatten nach ihrem Streit am Vorabend praktisch nur noch das für die Arbeit Nötigste miteinander gesprochen.

Jamie wurde bewusst, dass er sein Leben Dex anvertraute, der oben an der Winde mit dem Seil stand, an dem er hing.

Er hätte fast in sich hineingelacht. Unser Streit ist rein philosophisch. Aber dann dachte er an Vijay und erkannte, dass der Streit nach ihrer Rückkehr zur Kuppel ziemlich schnell handgreiflich werden konnte.

Behutsam drückte er auf die Windensteuerung. Die Felswand glitt an ihm vorbei, aber zu schnell; sie verschwamm beinahe vor seinen Augen. Er hob den behandschuhten Finger vom Kontrollknopf, und das Geschirr stoppte ruckartig, sodass er noch heftiger schaukelte als zuvor. Er knallte mit der Schulter gegen den Felsen und grunzte, als ihm der Aufschlag die Luft aus den Lungen trieb, dann streckte er wieder die Beine aus, um den nächsten Stoß abzufangen.

»Alles in Ordnung?«

»Ja. Alles okay«, antwortete Jamie.

»Von deinen Bildern werde ich seekrank«, beschwerte sich Dex.


Die an Jamies Helm befestigten VR-Kameras zeichneten alles auf, nicht so sehr zu Showzwecken, sondern damit man den Abstieg optisch verfolgen konnte. Dex hatte oben am Rand des Canyons einen tragbaren Monitor neben der Winde aufgestellt.

Widerstrebend blickte Jamie nach unten. Die Spalte in der Felswand befand sich noch immer mehrere hundert Meter unter ihm. Und der Grund des Canyons schien noch Tausende von Kilometern tiefer zu liegen und rhythmisch zu schwanken, so tief unten, dass er wie ein blutroter Teppich aussah, der nur darauf wartete, dass er ihm entgegen stürzte.

Na, wie sieht das aus, du Klugscheißer, fragte er Dex stumm.

Dann hob sich sein Magen. Jamie klammerte sich mit beiden Händen an dem dünnen Buckyball-Seil fest. Er schloss die Augen und sagte sich, dass das Seil über eine Tonne Gewicht tragen konnte, dass er selbst auf dem Mars nur ein Drittel seines irdischen Gewichts wog, dass das Geschirr ihn sicher hielt und noch nie gerissen war.

Trotzdem war es noch ein langer Weg bis nach unten. Ein langer Weg. Er lehnte sich so weit zurück, wie er es wagte, schaute durch die Sichtscheibe seines Helms nach oben und stellte fest, dass es auch ein langer Weg zum Rand des Canyons war.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sprach in sein Helmmikrofon: »Okay, noch einmal, das müsste reichen.«

»Sei vorsichtig«, mahnte Dex.

»Klar«, sagte Jamie und fügte wortlos hinzu: Toller Rat.

Als ob es ihm nicht scheißegal wäre.

Er drückte so behutsam auf den Bedienungsknopf, wie er konnte, berührte ihn kaum, und die Felswand glitt langsamer vorbei. Vielleicht hab ich den Trick allmählich raus, sagte sich Jamie. Die Fahrt in die Tiefe ging noch gleichmä

ßiger vonstatten, als er den Finger völlig regungslos auf dem Knopf hielt und zusah, wie die Felswand vor seinen Augen nach oben rollte, Schicht um Schicht, Rot und Braun, Rosa und gebleichtes Hellbraun, ein Streifen gelbliches Weiß, ein Fleck aus glänzendem Silber – offenbar Sedimentablagerungen aus einer Zeit vor Milliarden von Jahren, als der Mars noch jung gewesen war und ein Ozean die heutige öde, wasserlose Wüste bedeckt hatte.

Und dann hatte sich das Land geteilt, war auf einer Länge von Tausenden von Kilometern aufgerissen, eine schartige Wunde, die eine acht Kilometer tiefe Narbe hinterlassen hatte; im Vergleich zu ihr sah der Grand Canyon von Arizona wie ein Grübchen aus. Was hatte diesen Bruch verursacht, was konnte einen Canyon aufreißen, der so breit war, dass man nicht mal die andere Seite sehen konnte, weil sie hinter dem Horizont lag?

Eine Plattentektonik wie auf der Erde konnte es nicht sein.

Der Kern des Mars war nicht lange genug so heiß gewesen, um einen solchen Grabenbruch zu erzeugen.

Eine Spalte kam vor ihm herauf, und Jamie stoppte die Winde. Aber es war nur ein Loch in der Canyonwand, eine lange, schmale Höhle, dunkel und leer. Keine Navajos, die sich darin vor Carson und seinen verräterischen Utah-Indianerscouts versteckten.

Er fuhr weiter nach unten. Kein Laut außer seinem Atem; die Winde war nun mehr als einen Kilometer über ihm, oben am Rand des Canyons bei Trumball.

Das Gestein begann wieder zu verschwimmen. Zu schnell. Jamie lockerte den Druck seines verkrampften Fingers, und die Abwärtsfahrt verlangsamte sich.

Er schaute erneut nach unten und sah den dunklen Rand der Nische zwischen seinen baumelnden Stiefeln.

Gleich war er da. Noch ein paar Meter. Langsam, schmerzhaft langsam ließ er sich hinunter.

Es war eine riesige Einbuchtung in der Wand des Canyons, so groß wie die Höhle auf der Mesa Verde, vielleicht noch größer. Ein schwerer Felsüberhang, der sie vor dem Wetter schützte – nicht dass es in den letzten tausend Millennien viel Wetter auf dem Mars gegeben hätte.

»Ich bin bei der Nische«, meldete er in sein Helmmikro.

»Gehe auf manuelle Steuerung.«

Einen Moment lang kam keine Antwort, dann sagte Dex'

Stimme angespannt: »Ich kriege dein Kamerabild. Sieht gut aus.«

Jamie nickte. Wenn mir irgendwas zustößt, haben sie alles auf Video. Bilder für die Touristen.

Mitten in der Luft hängend, schaltete er die Windensteuerung aus und begann, sich per Hand langsam und vorsichtig hinunterzulassen. Dabei spähte er in die verschattete Nische in der Felswand.

Sie war da! Jamie sah eine glatte Mauer aus gräulichem Rosa, eine Art Sandstein, die sich vom Boden der riesigen Höhle erhob. Sie war so schnurgerade, dass es sich unmöglich um eine natürliche Formation handeln konnte. Sie war gebaut worden, errichtet von intelligenten Wesen.

Eine Ewigkeit hing er dort im Geschirr, schaukelte leicht hin und her und starrte nur die Mauer an, die sich in die schattigen Höhen der Spalte erhob, fast bis zur Felsendecke hinauf. Er fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen schlug.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Dex' Stimme weckte ihn aus seiner ehrfürchtigen Benommenheit.

»Siehst du das?«, rief Jamie. Seine Stimme war schrill vor Begeisterung.

»Ja, ich hab's auf dem Monitor. Sieht wirklich wie eine Mauer aus.«

»Es ist eine Mauer! Eine Mauer, die jemand gebaut hat!«

»Zieh keine voreiligen Schlüsse«, warnte Dex. Seine Stimme klang angespannt und heiser.

Langsam und bedächtig drehte Jamie den Kopf von einer Seite zur anderen, sodass die von seinen Augenbewegungen gesteuerte Helmkamera die Wand in ihrer gesamten Länge aufzeichnen konnte.

»Fast hundert Meter lang«, berichtete er. »Ungefähr zehn bis zwölf Meter hoch, schätze ich.«

»Sieht aus, als wäre der obere Rand abgebröckelt«, sagte Dex. »Ist aber schwer zu sagen, weil er im Schatten liegt.«

»Abgebröckelt, zerbrochen, ganz recht«, sagte Jamie.

»Muss ziemlich weiches Material sein. Sandstein oder so was in der Art.«

»Kannst du erkennen, wie dick sie ist?«

»Von hier aus nicht.«

Keine Reaktion von oben. Er weiß, was als nächstes kommt, sagte sich Jamie.

»Ich gehe rein«, sagte er.

Sofort erwiderte Dex: »Nein! Es ist schon zu spät, die Sonne geht in ungefähr einer Stunde unter. Die Mauer ist morgen auch noch da.«

»Ich schaff das schon«, sagte Jamie. »Ich hab auf der Erde genug Berge bestiegen, um das hinzukriegen.« Wortlos fügte er hinzu: Zur Hölle mit morgen. Ich gehe jetzt da rein.

Er hakte die mit einer Sprungfeder versehene Seilpistole von seinem Gerätegürtel, packte sie mit beiden behandschuhten Händen und zielte auf den Steinboden der Nische statt auf die Mauer selbst. Sandstein konnte nachgeben, sagte er sich, aber in Wirklichkeit wusste er, dass es ein Sakrileg wäre, die Mauer zu verunstalten.

Jamie drückte den Abzug durch, und das Seil schoss heraus. Die Pistole vibrierte in seiner Hand, während es sich abspulte. Der Motordorn grub sich mit einem dumpfen Laut in den Steinboden. Er hörte das Knirschen trotz der dünnen Luft. Er befestigte die Pistole wieder an seinem Gürtel, und das Seil straffte sich automatisch. Jamie zog prüfend daran; es schien zu halten.

»Verdammt, Jamie, wenn du jetzt nicht raufkommst, starte ich die Winde und ziehe dich hoch! Mach schon. Jetzt sofort!«

Jamie beachtete Dex' Aufforderung nicht. Vorsichtig zog er sich in die Spalte, eine Hand über die andere, bis seine Stiefel den Steinboden der Nische berührten. Die Mauer ragte rötlich-braun über ihm auf, massiv und still.

Jamie bückte sich und verankerte das Seil an seinem Geschirr mit zitternden Händen an dem Dorn im Boden. Er arbeitete mit unnatürlichen, bewusst langsamen Bewegungen. Innerlich bebte er; am liebsten wäre er losgerannt und hätte die Felsenbehausung erforscht, aber zunächst einmal musste er das lebenswichtige Seil sichern, das ihn wieder zum Rand der Canyons hinauftragen würde. Wie ein Betrunkener, der zeigen will, dass er nüchtern ist, band Jamie das Seil mit übertriebener Präzision fest.

»Dein Bild bricht zusammen«, kam Dex' Stimme unter dem Geknister atmosphärischer Störungen aus seinen Helmlautsprechern. »Der Felsen behindert die Übertragung.«

»Lässt sich nicht ändern«, sagte Jamie. Er begann, das Geschirr abzunehmen. Seine Hände zitterten so sehr, dass er drei Versuche brauchte, um es vollständig zu öffnen.

»Jamie, du musst jetzt raufkommen«, drängte Dex. Seine Stimme war schwach, fern, von atmosphärischen Störungen zerkratzt.

»Eine halbe Stunde«, sagte er geistesabwesend, als er schließlich aus dem Geschirr stieg und aufrecht und frei auf dem Boden der Spalte stand. Innerlich bebte er.

»Geh nicht … warte bis …« Dex' Stimme klang nervös und quengelig, »… Stacy … aus der Kuppel … kriegt einen Tobsuchtsanfall …«

Jamie ignorierte ihn. Er blickte zu der Mauer hinauf, die sich vor ihm erhob, der Mauer, die von Marsianern erbaut worden war. Hoch oben, knapp unter dem Felsendach, sah er rechteckige Öffnungen. Eine ganze Reihe, von einem Ende der Mauer zur anderen.

Fenster! Es sind Fenster! Was von draußen wie eine unterbrochene, zerbröckelte Dachlinie ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit eine Reihe von Fenstern, die in den Canyon hinausblickten. Seine Knie waren wie Gummi, seine Eingeweide flatterten.

Sie waren hier, Großvater, sagte er in seinen Gedanken.

Sie waren wirklich hier. Jamies Blick verschwamm, und er merkte, dass ihm Tränen in den Augen standen.

In seinen Helmlautsprechern war es jetzt still, bis auf das leise Zischen atmosphärischer Störungen. Die Stimmen von oben konnten ihn hier nicht mehr erreichen. Jamie war allein mit den Geistern aus uralter Vergangenheit.

Das Bauwerk war alt. Obwohl Jamie von dem unförmigen Raumanzug umschlossen war, fühlte er die Jahrtausende, die Äonen, seit denen diese Mauern hier standen. Die massiven, stummen Steine strahlten Alter aus, unermessliche Zeiträume, zahllose Generationen der Hoffnung, des Glaubens und der Ausdauer. Das brünierte, sterbende Licht der fernen, untergehenden Sonne tauchte die Mauern in einen rötlichen Schein, sodass sie von innen heraus zu leuchten schienen.

Alt, unglaublich alt. Älter als die Felsenbehausungen der Alten. Älter als das Parthenon. Älter als die Pyramiden.

Und all diese Zeit hatte dieses Bauwerk hier in seiner Felsnische gestanden und gewartet, gewartet.

Auf mich. Auf uns. Darauf, von Menschen von der blauen Welt gefunden zu werden, sagte sich Jamie.

Blinzelnd schritt er die Steinmauer ab, zwang seine zitternden Beine, ihn zu tragen. Sein Geologenverstand fragte: Wie alt? Was für Materialien? Welcher Zweck? Aber in seinem roten Herzen wusste er: Intelligente Wesen hatten diese Gemeinschaft, dieses Dorf vor Jahrmillionen in dieser geschützten Felsbucht errichtet.

Vor Jahrmillionen.

Sie waren hier gewesen! Was war aus ihnen geworden?

Wohin waren sie verschwunden?

»Kriegst du diese Bilder?«, fragte er.

Keine Antwort.

Jamie zwang sich, zu dem Dorn und dem festgebundenen Seil zurückzugehen. Er sah, dass der Himmel dunkel zu werden begann. Das bisschen Sonnenlicht, das dem Tag noch blieb, spendete keine Wärme.

»Hörst du mich, Dex?«

»Ja! Du musst raufkommen. Die Sonne geht gleich unter.«

»Komm runter«, sagte Jamie. »Ich schicke dir das Geschirr rauf.«

»Nein! Ich kann nicht.«

»Dex, du solltest dir das lieber nicht entgehen lassen.

Wenn wir Stacy und den anderen Bericht erstatten, sollten wir's gemeinsam tun.«

Einen langen Moment blieb es still. Dann sagte Dex: »Wir haben nur noch ungefähr eine halbe Stunde Tageslicht.

Vielleicht weniger.«

»Das reicht.« Jamie löste das Seil von dem Dorn, der sich in den Steinboden gegraben hatte. Das Geschirr schwang über den Rand der Spalte hinaus ins Freie.

»Hol es rauf«, befahl er Trumball. »Mit Höchstgeschwindigkeit. Verschwende keine Zeit.«

»Die Sicherheitsvorschriften …«

»Hier unten waren Marsianer, Dex. Lebende, intelligente, bauende Marsianer.«

Das Geschirr verschwand ruckartig nach oben.

Während er auf Dex wartete, ging Jamie tiefer in die Spalte hinein, an der Seitenwand des Dorfes entlang. Er sah niedrige Eingänge in der Mauer und – im Halbdunkel am hinteren Ende der Höhle – eine kreisrunde Grube.

Ein Brunnen?, fragte er sich. Zu groß. Eine Kiva? Er lachte nervös. Fang nicht damit an. Auf der Mesa Verde wäre es eine Kiva, aber das heißt nicht, dass die Marsianer religiöse Zentren derselben Art gebaut haben. Zieh keine voreiligen Schlüsse.

Aber was könnte es sonst sein, fragte eine Stimme in seinem Kopf.

Geduld, flüsterte sein Großvater. Man kann nicht alle Türen auf einmal öffnen.


»Ich komme runter«, kam Dex' nervöse, unglückliche Stimme knisternd aus seinen Helmlautsprechern.

»Prima.«

»Niemand passt auf die Winde auf, weißt du.«

»Die läuft schon nicht weg«, sagte Jamie. »Wir haben sie fest und sicher verankert.«

»Hoffentlich.«

Jamie ging an dem Gebäude entlang und kämpfte dabei gegen den irrationalen Drang an, seinen Raumanzug zu öffnen, damit er ungeschützt vor diesen alten Steinen stehen und sie mit bloßen Händen anfassen konnte.

Der Himmel über dem fernen Horizont ging von Orange zu Violett über, als Dex in Sicht kam; er baumelte in dem Geschirr. Jamie wünschte, er könnte das Gesicht des Mannes sehen – könnte sehen, wie ihm beim ersten Blick auf das Bauwerk die Augen aus den Höhlen traten.

Er hörte, wie Dex scharf die Luft einsog. »Heilige Mutter Gottes, wie alt mag das sein?«

»Um das herauszufinden, sind wir hier«, sagte Jamie.


LICHTGESCHWINDIGKEIT

Vijay spürte die Enge, als sich alle sechs Forscher im Kommunikationszentrum zusammendrängten. Rodriguez saß an der Konsole, die verbundene Hand in einer Schlinge vor der Brust. Stacy Deschurowa saß neben ihm. Niemand gab einen Mucks von sich; nicht einmal ein Atemzug war zu hören, als sie auf den Hauptbildschirm starrten.

»Wir müssen jetzt in den Rover zurück«, sagte Jamie. Seine Stimme klang müde und ausgelaugt. »Ich wollte nur sicherstellen, dass ihr alle das seht. Es ist ein Bauwerk, so viel steht fest. Hier hat es intelligente Marsianer gegeben.«

Vijays Hals war trocken, obwohl sie in der heißen, vollgestopfen Kabine schwitzte.

»Ich habe nicht geglaubt, dass es wirklich existiert«, gab Deschurowa mit leiser, hohler Stimme zu. »Bis eure Bilder hereingekommen sind, habe ich nicht geglaubt, dass es wirklich existiert.«

»Es existiert«, sagte Jamie. »Du solltest jetzt Tawara informieren.«

Pete Connors döste in seinem Liegestuhl friedlich vor sich hin. Es war Sonntag Nachmittag. Die Sonne brannte heiß auf ihn herunter, aber die vom Riff hereinkommende Brise war angenehm kühl. Er hatte sich in seinem kleinen tragbaren Fernseher das abendliche Footballspiel der Kansas City Chiefs gegen die Philadelphia Eagles angesehen, war jedoch mitten in einem punktlosen Abwehrkampf eingeschlafen.

Er erwachte, als seine Frau ihn grob an der Schulter rüttelte. »Wa … wasislos?«

Ihre Stirn war gerunzelt. »Anruf vom Büro. Du sollst sofort rüberkommen. Höchste Priorität, sagen sie.«

Connors rappelte sich vom Liegestuhl hoch und wäre dabei fast über seine eigenen Beine gestolpert.

»Was, zum Teufel, ist denn nun wieder los?«, murmelte er.

Er gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange, lief von der Veranda um die Ecke zur Garage, sprang auf sein Elektromotorrad und trat wie wild in die Pedale, während er die Siedlungsstraße entlangfuhr, die zur Hauptstra

ße der Insel führte.

Keine zehn Minuten später sah er sich mit großen Augen Jamies Videoaufnahmen von der Felsenbehausung an.

»Ach du lieber Gott«, sagte er ehemalige Astronaut und sank auf einen Stuhl vor dem Bildschirm. »Das ist der absolute Hammer.«

Die Leute, die sich im Kommunikationszentrum mit den Ziegelwänden um ihn scharten, machten ebenfalls große Augen; einige grinsten, anderen stand vor Ehrfucht der Mund offen.

»Überspielen Sie das sofort in die IUK-Zentrale«, sagte Connors.

»In New York ist Samstagabend«, erinnerte ihn einer der Assistenten. »Da haben die bestimmt zu.«

»Vielleicht sollten wir's direkt an die Nachrichtenmedien weiterleiten?«, schlug jemand vor.

»Nein!«, fuhr Connors auf. »Das IUK muss es bekannt geben, nicht wir. Holen Sie mir den Vorstandsvorsitzenden ans Telefon, wo immer er sein mag. Und Li Chengdu in Princeton.«

»Was ist mit Mr. Trumball?«

Connors holte tief Luft. »Ja, Trumball auch. Er wäre ziemlich sauer, wenn wir ihn nicht sofort anrufen würden.«

Walter Laurence nippte an einem Martini, während er das Schmücken des Familienweihnachtsbaums beaufsichtigte.

Früher hatte er diese Aufgabe gefürchtet, aber als Großvater fand er es nun recht spaßig, seinen erwachsenen Kindern dabei zuzusehen, wie sie sich abmühten, ihre frechen Gören daran zu hindern, den Zierat zu zerbrechen und alles endgültig zu ruinieren.

Er saß in seinem Lieblings-Ohrensessel am Kamin und wünschte, es würde schneien. Es hatte schon seit Ewigkeiten kein weißes Weihnachten mehr gegeben, und dabei war der Central Park im Schnee immer so hübsch. Jetzt lag er grau und kahl draußen vor seinem Fenster im neunzehnten Stock und sah schmutzig aus.

Der Butler brachte ihm das Telefon und stellte es behutsam auf den Sherry-Tisch neben dem Ohrensessel. »Tarawa, Sir.« Er sprach es immer noch Ta-ra-wa aus statt so, wie es sich gehörte, stellte Laurence genervt fest.

Laurence fragte sich, was für eine Katastrophe Tarawa dazu bewog, am Samstag vor Weihnachten anzurufen, und drückte auf eine Taste.

Auf dem winzigen Bildschirm erschien Pete Connors'

dunkles Gesicht. Er grinste von einem Ohr zum anderen und zeigte dabei eine Menge weißer Zähne.

»Tut mir Leid, wenn ich störe, aber ich dachte, Sie würden das sofort sehen wollen.«

Es dauerte eine Weile, bis Laurence begriff, was er da sah.

Sobald ihm klar wurde, dass es sich um ein von Marsianern erbautes Dorf handelte, sprang er auf und stieß einen Jubelschrei aus, der seine Angehörigen dermaßen erschreckte, dass sie fast den Weihnachtsbaum umgeworfen hätten.

Dr. Li Chengdu sah seinen Nachbarn mit dem kühlen, distanzierten Blick eines ausländischen Beobachters bei den Weihnachtsvorbereitungen zu. Sie mühten sich ab, bunte Lichterketten über ihre Häuser zu spannen und kunstvolle Dekorationen auf ihren Rasenflächen anzubringen, und verschuldeten sich immer tiefer, indem sie üppige Geschenke kauften und zu viele Parties gaben.

Ab und zu sprachen sie von der religiösen Bedeutung des Festes, aber soweit Li erkennen konnte, bestand dessen eigentlicher Zweck darin, die Umsätze des Einzelhandels in die Höhe zu treiben. Egal. Er genoss die Aufregung und die allgemeine Heiterkeit, obwohl er darunter oft eine Art verzweifelter Entschlossenheit spürte, alles richtig zu machen und glücklich zu sein, ganz gleich, was für Spannungen es in der Familie gab.

Als Connors aus Tarawa anrief, wirkte der Astronaut aufgeregter als die Kinder in der Nachbarschaft.

»Jamie hat's geschafft!«, platzte Connors heraus. »Es ist wirklich ein Dorf! Von Marsianern erbaut!«

Li sackte halb in seine Lieblingssitzgelegenheit, den bequemen, nachgiebigen Ruhesessel, der auf der ersten Marsexpedition sein einziger Luxus gewesen war, und starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm des Telefons, auf dem das marsianische Bauwerk zu sehen war.

Sein Herz pochte unter den Rippen. Auf dem Mars haben intelligente Wesen gelebt. Wir sind nicht allein im Universum! Es gibt auch woanders Leben, ja sogar intelligentes Leben!

Sein Blick schweifte zu seinem Wohnzimmerfenster und den blinkenden Lichtern am Haus und auf dem Rasen seines Nachbarn jenseits der Vorstadtstraße.

Was werden sie empfinden, wenn sie es erfahren? Werden Sie erschrocken sein? Oder aufgeregt? Werden sie darauf brennen, ihresgleichen kennen zu lernen? Oder werden sie Angst davor haben, auf überlegene Wesen zu treffen?

Darryl C. Trumball war an diesem Samstagabend zu Hause und rang mit der Entscheidung, ob er zum Abendessen in seinen Club im Geschäftsviertel gehen oder seiner Frau auftragen sollte, den Koch anzuweisen, etwas für sie beide zuzubereiten.

Connors' Anruf beendete jeden Gedanken ans Abendessen. Trumball starrte die Bilder vom Mars mit offenem Mund an und blaffte dann sofort: »Raus aus der Leitung! Ich muss unverzüglich sechs Dutzend Leute anrufen!«

Connors sagte: »Die Nachrichtenmedien …«

»Lassen Sie mich mit den dämlichen Medien zufrieden!

Darum können sich Laurence und seine Lakaien kümmern.

Ich rufe Geldleute an, Mann. Die werden jetzt darum betteln, die nächste Expedition finanzieren zu dürfen!«


»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, fragte die Chefin der Nachrichtenredaktion.

»Junge Dame«, sagte Walter Laurence, »ich bin der geschäftsführende Direktor des Internationalen Universitätskonsortiums. Meine Leute rufen sämtliche großen Networks und Zeitungen an. Ich habe mich entschieden, Ihr Network persönlich anzurufen, weil ihr Geschäftsführer ein enger Freund von mir ist.«

Warum hast du den dann nicht angerufen, dachte die Chefredakteurin. Sie war eine klapperdürre Frau von siebenunddreißig Jahren mit scharfen Zügen, die in ihrem Job schon mit genug Scherzen und Fälschungen konfrontiert gewesen war. Intelligente Marsianer, du meine Güte, dachte sie.

»Hören Sie, was Sie mir da gezeigt haben, sieht aus wie eine Sozialsiedlung im Adobe-Stil. Und Sie behaupten, die steht auf dem Mars?«

Laurence brauchte eine volle Viertelstunde und alle Geduld, die er aufbieten konnte, um sie zu überzeugen, dass er die Wahrheit sagte. Trotzdem glaubte sie ihm nicht ganz, bis die Monitore über ihrem Schreibtisch – auf denen zu sehen war, was gerade bei den anderen Networks lief – auf einmal allesamt das Filmmaterial von der marsianischen Felsenbehausung zeigten. Selbst das Footballspiel am Samstagabend musste dahinter zurückstehen. Das überzeugte sie schließlich.

Der Präsident der Vereinigten Staaten war verblüfft, als seine wissenschaftliche Beraterin ihn anrief und ihm erzählte, die Marsforscher hätten intelligente Marsianer entdeckt.

»Haben Sie schon das Verteidigungsministerium benachrichtigt?«, fragte der Präsident sofort.

Die wissenschaftliche Beraterin schüttelte den Kopf. Sie hatte seit Wochen keinen Zugang zum Präsidenten mehr gehabt und war überrascht, um wie viel älter er ohne seine Schminke auf ihrem Wandbildschirm aussah.

In ihrem Büro drängten sich lauter lächelnde, feiernde junge Männer und Frauen. Sektkorken knallten. Man stieß auf die Marsforscher an. Marsianerwitze schwirrten herum: Wie viele Marsianer braucht man, um eine Glühbirne auszutauschen? Weshalb haben Marsianer Kopfschmerzen?

»Mr. President, die Marsianer existieren nicht mehr. Ihr Dorf ist leer. Sie stellen keine Gefahr für uns dar.«

Der Präsident kniff die verschwiemelten Augen zusammen. »Nun, dieses eine Dorf mag verlassen sein, aber es könnte noch andere geben, oder nicht?«

Die wissenschaftliche Beraterin nickte nachdenklich. Da hat er nicht ganz Unrecht. Wenn Waterman und seine Leute ein Dorf gefunden haben, muss es woanders auf dem Planeten noch mehr Dörfer geben.

In ihrem Wohnzimmer in Kansas City saßen die Ziemans eng beieinander auf dem Sofa und starrten auf den Wandbildschirm. Er zeigte zum zwölften Mal dasselbe Bild der marsianischen Behausung.

Die Fünfjährige sagte: »Wie oft wollen sie dieses blöde Bild denn noch zeigen?«

»Das ist auf dem Mars, Dumpfbacke«, schnauzte ihr älterer Bruder sie an.

»Seid still«, brachte Mrs. Zieman die beiden zum Schweigen.

Wieder zeigte der Bildschirm einen ausführlichen, langsamen Schwenk über die Mauer, während die Stimme des Sprechers verkündete: »… erbaut von intelligenten Wesen, die auf dem Planeten Mars gelebt haben, unserem nächsten Nachbarn im All. Auf dem Mars ist es jetzt Nacht, aber morgen früh bei Tagesanbruch werden die Wissenschaftler James F. Waterman und C. Dexter Trumball zu diesem marsianischen Dorf zurückkehren, um mit der wissenschaftlichen Erforschung der ersten Spuren intelligenten Lebens zu beginnen, die jemals außerhalb der Erde entdeckt wurden.«

In Rom war es fast Mitternacht. Pater DiNardo hatte sich in dem hektischen, hupenden, immer nur meterweise vorankommenden Verkehr am Vorabend der Feiertage zum Vatikan durchgekämpft, herbeigerufen von niemand Geringerem als Kardinal Bryan, der angeblich dem Stellvertreter Gottes näher stand als irgendein anderer Mensch auf Erden.

Jetzt saß er in einem kleinen Büro, dessen Wände mit RenAlssance-Fresken von Heiligen und Märtyrern bedeckt waren, während Kardinal Bryan ruhelos auf und ab marschierte.

»Und was hat das nun zu bedeuten, Pater?«, fragte der Kardinal. »Was soll ich Seiner Heiligkeit sagen?«

Bryan war Amerikaner, und es sprach einiges dafür, dass er der erste amerikanische Papst werden würde. Seine irische Herkunft war seinem fleischigen Gesicht mit der schweren Kinnlade deutlich anzusehen.

»Es bedeutet offenbar«, antwortete DiNardo bedächtig,

»dass es Gott gefallen hat, auf mehr Welten als nur der unseren intelligente Lebewesen zu erschaffen.«

»Intelligent, sagen Sie.«

»Das müssen sie gewesen sein, wenn sie so ein Dorf für sich erbauen konnten.«

»Intelligent.« Kardinal Bryan schien angestrengt über das Wort nachzusinnen, während er auf und ab ging.

»Intelligent«, erwiderte Pater DiNardo mit fester Stimme.

Der Kardinal drehte sich zu ihm um. »Intelligent, ja. Aber hatten sie eine Seele?«


MORGEN: SOL 102

Großvater Al wartete auf ihn, als er zum Dorf zurückkehrte.

Er lächelte unter seinem Hut mit der herabhängenden Krempe, dem schwarzen mit dem silbernen Band, den er gern trug, wenn er zu den Pueblos fuhr.

»Ich hab dir ja gesagt, dass es hier ist, stimmt's?« Al war in eine Lederjacke mit Fleece-Futter eingemummelt und hatte die Hände tief in die Taschen seiner Jeans vergraben. Es war kalt auf dem Mars.

Jamie, der noch seinen Raumanzug trug, schüttelte im Helm den Kopf. »Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht dran erinnern, dass du was darüber gesagt hast.«

»Ach, ganz bestimmt hab ich das«, sagte Al. »Zum Teufel, ich hab dich hierher geführt, seit du ein kleiner Junge warst.«

»Ich weiß, Großvater«, sagte Jamie. Sein Raumanzug war verschwunden. Wie Al trug er eine Jeans und eine Windjacke. Und eine himmelblaue Baseballkappe. »Ich bin dir dankbar.«

Al lachte erfreut. »Na komm, Jamie, ich führe dich ein bisschen herum.«

Irgendwo hinter sich hörte Jamie Wasser laufen.

Jamie erwachte abrupt. Er setzte sich auf, sah, dass Dex'

Liege leer war, und hörte den Wasseraufbereiter im Waschraum arbeiten.

Der Traum schwand dahin. Jamie war enttäuscht, dass er zu früh aufgehört hatte, dass Al ihm nun nicht mehr das Dorf zeigen konnte, dass sie seine Geheimnisse nicht gemeinsam lüften konnten.

Dex kam aus dem Waschraum. Er wirkte fröhlich und frisch gewaschen. »Sag mal, weißt du eigentlich, dass in zwei Tagen Weihnachten ist?«

Jamie schwang die Füße mit einem Grunzen auf den Boden. »Richtig. Da hatte ich gar nicht mehr dran gedacht.«

»Du hast der Welt ein Wahnsinns-Weihnachtsgeschenk gemacht, Jamie-Boy.«

Er sah den jüngeren Mann an. »Nicht ich. Wir. Wir alle.

Du und der Rest des Teams in der Kuppel.«

Dex grinste ihn an. »Du, Kumpel. Du hast uns hierher gebracht. Wir wären nicht hier, wenn du nicht so darum gekämpft hättest.«

Jamie stand auf und wackelte auf dem kalten Plastikboden mit den bloßen Zehen. »Na, jetzt sind wir ja hier. Gehen wir an die Arbeit.«

»Gut.«

Sie schnappten sich ein paar Snack-Riegel und tranken etwas Saft anstelle eines richtigen Frühstücks, weil sie es kaum erwarten konnten, aus dem Rover heraus und zum Dorf hinunter zu kommen. Während Dex in seinen Raumanzug stieg, sah Jamie nach den im Lauf der Nacht eingegangen Nachrichten. Die Liste, so schien es ihm, lief eine halbe Stunde lang über den Bildschirm.

»Alle Welt hat uns was zu sagen«, rief er Dex zu.

Trumball kam in den Stiefeln und dem Unterteil seines Raumanzugs zum Cockpit gestampft.

»Irgendwas von meinem lieben Dad?«, fragte er.

Jamie durchsuchte die Liste in beiden Richtungen und schüttelte dann den Kopf. Connors – oder wer immer an der Kommunikationskonsole Dienst tat – hatte die Botschaften, die er für wichtig hielt, mit Sternchen gekennzeichnet. Jedes Nachrichten-Network hatte einen Stern.

Zwei Botschaften hatten Doppelsterne; Jamie öffnete sie.

Eine war eine blumige Gratulation von Walter Laurence vom IUK; Jamie hegte den Verdacht, dass sie in Wahrheit eher an die Medien gerichtet war als an ihn. Die andere stammte vom Leiter der archäologischen Abteilung des IUK, einem pergamentgesichtigen, glatzköpfigen Mann mittleren Alters mit stechenden grünen Augen.

»Fassen Sie ja nichts an!«, warnte er viermal hintereinander. »Was immer sich in diesen Bauwerken oder in ihrer Umgebung befindet, fassen Sie nichts an! Ich möchte, dass das absolut klar ist. Fassen Sie nichts an! Bringen Sie nichts durcheinander!«

Trumball lachte. »Ich glaube, er will nicht, dass wir was anfassen.«

Jamie grinste zurück. »Sieht so aus, wie?«

»Warum schickst du ihm nicht eine Antwort und fragst ihn, ob er was dagegen hat, wenn wir uns wenigstens ein paar Souvenirs mitnehmen?«

»Damit er vielleicht einen Schlaganfall kriegt? Nein danke.«

Lachend ging Trumball zum hinteren Ende des Moduls, um sich fertig anzuziehen. Jamie ließ die Nachrichtenliste ein weiteres Mal durchlaufen; nichts von Dex' Vater, aber zwei persönliche Nachrichten für ihn selbst, von Li Chengdu und Pater DiNardo.

Die werden warten müssen, dachte Jamie. Wir haben zu tun, auch wenn wir nichts anfassen sollen.

Der lange Abstieg mit dem Seil war wie eine Wallfahrt, dachte Jamie. Man hatte Zeit, seinen Geist von allem anderen zu reinigen und sich auf das Erlebnis vorzubereiten.

Dex hatte darauf bestanden, eine der Video-Minicams an einem separaten Seil hinunterzulassen, zusammen mit Jamie. Er hatte einen handtellergroßen Transceiver daran angeschlossen, der das Bildmaterial automatisch in die Kuppel übertragen würde. Sie wollten die beiden Geräte auf ein Stativ montieren und dieses am Rand der Spalte aufstellen, sodass sie ein kontinuierliches Bild des Dorfes bekamen und überdies ein Relais hatten, das ihren Anzugfunk auch dann empfing, wenn sie sich in dem Gebäude befanden.

Jamie erreichte den oberen Rand der Spalte und bremste seinen Abstieg dann manuell. Die Morgensonne flutete in die Nische in der Felswand und ließ das Bauwerk in einem warmen Licht erstrahlen.

Es ist noch da, dachte Jamie dankbar. Es war kein Traum.

Es existiert wirklich.

Er glaubte zu hören, wie sein Großvater leise über ihn lachte. Natürlich existiert es wirklich, sagte Al. Es hat immer existiert.

Er schwang sich in die Spalte und stellte die Stiefel fest auf den Felsboden. Dann nahm er das Geschirr ab und schickte es wieder zu Dex hinauf, der ungeduldig am Rand des Canyons wartete.

Jamie ging langsam zur nächsten Öffnung in der Mauer hinüber und merkte, dass er Stiefelspuren auf dem Boden hinterließ. Staub. Er sammelt sich hier, von den Stürmen.

Ich möchte wissen, ob es sich lohnt, darin zu graben, um zu sehen, was darunter versteckt ist.

Nichts anfassen, hatte der griesgrämige alte Archäologe gesagt. Wie können wir hier sein, ohne etwas anzufassen?

Der Eingang war so breit wie ein normaler Eingang für Menschen, aber nur halb so hoch. Sie waren nicht sehr groß, dachte Jamie. Oder vielleicht war dies ein Zugang für Haustiere oder Vieh.

Er streckte die Hand aus und berührte die Wand. Hart und glatt. Nicht wie Adobe. Irgendein Stein. Schiefer vielleicht?

»Ich komme runter«, rief Dex' Stimme.

»Okay«, sagte Jamie geistesabwesend. Er wollte durch diesen Eingang kriechen und nachsehen, was in dem Gebäude war. Aber er hatte Dex versprochen zu warten, damit sie gemeinsam hineingehen konnten.

Er schaute an der Wand entlang, ins Halbdunkel weiter im Innern der Felsspalte. Zwei weitere Eingänge, beide genauso groß wie dieser.

Auf eine Ahnung hin drehte er sich um und trat an den Rand der Spalte. Er ging daran entlang, während er zuhörte, wie Dex sich grunzend und keuchend abseilte.

Da! Ich wusste, dass es hier irgendwo sein würde. Stufen, in die Felswand gehauen. Etwas ganz Einfaches, nur kleine Kerben im Stein, tief genug, um sich mit einer Hand festzuhalten oder einen Fuß hineinzustecken. Jamie ging langsam auf Hände und Knie und spähte über den Rand. Die Felswand fiel Schwindel erregend bis zum Grund des Canyons ab, Kilometer weiter unten.

Er sah eine unregelmäßige, mäandernde Linie in die Felswand gehauener Stufen. Sie machten sich sämtliche Felsvorsprünge und jede mögliche Stelle zum Ausruhen zunutze.

Ist ein verdammt langer Weg hier herauf, vor allem, wenn sie irgendwas hochgeschleppt haben.

Sie hatten Hände und Füße, dachte er. Vielleicht nicht genau dieselben wie wir, aber sie hatten Hände und Füße, die diese Stufen benutzen konnten, um hier heraufzukommen.

Vielleicht haben sie am Boden des Canyons ihre Feldfrüchte angebaut.

Was hat sie veranlasst, ihr Dorf so hoch oben zu errichten?

Was hat sie dazu getrieben, es hier zu verstecken?

»Wo bist du?«, wollte Dex wissen.

Er sah Trumball in seinem Raumanzug im Geschirr hängen, eine unförmige Gestalt direkt unterhalb des Daches der Spalte. Seine Beine baumelten herab, die Hände waren fest ums Seil geklammert.

»Links von dir, am Rand«, sagte Jamie.

»Oh. Ich dachte schon, die Versuchung wäre vielleicht zu groß geworden.«

»Nein, ich habe auf dich gewartet.« Jamie schaute immer noch zu Dex hinüber, der in dem Geschirr leicht hin und her schwang.

»Was machst du da? Betest du?«

Jamie hievte sich auf die Beine und merkte, dass es so ausgesehen haben musste. In der Kirche war ich zum letzten Mal bei meiner Hochzeit, erinnerte er sich.

»Vielleicht baue ich hier einen Schrein«, sagte er.

»Keine schlechte Idee«, gab Dex zurück.

Jamie ging zu Dex hinüber und packte ihn, als er sich in die Spalte schwang. Sobald er die Füße auf den Boden der Spalte gesetzt hatte, half Jamie ihm aus dem Geschirr und band es an dem Dorn fest, den er am Vortag hier zurückgelassen hatte.

»Okay«, sagte Dex munter. »Schauen wir mal nach, was sie uns hier gelassen haben.«

Jamie führte ihn zum nächsten Eingang.

»Geht's da rein?«

»Entweder hier oder bei einem der anderen.«

Dex grunzte und machte Anstalten, sich zu bücken.

»Denk an das Protokoll«, sagte Jamie. »Egal, was wir da drin finden, wir fassen nichts an.«

»Bis auf die Souvenirs«, witzelte Dex.

»Nichts«, wiederholte Jamie klipp und klar.

»Spielverderber.«

Dex kroch durch die niedrige rechteckige Öffnung in der Mauer und achtete darauf, nicht mit den VR-Kameras anzustoßen. Sie hatten beschlossen, dass er sie heute tragen sollte. Jamie ging auf Hände und Knie und krabbelte hinter ihm in die marsianische Behausung hinein. Er stand in einem Raum auf, der sehr geräumig, aber unangenehm niedrig war; die Videokamera an seinem Helm kratzte an der Decke, sodass Jamie sich ein wenig bücken musste.

»Im Basketball würden wir sie schlagen«, meinte Dex und drehte sich langsam um, während er in die Mitte des Raumes trat.

»Die interplanetarische Olympiade«, sinnierte Jamie.

Die fensterlose Kammer war verblüffend hell, aber völlig leer; der Boden war von einer dicken Schicht aus rötlichem Staub bedeckt.

»Wir sollten Proben von diesem Staub nehmen«, sagte Dex.

»Noch nicht.«

»Also wirklich, Jamie! Dieser alte Furz hat doch nicht gemeint, dass wir nicht mal den Staub am Boden anrühren dürften.«


»Klären wir das vorher mit dem alten Furz«, sagte Jamie.

»Oder mit demjenigen, der bei dieser Sache mit uns zusammenarbeitet, wer immer das sein mag.«

Dex schwieg einen Herzschlag lang, dann sagte er leise lachend: »Daheim schlagen sie sich wahrscheinlich gegenseitig tot, um in den Ausschuss zu kommen, der das hier beaufsichtigt.«

Jamie hatte seinen Teil akademischer Machtkämpfe erlebt.

»Da könntest du nicht ganz Unrecht haben, Dex.«

»Ich seh's geradezu vor mir, wie sich die Archäologen und Paläontologen gegenseitig an die Kehle gehen.«

»Wissenschaft in ihrer schönsten Form.«

»Tja«, sagte Dex, »wir werden diese Räume mit Seilen absperren müssen, damit die Touristen nicht durchtrampeln.«

Jamies Herz setzte für einen Schlag aus. »Touristen?«

»Wie im Museum, weißt du«, fuhr Dex fort, »da zeigen sie dir einen Raum, in dem irgendein alter König gewohnt hat.

Sie sperren den Eingang mit Seilen ab, sodass du reinschauen, aber nichts anfassen kannst.«

»Wir dürfen nicht zulassen, dass Touristen hierherkommen«, sagte Jamie.

»Die stehen wahrscheinlich jetzt schon Schlange, Kumpel.

Blättern in ihren Globetrotter-Katalogen, um Raumanzüge und Campingausrüstung für ihre Ferien auf dem Mars zu kaufen.«

»Das ist nicht komisch, Dex.«

Trumball schwieg eine Weile. Dann antwortete er mit leiser Stimme: »Ja. Ich weiß. Aber es wird so kommen, Jamie. Es gibt nichts, was einer von uns beiden tun kann, um das zu verhindern.«

Jamie hatte keine Lust, sich mit Dex zu streiten. Nicht hier, sagte er sich. Nicht jetzt.

»Komm«, sagte er, »sehen wir mal nach, was es hier sonst noch alles gibt.«

»Moment mal eben.« Dex nahm eine Digitalkamera von seinem Gürtel. »Ich mach unterwegs lieber mal ein paar Fotos. Der alte Sesselfurzer wird doch nichts gegen ein Blitzlicht haben, oder was meinst du?«

»Nur zu«, sagte Jamie und dachte: Wir sollten Proben von den Wänden schaben und versuchen, das Alter dieses Bauwerks zu ermitteln. Der Staub ist wahrscheinlich jüngeren Datums, aus unserer Zeit. Aber wie alt ist das Gebäude?

Dex knipste vor sich hin, während Jamie sich langsam im Kreis drehte, sodass die Videokamera an seinem Helm die Kammer in einem vollen DreihundertsechzigGrad-Winkel aufnehmen konnte.

Dann gingen sie leicht gebückt weiter, von einer Kammer zur anderen, mussten sich jedes Mal, wenn sie durch einen der niedrigen Eingänge krabbelten, auf Hände und Knie herablassen, und schluften wie zwei Affen dahin, als sie durch die uralte Behausung streiften und dabei Stiefelabdrücke im rostfarbenen Marssand hinterließen.

Wie alt ist dieses Bauwerk, fragte sich Jamie immer wieder. Wie lange ist es her, dass hier jemand gelebt hat?

Sie betraten eine größere, zentrale Kammer, die eine rechteckige Öffnung in der Decke hatte.

»Ein Lichtschacht«, sagte Jamie. »So kriegen sie Licht in die inneren Räume.«

»Wie bei dem Palast in Knossos«, pflichtete Dex ihm bei.

Jamie nickte. »Minoisch«, murmelte er. »Uraltes Kreta.«

»Da geht's rauf«, sagte Dex und zeigte auf das quadratische Loch.

Aber es gab weder Treppen noch Leitern, die zum nächsten Stockwerk hinaufführten. Allerdings waren die Decken so niedrig, dass Jamie sich am Rand der Öffnung festhalten und darin hochziehen konnte. Trotz der geringen marsianischen Schwerkraft musste er sich bis zum Äußersten anstrengen, aber dann bekam er oben ein Knie auf den Boden, schleppte sich von der Öffnung weg und stand auf.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte er Dex.

»Wenn du das kannst, kann ich's auch.« Jamie hörte ihn grunzen und schnaufen, als er heraufkletterte. Schließlich stand er neben ihm.

»Kinderspiel«, keuchte Dex.

Jamie grinste in seinem Helm.

Langsam arbeiteten sie sich bis zum Dach vor und schritten es in seiner ganzen Länge ab. Der wuchtige, schützende Fels war kaum einen Meter über ihren Helmen.

Jamie spürte einen Hauch von Klaustrophobie unter dem massiven, drückenden Gestein, das so dicht über ihm hing.

»Ist alles leer«, sagte Dex. »Kein Möbelstück, kein Korb, keine Tonwaren.«

»Vielleicht ist etwas im Staub begraben«, meinte Jamie. Er wusste, dass er sich an einen Strohhalm klammerte.

»Nee, der Staub ist nicht dick genug, um auch nur eine Tonscherbe zu verbergen.«

»Sie müssen alles mitgenommen haben.«

»Jedenfalls haben sie nichts hier gelassen.«

Das ganze Gebäude war leer. Als wäre es vor Ewigkeiten ausgeräumt worden. Geplündert? Von seinen Erbauern verlassen?, fragte sich Jamie. Warum? Wann?

Und dann kam es ihm erneut mit voller Wucht zu Bewusstsein, und der Gedanke traf ihn so heftig, dass ihm die Knie weich wurden.

Hier haben intelligente Marsianer gelebt! Sie sind vom Boden des Canyons heraufgestiegen und haben diese Behausung erbaut. Wann? Vor wie langer Zeit? Was ist aus ihnen geworden? Wohin sind sie verschwunden?


ABEND: SOL 102

Jamie rutschte unbehaglich auf dem Cockpit-Sitz des Rovers herum und rieb sich die Augen. Er hatte stundenlang vom Kommunikationsbildschirm abgelesen.

»Es kostet mehr Zeit, all diese Botschaften zu beantworten, als wir in dem Dorf verbracht haben«, beschwerte er sich.

Dex saß im Schneidersitz auf seiner Liege. Der Bildschirm des Laptops beschien sein Gesicht. »Jeder will uns gratulieren – und einen Teil des Verdiensts in Anspruch nehmen.«

»Da magst du Recht haben.«

Sie hatten sich die Beantwortung aller Anrufe von der Erde geteilt. Dex erledigte seine Hälfte der Arbeit auf seiner Liege. Jamie merkte, dass ihm der Magen knurrte; ihre übliche Essenszeit war schon lange vorbei. Er hatte bereits einen fünfzehnminütigen Bericht an die Nachrichtenmedien geschickt, von dem jede Station und jede Zeitung, die es wollte, Gebrauch machen konnte. Dabei sah er schon vor sich, wie die Bildredakteure den Bericht auf ein oder zwei kurze Häppchen zusammenstrichen.

»Lass uns eine Pause einlegen und nach dem Essen weitermachen«, schlug Jamie vor.

»Gute Idee – Moment mal! Hier ist was von Pater Di

Nardo in Rom.« Dex brach in Gelächter aus. »Also, was sagt man dazu? Unser jesuitischer Geologe hat's geschafft, zum Vorsitzenden des Archäologenteams ernannt zu werden.

Wenn da nicht jemand kräftig gemauschelt hat.«

»DiNardo? Warte, ich will sehen, was er zu sagen hat.«

Jamie tippte auf der Tastatur zwischen den beiden Sitzen im Cockpit herum, und Pater DiNardos dunkles, breitwangiges Gesicht erschien auf dem Bildschirm der Kontrolltafel.

»… beglückwünsche ich euch von Herzen«, sagte der Priester. »Gott hat euch reich beschenkt. Und mich auch, nehme ich an. Wie gesagt, das IUK hat mich gebeten, den Ausschluss zu leiten, unter dessen Regie ihr das marsianische Bauwerk erforschen werdet.«

Dex grinste Jamie quer durch das Rover-Modul an und fuhr sich mit einem Finger quer über den Hals. Jamie verstand: In den letzten sechsunddreißig Stunden mussten jede Menge Messer im Dunkeln aufgeblitzt sein.

»Da sich die Archäologen und Paläontologen offenbar nicht auf einen der ihren als Ausschussvorsitzenden einigen konnten, hat Dr. Li vorgeschlagen, dass ich diese Aufgabe sozusagen als neutrale Person übernehme, die keine der beiden Seiten bevorzugt.«

»Die Wege des Herrn sind unerforschlich«, witzelte Dex.

»Eine gewisse Anzahl von Anthropologen möchte ebenfalls hinzugezogen werden«, fuhr DiNardo fort, »aber ich weiß nicht so recht, ob Anthropologen besondere Ansprüche auf eine Beteiligung an dieser Untersuchung erheben können. Die Marsianer sind per definitionem eindeutig nicht menschlich. Die Anthropologen möchten jedoch unbedingt mit dabei sein.«

DiNardo wusste, dass es fast eine halbe Stunde dauern würde, bis ihn eine Antwort vom Mars erreichte, und redete darum weiter, ohne auf eine Antwort zu warten, ohne auch nur eine Atempause einzulegen, wie es Jamie schien.

Der Mann war aufgeregt, erkannte er. Unter der gelassenen Fassade, die er aufrechtzuerhalten trachtete, war DiNardo genauso aufgeregt wie er selbst.

Und wieso auch nicht, dachte Jamie stumm. Das ist die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit. Wir sind nicht allein! Es gibt – oder gab – intelligente Geschöpfe auf dem Mars.

Der Priester kam schließlich zum Ende seiner kleinen Ansprache. »Soweit ich weiß, hat man euch bereits gesagt, dass ihr in der Behausung oder in ihrer Umgebung nichts anfassen dürft. Morgen solltet ihr so viele Kameras aufstellen, wie ihr könnt, damit wir möglichst viel vom Äußeren und Inneren des Gebäudes zu sehen bekommen.«

»Haben wir heute schon weitgehend erledigt«, sagte Dex mehr zu sich selbst als zu dem Gesicht auf dem Monitor. Jamie wurde klar, dass DiNardo die zur Erde geschickten Bilder noch nicht gesehen hatte.

»Als Nächstes hätten wir gern eine Tour durch das Gebäude mit dem Virtual-Reality-System. Dadurch bekämen unsere Leute hier ein besseres Gefühl dafür, was ihr dort gefunden habt.«

Jamie nickte. Durchaus sinnvoll, fand er.

Auf dem Bildschirm blickte DiNardo abrupt zu jemandem außerhalb des Bildfelds der Kamera auf. »Ich muss mich jetzt von euch verabschieden. Wir haben eine elektronische Konferenz des gesamten Ausschusses anberaumt, und ich muss den Vorsitz führen. Ich rufe euch morgen wieder an.

Auf Wiedersehen, und Gott sei mit euch.«

»Amen«, sagte Dex. »Lass uns jetzt essen.«

Mitten in ihrer Mahlzeit aus Fertiggerichten schaute Dex von seiner Schale auf und sagte: »Diese VirtualReality-Tour, die DiNardo will … das wird eine phantastische Touristenattraktion.«

Jamie zwang sich, weiterzukauen.

»Ich meine, die Leute könnten einen Rundgang durch das Dorf kaufen und ihn gleich bei sich zu Hause machen. Danach würden sie sich alle zehn Finger danach lecken, es sich in echt anzusehen.«

»Ihr könntet vermutlich viel Geld damit machen.« Jamie bemühte sich, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben.

»Ja.«

Jamie schluckte sorgfältig, dann fragte er: »Hast du schon was von deinem Vater gehört?«

»Nein, noch nicht.« Dex trank einen Schluck Fruchtsaft und stellte den Plastikbecher dann nachdrücklich auf den Tisch zwischen ihnen. »Ach, der meldet sich schon noch. Er wird mich ein, zwei Tage warten lassen, dann ruft er an.


Der liebe alte Dad hat immer Angst, ich könnte den Kopf zu hoch tragen, deshalb versucht er, mich klein zu machen, wann immer er es für nötig hält. Also immer.«

Jamie hörte mehr als Sarkasmus in Dex' Ton. Er hörte Schmerz.

»Ich bin sicher, er ist sehr stolz auf dich«, sagte er.

»Ja«, sagte Dex. »Mächtig stolz. Ihm platzen schon die Knöpfe ab.«

Jamie sagte nichts.

»Das Problem ist, wenn er wirklich stolz ist, macht er ein tiefes, dunkles Geheimnis daraus. Darin ist er gut, seinen Stolz auf seinen eingeborenen Sohn zu verbergen.«

»Tut mir Leid, dass ich dich wütend gemacht habe.«

»Ach, lass gut sein, Jamie. Das ist nicht dein Problem.«

Dex griff sich den Becher mit dem Saft und leerte ihn. Als er von dem schmalen Tisch aufstand, fragte er: »Wie wär's eigentlich, wenn wir die Kuppel hierher verlegen würden?

Wir können nicht ewig vom Rover aus arbeiten.«

»Ich weiß«, sagte Jamie. »Ich hab auch schon darüber nachgedacht.«

»Und?«

»Mit der Kuppel umzuziehen wäre ein höllischer Stress.

Das würde Wochen dauern.«

»Wir könnten es zwischen Weihnachten und Silvester schaffen, da wette ich.«

»Es würde länger dauern.«

»Na und? Wir haben noch über sechzehn Monate. Du willst doch nicht die ganze Zeit zwischen der jetzigen Basis und diesem Ort hier pendeln, oder?«

»Klingt nicht sonderlich praktikabel«, gab Jamie zu.

»Dann lass mich einen Plan für die Verlegung der Kuppel ausarbeiten – der ganzen Basis, mitsamt der L/AVs, der Generatoren und allem.«

»Damit wir hier schon bei der nächsten Mission Touristen aufnehmen können? Oder warum?«

Dex wirkte ehrlich überrascht und schockiert. »Touristen?


Ich rede nicht von Touristen. Jedenfalls noch nicht. Eins nach dem anderen, Kumpel.«

»Ja«, erwiderte Jamie. »Eins nach dem anderen.«


MANHATTAN

Ich sollte daheim bei meiner Familie sein, dachte Roger Newell. Es ist Heiligabend, Herrgott noch mal. Ich komme mir vor wie Bob Cratchit beim alten Scrooge.

Darryl C. Trumball, der ihm an dem kleinen, runden Tisch gegenübersaß, schien keine Notiz von den Menschen zu nehmen, die draußen vor dem Fenster der Cocktail-Lounge nach Hause eilten. Die Lounge war einen halben Block von Newells Büro in der Zentrale des Networks entfernt.

Er war hier sehr häufig zu Gast, und die Empfangsdame hatte ihn sofort erkannt und ihnen einen Tisch am Fenster gegeben. Newell hätte lieber eine Nische weiter hinten gehabt, traute sich aber nicht, darum zu bitten.

Da Trumball wusste, dass er mit der Limousine ewig lange gebraucht hätte, um vom Flughafen nach Manhattan zu kommen, hatte er den Hochgeschwindigkeitszug zur Grand Central Station genommen, um mit den Chefs der Nachrichtenmedien zu verhandeln. Es war ein langer und potenziell sehr profitabler Tag für ihn gewesen.

»Ich habe es allen anderen gesagt, und ich sage es auch Ihnen: Sie dürfen sämtliches Material benutzen, das sie auf dem Mars aufgezeichnet haben«, erklärte Trumball, der über seinem Scotch on the Rocks hockte, »aber nicht das VR-Material.«

»Aber wir haben jetzt unser eigenes Virtual-RealityNetwork«, erwiderte Newell, »und wir könnten …«

»Nein«, sagte Trumball in entschiedenem Ton. »Wir verkaufen VR-Touren durch das marsianische Dorf an unsere eigenen Kunden. Mit der ersten Tour könnten wir locker fünfhundert Millionen machen.«

»Unsere Zuschauer …«

»Können Sie fünfhundert Millionen für das VR-Material hinlegen?«


»Fünfhundert Millionen?«, quiekte Newell. »Natürlich nicht. Nicht mal annähernd.«

»Sehen Sie?« Trumball lehnte sich kalt lächelnd in seinen Sessel zurück.

»Wir bereiten gerade ein Prime-Time-Special über das Dorf vor«, sagte Newell. »Eine Wissenschafts-Sondersendung in der Hauptsendezeit! Das hat es nicht mehr gegeben, seit …«

»Alles gut und schön«, unterbrach ihn Trumball. »Aber weder Sie noch eins der anderen Nachrichtennetze werden unser VR-Material kriegen. Außer wenn Sie fünfhundert Millionen auf den Tisch blättern.«

Newell schüttelte den Kopf. Er war dagegen gewesen, in der Hauptsendezeit ein Special über das marsianische Dorf zu bringen, aber die Anzugträger in den oberen Etagen hatten seinen Rat ignoriert. Wissenschaftssendungen haben kein Publikum, dachte Newell.

Nun ja, dieses Special über das marsianische Bauwerk würde vielleicht bessere Quoten erzielen als die meisten anderen, aber trotzdem, jeder hat das ganze reguläre Filmmaterial schon gesehen. Das Bauwerk tut nichts, es steht einfach da, eine leere Hülle. Also werden wir sprechende Köpfe zu sehen kriegen, ein paar davon auch noch in den Helmen von Raumanzügen, sodass wir nicht mal ihre Gesichter erkennen können, Herrgott noch mal!

»Aber wenn wir das VR-Zeug unseren Kunden gezeigt haben«, sagte Trumball langsam und griff nach seinem Drink, »wäre es natürlich möglich, dass wir über die erste Network-Ausstrahlung des Materials ins Geschäft kämen.«

Newell beugte sich sofort näher zu dem Alten. »Wie viel?«

Trumball nippte nachdenklich an seinem Scotch, leckte sich die Lippen und erwiderte: »Global News hat mir heute Nachmittag fünfundneunzig Millionen geboten. Bieten Sie mehr?«

Harry Farbers Nasenspitze war praktisch an den Telefonbildschirm gepresst. Er sah sein eigenes Spiegelbild auf dem Monitor; es überlagerte den Agenten des Herstellers aus Minneapolis, einen selten blöden Kerl. Harry schwitzte, sein Gesicht war rot und verzerrt.

»Die Dinger gehen weg wie warme Semmeln«, schrie er beinahe. »Sie verkaufen sich so schnell, dass uns heute Morgen das Inventarprogramm abgestürzt ist!«

»Das ist ja großartig, Mr. Farber«, sagte der blöde Kerl.

»Alle unsere Händler melden ähnliche Verkaufszahlen. Die Virtual-Reality-Sets verschwinden überall auf der Welt aus den Regalen.«

»Ja, aber ich brauche noch mal sechs Gros, und zwar sofort

Der Agent des Herstellers wirkte nicht sehr bekümmert.

»Mr. Farber«, sagte er mit einem trübseligen kleinen Lächeln, »wenn Sie wüssten, wie oft ich diese Bitte in den letzten paar Tagen schon gehört habe …«

»Aber ich brauche sie!«, beharrte Farber. »Ich habe hier Kunden im Laden, die darauf warten!« Er wedelte mit einer Hand in Richtung der Schlange immer ungeduldiger werdender Kunden am Tresen.

»Und Sie bekommen sie auch, Mr. Farber. So schnell, wie wir sie zu Ihnen schaffen können.«

»Und wann? Wie lange wird das dauern?«

Der Agent des Herstellers senkte den Blick. Wahrscheinlich schaute er auf einen Plan oder eine Rechnung. »Eine Woche bis zehn Tage, Mr. Farber.«

» Eine Woche? Sind Sie verrückt? Die Sendung vom Mars wird morgen ausgestrahlt! Vom Mars!«

»Mehr kann ich wirklich nicht für Sie tun, Mr. Farber«, sagte der Agent mit einem traurigen kleinen Kopfschütteln.

»Seit dieses Dorf oder was immer auf dem Mars entdeckt worden ist, will jeder so ein Virtual-Reality-Gerät kaufen.«


DIE STUDIOS

In den Fernsehstudios in aller Welt löste die sensationelle Nachricht von dem Bauwerk auf dem Mars einen hektischen Talkshow-Betrieb aus.

»Morgen, mit absoluter Sicherheit«, sagte die grauhaarige Dame mit dem netten Gesicht. Sie blinzelte ein wenig, weil sie nicht an die Studioscheinwerfer gewöhnt war.

»Jesus kommt morgen auf die Erde zurück?« Der Interviewer versuchte, seine Ungläubigkeit zu verbergen.

»Es ist Weihnachten. Sein Geburtstag.«

Der Interviewer versuchte, freundlich dreinzuschauen.

Über die Jahre hinweg hatte er jede Menge Verrückte und religiöse Fanatiker gesehen. Innerlich seufzte er. Solange diese Großmutter bei ihrer ganz speziellen Vorhersage von Christi Wiederkehr an Heiligabend blieb, brachte sie Quote.

Heute zumindest.

In dem beinahe unsichtbaren Empfänger in seinem linken Ohr hörte er die Nachfrage der Regisseurin, einer abgebrühten Schwarzen, deren Job von dieser Quote abhing.

Er wiederholte die Frage, die sie ihm gestellt hatte. »Unser Herr hat die Erde vor über zweitausend Jahren verlassen.

Wo war er die ganze Zeit?«

»Auf dem Mars natürlich«, sagte die Großmutter mit seligem Lächeln. »Er hat darauf gewartet, dass wir ihn auf dem Mars finden.«

»Das ist absolut überwältigend!«, sagte der junge, bärtige Astronom. Er trug ausgebleichte Chinos und ein rotkariertes Flanellhemd. Es war kalt in dem nicht beheizten Observatorium, obwohl die kalifornische Sonne aus einem makellos blauen Himmel strahlte.

Der Kameramann bibberte merklich. Die Interviewerin hoffte, dass es das Bild nicht verwackeln würde. Sie war aus härterem Stoff; auch wenn ihr noch so kalt war, sie hatte sich völlig unter Kontrolle.

»Sie meinen, dass wir die Gebäude auf dem Mars gefunden haben«, hakte sie nach.

»Dass wir intelligentes Leben gefunden haben!«, strahlte der junge Astronom. »Intelligentes Leben! Auf unserem nächsten Nachbarn im All!«

»Und was bedeutet das für unsere Zuschauer?«

Der Astronom schaute direkt ins Kameraobjektiv. »Es bedeutet, dass nicht nur Leben, sondern auch Intelligenz im Universum wahrscheinlich etwas ganz Alltägliches ist. Wir sind nicht allein. Intelligenz ist vielleicht so normal wie Kohlenstoff oder Wasser. Wahrscheinlich gibt es da draußen unter den Sternen unzählige intelligente Zivilisationen.«

Nun erschauerte auch die Interviewerin unwillkürlich.

Der Präsident der Navajo Nation kniff die Augen zusammen, weil er das grelle Licht der Fernsehscheinwerfer nicht gewohnt war. Das letzte Mal war er im Fernsehen gewesen, als das FBI eine Drogenrazzia auf dem Gebiet des Reservats durchgeführt hatte, ohne die Reservatspolizei hinzuzuziehen. Sie hatten behauptet, die Navajopolizei hätte den Verdächtigen sonst womöglich einen Tipp gegeben.

Ha! Sie hatten eine Menge Anwälte aus dem Volk und aus Washington in Trab gesetzt, um die Sache in Ordnung zu bringen. Die heutige Story war zumindest angenehmer Natur.

Der Reporter hielt dem Präsidenten ein Mikrofon unter die Nase und fragte: »Wie fühlen Sie sich bei dem Gedanken, dass ein Navajo diese Felsenbehausung auf dem Mars entdeckt hat?«

Der Präsident zuckte die Achseln und nickte. Dann sagte er: »Ziemlich gut, schätze ich.«

Der Reporter wartete auf mehr. Als nichts kam, runzelte er ein wenig die Stirn und fragte: »Was können Sie uns über Dr. Waterman erzählen?«

Der Präsident dachte eine Weile darüber nach. Der Reporter knirschte in stummer Frustration mit den Zähnen und hoffte, dass sie im Studio Zeit haben würden, diese nervtötenden Pausen rauszuschneiden.

»Ich habe Jamie Waterman leider nie kennen gelernt«, sagte der Präsident schließlich. »Aber ich kannte seinen Großvater ziemlich gut. Al hatte viele Jahre lang einen Laden drüben in Santa Fe.«

»Ja, das haben wir gehört«, stieß der Reporter hervor.

»Aber wie steht's mit Jamie Waterman, dem Wissenschaftler auf dem Mars …«

»Er ist nur ein halber Navajo, wissen Sie«, sagte der Präsident langsam. Dann lächelte er. »Aber ich schätze, das ist gut genug, hm?«

Der Reporter schnitt eine Grimasse. Er war den halben verdammten Tag hierher unterwegs gewesen, um dieses Interview zu machen, und was hatte er nun davon? Nichts als Mist.

Hodell Richards lächelte mit sichtbarer Selbstgefälligkeit.

»Vielleicht glauben sie mir jetzt.«

Richards war ein hagerer, beinahe asketisch wirkender Mann mit einem ewig jugendlichen Gesicht, das bei älteren Frauen den Wunsch weckte, ihn zu bemuttern. Bleistiftdünner Schnurrbart, aschblondes Haar, das ihm bis auf den Kragen seines Tweedjacketts fiel.

Er saß in einem Fernsehstudio in England und hatte die Hände auf einem teuren Aktenkoffer aus Leder, der auf seinen Knien lag.

Seine Interviewerin war eine sehr ernsthaft dreinschauende, rothaarige Frau, die auf UFO-Geschichten von der Entführung durch Außerirdische und von unaussprechlichen medizinischen Prozeduren spezialisiert war.

Sie fragte: »Dann sind Sie also fest davon überzeugt, dass die Marsianer nicht ausgestorben sind? Dass sie noch existieren?«

»Ich habe unwiderlegliche Beweise dafür«, sagte Richards und trommelte mit den Fingerspitzen auf den Aktenkoffer.


»Und sie haben die Erde besucht?«, fragte die Interviewerin.

»Selbstverständlich. Sie haben eine Basis hier auf der Erde«, gab Richards zurück. »In Tibet.«

»Aber warum …«

»Sie sind hier, um ihre Spezies fortzupflanzen. Sie schwängern irdische Frauen und zwingen sie, marsianische Kinder auszutragen.«

»Aha«, sagte die Interviewerin.

In Barcelona musterte der selbst ernannte deutschschweizerische Weltraumexperte mit hochmütig hochgezogenen Augenbrauen seinen Interviewer, einen weltmüden, übergewichtigen Katalanen, der sich für einen Enthüllungsjournalisten hielt. Da der Interviewer kein Deutsch sprach und der Interviewte kein Spanisch, führten sie ihr Gespräch in Englisch. Was sie sagten, wurde natürlich sofort durch Untertitel auf dem Bildschirm übersetzt.

»Sie glauben also, das marsianische Dorf …«

»… ist eine Fälschung«, sagte der Experte rundheraus.

»Sie meinen, es ist alles eine Lüge?«

»Ja, eine Lüge, die von der amerikanischen NASA in die Welt gesetzt wurde.«

»Aber warum sollte sie in diesem Punkt lügen?«

»Um die Unterstützung der Allgemeinheit für ihre marode Raumforschung zu bekommen, natürlich.«

Der Interviewer dachte einen Sekundenbruchteil darüber nach, dann fragte er: »Aber ich hatte den Eindruck, dass die Expedition zum Mars aus privaten Quellen finanziert wurde, nicht von der NASA.«

Der Experte tat das mit einem verächtlichen Schnauben ab. »Das wollen sie uns glauben machen. Hinter all dem steckt die amerikanische Regierung.«

»Aber wie können sie ein Gebäude auf dem Mars fälschen? Wollen Sie damit sagen, die Forscher hätten es selbst erbaut? Immerhin sind sie auf dem Mars nur zu acht.«

»Und wie kommen Sie darauf, dass dieses falsche Dorf auf dem Mars liegt? Sie haben es in Arizona, Texas oder sonstwo gebaut.«

»Wirklich?«

»Natürlich.«

»Ich möchte betonen«, sagte der Professor zum Gastgeber der Tonight Show, »dass wir rein gar nichts darüber wissen, wie die Marsianer ausgesehen haben.«

Hinter ihm hingen grellbunte Gemälde von »Aliens aus dem Weltraum«.

»Gar nichts?«, fragte der Gastgeber mit süffisantem Grinsen.

»Nichts. Sie könnten ein Dutzend Beine oder auch gar keine gehabt haben. Wir wissen es einfach nicht.«

»Dann sahen sie also wahrscheinlich nicht so aus wie dieses Bürschchen da.« Der Gastgeber zeigte auf ein ätherisches Geschöpf mit Rehaugen.

»Nein«, antwortete der Professor. »Und wie das da auch nicht.« Er reckte einen Daumen zu einem schleimigen Tentakelmonster aus Krieg der Welten.

Der Gastgeber seufzte tief. »Wahrscheinlich sehen sie wie meine Schwiegermutter aus.«


HEILIGABEND

Jamie und Dex hatten einen äußerst anstrengenden Tag damit verbracht, die vier mitgebrachten Kameras an verschiedenen Stellen in der Spalte aufzubauen, alles zu fotografieren, was es dort zu sehen gab, und sie dann immer wieder woandershin zu transportieren.

»Ich komme mir vor wie der Gehilfe des Kameraassistenten an einem Filmset«, grummelte Dex.

»Geht mir nicht anders, Kumpel«, sagte Jamie.

Nachdem sie den ganzen Vormittag mit Fotografieren verbracht hatten, aktivierte Jamie die VR-Ausrüstung an seinem Helm und unternahm einen ausführlichen, langsamen Rundgang durch das Gebäude, Stockwerk für Stockwerk, bis er wieder auf dem Dach angelangt war. Dex kam mit und stellte sich an die Wände und in die Mitte der verschiedenen Räume, um den Zuschauern eine Vorstellung von ihrer jeweiligen Größe zu vermitteln.

Als die Sonne sich bereits dem südwestlichen Horizont näherte, schaltete Jamie schließlich das VR-Gerät aus, und sie machten sich wieder auf den Weg zum Erdgeschoss hinunter.

»Wir vermuten, dass dies ein Wohngebäude war«, hörte Jamie sich laut denken. »Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht war es ein Aufbewahrungsort, zum Beispiel ein Lagerhaus oder ein Getreidespeicher.«

»Oder eine religiöse Stätte«, fügte Dex hinzu.

»Es gibt offenbar keine Spuren von Möbeln oder Gebrauchsgegenständen«, fuhr Jamie fort. »Von Dingen, die man dort zu finden erwarten würde, wo jemand gelebt und gearbeitet hat.«

»Vielleicht war es eine Festung«, schlug Dex plötzlich vor.

»So eine Art Burg, weißt du. Vielleicht sind sie hier raufgekommen, um sich vor Feinden zu verstecken.«


An diese Möglichkeit hatte Jamie auch schon gedacht.

»Dann gäbe es trotzdem Indizien dafür, dass sie hier gelebt haben, irgendwelche Möbel oder Tonwaren oder so.«

»Ja«, stimmte Dex zu, als sie zu der rechteckigen Öffnung im Dach zurückgingen. »Ein paar zerbrochene Speere.«

»Pfeilspitzen.«

»Vielleicht war es ein religiöser Schrein«, wiederholte Dex.

»Kann sein.« Jamie ging auf die Knie, um sich zum nächsten Stockwerk hinunterzulassen.

»Aber nichts, was wie ein Altar aussieht«, sagte Dex.

Jamie hielt sich mit beiden Händen fest und ließ sich hinab, bis er fühlte, wie seine Stiefel den Boden berührten.

Dann tat Dex dasselbe, und sie machten sich auf den Weg zur nächsten Öffnung, die nach unten führte.

»Nicht die kleinste Spur von irgendwas«, knurrte Dex.

»Vielleicht im Staub verborgen«, sagte Jamie. »Wenn wir den Staub wegkehren, könnten wir was finden.«

Dex schwieg, bis sie zum Erdgeschoss kamen. Als sie langsam und müde zu dem niedrigen Durchgang nach draußen gingen, sagte er: »Das Problem ist, wir denken in menschlichen Kategorien. Diese Leute waren aber keine Menschen. Sie waren Marsianer.«

»Außerirdische.«

»Genau.«

»Vielleicht hatten sie keine Altäre oder religiösen Schreine«, sagte Jamie. »Vielleicht brauchten sie keine Festungen und mussten keine Pfeiloder Speerspitzen anfertigen.«

»Kann sein«, stimmte Dex zu.

Jamie dachte darüber nach, während er Dex half, das Klettergeschirr anzulegen.

»Dann wissen wir nicht mal, wonach wir suchen sollen, stimmt's?«, sagte er sinnierend.

Dex stieß sich vom Rand ab und hing im Geschirr. Er drehte sich langsam. »Vielleicht gibt's hier gar nichts zu finden.«

»Fällt mir schwer, das zu glauben.«

»Außer …«

Jamie sah zu, wie Dex langsam nach oben stieg und außer Sicht verschwand.

»Außer was?«, rief er.

»Außer dieser Ort ist so verflucht alt, dass alles, was nicht so massiv ist wie die Steinmauern, zu Staub zerfallen ist.«

Jamie stand allein am Rand der Felsspalte und dachte dar

über nach, bis Dex ihm schließlich das Geschirr herunterschickte.

»Ein Weihnachtsgeschenk ist unterwegs zu euch«, sagte Rodriguez mit einem schiefen Grinsen auf dem dunklen, kantigen Gesicht.

Jamie war im Cockpit und hatte sich mit der Basis in Verbindung gesetzt, während Dex ihr Abendessen in die Mikrowelle stellte.

»Was soll das heißen, ein Weihnachtsgeschenk?«

»Es ist Heiligabend, also bringt der Weihnachtsmann euch ein Geschenk.« Die dunklen Augen des Astronauten funkelten.

»Wie bitte?«

»Bleibt dran«, sagte Rodriguez.

Sein Bild erlosch; dafür erschien Stacy Deschurowa auf dem Monitor. Das Bild war körnig und ein bisschen verwaschen. Jamie kam es fast so vor, als säße sie am Steuer eines Rovers.

»Ho, ho, ho«, machte Deschurowa mit ihrer tiefsten Stimme, »ich bin euer offizieller Weihnachtsmann.«

Jamie musste lächeln. »Wo ist dein Bart?«

»Ach, unwichtige Banalitäten. Bei all deiner Planung für diese Exkursion hast du vergessen, dass ihr Weihnachten dort draußen sein würdet, nicht wahr?«

»Hab ich wohl, ja«, gab Jamie zu.

»In unserem Plan ist ein Ruhetag vorgesehen. Ein Feiertag. Morgen wird nicht gearbeitet.«


Mit einem trübseligen Grinsen fragte Jamie: »Wissen Di

Nardo und sein Ausschuss darüber Bescheid?«

»DiNardo hat ausdrücklich darauf hingewiesen«, sagte Deschurowa. »Denk daran, er ist katholischer Priester.«

»Das stimmt.«

»Wir bringen euch also ein Geschenk.« Stacy ließ zu, dass sich ihre Lippen zu einem leisen Lächeln verzogen.

»Wir?«

»Fuchida und Hall sind bei mir im Rover. Wir sind auf dem Weg zu euch.«

»Im Ernst?« Jamie drehte sich auf seinem Sitz halb um.

»Dex, hast du das gehört?«

»Wir kriegen Gesellschaft!« Dex eilte ins Cockpit und glitt auf den anderen Sitz.

»Ganz recht.«

Deschurowa hob die Stimme, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Moment. Da ist noch etwas. Wir haben euer Weihnachtsessen dabei.«

»Sojabohnen-Truthahn und falsche Preiselbeeren«, nörgelte Dex.

»Nein, nein, nein!«, rief Deschurowa. »Echten Truthahn und echte Preiselbeeren! Das Kontrollzentrum hat die Spezialmahlzeiten vor unserem Abflug von der Erde an Bord bringen lassen.«

»Wer, zum Teufel, hat das veranlasst?«, staunte Dex.

»Es war eine Überraschung für uns alle. Die Information über das Festessen war im heutigen Missionsplan«, fuhr Deschurowa fort. »Ich hab's heute Morgen gesehen, als ich einen Blick auf den Tagesplan geworfen habe.«

»Eine Weihnachtsüberraschung«, sagte Jamie.

»Für jeden. Auf Tarawa wussten sie nicht, dass ihr beiden zu Weihnachten nicht in der Kuppel sein würdet. Deshalb bringen wir euch das Essen.«

»Weihnachten mit Freunden.« Dex strahlte. »Wir sollten hier lieber mal aufräumen, wenn wir Besuch kriegen.«

Vijay stand hinter Rodriguez und sah zu, wie Stacy Dex und Jamie von der Weihnachtsüberraschung erzählte.

Sie hatte erwogen, zusammen mit den anderen zum Canyon zu fahren, aber dann wären Rodriguez und Craig am Feiertag allein geblieben. Rodriguez konnte die Kuppel mit seiner allmählich verheilenden Hand nicht verlassen, und Vijay sah ein, dass sie für den Fall des Falles in der Nähe ihres Patienten bleiben sollte. Außerdem waren Tommy und Trudy inzwischen ein Paar, und da Trudy nun zum Canyon gefahren war, um bei der Erforschung der Ruinen zu helfen, wirkte Tommy bekümmert und niedergeschlagen.

Ohne seine Freundin würde es für ihn ein ziemlich trauriges Weihnachten werden.

Sie wusste, das war ein guter Grund, hier zu bleiben, aber es war nicht ihr wahrer Grund. Sie fürchtete sich davor, mit Jamie und Dex dort draußen zu sein, fürchtete sich vor den Spannungen, die das erzeugen würde, den Problemen, die es verursachen konnte. Die beiden Alpha-Männchen schienen allein recht gut miteinander klarzukommen, da hatte es keinen Sinn, ihre Hormone in Wallung zu bringen.

Oder meine, gestand sie sich ein.

Als Jamie an diesem Abend schlafen ging, dachte er daran, dass morgen Weihnachten war und dass sie dann Gesellschaft haben würden. Ein freier Tag und dazu noch drei freundliche Gesichter.

Es ist einsam hier draußen, erkannte er, während er an die gekrümmte Metalldecke starrte. Allein mit Dex ist es, als wäre man ein Cowboy draußen auf den Weiden in der alten Zeit. Die Arbeit ist schön und aufregend, aber wenn man sich abends ums Lagerfeuer versammelt, sind ein paar Freunde willkommen.

Deschurowas Plan zufolge werden Trudy und Mitsuo hier bleiben. Dex und ich ziehen in ihren Rover um, und dann arbeiten wir zu viert an dem Dorf. Stacy fährt mit der alten Gurke hier zur Kuppel zurück.

Ich sollte den Rover nicht ›alte Gurke‹ nennen. Er hat uns sehr gute Dienste geleistet. Es war toll, dass wir ihn hatten.


Er schloss die Augen und sah Vijay. Nackt. Schweißglänzend. Warm, weich und nachgiebig in seinen Armen.

Ich wünschte, sie käme auch her. Er drehte den Kopf und sah Dex auf seiner Bettstatt liegen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, ins Dunkel starrend. Er denkt garantiert auch an sie. Gut, dass sie nicht herkommt. Ein tolles Weihnachten wäre das – mit zwei Kerlen, die bereit wären, sich ihretwegen an die Gurgel zu gehen.

Nein, es ist klug von ihr, dass sie nicht kommt. Dex und ich fangen gerade an, uns zu verstehen. Wenn sie hier wäre, ginge all das kaputt.

Trotzdem schaute er noch einmal zu Dex hinüber. Er denkt auch an sie. Jede Wette.

Als würde er Jamies Gedanken spüren, drehte Dex auf seiner Liege den Kopf zu ihm.

»Was meinst du, wie alt dieses Bauwerk ist?«, fragte er.

Jamie stützte sich auf einen Ellbogen. »Ich weiß es nicht.

Ich habe das Gefühl, dass es sehr, sehr alt ist, älter als alles auf der Erde. Aber das ist nur ein Gefühl, eine Ahnung. Wir haben noch keine Beweise dafür.«

Die Hände immer noch hinter dem Kopf verschränkt, sagte Dex: »Irgendwas ist hier komisch. Es ergibt irgendwie keinen rechten Sinn.«

»Was denn?«

»Unsere Wärmestrommessungen zeigen alle, dass der Mars viel jünger ist, als man gedacht hat. Geologisch gesehen, meine ich.«

Jamie nickte im Dunkeln.

»Die Tharsis-Vulkane waren noch bis vor etwa zwanzig, dreißig Millionen Jahren aktiv. Das Innere des Planeten ist viel heißer, als wir erwartet hatten. Richtig?«

»Richtig«, sagte Jamie.

»Aber der Planet ist zu klein dafür, verdammt noch mal«, beklagte sich Dex. »Er hätte schon viel früher abkühlen müssen.«

»Den allgemein anerkannten Theorien zufolge, ja«, gab Jamie zu. »Aber wenn die Theorien nicht mit den Beobachtungen übereinstimmen …«

»Und jetzt dieses Bauwerk. Glaubst du, es ist eine Million Jahre alt? Oder älter?«

Kopfschüttelnd sagte Jamie: »Ich weiß es nicht. Das müssen wir rausfinden.«

»Wie passt das alles zusammen? Das ist die große Frage, nicht? Wie passt alles, was wir hier gefunden haben, zusammen?«

Jamie hätte am liebsten laut gelacht. Dex war so ratlos wie ein Kind, das ein neues Puzzle zusammensetzen will und es nicht schafft.

»Tja, die Antworten werden wir nicht hier auf unseren Liegen finden«, sagte er. »Nehmen wir eine Mütze Schlaf und packen wir's morgen an.«

Er hörte Dex leise glucksen. »Ja. In Ordnung. Wenn wir nicht schlafen gehen, kommt der Weihnachtsmann nicht.«

Aber Dex konnte nicht schlafen. Seine Wissbegierde in Bezug auf den Mars wurde von Gedanken an seinen Vater abgelöst. Der gute alte Dad. Ich habe mitgeholfen, intelligentes Leben auf dem Mars zu entdecken, und der alte Scheißer hat nichts von sich hören lassen. Kein Sterbenswörtchen. Nicht mal einen Weihnachtsgruß. Er doch nicht.

Er ist zu sehr damit beschäftigt, den großen Finanzier zu spielen, um mit mir zu sprechen. Zu sehr damit beschäftigt, Geld für die nächste Expedition aufzutreiben. Und die übernächste. Dabei nimmt er meine Verdienste für sich in Anspruch, lässt sich von allen erzählen, was für einen tollen Sohn er hat, während er ihnen in die Tasche greift.

Dex drehte sich zur gekrümmten Wand des Rovers um.

Also, wenn ich zurückkomme, werde ich das alles übernehmen. Ich werde meinen gerechten Anteil an dem Ruhm einstreichen und den lieben alten Dad beiseite schieben. Ich lobe ihn weg. Er kann den alten Herrn spielen, während ich im Rampenlicht stehe und einen richtigen Marsexpeditionsplan aufstelle. Alle möglichen Wissenschaftler werden hierher kommen wollen: Archäologen, Paläontologen –

zum Teufel, sie werden eine neue Fachrichtung gründen, eine ganz neue Disziplin. Außerirdische Anthropologie.

›Xenologie‹ nennen sie's. Vielleicht richte ich einen Lehrstuhl für Xenologie in Yale ein und übernehme ihn gleich selbst.

Nein, dachte er. Ich übernehme die Position, die Dad jetzt hat. Dann führe ich das Kommando. Ich stellte die Finanzierung auf und die Expeditionen zusammen. Ich gründe eine richtige Firma: Mars Expeditions, Inc. – C.

Dexter Trumball, Präsident und geschäftsführender Direktor.

Ich bringe die Spender dazu, einzelne Wissenschaftler zu finanzieren. Die Touristen werden für die Wissenschaftler bezahlen! So wird die Sache laufen. Jedes Touristenticket deckt die Kosten für den Flug eines Wissenschaftlers zum Mars. Genial!

Wenn ich zur Erde zurückkomme, bin ich berühmt. Dann mache ich diesen Ruhm zu klingender Münze. Ich gehe mit jeder Debütantin zwischen Boston und Atlanta ins Bett und luchse ihren Vätern genug Geld ab, um ein Dutzend Expeditionen zum Mars zu schicken. Oder hundert. Ich baue eine Touristenanlage gleich hier am Rand des Canyons, dann können sie zu der Nische absteigen, sich das Dorf anschauen und sich anschließend ganz nach unten auf den Grund des Canyons begeben. Ich baue einen richtigen Fahrstuhl, damit sie komfortabel und sicher rauf und runter fahren können. Ich sorge dafür, dass sie den lieben alten Dad vergessen. Wenn ich zur Erde zurückkomme, bin ich der Star. Dann bin ich so verdammt wichtig, dass selbst Dad es zugeben muss.


WEIHNACHTEN

»Natürlich feiern wir in Japan Weihnachten«, sagte Mitsuo Fuchida.

Er saß auf einer der Liegen, eingeklemmt zwischen Stacy Deschurowa und Dex Trumball. Jamie saß auf der Liege gegenüber, neben Trudy Hall. Auf dem schmalen Tisch, der sie trennte, standen die Überreste ihres Weihnachtsessens, jetzt kaum noch mehr als Krümel und Knochen.

Das Weihnachtsfestmahl war fast so gut gewesen, wie Stacy behauptet hatte. Echter Truthahn – Keulen und weißes Brustfleisch – mit Süßkartoffeln, grünen Bohnen und Preiselbeeren. Unverwüstlicher englischer Kuchen zum Nachtisch. Es gab sogar eine kleine Ration Weißwein in Plastikbehältern für jeden von ihnen. Dex braute einen extrastarken Kaffee als Weichmacher zum englischen Kuchen.

»Ist das Christentum in Japan heutzutage so stark?«, fragte Trudy.

Fuchida schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Aber wir feiern Weihnachten genauso wie ihr – als Mega-Event für den Einzelhandel.«

Alle lachten. Sie saßen in dem Rover, den Deschurowa gefahren hatte. Ein räudiger Baum aus Aluminiumstreifen stand schief bei der Luftschleuse, beleuchtet von winzigen blinkenden Glühbirnen aus dem Elektronikvorrat. Sie hatten keine Geschenke füreinander, außer der Wärme ihrer eigenen Gesellschaft.

Das reichte.

Jamie lehnte sich gemütlich an die Wand zurück, während die anderen munter schwatzten und schäkerten.

Morgen würde Deschurowa mit dem alten Rover zur Kuppel zurückfahren, während die vier Wissenschaftler in diesem hier wohnen und damit beginnen würden, die Fundstätte mit dem Bauwerk unter Leitung von DiNardos Ausschuss gründlich zu erforschen.

Das wird eine langwierige Angelegenheit werden, dachte Jamie. Wir werden äußerst sorgfältig sein müssen. Mit einer halbstündigen Pause zwischen unseren Fragen und ihren Antworten.

Aber das ist morgen, sagte er sich. Heute ist Weihnachten.

Er war angenehm beduselt von der kleinen Portion Wein, die er zum Essen getrunken hatte. Alle anderen wirkten genauso entspannt, genauso glücklich.

Jamie schaute zu Dex hinüber, der Fuchida grinsend mit Bemerkungen zur religiösen Bedeutung eines Einkaufsbummels piesackte. Plötzlich kam ihm eine Idee.

Er schlüpfte hinter dem Tisch hervor, murmelte ein »Entschuldigt mich« und machte sich auf den Weg zum Cockpit.

»He, Jamie!«, rief Dex. »Das Pissoir ist in der anderen Richtung.«

Er drehte sich um und bedachte sie mit einem Lächeln.

»Ich kann aus dem Fenster pinkeln.« Er zog den Kopf ein und glitt auf den rechten Cockpit-Sitz.

Die vier redeten, scherzten und lachten mit solcher Lautstärke, dass Jamie nicht das Gefühl hatte, das Headset aufsetzen zu müssen. Trotzdem stöpselte er es ein und hielt das Stiftmikro nah an die Lippen, als er seine Botschaft an Darryl C. Trumball schickte.

»Mr. Trumball, ich weiß nicht, wo Sie sind, und ich habe nicht nachgesehen, wie viel Uhr es jetzt in der Zeitzone von Bosten sein mag, also entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie bei Ihrer Weihnachtsfeier störe. Ich dachte nur, es wäre ein nettes Geschenk für Ihren Sohn, wenn Sie ihn anrufen und ihm frohe Weihnachten wünschen würden.«

Mit einem Blick auf seine Armbanduhr fuhr Jamie fort:

»Wir haben hier noch knapp drei Stunden Weihnachten, also sollten Sie sich mit Ihrem Anruf nicht allzu viel Zeit lassen. Ich weiß, dass Dex es zu schätzen wüsste. Danke.«

Er gesellte sich wieder zu der Gruppe, als sie gerade anfingen, Weihnachtslieder zu singen. Trudy hatte eine CD

mitgebracht, und bald hallte der Rover von volltönenden Weihnachtsliedern wider, dargebracht von niemand Geringerem als dem Westminster Abbey Chor. Die fünf Forscher sangen aus vollem Halse mit.

Jamie schaute immer wieder zur Kontrolltafel im Cockpit, um zu sehen, ob das Lämpchen für eingegangene Botschaften blinkte. Es blieb dunkel. Dex schien nichts davon zu ahnen, was er getan hatte; er sang und lachte so laut wie alle anderen. Vielleicht sogar noch lauter.

Um Mitternacht war immer noch kein Anruf von der Erde gekommen. Doch falls irgendwelche Marsianer über die bitterkalte, fast luftlose Ebene am Rand des Grand Canyons streiften, so hätten sie in der dünnen Nachtluft seltsame, fremdartige Stimmen gehört, die stümperhaft sangen:

»Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, der Weihnachtsmann will Äpfel klaun. Er zieht sich grüne Kleider an, dass er sich besser tarnen kann …«


ABEND: SOL 111

»Mir tut der Rücken weh.«

Jamie blickte auf und sah, wie Fuchida den Helm abnahm.

Der Biologe wirkte müde; Linien der Erschöpfung furchten seine Stirn, und seine Augen waren trübe.

Jamie hatte gerade den Staub von seinem Raumanzug abgesaugt, nachdem sie einen weiteren Tag in der Felsenbehausung gefegt hatten. Fuchida war als Letzter des Teams mit dem Seil heraufgefahren und zum Rover zurückgekehrt.

Seit über einer Woche fegten und wischten die vier Forscher nun sorgfältig und mühselig den Staub vom Boden und von den Wänden des Gebäudes. Unter der Anleitung von DiNardos Archäologenund Paläontologenausschuss auf der Erde hatten Jamie, Dex, Trudy und Mitsuo die ursprünglich zur Reinigung von Raumanzügen und elektronischen Geräten vorgesehenen Bürsten zu provisorischen Besen und Staubwedeln umgebaut.

Tag für Tag säuberten sie mühevoll ein kleines Stück in einem der Räume und siebten gewissenhaft den Staub, damit sie auch ja keine Tonscherbe und keinen Metallspan übersahen. Aber sie fanden nichts. Abend für Abend humpelten sie mit schmerzendem Rücken und verkrampften Fingern, die stundenlang die improvisierten Griffe ihrer primitiven Werkzeuge gepackt gehalten hatten, zum Rover zurück.

»Wer immer hier war«, sagte Dex nach einer Woche müde, »hat alles fein säuberlich abtransportiert. Hier ist nichts. Überhaupt nichts.«

Fuchida hatte bereits seine obere Liege heruntergeklappt und kletterte hinauf. »Wir verschwenden unsere Zeit. Trudy und ich sollten auf dem Grund des Canyons sein, bei den Flechten.«


Jamie, der in der Kombüse gerade sein Abendessen in die Mikrowelle stellte, spitzte die Ohren. Wenn Mitsuo anfängt, sich zu beklagen, haben wir hier echte Probleme.

»Ich werde heute Nacht mit DiNardo darüber sprechen«, versprach er. »Vielleicht können Dex und ich zu Ende fegen, während ihr beiden zu der Flechte hinunterfahrt.«

Hall saß auf dem Rand ihrer Liege, unter der von Fuchida.

»Sein verdammter Ausschuss braucht immer eine Woche, um irgendeine Entscheidung zu treffen.«

Dex stimmte ihr zu. »Ja. Ich bin dafür, dass wir die Sache mit Stacy besprechen, und wenn sie kein Problem mit dem Umzug hat, können Trudy und Mitsuo zum Boden des Canyons runterfahren.«

»Und DiNardo?«, fragte Jamie.

»Wir sagen ihm, was wir tun, wir fragen ihn nicht.«

Jamie dachte darüber nach. Der Glockenton der Mikrowelle erklang, und er holte seine Essensschale heraus und ging zum Tisch zwischen den beiden doppelstöckigen Liegen hinüber.

Als Jamie neben Dex Platz nahm, der bereits sein Essen hinunterschlang, kam ihm zu Bewusstsein, dass der junge Mann in den vergangenen Wochen erheblich reifer geworden war. Man könnte ihn fast schon gern haben, dachte Jamie.

»Wie ist dir denn dabei zumute, dass du deine geologische Arbeit aufschiebst, Dex?«

Dex zuckte die Achseln und kaute weiter. Dann schluckte er und antwortete: »Ich bin jedenfalls nicht gerade begeistert darüber, dass ich hier zum Hilfsarbeiter degradiert werde. Das ist eine Tätigkeit für Studenten auf dem Weg zur Promotion. Aber irgendjemand muss sie wohl erledigen.«

»Ich weiß deine Hilfe zu schätzen«, sagte Jamie.

Diesmal bedachte Dex ihn nicht mit seinem üblichen Grinsen, sondern warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.

»Ich wünschte nur, wird würden irgendwas finden. Irgendwas. Diese ganze verdammte Fegerei, und wir haben noch nicht mal eine Stecknadel gefunden.«

Jamie nickte. »Es ist so, wie du gesagt hast, Dex. Jemand hat dieses Gebäude sehr gründlich ausgeräumt, bevor es verlassen wurde.«

»Wer? Und wohin sind die Bewohner verschwunden?«

»Das sind die großen Fragen, nicht?«

Dex schüttelte den Kopf. »Ich mag keine Krimis. Die finde ich blöd. Ich lese immer zuerst den Schluss. Dann weiß ich wo's langgeht.«

Mit einem Lächeln sagte Jamie: »Den Schluss von diesem Krimi kennen wir aber nicht.«

»Es ist zum Verrücktwerden!«, platzte Dex heraus. »Das Gebäude ist da, aber es sagt uns nichts. Rein gar nichts!«

»Es sagt uns, dass hier Wesen gelebt haben, die es erbaut haben«, erwiderte Jamie leise. »Intelligente Marsianer.«

Dex nickte müde. »Ja. Aber das reicht nicht, oder?«

»Jetzt nicht mehr«, stimmte ihm Jamie zu.

»Irgendwas von den Schwebegleitern?«

»Bis jetzt noch nichts. Jedenfalls nichts, was wie ein Dorf oder ein Gebäude aussieht. Die Satelliten-Scans haben auch nichts erbracht.«

»Nichts Erkennbares.«

»Denk daran, dass die Satelliten und Schwebegleiter dieses Gebäude nicht gefunden haben«, rief ihm Jamie ins Gedächtnis.

»Ja, ich weiß«, sagte Dex. »Dazu hat's die scharfen Augen unseres Navajo-Scouts gebraucht.«

Jamie lächelte. Diesmal lag ausnahmsweise keine Boshaftigkeit in Dex' Witzelei.

»Es könnte unzählige weitere Bauwerke wie dieses auf dem Planeten geben, aber wir würden es erst merken, wenn wir drüber stolpern«, knurrte Dex.

Jamie schaute die beiden Biologen auf der anderen Seite des Tisches an. Sie schienen bereits zu schlafen. Mitsuo hat Recht, sagte er sich. Sie sollten unten sein und die Flechte studieren, statt sich hier mit so einer geistlosen Arbeit herumzuplagen.

Er hatte sich kurz Gedanken darüber gemacht, wie Trudy als einzige Frau unter drei Männern zurechtkam, aber soweit er erkennen konnte, gab es keine sexuellen Spannungen im Rover. Wir hocken hier zu eng aufeinander, als dass irgendwas passieren könnte, dachte Jamie.

Außerdem hat Trudy klargemacht, dass sie mit Rodriguez zusammen ist, und Tomas könnte sehr rabiat werden, wenn jemand sie belästigt. Sie ist gut beschützt, obwohl er nicht hier ist.

Dex unterbrach ihn in seinen Überlegungen. »Tja, wir könnten uns mal die Schwebegleiter-Bilder von heute anschauen.«

»Gute Idee.«

Die beiden Männer schlüpften hinter dem Tisch hervor und gingen ins Cockpit. Jamie sprach kurz mit Deschurowa, die sofort zustimmte, dass die Biologen ihre eigenen Forschungsarbeiten weiterführen sollten, dann jedoch hinzufügte:

»Sie werden einen eigenen Rover brauchen, um zum Boden des Canyons hinunterzukommen. Ich schicke Rodriguez mit Rover Nummer zwei los.«

»Ist seine Hand wieder in Ordnung?«

»Baseball spielen könnte er damit noch nicht, aber zum Fahren reicht's.«

»Okay. Wie lange wird das dauern?«

»Einen Tag, um den Rover zu beladen. Zwei Tage für die Fahrt zu euch.«

»Gut«, sagte Jamie. Er erwog, sie zu fragen, ob er mit Vijay sprechen könnte, aber da Dex neben ihm saß, entschied er sich dagegen. Sie hatte ihn nicht angerufen und er sie auch nicht. Wahrscheinlich war es besser, es vorläufig dabei zu belassen, sagte er sich.

»Wir würden gern die heutigen Bilder des Schwebegleiters sehen«, sagte Dex.


Deschurowa nickte. »Nichts Neues, aber schaut es euch selbst an.«

Sie hatte Recht, wie Jamie sah. Die Bilder zeigten die rostige, eisige, öde Marslandschaft in prächtigen Details, mit einer Auflösung von bis zu einem Meter. Aber keine Hinweise auf Bauwerke. Keine Spur von Struktur oder Ordnung. Keine Umrisse alter Fundamente. Keine Haufen behauener Steine. Nichts als nackte, leere, endlose Wildnis.

Endlos weit nichts als endlose Weite, dachte Jamie.

Dagegen sieht das Death Valley aus wie das blühende Leben.

»Komische Sache«, meinte Dex, während sie zusahen, wie ein Bild nach dem anderen auf dem Bildschirm im Cockpit erschien.

»Was?«

»Ich hab eine Nachricht von meinem alten Herrn gekriegt.

So was wie eine verspätete Weihnachtskarte.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Vor ein paar Tagen. Er hat gesagt, es täte ihm Leid, dass er an Weihnachten nicht mit mir sprechen konnte. Er war in Monaco, bei einer internationalen Konferenz gemeinnütziger Forschungsstiftungen.«

»Um Geld aufzutreiben.«

»Was sonst?«, fragte Dex. »Oh, vermutlich hat er auch ein paar Oben-ohne-Badenixen gevögelt. Das macht er immer, wenn er auf Reisen ist.«

»Hat deine Mutter dich zu Weihnachten angerufen?«, fragte Jamie.

Dex schnaubte verächtlich. »Deren Weihnachtsgruß hab ich zwei Tage zu früh gekriegt. Sie schickt alle ihre Grüße zu früh los. Zeichnet eine Botschaft auf und schickt sie über ihre Mailingliste raus. So persönlich wie ein Versandhauskatalog, meine Mom.«

Darauf fiel Jamie keine Erwiderung ein.

»Der springende Punkt ist folgender«, fuhr Dex fort. »Dad hat gesagt, er sei stolz auf die Arbeit, die ich hier geleistet habe. Er hat's irgendwie abgelesen, wie von 'nem Teleprompter. Wahrscheinlich hat er sich den Text von einem seiner Handlanger schreiben lassen.«

»Ich glaube nicht …«

Dex lachte leise. »Du kennst den alten Fuchs nicht so gut wie ich. Aber er hat tatsächlich gesagt, er sei stolz auf mich.

Ich glaube, das war eine Premiere.«

»Tja, das freut mich für dich.«

Dex sah Jamie einen langen Moment schweigend an, während sie nebeneinander im Cockpit saßen. »Du hast da doch nicht dran gedreht, oder?«

»Ich?«

»Ich meine, der Alte hat mir noch nie erzählt, dass er stolz auf mich ist. Hast du ihn auf die Idee gebracht?«

Bevor Jamie antworten konnte, sagte Dex: »Ist auch egal.

Sag's mir nicht. Ich will's gar nicht wissen. Ich würde lieber glauben, dass mein lieber alter Dad auf seine alten Tage sentimental wird.«

Jetzt lachte Jamie leise. »Er kommt mir nicht gerade wie der sentimentale Typ vor.«

»Der ist er wohl auch kaum«, pflichtete Dex ihm bei. »Jedenfalls, wenn du die Finger im Spiel hattest … danke.«

Jamie schwieg, weil er das dünne Band zwischen ihnen, das sich langsam festigte, nicht belasten wollte.

»Mal was anderes«, sagte Dex, während die öden Bilder über den Monitor liefen. »Früher oder später müssen wir die Kuppel hierher verlegen. Ich finde, je eher wir's tun, desto besser.«

Jamie seufzte. »Ich habe darüber nachgedacht.«

»Und?«

»Wie wär's, wenn wir Tarawa bitten würden, die Ersatzkuppel hierher zu schicken, samt Seilen und der erforderlichen Ausrüstung zum Bau eines besseren Lifts?«

Dex' Augen leuchteten auf. »Dann müssten wir die Kuppel nicht verlegen.«

»Richtig.«


»Das Problem ist, sie wäre frühestens in fünf, sechs Monaten hier, selbst wenn sie morgen früh mit den Vorbereitungen anfangen würden.«

»Stimmt«, gab Jamie zu. »Aber wenn wir mit der Kuppel umzögen, würde uns das vier bis sechs Wochen kosten.«

»Mindestens.«

»Und während dieser Zeit könnten wir nichts Produktives tun. Die nützliche Arbeit käme vollständig zum Erliegen.«

»Ja.«

»Die Reservekuppel steht auf Baikonur bereit …«

»Und eine Nachschubmission ist im Budget vorgesehen«, beendete Dex den Satz für Jamie. »Stimmt! So machen wir's.«

»Gut. Ich sage Stacy Bescheid, und sie kann es an Connors weitergeben. Die Frage ist nur, ob Tarawa einverstanden sein wird.«

»Aber klar«, sagte Dex in entschiedenem Ton. »Ich meine, wir können ja nicht dauernd mit den Rovern hin und her fahren. Das ist unwirtschaftlich. Und wir essen unsere ganze Fertignahrung auf. Irgendwann haben wir keine Reservenahrung mehr. Wir sollen uns ja eigentlich vom Garten ernähren.«

Jamie wusste, dass er Recht hatte. »Wir müssen ein zweites Gewächshaus bauen.«

Dex nickte enthusiastisch. »Warum machen sie nicht gleich einen bemannten Flug draus? Sollen sie doch ein paar von den Archäologen mitschicken, die hierher wollen.«

»Sie müssten monatelang trainieren, Dex. Man kann nicht einfach ein Team zusammenstellen und zum Mars schicken, ohne die Leute vorher auszubilden.«

Dex machte ein langes Gesicht. »Naja. Klar.«

»Aber es wäre sinnvoll, wenn sie jetzt schon ein paar aussuchen und trainieren würden«, sagte Jamie.

»Finde ich auch«, erwiderte Dex. »Ich hatte nur gehofft, ein paar von denen wären so rechtzeitig hier, dass sie die Kehrwoche übernehmen könnten.«


NACHMITTAG: SOL 113

»Ich habe hier etwas.«

Jamie blickte von seiner Arbeit mit dem Besen auf. Es war ein weiterer monotoner, mühseliger Tag gewesen. Sie hatten das komplette oberste Stockwerk der Behausung gesäubert, aber nichts gefunden. Kein Fitzelchen irgendeines Materials. Nichts als nackte Wände. Jetzt arbeiteten sie im ersten Stock.

Rodriguez war soeben mit dem Rover zu ihnen aufgebrochen. Seine Abfahrt hatte sich aufgrund eines Dutzends nervtötend kleiner, aber unvermeidlicher Verzögerungen verspätet, unter anderem auch deshalb, weil er seine verbundene Hand nicht in den Handschuh seines Raumanzugs zwängen konnte. Vijay hatte in letzter Minute einen größeren Handschuh besorgen müssen und ihm einen von Craig aus dessen Reservevorrat gegeben.

Pete Connors hatte den Vorschlag, ihnen die Reservekuppel mit der gesamten Ausrüstung zum Canyon zu schicken, sofort gebilligt. Er hatte die Anforderung an den IUK-Vorstand weitergeleitet und Trumball in Boston mit einer persönlichen Nachricht entsprechend informiert.

»Mitsuo, warst du das?«, fragte Jamie.

»Ja«, erwiderte der Biologe. Seine Stimme klang seltsam, erstickt, nervös vor Anspannung. »Kommt her und schaut euch das an.«

Jamie befand sich in der Mitte des großen Raums, wo er den Staub auf dem Boden langsam und systematisch zu der nach unten führenden Öffnung gefegt hatte. Wenn man dabei nicht äußerst behutsam zu Werke ging, wallte der Staub auf und wehte wieder in den Bereich, den man gerade gesäubert hatte. Und alle paar Minuten mussten sie den Staub mit Gittern sieben, die sie aus dem Ersatzteilbestand für die Lüftungsanlage organisiert hatten.


Es wäre viel leichter, wenn sie den Staub einfach vom Boden und den Wänden absaugen könnten, aber die Handsauger, mit denen sie ihre Anzüge reinigten, konnten die schiere Menge Staub nicht bewältigen, die sich in dem Gebäude angesammelt hatte; in manchen Ecken lag er mehrere Zentimeter hoch. Die Handsauger liefen ohnehin schon unregelmäßig, weil sie weitaus stärker beansprucht wurden als von ihren Konstrukteuren erwartet; sie kamen jeden Abend zum Einsatz, wenn sie zu viert in den Rover stiegen, fast bis zu den Helmen von rostrotem Staub bedeckt. Rodriguez brachte nun einen Satz Reservesauger mit, sodass diejenigen, die sie momentan benutzen, zwecks der dringend notwendigen Wartung zu Stacy und Wiley zurückgeschafft werden konnten.

Außerdem hatten die Wissenschaftler auf der Erde darauf bestanden, dass sie den Staub von Hand siebten. Es hätte ja sein können, dass die Staubsauger eine unermesslich wichtige Tonscherbe oder einen Splitter eines fossilen Knochens verschluckten oder zerbrachen.

Jamie musste beinahe lachen. Sie hatten nichts gefunden.

Null. Nada. Keine Scherben, keine Knochensplitter, keine Spuren von irgendetwas, nur aufreizend allgegenwärtigen Staub.

Bis zu diesem Augenblick.

»Was ist es, Mitsuo?«, fragte Jamie, während er zu der Ecke hinüberging, an welcher der Biologe gearbeitet hatte.

Jetzt stand er stocksteif da, das Gesicht der soeben gesäuberten Wand zugekehrt.

»Ihr … kommt lieber her und schaut es euch selbst an.«

Dex kam mit großen Schritten durch die geräumige, leere Kammer. Die königsblauen Streifen an seinem Raumanzug verschwanden fast unter einer roten Staubschicht. Trudy folgte ihm dichtauf.

»Na, was hast du da, Kumpel?«, fragte Dex. »Irgendwelche Marsianer gefunden?«

»Ja, das könnte sein.« Fuchidas Stimme zitterte ein wenig.


Jamie sah, dass er auf die Wand zeigte, die er gereinigt hatte. Es war keine glatte, leere Fläche, wie bei den anderen Wänden.

An der Wand waren Kratzer. Etwa von halber Höhe aus bis dort hinunter, wo noch immer Staub klebte, war die Wand mit einem feinen Filigranmuster gekrümmter Linien überzogen.

»Risse«, sagte Dex. Aber sein forsch-fröhliches Gehabe war verschwunden.

»Oder eine Inschrift«, sagte Jamie.

»Eine Inschrift«, stimmte Fuchida zu.

In seinen Helmlautsprechern hörte Jamie sie alle vier schwer atmen. Sie keuchten beinahe.

Trudy meinte: »Risse wären nicht so regelmäßig. Seht mal

…« Ihr behandschuhter Finger fuhr waagrecht über die Wand. »Hier ist eine Linie nach der anderen.«

»Nicht die Wand anfassen«, warnte Jamie.

»Ich fasse sie nicht an«, sagte sie ein wenig verärgert.

»Machen wir den Rest sauber«, sagte Dex.

Sie gingen alle vier an die Arbeit, wischten sanft, aber ungeduldig die Wand ab. Rostroter Staub wehte in alle Richtungen.

»Wir müssen Plastikzelte oder so aufbauen«, dachte Dex laut, »um die Öffnungen abzudecken und dafür zu sorgen, dass nicht noch mehr Staub reinweht.«

Jamie nickte in seinem Helm. »Ich wünschte, wir könnten diese Mauern datieren.«

All ihre Bemühungen, das Alter der Mauern zu bestimmen, waren gescheitert. Es gab keine organischen Stoffe in den Steinbrocken, aus denen die Mauern bestanden. Sie waren aus dem Felsen geschlagen und so behauen worden, dass sie aneinander gefügt werden konnten wie die Steine in den Mauern von Machu Picchu. Ihre Innenflächen hatte man sorgfältig poliert.

»Hier werden eine Menge Leute mit dem Versuch, ein zuverlässiges Datierungssystem zu finden, ihren Doktor machen«, sagte Dex.

»Der Stein muss tiefer aus dem Innern der Spalte stammen«, meinte Fuchida, während sie arbeiteten.

»Glaubt ihr, dass hier drin mal Wasser geflossen ist?«, fragte Hall.

»Bestimmt«, sagte Dex.

»Es gibt keine Hinweise darauf«, sagte Jamie.

»Wir haben noch gar nicht danach gesucht«, konterte Dex.

»Es wäre sehr schwierig für sie gewesen, Wasser vom Grund des Canyons heraufzuschaffen«, meinte Fuchida.

»Falls da unten jemals welches geflossen ist«, sagte Jamie, während er vorsichtig wischte und seine wachsende Erregung im Zaum zu halten versuchte. Immer mehr Linien zierten die Felswand.

»Ich wette, wir finden Beweise dafür, dass es da unten einen Fluss gegeben hat«, sagte Dex.

»Aber wann hat es ihn gegeben?«, fragte Jamie. »Wie lange ist das her?«

»Schaut!«, rief Trudy. »Es ist ein Bild, glaube ich.«

Sie bürstete weiter an ihrem Wandabschnitt herum und legte dabei einen Kreis frei, von dem Pfeile ausgingen, wie es schien.

»Ein Sonnensymbol?« Jamie schnappte schockiert nach Luft. Das Bild ähnelte den Symbolen, mit denen die Navajos und andere Stämme die Sonne bezeichneten.

»Sie hatten Augen wie wir«, sagte Trudy. Ihre Stimme klang hohl. »Sie besaßen Sehvermögen, und sie haben eine Schrift erfunden.«

»Eine Inschrift«, hauchte Dex. Seine übliche nassforsche Art war verschwunden.

An der Wand war eine komplette Reihe bildähnlicher Symbole zu sehen. Piktogramme, dachte Jamie. Wie die frühesten Schriftformen in Ägypten.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Fuchida. »Was wollten sie uns sagen?«

Jamies Kehle war trocken. Er brauchte drei Versuche, bis er ein wenig Speichel gesammelt hatte und schlucken konnte.

»Kommt«, sagte er. »Machen wir den Rest sauber.«

Schweigend gingen sie an die Arbeit.

Jamie schaute noch einmal auf das Sonnensymbol. Nein, das ist unmöglich, sagte er sich. Diese Wesen können nicht unsere Vorfahren sein. Sie waren nicht menschlich. Sie hatten einen anderen Körperbau. Sie sind ausgestorben …

sie sind nicht zur Erde ausgewandert. Das ist lächerlich.

»Oh-oh«, grunzte Dex.

Sie drehten sich zu ihm um. Dex lag auf den Knien und hatte sich gebückt, um den Staub vom untersten Teil der Wand zu bürsten.

Die regelmäßigen Linien mit ordentlichen Abständen dazwischen endeten ungefähr einen Meter über dem Boden.

Darunter folgten weitere, unregelmäßigere Symbole, die im Vergleich mit denen darüber schief und krakelig wirkten.

»Wie Kinderschrift«, sagte Hall leise.

»Oder die von primitiven Erwachsenen«, meinte Fuchida.

»Diese regelmäßigen Linien hier oben« – Hall zeigte mit ihrer Hand darauf – »sind eingraviert worden. Sie haben Meißel oder irgendwelche anderen Werkzeuge benutzt und die Linien damit tief in den Stein gekerbt. Seht ihr? Aber die da unten …«

»Das sind nur oberflächliche Kratzer«, sagte Dex. »Wie Kritzeleien.«

»Graffiti«, sagte Fuchida.

»Kinder? Vandalen?«, fragte sich Hall.

»Touristen«, murmelte Jamie.

»Hier unten sind noch mehr Zeichnungen«, sagte Dex und bürstete wie wild. Um ihn herum wallte der Staub auf.

»Wer hat den Fotoapparat?«, fragte Jamie.

»Ich«, sagte Fuchida.

»Nicht die Schutzkappe vom Objektiv abnehmen, bevor sich der Staub gelegt hat!«, warnte Dex und wischte sich mit der freien Hand über die Sichtscheibe des Helms. »Zumindest pappt dieses Zeug nicht so wie der Staub auf dem Mond.«

»Der Staub auf dem Mond ist elektrostatisch aufgeladen«, sagte Fuchida. »Das kommt vom einfallenden Sonnenwind.«

»Wem sagst du das«, maulte Dex.

Die drei beugten sich näher heran, als Dex den letzten, untersten Abschnitt der Wand ganz am Ende abbürstete, wo sie im rechten Winkel an die andere Wand stieß.

»Bilder, ganz recht«, sagte Dex, der immer noch auf den Knien lag.

Jamie spähte durch die sich lichtende Staubwolke. Die Bilder ganz unten an der Wand wirkten primitiv, wie hastig hingeworfene Zeichnungen.

»Was ist das?«, fragte Trudy und zeigte auf das, was sie meinte.

Jamie sah ein schiefes, knolliges Gebilde, das auf eine holprige, geneigte Linie gekritzelt war.

»Eine Erektion«, kicherte Dex.

»Sei nicht so blöd«, fuhr Trudy ihn an.

»Was immer es sein soll, es ist eine ziemlich primitive Arbeit«, sagte Dex.

»Und das hier?«, fragte sie erneut. »Sieht aus, als hätte jemand einfach mit den Fingernägeln ein halbes Dutzend Striche auf den Stein gekratzt.«

Fuchida beugte sich so nah heran, dass seine Sichtscheibe beinahe den Stein berührte. »Seht mal, hier sind Punkte, da und da … das hier sieht aus wie ein Kreuz oder ein x.«

Dex tat es mit einem »Narben im Stein« ab.

»Nicht dieses x-Symbol«, beharrte Fuchida.

Jamie starrte konzentriert auf die primitiven Zeichnungen.

Er wusste mit der ganzen Gewissheit uralter Weisheit, dass der primitive Künstler ihnen etwas mitteilen wollte. Er hat nicht bloß irgendwelche Graffiti hingeworfen. Diese Symbole haben ihm etwas bedeutet. Sie bedeuten auch jetzt etwas.

Aber was? Was wollte er sagen? Was wollte er im Stein festhalten? Wie lautet die Botschaft, die er uns hinterlassen hat?

»Die Philologen werden sich prächtig damit amüsieren«, sagte Hall.

Dex richtete sich langsam auf. Die Gelenke seines Anzugs knarzten leicht. »Die drehen garantiert total durch.«

Jamie merkte, wie sein Rückgrat knirschte, als er ebenfalls aufstand. »Ja, vor Frustration. Sie haben keine Möglichkeit, diese Inschrift zu entschlüsseln. Die Bilder vielleicht, aber nicht die Inschrift.«

»Kein Stein von Rosette«, sagte Fuchida.

»Genau«, sagte Jamie. »Die Sprachen des Altertums konnte man nur übersetzen, wenn man bereits vorhandene Übersetzungen in bekannte Sprachen fand. Man braucht einen Schüssel.«

»Und den gibt es hier nicht«, erkannte Dex das Problem.

»Es ist alles marsianisch.«

»Keine Verbindung zu irgendeiner Sprache auf der Erde«, sagte Fuchida.

»Vielleicht helfen die Bilder«, meinte Hall.

»Vielleicht.«

»Ich würde nicht darauf wetten«, sagte Jamie.

Dex lachte. »Eins ist sicher.«

»Was?«

»Sie werden Myriaden unterschiedlicher Erklärungen für jedes Symbol an dieser Wand erfinden.«

»Und keine zwei davon werden übereinstimmen.« Fuchida brach in ein Kichern aus.

»Aber sie werden Unmengen von Abhandlungen darüber schreiben«, sagte Hall und begann ebenfalls zu lachen.

Jamie stand in seinem Anzug stumm da, während die anderen drei am Rande der Hysterie lachten. Sie lassen Dampf ab, erkannte er. Sie müssen lachen oder weinen oder es laut in die Welt hinausschreien. Ich kann's ihnen nicht verdenken. Es ist die größte Entdeckung aller Zeiten. Aber was bedeutet sie?

Was, in Dreiteufelsnamen, bedeutet sie?


Er starrte die Symbole an. So hübsch und ordentlich am Anfang. Professionelle Arbeit. Sie waren stolz darauf. Aber unten am Boden nur Gekritzel.

Was ist hier passiert? Was ist mit diesen Leuten geschehen?

Ihm war kalt, und er fühlte sich so schwach, als könnten ihn seine Beine nicht länger tragen. Der Weg endet hier, Großvater. Sie haben eine Botschaft hinterlassen, aber wir können sie nicht verstehen.

»Jamie? Alles in Ordnung?«

Es war Dex' Stimme. Jamie bewegte sich, richtete den Blick auf die drei anderen Menschen in ihren unpersönlichen Raumanzügen.

»Ja, ja. Alles okay.«

Dex sagte: »Ich hab grade gesagt, wir müssen DiNardo und seinen Ausschuss davon unterrichten.«

Jamie nickte in seinem Helm. »Und die ganze Welt.«

Sie hatten sich von ihrer ersten Reaktion erholt. Jetzt waren sie wieder sachlich und nüchtern. Fuchida belichtete ein Bild nach dem anderen.

»Wir sollten die Videoausrüstung herholen«, sagte Hall.

»Und das VR-Gerät«, ergänzte Dex. »Jeder Tourist auf der Welt wird das sehen wollen!«

Jamie drehte sich um und entfernte sich von den anderen.

Einen wahnwitzigen Moment lang dachte er, es wäre besser, das ganze Bauwerk mit Dynamit zu sprengen, es unter Tonnen von Gestein zu begraben, sodass niemand es jemals wieder fand, es in Frieden zu lassen und dafür zu sorgen, dass nie wieder ein Mensch seinen Fuß hineinsetzte.


TAGEBUCHEINTRAGUNG

Sie geben mir die Schuld an allem. Ich bin ihr Sündenbock. Wenn etwas schief geht, ist es meine Schuld. Sie sind viel zu clever, als dass sie unumwunden damit herausrücken würden, aber ich merke es an der Art, wie sie hinter meinem Rücken über mich reden, an der Art, wie sie mich anschauen, wenn sie glauben, ich kann sie nicht sehen. Sie sind so begeistert von der Felsenbehausung und der Inschrift. Sie werden niemals abreisen wollen. Aber ich werde sie alle überlisten. Ich werde dafür sorgen, dass sie abreisen MÜSSEN, ob sie wollen oder nicht.


BOSTON

»Eine Inschrift?«, fragte Darryl C. Trumball. »Sie haben tatsächlich eine Inschrift gefunden?«

Er saß in seiner Limousine, die sich durch den fast schon stehenden Verkehr am Storrow Drive quälte. Autos hupten.

Ein kalter Winterregen wurde von einem böigen Nordweststurm durch die Straßen gepeitscht. Der Charles River war wieder über die Ufer getreten und brachte den Verkehr noch mehr zum Erliegen als sonst.

Sein persönlicher Assistent, ein nichts sagender junger Mann, der in Harvard seinen Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht hatte, war augenscheinlich ganz aus dem Häuschen. Sein Bild auf dem Monitor zwischen den beiden nach hinten weisenden Sitzen der Limousine war klein und körnig, aber der Mann schien drauf und dran zu sein, einen Freudentanz aufzuführen.

»Eine Inschrift! Ja, Sir! Marsianische Schrift! Es ist phantastisch, ein einmaliger Fund, die größte Entdeckung aller Zeiten, wirklich!«

Trumball hatte seine Erregung besser im Griff. Die Aktienkurse der größten Reiseveranstalter waren erheblich gestiegen; die Aktien der Luft- und Raumfahrtunternehmen liefen noch besser. Jede neue Nachricht über die Marsexpedition trieb die Kurse weiter in die Höhe.

»Sir«, sagte sein Assistent, »ich glaube, es wäre an der Zeit, in dieser Sache eine viel proaktivere Position zu beziehen.«

»In welcher Sache?«, knurrte Trumball und lehnte sich tiefer in den üppig gepolsterten Rücksitz der Limousine. Er warf einen Blick auf die Bar neben sich, aber er hatte sich geschworen, abends erst etwas zu trinken, wenn er zu Hause war.

»Wir müssen eine Organisation aufbauen, um Touristen zum Mars zu bringen«, antwortete sein Assistent ungeduldig. »Die Nachfrage steigt, und nachdem nun auch noch diese marsianische Inschrift entdeckt worden ist, werden die Leute hinfliegen und sie mit eigenen Augen sehen wollen! Wie die Sixtinische Kapelle oder diese Höhlenmalereien in Spanien.«

»Sie meinen, es gibt jetzt schon eine messbare Nachfrage?«

»Durchaus möglich, Sir – wenn Sie die Führung übernehmen und den Trend prägen.«

»Und was schlagen Sie vor?«, fragte Trumball verdrießlich. Er konnte die dunklen Umrisse der Gebäude, die den Drive flankierten, kaum ausmachen, so heftig prasselte der Regen herab. Was er jetzt brauchte, war ein gutes, wärmendes Gläschen Bourbon, aber er wusste, wenn seine Frau bei seiner Rückkehr Schnaps in seinem Atem roch, würde sie wieder einen ihrer tränenreichen Vorträge über seinen gottverdammten Blutdruck vom Stapel lassen.

Das Lächeln, mit dem der Assistent auf die Frage reagierte, verriet Trumball, dass der junge Mann seinen Vorschlag schon seit Tagen in der Schublade hatte. Er war nicht fix genug, um spontan einen Plan zu entwickeln. Intelligent, ja. Aber kein schneller Denker.

»Ich schlage vor, Sir«, sagte der Assistent, »dass wir eine prominente, allgemein bekannte Persönlichkeit suchen, die bereit wäre, mit der nächsten Expediton zum Mars zu fliegen. Und diese Expedition schicken wir so bald wie nur möglich los. Wir müssen aus der Publicity und der allgemeinen Begeisterung Kapital schlagen, solange die Sache heiß ist.«

Trumball schwieg. Er wartete auf mehr.

Der Assistent fuhr fort: »Eine allgemein bekannte Persönlichkeit, Sir. Zum Beispiel einen Fernsehstar, oder vielleicht sogar einen prominenten Politiker. Vielleicht einen der ehemaligen Präsidenten!«

»Nein«, hörte Trumball sich sagen. »Keinen Politiker.«

Und dann schenkte er dem beflissenen jungen Assistenten auf dem Bildschirm tatsächlich ein Lächeln. Er wusste genau, was er tun würde. Und es wird ganz allein mein Verdienst sein, sagte er sich.

Ohne seinen neu ersonnenen Plan zu enthüllen, schaltete er das Bildtelefon aus und griff nach dem Bourbon. Soll sie doch ihren Vortrag halten, sagte er sich. Soll sie jammern und schmeicheln, bis sie heiser wird.

Er lachte so laut, dass sein Chauffeur trotz der kugelsicheren Glastrennwand zwischen ihnen erschrak.


NACHT: SOL 144

Jamie spazierte nackt durch das Dorf am Grund des Canyons. Die Sonne brannte heiß auf seine bloßen, gebräunten Schultern. Die Dorfbewohner beachteten ihn nicht; sie gingen ihren täglichen Verrichtungen nach, als wäre er gar nicht da.

Sie waren jedoch nur Schatten. Jamie glaubte, durch sie hindurchsehen zu können, als wären sie Hologramme oder Gespenster. Er versuchte mit ihnen zu sprechen, aber es kamen keine Worte aus seinem Mund. Er versuchte sie zu berühren, aber seine ausgestreckten Finger erreichten sie nicht ganz.

»Großvater«, brachte er heraus, »warum reden sie nicht mit mir?«

Und er merkte, dass er ein Kind war und neben seinem Großvater herging. Al trug seinen besten Anzug, den hellblauen mit dem Jackett im Western-Stil. Sein dunkles Haar war zu einem langen Zopf gebunden, der ihm bis auf den Rücken fiel.

»Sie können nicht mit dir reden, Jamie«, sagte Al. »Sie sind alle tot.«

»Aber ich kann sie sehen.«

Al lachte vergnügt. »Natürlich. Mich kannst du ja auch sehen, und ich bin tot.«

Jamie erkannte, dass sein Großvater Recht hatte. Doch als er wieder hinschaute, hatten die Dorfbewohner sich verändert. Sie waren keine Männer und Frauen mehr, wie die Menschen des Volkes, sondern andere Wesen. Sie sahen beinahe wie Hunde aus, hatten jedoch sechs Beine statt vier.

Nein, sah Jamie, keine sechs Beine. Vier Beine und zwei Arme, die in Händen oder so etwas Ähnlichem endeten.

Ihre Augen waren groß und traurig. Sie bewegten sich langsam, als ob sie sehr müde wären.


»Sie sind von weither gekommen, um dich zu sehen«, erklärte Al. »Aus einer Zeit vor Millionen von Jahren.«

Der sechsjährige Jamie wollte sie streicheln, aber seine Hand ging durch ihre schimmernden, ätherischen Bilder hindurch.

»Du bist alles, was sie noch haben, Jamie«, sagte Al. Seine Stimme war ein Seufzen, das mit dem leisen Wispern der Brise verschmolz. »Du bist alles, was sie noch haben.«

Und Jamie stand in seinem Raumanzug auf dem kahlen, leeren Boden des Canyons, und die leise Brise wehte wispernd an seinem Helm vorbei. Das Dorf war fort, und hoch oben in der Steilwand sah er die dunkle Nische im Fels, in der die Marsianer ihren Tempel erbaut und sich zum Sterben gelegt hatten.

»Lass sie nicht noch einmal sterben«, sagte die Stimme seines Großvaters aus seinen Helmlautsprechern. »Lass nicht zu, dass ihre Geister für immer tot bleiben.«

Jamie wachte langsam auf, kämpfte sich ins Bewusstsein wie ein Schwimmer, der sich an die Oberfläche zurückarbeitet, nachdem er zu lange zu tief unter Wasser gewesen ist.

Als er endlich die Augen aufschlug, befiel ihn eine jähe Verwirrung, die fast schon an Furcht grenzte. Ich bin nicht im Rover!

Und dann fiel es ihm wieder ein. Deschurowa und Rodriguez hatten das Reserve-L/AV zum Rand des Canyons geflogen. Sie schliefen jetzt in ihrem Wohnmodul, so wie auf dem Herflug von der Erde. Auf diesen Kompromiss hatten sie sich geeinigt; die Wissenschaftler wohnten im L/AV viel komfortabler als in einem der Rover, die anderen blieben in der Kuppel. Die beiden Astronauten konnten die benötigten Nahrungsmittel und Vorräte zum Canyon bringen, bis die Reservekuppel eintraf. Der Vorstand des IUK hatte sich sofort bereit erklärt, sie herzuschicken, und die Russen waren gerade dabei, sie in ihrem Startzentrum in Kasachstan auf eine Trägerrakete zu montieren. Laut Plan sollte sie an Sol 325 beim Canyon eintreffen – falls der Start plangemäß erfolgte.

Komisch, sinnierte Jamie, als er von seiner Liege aufstand.

Während des Fluges fand ich diese Blechbüchse zu klein, zu eng. Wie eine Gefängniszelle. Aber nachdem ich nun wochenlang in den Rovern gehaust habe, kommt sie mir wie eine Suite im Waldorf-Astoria vor.

Es war noch früh, sah Jamie. Im Modul war es still, bis auf das unvermeidliche Summen elektrischer Geräte. Außer ihm war noch niemand auf. Er aalte sich volle drei Minuten lang unter der Dusche, bis das warme Wasser automatisch nadelkalt wurde. Dann rasierte er sich rasch und dachte dabei an die Zeit auf dem College zurück, als er versucht hatte, sich einen Bart stehen zu lassen. Dünn, glatt und dunkel war der gewesen; er hatte damit eher wie ein bedrohlicher Mandarin aus einem alten Spionagefilm als wie ein knackiger Campus-Hengst ausgesehen.

Als er die Leiter zur Kombüse hochkletterte, sah Jamie zu seiner Überraschung, dass Dex bereits am Tisch mit den spindeldürren Beinen saß und einen Becher frisch gebrauten Kaffees in beiden Händen hielt.

»Du bist ja früh auf«, sagte Jamie und ging zum Gefrierschrank.

»Konnte nicht schlafen«, sagte Dex.

Jamie sah ihn genauer an. Dex' forsch-fröhliches Grinsen war verschwunden. Seine Augen wirkten trübe.

»Was ist los?«

»Rate mal, wer mit der nächsten Expedition herkommt.«

»DiNardo?«

»Schön wär's.«

»Wer dann?«

»Mein alter Herr.«

»Dein Vater?« Jamies Stimme war fast eine volle Oktave höher als sonst.

Dex nickte grimmig.

»Er kommt hierher? Zum Mars?« Jamie schob die Tür des Gefrierschranks zu und zog sich den Stuhl neben Dex heraus.

»Er hat gerödelt wie ein Wilder. Die dritte Expedition soll zwei Wochen vor unserem Abflug hier landen. Das IUK ist dabei, das Wissenschaftlerteam zu rekrutieren, und Dads Geldleute geben gerade das Raumschiff und die Ausrüstung in Auftrag. Sämtliche Archäologen und Paläontologen auf der Erde rennen ihnen die Tür ein, um mitfliegen zu dürfen. Kann sein, dass sie die Plätze versteigern, Himmel noch mal.«

»Aber er kommt mit?«

»Da kannst du deinen süßen kleinen Arsch drauf verwetten. Er kommt, und ich fliege nach Hause. Er wird persönlich das Kommando über die kommerziellen Operationen hier auf dem Mars übernehmen.«

Jamie merkte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte.

»Kommerzielle Operationen«, murmelte er.

»Vielleicht will er den Hotdog-Stand betreiben«, sagte Dex humorlos.

»Ist er nicht schon zu alt? Ich meine, es gibt doch Sicherheitsvorschriften und so weiter …«

Dex schüttelte den Kopf. »Gesund wie 'n Maultier. Zum Teufel, sie lassen ja jetzt schon gebrechliche alte Omas mit diesen Clipperships zum Mond gondeln. Wenn man mit einem normalen Flugzeug fliegen kann, kann man auch in den Orbit fliegen. Und wenn man in den Orbit fliegen kann, kann man auch zum Mond fliegen.«

»Oder zum Mars.«

»Oder zum Mars«, stimmte ihm Dex bedrückt zu. »Er wird in etwas über einem Jahr hier sein.«

Jamie sah ihn eine Weile stumm an. Warum ist Dex so deprimiert, fragte er sich. Er hat auf den Tourismus und die kommerzielle Erschließung des Mars gedrängt, und jetzt, wo sein Vater kommt, um die Sache entsprechend in Schwung zu bringen, sieht er so elend aus, wie ich mich fühle.


»Weshalb muss er persönlich herkommen?«, fragte Jamie.

»Kann er seine Ziele nicht auf der Erde verfolgen?«

Dex machte ein saures Gesicht. »Er will zeigen, dass normale Menschen zum Mars fliegen können. Er will die Tür zum Tourismus und zur kommerziellen Erschließung aufstoßen. Er wird hier ein Hotel bauen. Ein komplettes Touristenzentrum. Disneyland auf dem Mars.«

»Bloß das nicht«, stöhnte Jamie.

»Oh doch. Er muss Mr. Macho sein. Der große Zampano.

Muss der ganzen Welt zeigen, dass er zum Mars kommen und die Sache ins Rollen bringen kann. Machen Sie Ihr Vermögen auf dem Roten Planeten. Investieren Sie in die Darryl C. Trumball Enterprises.«

Jamie sagte: »Du scheinst nicht sehr glücklich darüber zu sein.«

»Warum, zum Teufel, sollte ich? Er kommt her, um den Ruhm einzuheimsen, um sich wichtig zu machen und mich beiseite zu schieben, raus aus dem Rampenlicht. Ich bin bloß der kleine Junge, der ein bisschen Wissenschaft getrieben hat, den er hat ein bisschen herumspielen lassen, er ist der große, bedeutende Scheiß-Milliardär.«

»Wie in aller Welt können wir ihn aufhalten? Und zwar jetzt, bevor er anfängt, dies hier zu ruinieren.«

»Indem wir ihm eine Kugel zwischen die Augen jagen.«

»Ich mein's ernst.«

Dex knallte die Faust auf den Tisch, sodass Kaffee aus seinem Becher schwappte.

»Wir können ihn nicht aufhalten! Niemand kann ihn aufhalten! Er hat die Kontrolle über das Geld, verdammt noch mal!«

»Es muss einen Weg geben«, sagte Jamie verzweifelt. »Es muss einen geben.«

Dex schüttelte langsam den Kopf. »Das ist die goldene Regel, Kumpel: Wer das Geld hat, bestimmt die Regeln.«

Jamie schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Das muss verhindert werden, Dex. Ich spreche mit DiNardo und Li Chengdu. Und mit dem IUK-Vorstand.«

»Nur zu. Du hast genauso viel Chancen wie die Sioux gegen die U.S. Army.«

»Sie haben Custer geschlagen«, fauchte Jamie.

»Und sind anschließend ausgelöscht worden.«

Trudy Halls Kopf erschien in der Bodenluke. Ihr dunkelbraunes Haar wippte ein bisschen, als sie die Leiter heraufkletterte.

»Oh, da war ich wohl nicht die Einzige, die dachte, Morgenstund hat Gold im Mund«, sagte sie überrascht.

Jamie sah, dass sie ihren schweißfleckigen Jogginganzug anhatte. Sie wird jetzt wieder jeden Morgen joggen, dachte er und erinnerte sich an ihre dumpfen Schritte im Außenkorridor des Wohnmoduls. Dann werden wir keine Wecker brauchen.

»Tja, das Gold ist leider schon weg, Trudy«, sagte Dex mit einem bitteren Grinsen.

»Na, macht nichts. Wir haben heute Vormittag viel zu tun.

DiNardos Leute wollen noch einen Satz Mikroaufnahmen von den Wandinschriften.«

»Noch einen Satz? Was ist mit den Bildern, die wir ihnen letzte Woche geschickt haben?«, fragte Dex.

»Waren ihnen wohl nicht gut genug.« Trudy ging zum Gefrierschrank, ohne auch nur im Geringsten etwas von den Problemen zu ahnen, die in Jamies Eingeweiden brannten.

Ich muss jetzt da raus und die wissenschaftliche Arbeit machen, derentwegen ich hergekommen bin, dachte er. Vergiss Trumball und konzentriere dich auf die Arbeit. Das ist es, was zählt. Erledige deine Arbeit … solange du kannst.


MITTAG: SOL 147

»Keine Probleme?«, fragte Vijay.

Auf dem Kommunikationsbildschirm machte Trudy Hall ein etwas verdutztes Gesicht. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, überhaupt keine.«

»Das ist gut«, sagte Vijay.

»Es ist eher so, als wäre man die kleine Schwester unter drei großen Brüdern«, fuhr Trudy fort. »Meistens werde ich mit einer gewissen Nachsicht behandelt.«

Vijay saß an dem winzigen Schreibtisch in ihrer privaten Unterkunft. Sie zeichnete das Gespräch natürlich auf; ein weiterer Bestandteil ihrer fortlaufenden psychologischen Datensammlung.

»Und keiner hat irgendwelche sexuellen Annäherungsversuche unternommen?«

»Keiner.« Hall schmollte beinahe. »Vielleicht sollte ich ja enttäuscht sein?« Dann fügte sie rasch hinzu: »Kein Wort zu Tommy, dass ich das gesagt habe!«

Mit einem Lachen versichert ihr Vijay, dass diese Psycho-Sitzungen strikt privat waren. »Außer natürlich, du hast eine Beschwerde vorzubringen.«

Trudy schüttelte erneut den Kopf. »Dex und Jamie laufen mit einer Jammermiene rum, als würde das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern lasten. Und Mitsuo … na ja, Mitsuo hat mir immer das Gefühl vermittelt, dass er mich irgendwie für nicht ganz menschlich hält.«

Eine subtile Form des Rassismus, dachte Vijay. Davon hast du bei den Weißen, weiß Gott, genug gesehen.

Aber sie behielt ihre Gedanken für sich. Sie beendete die Sitzung mit Trudy und verabschiedete sich, dann diktierte sie eine halbe Stunde lang ihre Gedanken und Eindrücke für die Missionsunterlagen.

Diese Berichte werden eine Reihe von Artikeln in den Psychologiezeitschriften ergeben, wenn wir nach Hause kommen, dachte sie beim Diktieren. Dann bin ich ganz oben auf der Erfolgsleiter und kann mir die besten unkündbaren Stellen an den besten Universitäten der Erde aussuchen. Sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen in einer isolierten Umgebung über eine Periode von achtzehn Monaten. Das könnte der Titel der zentralen Abhandlung sein.

Vielleicht mache ich sogar ein knackiges Buch daraus: Sex auf dem Mars. Ein Bestseller, keine Frage.

Aber noch während sie diese Ideen entwickelte, fragte sie sich, was mit Jamie los war. Und mit Dex. Und mit ihr selbst. Was für ein Schlamassel ich angerichtet habe, in jeder Hinsicht. Was für ein dummes, trostloses Schlamassel.

Vijay hatte ganze Abende damit verbracht, die wissenschaftliche Literatur über zwischenmenschliche Beziehungen bei anderen Expeditionen zu durchforsten, besonders bei den Wissenschaftlerteams, die in Antarktisstationen überwintert hatten. Sie hatte jede Menge Informationen über sozialen Stress und die Auswirkungen von Einsamkeit und Langeweile in Verbindung mit physischer Gefahr gefunden, aber so gut wie nichts, was ihr geholfen hätte. Männer hatten in Antarktisstationen Mordversuche unternommen. Männer waren auf monatelangen Unterwasserpatrouillenfahrten in Atom-U-Booten Amok gelaufen. Aber in den Berichten stand wenig darüber, wie sich Beziehungen zwischen Männern und Frauen herausbilden und verändern konnten. Und nichts darüber, wie Sex alles in unterschiedliche Perspektiven verzerrte.

Jetzt, wo außer ihr nur noch Wiley und die beiden Astronauten da waren, kam ihr die Kuppel leer vor. Als sie in ihrer kleinen Kabine saß und auf den dunklen Bildschirm ihres Laptops starrte, fragte sich Vijay zum tausendsten Mal, ob sie Tomas auf der nächsten Fahrt zum Canyon begleiten und dort ein oder zwei Tage mit den vier Wissenschaftlern verbringen sollte.

Mit Jamie, meinst du. Oder mit Dex. Ist es Jamie, den du willst? Ist Jamie trotz allem, trotz seiner verdammten Selbstlosigkeit wirklich derjenige, aus dem du dir etwas machst?

Bei ihm musst du dich mit dem zweiten Platz begnügen; er ist vor allem in den Mars verliebt.

Und wie steht's mit Dex? Er ist … kraftvoll. Dynamisch.

Vijay schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht über Dex nachdenken. Er war eine Komplikation. Zu verwirrend.

Sie sprang von ihrem Stuhl auf und verließ rasch ihr Abteil. Bring das Blut zum Zirkulieren, sagte sie sich, als sie mit so harten Schritten über den Plastikboden stapfte, dass deren Stakkato durch die Kuppel hallte.

Stacy war mit Tomas draußen und belud einen der Rover für die nächste Fahrt zum Canyon. Wiley schob Dienst im Kommunikationszentrum. Vijay warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und sah, dass es fast Zeit für sie war, ihn abzulösen, damit er sich wieder an seine geologische Arbeit machen konnte.

Ich könnte mit ihnen in den Rover steigen, sagte sie sich.

Sie brauchen mich hier nicht; Tommys Hand ist gut verheilt, und es gibt keine medizinischen Notfälle, über die ich mir Sorgen machen müsste. Ihr kam zu Bewusstsein, dass ihre ärztliche Arbeit auf dem Mars fast vollkommen pharmazeutischer Natur gewesen war. Ich habe Pillen, Vitamine und Nahrungszusätze ausgegeben – und psychologische Profile erstellt. Eher Psychologie als Medizin, sagte sie sich. Aber wenn es um deine eigenen emotionalen Probleme geht, steckst du in einem hoffnungslosen Kuddelmuddel. Doktor, heile dich selbst!

In dreien der zwölf Räume der Behausung gab es Inschriften an den Wänden; in einem Raum pro Stockwerk. Jamie dachte über diese Tatsache nach, während er sich die neueste Beurteilung der zur Kuppel geschickten Steinproben durchlas. Wiley Craig hatte eine sehr ordentliche spektrographische Analyse der Splitter und Späne gemacht, die er und Dex von den Steinwänden des Gebäudes abgeschabt hatten.


Es war genug Kalium im Stein, um anhand der radioaktiven Zerfallsrate eine einigermaßen zuverlässige Datierung zu bekommen. Wenn die Zerfallsraten auf dem Mars denen auf der Erde entsprechen, dachte Jamie. Es gibt zwar keinen Grund, warum das nicht der Fall sein sollte; Atome sind Atome, und sie verhalten sich im ganzen Universum gleich.

Aber hier könnten andere Faktoren mitspielen, Faktoren, die wir nicht kennen, subtile Faktoren, die anders sind als auf der Erde.

Wir wissen es einfach nicht, musste Jamie sich eingestehen.

Jedenfalls war der Stein über hundert Millionen Jahre alt.

Genauso alt wie die Gesteinsschicht im hinteren Bereich der Nische, wo die Marsianer die zum Bau der Behausung benutzten Blöcke herausgeschlagen hatten.

Aber das nützt uns nicht viel, dachte Jamie. Uns interessiert ja nicht das Alter des Gesteins, sondern das des Gebäudes. Wann haben die Marsianer diese Steine gehauen und damit ihren … Tempel erbaut?

Jamie lehnte sich auf dem gepolsterten Stuhl in seinem Abteil zurück; ihm wurde klar, dass er das Bauwerk nicht mehr als Wohngebäude betrachtete. Sie haben nicht darin gelebt. Es war eine Art Tempel, ein Ort, den sie besuchten, um dort heilige Riten zu vollführen. Zum Beispiel, indem sie ihre Geschichte an die Wände schrieben? Wenn es sich bei den Wandzeichen darum handelte, hatten sie eine verdammt kurze Geschichte. Drei Wände voller kunstvoller Zeichen, einige davon Piktogramme, die meisten jedoch allem Anschein nach eher Buchstaben oder ganze Worte.

Und auf jeder Wand entarten sie zu gekritzelten, krakeligen Botschaften, die wie das Werk von Kindern aussehen. Oder wie das Werk verzweifelter, bedrängter Leute in tödlicher Hast.

Ein einzelnes Klopfen an die Tür seines Abteils schreckte Jamie aus seinen Gedanken auf. Bevor er antworten konnte, glitt die Falttür auf, und Dex trat ein.


»Du hast Wileys Analyse auch auf dem Bildschirm«, sagte er ohne weitere Einleitung. »Gut.«

»Gute Arbeit, keine Frage«, stimmte Jamie zu, »aber sie nützt uns nicht viel.«

Dex setzte sich auf den Rand von Jamies ungemachtem Bett. »Da hast du Recht. Wir müssen uns was einfallen lassen, wie wir das Gebäude selbst datieren können.«

»Irgendeine Idee?«

Dex schüttelte den Kopf. »Ich hab die Literatur durchgesehen und mit den Archäologen daheim gesprochen.«

»Ohne Erfolg.«

Dex sprang impulsiv auf. »Das Problem ist, auf der Erde haben wir die Stratigraphie, die radioaktive Datierung, es gibt sogar schriftliche Aufzeichnungen, die wir entziffern können. Hier ist alles so verdammt ungewiss.«

»Es ist eben ein neues Gebiet.«

»Was du nicht sagst.« Dex fuhr sich mit beiden Händen durch die dunklen Haare. Jamie bemerkte, dass sie strähniger waren, nicht mehr so lockig wie bei ihrer ersten Begegnung. Keine Feuchtigkeit auf dem Mars, dachte er.

Schlecht für die Frisur.

»Vielleicht sollten wir lieber mit Astronomen als mit Archäologen reden«, schlug Jamie vor.

Dex warf ihm einen verwirrten Blick zu.

»Mit den Astronomen, die Meteoriten datieren«, erklärte Jamie. »Die befassen sich mit Steinen, die Hunderte Millionen Jahre alt sind. Sogar Milliarden Jahre.«

Dex setzte sich wieder auf den Rand der Liege. »Ja, das stimmt«, sagte er nachdenklich. »Sie können feststellen, wann ein Meteorit entstanden ist und wann er durch Kollisionen mit anderen Meteoroiten zerbrochen ist.«

Jamie nickte. »Vielleicht können sie uns helfen.«

»Ruf DiNardo an«, sagte Dex. »Der sollte imstande sein, die richtigen Leute zu finden.«

»Oder Pete in Tarawa. Er war viele Jahre bei der NASA.

Die müssten eine Menge Hintergrundmaterial über Meteoroiten haben.«

Dex stieß die Luft durch die Nase aus, ein Laut zwischen einem verächtlichen Schnauben und einem Lachen. »Dann haben wir wenigstens was zu tun. Ist ein Strohhalm, an den wir uns klammern können.«

»Du bist nicht optimistisch.«

»Nicht sehr.«

»Wir stehen vor einem Rätsel, das ist richtig.«

»Vor mehr als einem«, sagte Dex leidenschaftlich. »Wie alt ist das Gebäude? Was ist aus den Leuten geworden, die darin gewohnt haben? Was bedeuten all diese Inschriften?

Warum entarten sie am Ende zu diesem Gekrakel?«

Jamie bedachte ihn mit einem trübseligen Grinsen. »Wie hieß noch gleich dieser alte Spruch mit dem doppelt in ein Mysterium verpackten Rätsel?«

»Der war von Kennedy, glaube ich. Oder vielleicht von Churchill.«

»Von wem auch immer.«

»Wohin sind sie verschwunden, zum Teufel?«, knurrte Dex. »Was ist mit ihnen geschehen?«

Jamie breitete die Arme aus und versuchte, ein fröhliches Gesicht zu machen. »Hör zu, Dex: Man kann keine wirklich gute Wissenschaft betreiben, wenn man keine wirklich schwierigen Fragen anpackt.«

Trumball sah ihn schief an. »Dann müssten wir eigentlich den verdammten Nobelpreis kriegen«, brummelte er.

»Das wäre schön«, sagte Jamie.

»Es muss eine Lösung geben!«, beharrte Dex. »Vielleicht könnten wir ja ein paar von den Buchstaben ausschneiden, die sie in die Wände geritzt haben, und das Kalium-Argon-Verhältnis an den Schnittflächen testen …«

»Die Archäologen würden dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen, wenn du eine dieser Wände auch nur mit deinen behandschuhten Fingern anfasst.«

»Früher oder später werden wir sie anfassen müssen. Wir können keine weiteren Informationen aus ihnen herausholen, indem wir die verdammten Inschriften anstarren. Oder Fotos davon machen.«

»DiNardo hat sich die besten Kryptologen der Welt geholt, damit sie die Inschriften studieren«, sagte Jamie.

»Na toll. Wie wollen sie einen Code entziffern, wenn sie nicht mal wissen, in welcher Sprache er geschrieben ist?«

Jamie zuckte die Achseln. »Wie du gesagt hast, immerhin tun sie was. Besser als rumsitzen und Löcher in die Luft starren.«

»Beschäftigungstherapie.«

Die beiden Männer saßen eine Weile in düsterem Schweigen da. Jamie versuchte sich zu entspannen; er bemühte sich bewusst, nicht über die Marsianer und ihren Tempel und die Inschriften an den Wänden nachzudenken.

Netter Trick, wenn man's hinkriegt, meckerte er stumm.

Versuch mal, nicht an einen Elefanten zu denken.

Stattdessen fiel ihm wieder ein, dass es noch andere Dinge gab, über die sie sich den Kopf zerbrechen mussten.

»Dex, wir haben noch ein Problem, mit dem wir uns befassen müssen«, sagte er.

»Mein alter Herr.«

»Ja. Ich will nicht, dass er herkommt. Ich will nicht, dass er Schiffsladungen von Touristen den Weg bereitet, die durch den Tempel ziehen …«

»Tempel? Wer sagt, dass es ein Tempel ist?«

Mit einem geduldigen Seufzen antwortete Jamie: »Für mich ist es einer.«

»Ein Tempel.«

Jamie wackelte mit der Hand. »Das marsianische Gegenstück.«

Dex grinste ihn an. »Ich will den lieben alten Dad auch nicht hier haben, aber wie, zum Teufel, können wir ihn aufhalten? Er hat das IUK überfahren, Herrgott noch mal.«

»Ich habe DiNardo und Li gebeten, zu intervenieren.«

»Und?«

»Bis jetzt keine Antwort«, gab Jamie zu. »Von keinem der beiden.«

»Da kannst du lange warten.«

»Er darf nicht herkommen!«, fauchte Jamie. »Wir dürfen nicht zulassen, dass er diese Stätte in eine Touristenattraktion verwandelt!«

Dex ließ den Kopf zwischen die Hände sinken. »Wenn dir was einfällt, wie wir ihn aufhalten können, Kumpel, sag mir Bescheid. Ich hab mein Leben lang versucht, mich von ihm zu befreien, und jetzt rast er den ganzen Weg hierher zum Mars, um mich wieder an die Leine zu legen.«


MORGEN: SOL 150

Jamie saß am Rand der Spalte und ließ die Beine über den Rand baumeln. Das Licht der Morgensonne überflutete ihn und fiel auf die Steinwand in seinem Rücken. Die blasse, geschrumpfte Sonne brachte ihm keine Wärme. Der Boden des Canyons breitete sich tief, tief unter seinen gestiefelten Füßen aus, übersät mit Steinbrocken, aber ansonsten kalt und leer und kahl.

Er beugte sich ein wenig vor, um auf den Boden des Canyons hinabzuspähen, und versuchte ihn so zu sehen, wie er früher einmal gewesen war. Bestimmt hat sich ein Flüsschen hindurchgeschlängelt, vielleicht sogar ein ausgewachsener Fluss, dachte er. Er stellte sich die Marsianer vor, die dort unten in hübschen, ordentlichen Dörfern inmitten blühender Felder gelebt hatten. Alles war in Quadrate eingeteilt, die Straßen zogen sich schnurgerade dahin, und präzise Reihen des marsianischen Gegenstücks von Mais wuchsen im Sonnenschein.

Jetzt war dort unten alles kahl und tot, eine Eiswüste, in der die Lufttemperatur selbst am längsten Sommertag nur knapp über den Nullpunkt stieg.

Aber ganz leer war es nicht mehr. Trudy und Mitsuo fuhren am Seil zum Boden des Canyons hinab, bereit, sich den ganzen Tag über mit den wenigen, raren Flechtenkolonien zu beschäftigen, die sich dort unten verzweifelt ans Leben klammerten.

Plötzlich senkte sich die unförmige Gestalt einer Figur im Raumanzug schwerfällig in sein Blickfeld; sie hing am Seil und ließ sich langsam herab, vorbei an der überhängenden Felsdecke. Dex, der zur täglichen Arbeit herunterkam. Zur täglichen Frustration.

»Stacy hat vom Rover aus angerufen«, sagte er, als Jamie sich auf die Beine hievte.


»Ich dachte, Tomas würde diesmal fahren.«

»Nein. Die Chefin hat beschlossen, es selbst zu machen.«

Dex pflanzte seine Stiefel auf den Steinboden, als Jamie zu ihm kam und ihm aus dem Klettergeschirr half.

»Hast du die Liste mit dem Arbeitsprogramm für heute dabei?«, fragte Dex.

Jamie tippte auf das Computerdisplay am Handgelenk seines Raumanzugs. »I.D.S.«, sagte er.

»Immer dasselbe.«

»Genau. Noch mehr Mikroaufnahmen. Noch mehr Gesteinsproben.«

»Immerhin haben wir den ganzen Staub weggewischt«, sagte Dex. Er ging zu den Kameras und den anderen Sachen hinüber, die sie über Nacht hier gelassen hatten.

Jamie nickte in seinem Helm. »Wir sollten Plastikplanen aufhängen, um die Eingänge und Dachöffnungen zu schützen.«

»Warum gerade jetzt? Ist doch kein Staubsturm in Sicht.«

»Es ist immer noch windig. Jeden Tag weht ein bisschen Staub herein. Früher oder später wird sich so viel angesammelt haben, dass er wieder ein Problem darstellt.«

Dex schnaubte, dann gab er zu: »Kann sein, dass du Recht hast. Ich sag Wiley Bescheid, dass er einen Stapel Planen für den nächsten Rover-Trip bereitlegen soll.«

Jamie hob das Werkzeug auf, mit dem sie Proben vom Gestein nahmen, und machte sich auf den Weg zur nächsten Öffnung in der Mauer.

»Immer noch keine Spur von anderen Bauwerken, nirgends«, sagte Dex. »Ich hab mir die halbe Nacht lang die Bilder des Schwebegleiters angesehen. Nichts.«

»Wir hätten dieses hier nicht bemerkt, wenn wir es nicht mit eigenen Augen gesehen hätten«, sagte Jamie. »Die Flugzeuge und Satelliten könnten hundert Bauwerke überfliegen, ohne dass wir etwas davon mitbekämen.«

»Ja«, räumte Dex ein. »Lokales Gestein mit Umgebungstemperatur. Gibt nichts Auffälliges für die Sensoren her, wie?«

»Nicht viel.«

»Wann kommt Tarawa endlich mit den Daten der Spaltspurenanalyse rüber?«, beklagte sich Dex. »Sie müssten inzwischen zumindest eine vorläufige Korrelation haben.«

Jamie erwiderte: »Nach dem, was Pete mir erzählt, streiten sich die Archäologen mit den Geologen. Ich weiß nicht, ob es ein Revierkampf oder eine echte Meinungsverschiedenheit über die Daten ist.«

»Pfeifenköpfe«, knurrte Dex.

Sie krabbelten durch den niedrigen Eingang und standen wieder auf. »Ich hab noch eine zweite Botschaft von meinem Vater gekriegt«, sagte Dex.

»Oh?«

»Er wird langsam richtig scheißfreundlich.«

»Das ist gut«, sagte Jamie. »Nehme ich an.«

»Weißt du, warum er wirklich herkommt?«

Während sie zu dem Lichtschacht gingen, antwortete Jamie: »Du hast gesagt, er will die kommerziellen Operationen in die Wege leiten.«

»Ja, aber dazu muss er einen Rechtsanspruch auf das Gebiet nachweisen.«

»Einen Rechtsanspruch?«

»Klar. Damit niemand in diesem Gebiet ein Konkurrenzunternehmen aufziehen kann.«

»Er kann doch keinen Besitzanspruch auf den Mars erheben«, sagte Jamie.

»Braucht er auch nicht.«

Jamie blieb stehen und drehte sich zu dem jüngeren Mann um. In Dex' Sichtscheibe sah er jedoch nur das Spiegelbild seines eigenen gesichtslosen Helms und der Schultern seines Raumanzugs.

»Die Sache ist die«, erklärte Dex, »man kann das Nutzungsvorrecht für eine Region beanspruchen. Wie die Leute in der Mondbasis und den anderen lunaren Siedlungen. Sie haben zwar keinen Besitzanspruch auf das Territorium, aber sie können behaupten, dass sie das Gebiet nutzen, und die Internationale Raumfahrtbehörde gewährt ihnen einen Rechtsanspruch auf diese Nutzung.«

Jamie war verwirrt. »Das Territorium gehört ihnen also nicht …«

»Aber sie können es rechtmäßig nutzen und Konkurrenten draußen halten.«

»So lautet das Gesetz?«

Er spürte, dass Dex in seinem Helm nickte. »Ja. Der Weltraum-Nutzungs-Vertrag. Mein Vater hat mir das alles letzte Nacht erklärt.«

»Klingt ziemlich seltsam«, sagte Jamie.

»Juristen.«

»Dein Vater kommt also her, um einen juristischen Claim für die Nutzung dieser Marsregion abzustecken?«

»Das ist sein Plan. Er will das ganze Gebiet beanspruchen, in dem wir gearbeitet haben, also diese Stätte hier, den Boden des Canyons, wo die Flechte ist, und sogar den Olympus Mons.«

Jamie merkte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Vor seinem geistigen Auge sah er aus dem Boden schießende Hotels, Tourenbusse, Swimmingpools voller schreiender Kinder. Seine wahr gewordenen Albträume.

»Wir müssen ihn aufhalten, Dex. Wir dürfen nicht zulassen, dass hier ein solcher Präzedenzfall geschaffen wird.«

»Ich weiß.«

»Mir ist klar, dass wir in dieser Sache unsere Meinungsverschiedenheiten hatten …«

Dex schwieg.

»Aber …« Jamie zögerte, suchte nach Worten. »Aber siehst du ein, Dex, dass Touristen hier nichts zu suchen haben?«

Dex schwieg geraume Zeit. Er drehte sich langsam einmal um sich selbst, als wollte er sich jeden Winkel der uralten, leeren Kammer einprägen, in der sie standen.

»Hier nicht«, stimmte er Jamie dann mit leiser, ernster Stimme zu. »Sie würden diesen Ort binnen einer Woche ruinieren.«

»Auf dem ganzen Mars nicht«, sagte Jamie. »Nirgendwo auf diesem Planeten.«

»Du verstehst das nicht«, sagte Dex leise.

»Nein, sie dürfen nicht auf den Mars kommen«, beharrte Jamie. »Wir müssen diesen Planeten erforschen, müssen die anderen Bauwerke suchen und herausfinden, was mit den Leuten hier geschehen ist …«

»He, he, immer langsam!« Dex hob eine Hand. »Ich weiß, wie du darüber denkst, Jamie. Ich bin sogar derselben Meinung wie du. Aber eins musst du begreifen: Das ist alles meine Schuld.«

»Deine Schuld?«

»Mein Vater hat sich an die Spitze der Finanzierungskampagne für diese Expedition gesetzt, weil ich ihn dazu überredet habe. Ich habe ihm erzählt, die Expedition würde sich selbst tragen, würde sogar Gewinn abwerfen.«

»Durch den Verkauf von Touristentickets?«

»Genau. Indem man ein kommerzielles Unternehmen aufzieht, das eine solch einmalige Reise für betuchte Touristen veranstaltet. Für die Art Leute, die zu dem Sexpalast im Orbit fliegen. Die Art Leute, die es sich leisten können, zum Mond zu fliegen und ihre Fußabdrücke dort zu hinterlassen, wo vor ihnen noch niemand gewesen ist.«

»Aber der Mond ist tot«, sagte Jamie. »Dort besteht keine Gefahr, dass sie irgendwelchen Schaden anrichten.«

Mit einem bitteren Lachen entgegnete Dex: »Erzähl das mal den Geophysikern! Die gehen jedes Mal die Wände hoch, wenn eine Busladung Touristen über ihren Regolith trampelt.«

»Na, dann verstehst du ja, was ich meine«, sagte Jamie.

»Wir haben hier lebende Organismen und die Ruinen einer intelligenten Zivilisation. Die müssen geschützt werden.«

»Ich weiß. Das ist mir inzwischen klar geworden.«

Sie standen unter der quadratischen Öffnung in der Decke, dem Lichtschacht, durch den morgendliches Sonnenlicht einfiel und die fensterlose Kammer erhellte.

»Und wie stellen wir 's an, sie zu schützen? Wie stoppen wir deinen Vater?«

»Was heißt hier ›wir‹, roter Mann?«

»Er ist dein Vater, Dex.«

»Und?«

»Also musst du ihn stoppen.«

»Ich? Machst du Witze? Er hat in seinem ganzen Leben noch nie auf mich gehört.«

»Dann kannst du mir zumindest helfen.«

»Wie?«

Jamie hatte keine schnelle Antwort parat. »Ich weiß es nicht«, gab er zu.

»Tja«, sagte Dex und streckte die Hände zum Rand der quadratischen Öffnung in der Decke aus, »wenn du dir überlegt hast, was du tun willst, lass es mich wissen.«

Er zog sich hinauf. Jamie folgte ihm und dachte: Es muss einen Weg geben, Trumball zu stoppen. Etwas, das ihm die Augen öffnet, das ihn zur Einsicht bringt. Aber was?

Sie verbrachten den Vormittag damit, die ihnen übertragenen Aufgaben zu erledigen. Behutsam schlugen sie auf allen drei Stockwerken weitere Gesteinsproben von willkürlich ausgewählten Steinblöcken in den Mauern ab. Als sie wieder im Erdgeschoss eintrafen, gingen sie hinaus und sammelten noch mehr Proben von der Außenseite der Mauer.

»Wie wär's, wenn wir da hinten im Steinbruch noch ein paar Proben nähmen?«, fragte Dex.

»Darum haben sie nicht gebeten.«

»Warum bringst du diese Ladung nicht zum Modul rauf, während ich da hinten noch ein bisschen weitermache, nur aus Spaß an der Freude.«

Jamie wusste, dass sie anhand der Proben aus dem Steinbruch das Alter des unberührten Gesteins ermitteln konnten. Vielleicht führt Dex irgendwas im Schilde, dachte er.


Vielleicht weisen die Proben aus dem Gebäude ein unterschiedliches Maß an absorbierter Strahlung von einfallenden kosmischen Partikeln auf: eine Art subatomarer Verwitterung, mit deren Hilfe wir vielleicht das Alter des Bauwerks bestimmen könnten.

Aber wir kennen die Verwitterungsraten nicht, haben nicht mal eine grobe Ahnung von ihnen. Alle Daten, die wir gesammelt haben, bedeuten gar nichts, weil wir nicht wissen, wie schnell der Verwitterungsprozess vonstatten gegangen ist.

Noch nicht, sagte er sich. Die Geologen auf der Erde haben viel raffiniertere Geräte als wir. Wenn es ihnen gelingt, die Raten zu ermitteln, dann können wir vielleicht doch rausfinden, wie alt dieses Gebäude wirklich ist.

»Okay«, sagte er zu Dex. »Nimm meinetwegen noch ein paar Proben aus dem Steinbruch. Wir sehen uns dann im Modul.«

»Fang nicht ohne mich mit dem Mittagessen an«, rief Dex, als Jamie zum Klettergeschirr ging.

Gleich nachdem er im Wohnmodul des L/AV eingetroffen war, setzte sich Jamie mit Fuchida und Hall unten auf dem Boden des Canyons in Verbindung, dann machte er sich an die Überprüfung der Gesteinsproben des Vormittags. Je eher unsere Daten auf der Erde sind, desto besser, dachte er. Geben wir ihnen so viele Daten wie irgend möglich.

Deschurowa meldete sich; wenn sie ihr gegenwärtiges Fahrtempo beibehielt, würde sie vor Einbruch der Dunkelheit bei ihnen sein. Gut.

Als Dex durch die Luftschleuse unten hereingestampft kam, saß Jamie in dem provisorischen Labor, das sie eingerichtet hatten, und beugte sich über den Computerbildschirm. Er hörte das dünne Summen des Handsaugers, als Dex seinen Anzug vom Staub reinigte.

Jamie schloss das Analyseprogramm und schickte die Daten zur Erde, dann tauchte er durch die Luke in die Kombüse. Dex war nicht da. Jamie fand ihn in der Kommandozentrale. Er saß an der Kommunikationskonsole und sprach offenbar mit Tarawa. Das Gesicht der Frau auf dem Bildschirm kannte Jamie nicht, aber die Szenerie draußen vor dem Fenster hinter ihr war unverkennbar die einer Südseeinsel.

»Kann's losgehen mit dem Mittagesssen?«, fragte Jamie.

Dex verabschiedete sich rasch und drehte sich auf seinem Sitz um. Jamie sah, dass sein Gesicht ungewöhnlich bleich war. Seine Augen waren groß, sein Blick starr.

»Was ist los?«, fragte Jamie. »Ist was passiert?«

»Sie haben eine vorläufige Altersbestimmung für das Gebäude bekannt gegeben«, sagte Dex. Seine Stimme schwankte ein wenig.

»Tarawa?«

»Es gab keinen Streit zwischen den Geologen und den Archäologen. Sie haben das Ergebnis einfach nicht geglaubt, deshalb haben sie die Arbeit mehrmals überprüft, bevor sie zu dem Schluss kamen, dass es stimmen musste.«

Jamie spürte, wie sich eine Ranke der Nervosität durch seine Eingeweide schlängelte. »Sie haben das Alter, das sie ermittelt haben, nicht geglaubt?«

»Es ist nur eine grobe Zahl. Eine sehr grobe.«

»Wie lautet sie?« Jamie glaubte, die Antwort bereits zu kennen.

»So weit sie es sagen können, ist das Gebäude vor ungefähr fünfundsechzig Millionen Jahren errichtet worden.«

»Fünfundsechzig Millionen?« Jamies Stimme klang hohl und wie aus weiter Ferne, selbst in seinen eigenen Ohren.

Dex nickte düster. »So ist es. Vor fünfundsechzig Millionen Jahren.«

Jamies Knie wurden weich. Er setzte sich auf den Stuhl neben Dex. »Die K/T-Grenze.«

»Der Meteoriteneinschlag, der die Dinosaurier getötet hat.«

»Hier ist auch etwas eingeschlagen«, sagte Jamie. »Es hat die Marsianer getötet.«

»Diese schiefe Zeichnung an der Wand … das ist eine Pilzwolke.«

»Von dem Meteoriteneinschlag.«

»Sie sind auf dieselbe Weise ausgelöscht worden wie die Dinosaurier«, sagte Dex mit zitternder Stimme.


NACHMITTAG: SOL 150

»So muss es gewesen sein«, sagte Jamie zu Vijay.

Sein Gesicht auf dem Bildschirm wirkte ernst und feierlich. Vijay hatte gerade Dienst im Kommunikationszentrum der Kuppel, Jamie befand sich in seiner Unterkunft an Bord des L/AV draußen beim Canyon, wie es schien.

»Ein Meteor?«, fragte sie und spürte, wie sich eine beklemmende alte Erinnerung, eine Kindheitsangst in ihrem Innern regte.

»Ein Meteorit«, verbesserte Dex und beugte sich über Jamies Schulter, um sein Gesicht ins Bildfeld zu halten.

»Vielleicht mehr als einer«, sagte Jamie. »Bei der Katastrophe, die die Dinosaurier auf der Erde ausgelöscht hat, könnte mehr als ein Meteorit eingeschlagen sein.«

Vijay fühlte, wie die alte, alte Furcht nach ihr griff.

»Es muss ein ganzer Schwarm gewesen sein«, sagte Dex mit seltsam ausdrucksloser, emotionsloser Stimme. »Und zwar ziemlich große Brocken.«

»Auf der Erde sind mehr als drei Viertel aller damals lebenden Arten auf dem Land, in den Meeren und in der Luft ausgerottet worden«, erklärte Jamie.

»Und hier auf dem Mars«, fuhr Dex fort, »hat nichts überlebt als die Flechten und die Bakterien tief im Boden.«

»Shiva«, flüsterte Vijay.

»Was?«

»Shiva, der Zerstörer.« Sie erinnerte sich an die Geschichten über die uralten Götter, die ihre Mutter ihr erzählt hatte.

Jamies Stirn fürchte sich ein wenig. »Ist das …«

»Shiva ist ein Gott«, erklärte Vijay. »Sein Tanz ist der Rhythmus des Universums. Er zerstört Welten.«

Dex schob sich wieder ins Bild. »Shiva ist also ein Haufen großer Steine.«

»Sein Avatar«, sagte Vijay. »Die Erscheinungsform seiner Anwesenheit unter uns.«

Jamie sah es mit den inneren Augen des Navajos: Die Marsianer arbeiten unter einer heißen Sonne, ihre blühenden Felder wogen in der Brise, ihre Dörfer tüpfeln das fruchtbare Land. Und dann kommt brüllend der Tod vom Himmel. Die Explosionen beim Aufprall der Meteoriten.

Der Boden erbebt. Pilzwolken türmen sich in den blauen Himmel. Die Marsianer fliehen in ihre Tempel und flehen ihre Götter an, diesem Regen der Zerstörung ein Ende zu machen.

Doch das schreckliche Bombardement aus dem Himmel geht immer weiter, unaufhörlich, gnadenlos. Die Luft des Planeten wird fast vollständig weggesprengt, bis nur ein vager Hauch übrig bleibt. Die Meere gefrieren. Die Marsianer sterben allesamt, ohne Ausnahme, ihre Feldfrüchte, ihre Herden, ja sogar die Erinnerung an sie wird von der Oberfläche des Planeten ausradiert. Bis auf einen einzelnen Tempel hier und dort, an einer geschützten Stelle, wo die letzten sterbenden Mitglieder der Rasse verzweifelt das letzte Kapitel ihrer Geschichte in die Steine kratzen.

Staub bedeckt die gefrorenen Meere. Nichts Lebendiges bleibt übrig, bis auf die widerstandsfähigen Flechten und die Bakterien tief unter der Oberfläche. Der Tod regiert den gesamten Mars.

Mit einem Frösteln zwang sich Jamie, seine Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart zuzuwenden. Er sah Vijays ernste, beinahe angsterfüllte Miene auf dem kleinen Bildschirm des Laptops. Vielleicht sollten wir alle Angst haben, dachte er. Ein weiterer solcher Stein könnte uns ebenfalls auslöschen.

Du weißt das alles nicht genau, warnte ihn seine rationale Seite. Sie könnten sich bei den Daten um Millionen von Jahren vertan haben. Die Datierung ist vielleicht nur ein Zufall.

Aber er konnte nicht an einen solchen Zufall glauben.

»Das ist also mit den Marsianern geschehen«, sagte Vijay, ihre Stimme kaum lauter als ein Flüstern. »Shiva hat sie vernichtet. Ohne Gnade. Ohne Vorwarnung. Sie wurden weggefegt, als hätten sie nie existiert.«

Jamie nickte. »Aber sie haben diesen Tempel hinterlassen.

Vielleicht gibt es noch weitere …«

An seinem Computerbildschirm begann das gelbe Icon zu blinken, das den Eingang einer dringlichen Nachricht anzeigte.

»Bleib dran«, sagte Jamie und teilte den Bildschirm, um zu sehen, wer ihn so dringend sprechen wollte.

Deschurowas mürrisches Gesicht erschien. Sie saß offenbar im Cockpit des Rovers, und sie sah nicht sehr glücklich aus.

»Stacy, was ist los?«, fragte Jamie.

»Ich bin ungefähr fünfzig Kilometer von euch entfernt, aber ich kann nicht weiterfahren«, sagte die Kosmonautin.

»Wieso das?«

»Ein Rad ist defekt. Anscheinend ist Staub ins Radlager eingedrungen. Es ist stark überhitzt. Wenn ich weiterfahre, geht es wahrscheinlich ganz kaputt.«

»Ich sage der Kuppel Bescheid«, sagte Jamie. »Ich spreche gerade mit Vijay.«

»Gut. Sag Rodriguez, er soll mit Rover Nummer zwei und einem Ersatzradlager kommen.«

Jamie warf einen Blick auf die Digitaluhr, die in der unteren rechten Ecke des Bildschirms blinkte. »Du wirst dort über Nacht festsitzen.«

»Neh problemeh.«

»Wenn wir einen Rover hier hätten«, bemerkte Dex,

»könnten wir losfahren und dich noch vor Sonnenuntergang holen.«

»Schon möglich«, stimmte die Kosmonautin missmutig zu.

»Darüber sollten wir vielleicht mal nachdenken«, meinte Jamie. »Wir haben den zusätzlichen Rover …«

»Sag Rodriguez, er soll mit dem alten Rover kommen«, wandte sich Dex an Jamie, »und ihn dann hier bei uns lassen.«

»Vielleicht ein guter Plan«, sagte Deschurowa nachdenklich. »Ich werde es mit Tom besprechen.«

Kurz vor Mitternacht – Jamie hatte sich bereits hingelegt –

begann das gelbe Licht an seinem Laptop erneut zu blinken.

»Was ist denn nun schon wieder?«, brummte er. Es war spät, und er war müde, auch seelisch erschöpft von der Erkenntnis, was die Marsianer ausgelöscht hatte. Etliche Stunden lang war er damit beschäftigt gewesen, die Berichte der Archäologen über das Alter des Gebäudes durchzusehen. Dann hatte DiNardo angerufen, ein langer, weitschweifiger Monolog, der sich um die Zweifel des jesuitischen Geologen an einer Verbindung zwischen dem Untergang der Marsianer und dem Aussterben der Dinosaurier rankte.

»Der Unsicherheitsbereich bei der Datierung des marsianischen Bauwerks durch die Archäologen beträgt etliche Millionen Jahre«, sagte DiNardo so aufgewühlt, dass seine Stimme beinahe zitterte. »Es ist grotesk zu glauben, dass jenes Ereignis, das am Ende der Kreidezeit zum Untergang so vieler Arten auf der Erde geführt hat, auch für den Untergang der Marsianer verantwortlich war.«

Er hat Angst, erkannte Jamie, als er DiNardos dunkles, stoppelbärtiges Gesicht musterte. Aus irgendeinem Grund macht ihm dieser Gedanke Angst.

»Pater DiNardo«, erwiderte Jamie, nachdem er sich die Botschaft des Geologen zweimal angesehen hatte, »ich muss zugeben, dass die Daten über das Alter des Gebäudes hier ziemlich unsicher sind. Doch selbst wenn das massenhafte Artensterben auf der Erde an der K/T-Grenze und das Ende der Marsianer ein paar Millionen Jahre auseinander gelegen haben sollten, könnten sie die Folgen einer einzigen Ursache gewesen sein. Womöglich ist ein Schwarm großer Meteoroiden über eine Zeitspanne von Jahrmillionen hinweg durch das innere Sonnensystem gezogen und mit den Planeten kollidiert. Wir sollten nach Hinweisen dafür suchen, ob es damals ein Meteoritenbombardement auf dem Mond gegeben hat, meinen Sie nicht?«

Er schickte seine Nachricht an DiNardo, dann sah er, dass ihn mehr als ein Dutzend Mitglieder des archäologischen Ausschusses zu sprechen wünschten. Und der IUK-Vorstand wollte die Nachschubmission erörtern, die in Kürze gestartet werden sollte. Und Tarawa hatte für morgen eine Pressekonferenz anberaumt.

Jamie war froh gewesen, als er die letzte der wartenden Botschaften erledigt hatte und endlich ins Bett kriechen konnte, um zu schlafen. Dann begann das Lämpchen für eingegangene Nachrichten erneut zu blinken.

Wer konnte um diese Zeit anrufen? Tarawa nicht, oder höchstens bei einem Notfall. Und auch niemand in der Kuppel, dort schlafen jetzt schon alle.

Stacy? Er setzte sich auf der Liege auf. Steckt Stacy draußen im Rover in Schwierigkeiten?

Jamie streckte die Hand aus und tippte auf eine Taste.

Mitsuo Fuchidas Gesicht erschien auf dem Bildschirm.

»Was ist los, Mitsuo?«, fragte Jamie.

Der Biologe war offenkundig in seiner Unterkunft im L/AV, nur ein paar Meter von Jamies Kabine entfernt.

Dennoch hatte er sich für einen Anruf entschieden, statt persönlich vorbeizukommen. Trotz der gedämpften Beleuchtung sah Jamie, dass Fuchida besorgt wirkte.

»Ich bin überzeugt, dass wir einen Saboteur unter uns haben«, sagte Mitsuo beinahe im Flüsterton.

»Wie bitte?«

»Ich habe mich noch einmal mit mehreren so genannten Unfällen beschäftigt«, sagte Fuchida, »und die Indizien sprechen meiner Ansicht nach dafür, dass sie absichtlich verursacht worden sind.«

Jamie schwang die Beine von der Liege und beugte sich näher zum Laptop-Bildschirm. Na großartig, dachte er. Mitsuo spielt Sherlock Holmes.

»Welche Unfälle?«, fragte er müde.


»Zum Beispiel die Beschädigung der Gartenkuppel während des Staubsturms.«

»Das war Sabotage?«

»Diese Löcher wurden von innen gemacht, nicht vom Sturm.«

»Das haben wir doch alles schon einmal besprochen …«

»Und Tomas' Verletzung? Glaubst du, die Schale mit dem geschmolzenen Glas wäre rein zufällig zerbrochen, als er gerade danebenstand?«

Jamie holte tief Luft. »Warum erzählst du mir das alles?

Und warum mitten in der Nacht?«

»Weil du der Einzige bist, dem ich vertraue«, antwortete Fuchida in eindringlichem Ton. »Der Saboteur könnte jeder von den anderen sein!«

»Warum sollte jemand unsere Ausrüstung sabotieren oder einen von uns verletzen wollen?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht ist er wahnsinnig.«

Möglich wär's, gestand Jamie sich ein. Vijay zufolge sind wir alle ein bisschen verrückt.

Fuchida fügte hinzu: »Und jetzt dieser Lagerschaden an Stacys Rover. Die Radlager sind sehr gut abgedichtet, damit kein Staub eindringen kann.«

Jamie schüttelte eher müde als verärgert den Kopf. »Okay, Mitsuo, ich sag dir was. Du und Wiley, ihr überprüft das defekte Lager, wenn ihr in die Kuppel zurückkommt. Wenn ihr feststellt, dass jemand sich daran zu schaffen gemacht hat, dann sagt ihr es Stacy. Sie ist jetzt die Missionsleiterin, nicht ich.«

»Aber sie könnte die Saboteurin sein!«

»Stacy? Das ist …« Jamie wollte verrückt sagen, aber dann merkte er, dass das genau in Mitsuos Theorie passen würde.

»In der Nacht des Sturms hatte sie Dienst im Kommunikationszentrum, während wir anderen alle geschlafen haben.

Erinnerst du dich?«, beharrte der Biologe. »Sie hat mitgeholfen, den Brennofen für die Glasbausteine zu bauen. Sie ist allein im Rover, und er geht kaputt.«

»Glaubst du, sie hat das gemacht, damit sie die Nacht allein dort draußen verbringen kann?«, fragte Jamie.

»Wenn sie wahnsinnig ist, sind ihre Motive nicht rational«, gab Fuchida zurück.

Jamie seufzte unwillkürlich. »Na schön, wenn du mit Wiley das Radlager untersuchst …«

»Woher sollen wir wissen, dass Wiley nicht der Saboteur ist?«

Woher sollen wir wissen, dass du nicht eine Schraube locker hast, dachte Jamie stumm.

»Es könnte jeder von ihnen sein«, setzte Fuchida hinzu.

»In Ordnung, Mitsuo, in Ordnung. Dann überprüf das defekte Lager allein. Wenn du irgendeinen Hinweis findest, dass jemand daran manipuliert hat, sag mir Bescheid.

Okay?«

Fuchida nickte eifrig. »Hai!«

Jamie unterbrach die Verbindung und kroch wieder ins Bett. Das hat mir gerade noch gefehlt. Entweder haben wir einen verrückten Saboteur unter uns, oder Mitsuo wird allmählich paranoid. Großartig!

In dieser Nacht fand Jamie nicht viel Schlaf.


DIE STURZFLUT DES TODES

Das Kolloquium war sehr kurzfristig angesetzt worden, aber fast alle Fakultätsmitglieder des Institute for Advanced Study drängten sich im Hörsaal, um Li Chengdu zuzuhören.

Er hatte das Gefühl, dieser Ehre nicht würdig, dieser Verantwortung nicht gewachsen zu sein, als er langsam die drei Stufen erklomm und zum Rednerpult in der Mitte der leeren Bühne ging. Das halblaute Gebrabbel verstummte.

Im Publikum breitete sich absolute Stille aus, als diese hoch gewachsene Vogelscheuche von einem chinesischen Weisen das Rednerpult erreichte.

Erstaunlich, dachte Li. Fast zweihundert der streitlustigsten Männer und Frauen der Erde, und sie erwarten alle von mir, dass ich sie erleuchte.

In der eingetretenen Stille stand er eine ganze Weile nur schweigend da, ein fast zwei Meter großer, schlaksiger chinesischer Wissenschaftler, und schaute ins Publikum hinunter. Physiker, Mathematiker, Historiker, Biologen, sogar die Wirtschaftswissenschaftler waren gut vertreten.

Allerdings keine Außenstehenden. Keine Journalisten oder Fotografen.

Gut, dachte Li.

Er begann: »Wie Sie wissen, war der Mars früher einmal von einer intelligenten Spezies bewohnt. Sie wurde offenbar etwa im selben geologischen Zeitraum ausgelöscht, der auf der Erde die Grenze zwischen der Kreidezeit und dem Tertiär darstellt, die Zeit des großen Sterbens, wie man sie genannt hat.

Auf der Erde starben damals drei Viertel aller Lebensformen auf dem Land und im Meer aus. Auf dem Mars wurde jede Spezies vernichtet, die komplexer war als eine Flechte.


Es scheint also, als wäre das innere Sonnensystem vor ungefähr fünfundsechzig Millionen Jahren von einer Sturzflut des Todes heimgesucht worden …«

Beverly Urey war nur eine entfernte Nichte des mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Chemikers, aber sie war Astronomin am Keck-Observatorium in Hawaii, und die Reporter der Nachrichtenmedien spürten sie in der riesigen Mondlandschaft der alten Caldera von Mauna Kea auf.

»Wir haben einen Bericht aus Princeton, in dem es heißt, vor fünfundsechzig Millionen Jahren sei eine Sturzflut des Todes auf die Erde und den Mars niedergegangen!«, rief ihr einer der Reporter zu.

»Nun ja«, erwiderte sie, einigermaßen benommen von ihrer Anzahl und Aggressivität, »ich glaube, so könnte man das sagen.«

STURZFLUT DES TODES SUCHTE ERDE UND MARS

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