SECHSTER TEIL Waffen unter dem Tisch

An dem Tag, da John Boone ermordet wurde, befanden wir uns bei Ost-Elysium, und dieser Meteorschauer regnete auf uns herab. Es müssen etwa dreißig Spuren gewesen sein, und die waren alle schwarz. Ich weiß nicht, woraus diese Meteore bestanden, aber sie brannten schwarz anstatt weiß. Wie Rauch aus berstenden Flugzeugen, aber geradlinig und schnell wie der Blitz. Es war ein so ungewöhnlicher Anblick, dass alle erstaunt waren, und dabei hatten wir noch nicht einmal die Nachricht gehört, aber dann rechneten wir zurück und stellten fest, dass es genau um die gleiche Zeit geschehen war.

Wir waren unten in Hellas am Seeufer, und der Himmel wurde schwarz, und ein plötzlicher Wind peitschte über den See und blies jede Gehröhre in der Stadt weg. Und dann hörten wir es.

Wir waren in Senzeni Na, wo wir viel gearbeitet hatten, und es wurde Nacht, und Blitze fingen an, auf uns einzuhämmern. Gigantische Blitzkeulen schossen direkt in das Mohole hinein. Niemand konnte es glauben, und es war so laut, dass man nicht hören konnte. Und dann war ein Bild von ihm unten in den Arbeiterquartieren an der Wand einer Suite, und ein Blitzkeil traf das Fenster des Promenadeplatzes, und jeder war für eine Sekunde geblendet. Und als unsere Sicht wiederkehrte, war dies Bild gesprungen und der Rahmen zerbrochen, und es rauchte. Und dann hörten wir die Nachricht.

Wir waren in Carr und konnten es nicht glauben. Alle der Ersten Hundert hier weinten. Er musste der einzige in dem ganzen Haufen gewesen sein, den alle gern hatten. Wenn die meisten von ihnen getötet wären, würde die andere Hälfte jubeln. Arkady war von Sinnen. Er weinte stundenlang; und das war so schrecklich, weil es ihm gar nicht ähnlich sah. Nadia bemühte sich ständig, ihn zu trösten, und Arkady sagte immer wieder: Nein, das ist gar nicht recht. Er brüllte, warf mit Gegenständen und sank dann wieder Nadia in die Arme. Auch Nadia war erschüttert. Und dann lief er aus seinem Zimmer und kam zurück mit einem Kasten für die Sendung von Zündsignalen. Und als er erklärte, was das war, wurde Nadia mehr noch als wir anderen richtig wütend und sagte: Warum würdest du je so etwas tun wollen? Und Arkady schrie: Wegen dessen, was gerade John widerfahren ist. Sie haben ihn getötet! Wer weiß, wer von uns der nächste sein wird? Sie werden uns alle umbringen, wenn sie können. Und Nadia versuchte, ihn dazu zu überreden, dass er den Sender aushändigte; und er wurde so aufgeregt, dass er sie veranlasste, ihn zu halten und sie ständig aufforderte: Bitte, Nadia, bitte, nur für den Fall, bitte, bis sie ihn schließlich behalten musste, um ihn zu beruhigen. Ich habe noch nie so etwas gesehen.

Wir waren in Underhill, und der Strom fiel aus; und als er wiederkam, waren alle Pflanzen in der Farm gefroren. Die Beleuchtung und die Wärme kamen wieder, und alle Pflanzen begannen zu verwelken. Wir saßen die ganze Nacht herum und erzählten uns Geschichten über ihn. Ich entsann mich, wie es war, als er in den zwanziger Jahren als erster landete. Das taten viele von uns. Ich war damals erst ein kleines Kind; aber ich erinnere mich daran, dass ein jeder bei seinen ersten Worten lachte. Ich hielt mich für verrückt, weiß aber noch, dass ich sehr überrascht war, dass auch die Erwachsenen lachten. Alle waren so aufgeregt. Ich glaube, ein jeder verliebte sich in diesem Moment in ihn. Ich meine, wie konnte man jemanden nicht gern haben, der als erster Mensch auf einem anderen Planeten hinausging und sagte: »Nun, da sind wir.« Es war unmöglich, ihn nicht zu mögen.

Oh, ich weiß nicht. Ich habe einmal gesehen, wie er einem Mann einen Stoß gab. Das war im Burroughs-Zug, und er war in unserem Wagen und offenbar angeheitert. Und dann war da diese Frau mit einer Missbildung, einer großen Nase und ohne Kinn, und als sie zur Toilette ging, sagte ein Bursche: »Mein Gott, wie hässlich diese Frau ist.« Und Boone hat ihn in den nächsten Sitz geschubst und gesagt: »Hör mir gut zu! Eine hässliche Frau gibt es nicht.«

Das war seine Meinung.

Das war der Grund, warum er jede Nacht mit einer anderen Frau schlief, ohne sich darum zu kümmern, wie sie aussahen. Oder wie alt sie waren. Er musste sich allerhand sagen lassen, als man ihn mit dieser Fünfzehnjährigen erwischte. Ich glaube nicht, dass Toitovna je davon erfahren hat, sonst wäre es um seine Hoden geschehen gewesen, und Hunderte von Frauen hätten Not gelitten. Er fickte sie am liebsten in zweisitzigen Gleitfliegern, wobei die Frau auf ihm hockte, während er steuerte.

O Mann, einmal habe ich gesehen, wie er einen Gleiter aus einer Fallbö gerissen hat, die jeden anderen getötet hätte. Es war eine Scherströmumg, die das Flugzeug zerrissen hätte, hätte er versucht, sich zu widersetzen. Aber er ließ sich treiben, und der Gleiter fiel wie ein Stein mit tausend Metern in der Sekunde, der drei- oder vierfachen Endgeschwindigkeit. Und kurz vor dem Aufprall hat er ihn zur Seite gekippt und hochgezogen und in ungefähr zwanzig Metern eine Bumslandung gemacht. Er stieg mit blutender Nase und Ohren aus. Er war der beste Pilot auf dem Mars. Er konnte fliegen wie ein Engel. Die Ersten Hundert wären tot gewesen, wenn er sie nicht von Hand in die orbitale Bahn eingefädelt hätte. So hat man mir erzählt.

Es gab ein paar Leute, die ihn hassten. Und auch aus gutem Grund. Er hat verhindert, dass die Moschee auf Phobos fertiggebaut wurde. Und er konnte grausam sein, und ich habe nie einen arroganteren Menschen getroffen.

Wir waren auf Olympus Mons, und der ganze Himmel wurde schwarz.

Nun, noch vor dem Anfang ist der legendäre John Bunyan zum Mars gekommen und hat seinen blauen Ochsen Babe mitgebracht. Er zog herum, um sich nach Nutzholz umzusehen, und unter jedem Schritt zerbrach die Lava und hinterließ einen Canyon. Er war so groß, dass er beim Gehen in den Asteroidengürtel hinauflangen konnte, und er kaute diese Felsen wie Kirschen und spie die Kerne aus. Bums — gab es wieder einen Krater.

Und dann traf er auf den Großen Mann. Es war das erste Mal, dass Paul jemanden sah, der größer war als er selbst. Und ihr könnt mir glauben, dass der Große Mann ihn um zwei Größenordnungen übertraf. Aber das kümmerte Paul nicht. Als der Große Mann sagte: »Wir wollen einmal sehen, was du mit deiner Axt ausrichten kannst«, sagte Paul: »Sicher«, und traf den Planeten mit einem Schlag so hart, dass alle Sprünge im Mare Noctis auf einmal erschienen. Aber dann kratzte der Große Mann die gleiche Stelle mit seinem Zahnstocher, und das ganze Marineris-System klaffte auf. »Wir wollen es mit den bloßen Fäusten versuchen«, sagte Paul und landete einen rechten Haken auf der Südhemisphäre, und da war Argyre. Aber der Große Mann klopfte auf eine Stelle in der Nähe mit seinem kleinen Finger, und da war Hellas. »Versuche es mit Spucken«, schlug der Große Mann vor; und Paul spuckte, und Nirgal Vallis lief so lang wie der Mississippi dahin. Aber der Große Mann spuckte, und mit einemmal strömten alle großen Ausflußkanäle. »Versuche es mit Scheißen1.« sagte der Große Mann, und Paul hockte sich hin und stieß Ceraunius Tholus aus.

Aber der Große Mann reckte seinen Hintern, und da war das Elysium-Massiv, gleich rechts davon, heiß und dampfend. »Tu dein Äußerstes!« schlug der Große Mann vor. »Schleudere mich fort!« Und so packte ihn John Bunyan am Zeh, schwang seine ganze Körpermasse herum und ließ ihn so hart auf den Nordpol prallen, dass bis heute die ganze nördliche Hemisphäre eine Depression hat. Aber ohne auch nur aufzustehen, packte der Große Mann Paul am Fußgelenk, hob ihn mitsamt seinem blauen Ochsen in derselben Faust hoch und schleuderte sie beide direkt durch den Planeten hindurch und auf der anderen Seite fast wieder hinaus. Und das ist die Tharsis-Beule. Paul Bunyan ragt fast heraus — Ascraeus ist sein Zinken, Pavonis sein Steifer, und Arsia sind seine großen Zehen. Und Babe ist nebenan. Er hat Olympus Mons hochgedrückt. Der Stoß hat Babe und Paul Bunyan beide getötet. Und danach musste Paul sich geschlagen geben.

Aber seine eigenen Bakterien haben ihn natürlich gefressen und sind alle hinab auf das Urgestein und unier den Megaregolith überall hin gekrochen. Sie haben die Wärme des Mantels aufgesogen, die Sulfide verspeist und den Permafrost geschmolzen. Und jedes Mal, wenn sie da hinunterkamen, sagte jedes dieser kleinen Bakterien: »He! Ich bin Bunyan!«


Es ist eine Sache des Willens, sagte Frank Chalmers zu seinem Gesicht im Spiegel. Diese Phrase war der einzige Rest eines Traums, unter dem er aufgewacht war. Er rasierte sich mit raschen, entschlossenen Strichen. Er fühlte sich angespannt, voller Energie, die losgelassen werden wollte, bereit, an die Arbeit zu gehen. Noch ein Rest: Jeder, der will, gewinnt am meisten!

Er duschte, zog sich an, und trabte in den Speisesaal. Es war früh am Morgen. Die Sonne überflutete Isidis mit horizontalen Strahlen aus rotbronzenem Licht, und hoch am Osthimmel sahen Cirruswolken aus wie Kupferspäne.

Rashid Niazi, der syrische Repräsentant der Konferenz, kam vorbei und grüßte Chalmers mit einem kühlen Kopfnicken. Frank erwiderte es und ging weiter. Wegen Selim el-Hayil war der Ahad-Flügel der Muslimischen Bruderschaft für die Ermordung von Boone verantwortlich gemacht worden; und Chalmers hatte sie immer schnell und öffentlich vor all solchen Anschuldigungen verteidigt. Selim wäre ein Einzeltäter gewesen, wie er immer versicherte, ein wahnsinniger Mörder und Selbstmörder. Das unterstrich die Schuld der Ahads, forderte aber zugleich ihre Dankbarkeit heraus. Natürlich war Niazi, ein Anführer der Ahads, etwas frustriert.

Man kam in den Speisesaal, und Frank begrüßte sie herzlich. Er verbarg automatisch das Unbehagen, das er immer in ihrer Gegenwart empfand.

»Darf ich mich zu dir setzen?« fragte sie und sah ihn an.

»Natürlich.«

Maya pflegte vorauszuschauen, Frank konzentrierte sich auf den Augenblick. Sie plauderten. Das Thema des Vertrags kam auf, und Frank sagte: »Ich wünsche sehr, John wäre jetzt hier. Wir könnten ihn so nötig brauchen.« Und dann: »Er fehlt mir.«

Das lenkte Maya sofort ab. Sie legte ihre Hand über seine. Frank fühlte es kaum. Sie lächelte und hatte ihren fesselnden Blick voll auf ihn gerichtet. Er musste, ohne es zu wollen, wegschauen.

Die Fernsehwand zeigte den neuesten von der Erde hochgeschickten Block. Frank drückte auf die Tischkonsole und drehte den Ton auf. Die Erde war in einem üblen Zustand. Das Video zeigte einen massiven Protestmarsch in Manhattan. Die ganze Insel war gedrängt voll von einer Menge, die die Demonstranten auf zehn Millionen und die Polizei auf fünfhunderttausend bezifferte. Die Bilder vom Helikopter waren recht eindrucksvoll, aber es gab in diesen Tagen eine Menge Plätze, die, obwohl weniger spektakulär, viel gefährlicher waren. Bei den fortgeschrittenen Nationen marschierten die Leute gegen drakonische Gesetze für Geburtenkontrolle und Gesetze, die die Chinesen wie Anarchisten aussehen ließen; und die Jugend war in Wut und Missmut ausgebrochen, da sie fühlte, dass ihnen ihr Leben aus den Händen gerissen wurde durch eine große Anzahl alter widernatürlicher Untoter, durch die Geschichte selbst, die wieder lebendig geworden war. Das war gewiss schlimm. Aber in den Entwicklungsländern revoltierten die Menschen über die ›Ungleichheit beim Zugang‹ zu den Behandlungen, und das war noch viel schlimmer. Regierungen wurden gestürzt, Menschen starben zu Tausenden. In Wirklichkeit sollten diese Bilder von Manhattan wohl Zuversicht wecken: Alles ist noch in Ordnung! sagten sie. Leute, die sich zivil aufführten, sei es auch in zivilem Ungehorsam. Aber Mexiko City und Sao Paulo und New Delhi und Manila standen in Flammen.

Maya blickte auf den Schirm und las laut eines der Spruchbänder von Manhattan: SCHICKT DIE ALTEN ZUM MARS!

»Das ist der Kern eines Gesetzes, das jemand dem Kongress vorgelegt hat. Wenn man hundert Jahre erreicht, ist man weg, auf Pensionssatelliten, den Mond oder nach hier.«

»Speziell hier.«

»Vielleicht«, sagte er.

»Ich nehme an, das erklärt ihre Sturheit hinsichtlich Emigrationsquoten.«

Frank nickte. »Die werden wir nie bekommen. Sie stehen da unten unter zu großem Druck, und man sieht uns als eines der wenigen Sicherheitsventile. Hast du das Programm gesehen, das von Eurovid über all das freie Land auf dem Mars ausgestrahlt wurde?«

Maya schüttelte den Kopf. »Es war wie ein richtiges Immobilieninserat. Nein. Wenn die UN-Delegierten uns bei Emigration mitsprechen ließen, würden sie gekreuzigt werden.«

»Was sollen wir also machen?«

Er zuckte die Achseln. »In jedem Punkt auf dem alten Vertrag bestehen. So handeln, als sei jede Änderung das Ende der Welt.«

»Darum warst du also so verrückt wegen der Präambel.«

»Sicher. Das Zeug mag nicht ganz so wichtig sein, aber es geht uns wie den Briten bei Waterloo. Wenn wir in irgendeinem Punkt nachgeben, bricht die ganze Front zusammen.«

Sie lachte. Sie war mit ihm zufrieden. Sie bewunderte seine Strategie. Und das war eine gute Strategie, obwohl es nicht die war, die er verfolgte. Denn sie waren nicht wie die Briten bei Waterloo. Sie waren, wenn überhaupt, wie die Franzosen, die einen letzten Notangriff machten, den sie gewinnen müssten, um zu überleben. Und so war er sehr eifrig gewesen, in manchen Punkten bei dem Vertrag nachzugeben in der Hoffnung, vorwärtszukommen und das zu behalten, was er auf anderen Gebieten verlangte. Dazu gehörte sicherlich eine weitere Führungsrolle für das Amerikanische Marsministerium und seinen Minister. Schließlich brauchte er eine Ausgangsbasis, um zu arbeiten.

Also zuckte er die Achseln und ging über ihre Freude hinweg. Auf der Fernsehwand schwärmten die Volksmengen die großen Avenuen auf und ab. Er knirschte einige Male mit den Zähnen. »Wir sollten lieber wieder hingehen.«

Oben wälzten sich die Konferenzteilnehmer durch eine Folge langer großer Räume, die durch hohe Trennwände unterteilt waren. Sonnenlicht strömte aus den Versammmlungsälen im Osten in den großen Zentralraum und warf einen rötlichen Schimmer über den weißen Veloursteppich, die kantigen Sessel und den dunkel rosa Stein der langen Tischfläche. Gruppen von Leuten führten an den Wänden beiläufige Gespräche. Maya machte sich auf, um sich mit Samantha und Spencer zu besprechen. Sie drei waren jetzt die Anführer(innen) der Koalition ›Mars-zuerst‹ und waren in dieser Eigenschaft als nicht stimmberechtigte Repräsentanten der Mars-Bevölkerung zur Konferenz geladen worden: der Partei des Volkes, der Tribüne und der einzigen, die wirklich in ihre Positionen gewählt worden waren, obwohl nur unter stillschweigender Duldung von Helmut. Helmut gehörte fraglos selbstverständlich dazu. Er hatte Ann gestattet, ohne Stimmrecht als Repräsentantin der Roten teilzunehmen, obwohl sie sogar zur Koalition gehörten. Sax war da als Beobachter des Terraformungsteams, und jede Menge Bergbau- und Entwicklungsfunktionäre waren auch als Beobachter da. Es gab wirklich sehr viele Beobachter; aber die stimmberechtigten Teilnehmer durften als einzige an dem zentralen Tisch sitzen, wo Helmut jetzt eine kleine Glocke läutete. Dreiundfünfzig nationale Vertreter und achtzehn UN-Beamte nahmen ihre Plätze ein, und weitere hundert begaben sich in die östlichen Räume und verfolgten die Diskussion durch die offenen Portale oder auf kleinen Fernsehern. Jenseits der Fenster wimmelte es in Burroughs von Gestalten und Fahrzeugen, die sich in den Mesas mit transparenten Wänden bewegten und in den Zelten auf und zwischen den Mesas und in dem Netz klarer Verbindungsrohre, die auf dem Boden lagen oder sich durch die Luft schwangen, und in dem großen Zelt des Tales mit seinen breiten begrasten Boulevards und Kanälen. Eine kleine Metropolis.

Helmut rief die Sitzung zur Ordnung. In den östlichen Räumen drängten sich die Leute um die Fernseher. Frank schaute durch ein Portal in den ihm am nächsten gelegenen Ostraum. Derartige Räume würde es überall auf dem Mars und der Erde geben — zu Tausenden, mit Millionen Zuschauern. Zwei Welten sahen zu.

Auf der Tagesordnung standen, wie schon in den letzten zwei Wochen, Emigrationsquoten. China und Indien hatten einen gemeinsamen Vorschlag zu machen, den der Leiter des Indienministeriums stehend in seinem musikalischen Bombay-Englisch verlas. Von tarnendem Beiwerk entkleidet lief er natürlich auf ein Proportionalsystem hinaus. Chalmers schüttelte den Kopf. Indien und China stellten zwar vierzig Prozent der Weltbevölkerung, aber sie erhielten bei der Konferenz nur zwei von dreiundfünfzig Stimmen, und ihr Vorschlag würde nie angenommen werden. Der Brite in der europäischen Delegation stand auf und wies auf diesen Umstand hin, natürlich nicht in so vielen Worten. Es begann ein Gerangel. Das würde den ganzen Vormittag dauern. Der Mars war wirklich eine Beute, und die reichen und armen Nationen kämpften darum wie um alles andere. Die Reichen hatten das Geld, die Armen hatten die Menschen; und die Waffen waren recht gleichmäßig verteilt, besonders die neuen Virenträger, die ganze Kontinente entvölkern konnten. Ja, die Einsätze waren hoch, und die Lage befand sich in einer äußerst heiklen Balance. Die Armen erhoben sich vom Süden her und brandeten gegen die nördlichen Schranken aus Gesetz und Geld und reiner Militärmacht. Kanonenrohre starrten ihnen praktisch ins Gesicht. Aber es gab jetzt so viele Gesichter. Es schien, dass jeden Augenblick eine Menschenwelle explodieren könnte, bloß aus dem Expansionsdruck schierer Zahlenmäßigkeit. Angreifer drängten über die Barrikaden durch den Druck der Babies hinter ihnen und tobten für ihre Chance zur Unsterblichkeit.

Während der Frühstückspause, als noch nichts weiter erledigt war, erhob sich Frank aus seinem Sitz. Er hatte wenig von dem Gerangel gehört, aber er hatte nachgedacht, und auf der Schreibfläche seines Pultes stand ein rohes Schema. Geld, Menschen, Land, Waffen. Alte Gleichungen, alte Geschäfte. Aber er war nicht auf Originalität aus. Es war etwas, das funktionieren würde.

An dem langen Tisch selbst würde nichts passieren. Das war sicher. Jemand musste den Knoten durchhauen. Er stand auf und ging hinüber zu der indischen und chinesischen Delegation, einer Gruppe von ungefähr zehn Personen, die sich in einem für Kameras unzugänglichen Nebenzimmer besprachen. Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten lud er die zwei Anführer, Haravada und Sung, zu einem Spaziergang auf der Brücke des Observatoriums ein. Nach einem Wechsel von Blicken und kurzen Gesprächen in Mandarin und Hindi mit ihren Adjutanten stimmten sie zu.

Also gingen die drei Delegierten aus den Räumen und die Korridore hinab zur Brücke, einem starren Gehrohr, das an der Wand ihrer Mesa anfing und sich über das Tal und mit einem Bogen in den Hang einer kleineren Mesa im Süden mündete. Ihre Höhe gab der Brücke einen luftigen, fliegenden Eindruck. Nur sehr wenige Leute gingen ihre vier Kilometer entlang oder standen in der Mitte und nahmen die Ansicht von Burroughs in sich auf.

»Sehen Sie«, sagte Chalmers zu seinen Kollegen, »die Kosten der Emigration sind so hoch, dass Sie nie Ihre Bevölkerungsprobleme lösen werden, indem Sie die Menschen hierher umziehen lassen. Das wissen Sie. Und Sie haben schon viel mehr nutzbares Land daheim. Was Sie also vom Mars haben wollen, ist nicht Land, sondern es sind Rohstoffe oder Geld. Der Mars ist der Hebel, um zu Hause Ihren Anteil an Ressourcen zu bekommen. Sie hinken hinter dem Norden zurück, weil Ihre Ressourcen Ihnen in den Kolonialjahren ohne Bezahlung genommen wurden, und Sie sollten dafür jetzt Vergütung erhalten.«

»Ich fürchte, dass die Kolonialperiode eigentlich nie zu Ende gegangen ist«, sagte Haravada höflich.

Chalmers nickte. »Das ist das Wesen des transnationalen Kapitalismus. Wir alle sind jetzt Kolonien. Und auf uns hier wird ein furchtbarer Druck ausgeübt, den Vertrag zu ändern, so dass der Löwenanteil der Profite aus lokalem Bergbau zum Eigentum der Transnationalen wird. Die entwickelten Nationen empfinden das sehr stark.«

»Das wissen wir«, sagte Haravada und nickte.

»Okay. Und jetzt haben sie den Akzent auf proportionale Emigration gelegt, was ebenso logisch ist wie die Zuteilung von Gewinnen im Verhältnis zur Investition. Aber keiner dieser Vorschläge liegt in Ihrem wesentlichen Interesse. Die Emigration wäre für Sie ein Tropfen in einem Eimer, aber das Geld nicht. Inzwischen haben die entwickelten Nationen ein neues Bevölkerungsproblem. Darum wäre eine Chance für größeren Anteil an der Emigration willkommen. Und sie können das Geld sparen, das ohnehin größtenteils an die Transnationalen geht und frei vagabundierendes Kapital sein würde außerhalb jeder nationalen Kontrolle. Warum sollten die entwickelten Nationen Ihnen nicht mehr davon geben? Das käme ohnehin eigentlich nicht aus ihren Taschen.«

Sung nickte rasch und machte ein ernstes Gesicht. Vielleicht hatten sie diese Reaktion vorausgesehen und ihren Vorschlag gemacht, um sie anzuregen, und warteten nun, dass er seine Rolle spielte. Aber genau das machte es leichter. Sung fragte: »Glauben Sie, dass Ihre Regierungen einem solchen Handel zustimmen würden?«

»Ja«, sagte Chalmers. »Was ist es mehr, als dass Regierungen ihre Macht über die Transnationalen wieder festigen? Teilung der Profite ähnelt irgendwie Ihren alten Nationalisierungsbewegungen. Nur würden diesmal alle Länder davon profitieren. Internationalisierung, wenn Sie wollen.«

Hanavada bemerkte: »Es würde Investitionen durch die Korporationen beschneiden.«

»Was den Roten gefallen wird«, sagte Chalmers. »Besonders der Mars-zuerst-Gruppe.«

»Und Ihre Regierung?« fragte Hanavada.

»Das kann ich garantieren.« Tatsächlich würde die Administration ein Problem sein. Aber Frank würde sich darum kümmern, wenn die Zeit käme. Sie waren in diesen Tagen ein Haufen Handelskammerkinder, arrogant, aber stur. Wenn man ihnen sagte, die Alternative wäre ein Mars der Dritten Welt, ein chinesischer Mars, ein hinduistischer Mars, mit kleinen braunen Menschen und frei herumlaufenden heiligen Kühen in den Gehröhren, würden sie anrücken. Tatsächlich würden sie sich hinter seinen Knien verstecken und um Protektion winseln. Opa Chalmers, bitte rette mich vor der gelben Horde!

Er beobachtete, wie sich der Inder und der Chinese anschauten und sich ganz offen mit Blicken konsultierten. »Zum Teufel!« sagte er. »Das ist es doch, was Sie erhoffen, nicht wahr?«

Hanavada sagte: »Vielleicht sollten wir uns mit einigen Zahlen beschäftigen.«


Es erforderte einen großen Teil des nächsten Monats, den Kompromiss zustande zu bringen, da er eine ganze Reihe von zusätzlichen Kompromissen mit sich brachte, damit alle stimmberechtigten Delegationen ihn annahmen. Jeder nationale Abgeordnete musste einen Anteil bekommen, den er den Leuten zu Hause vorzeigen konnte. Und dann musste auch Washington überzeugt werden. Am Ende musste Frank über die Köpfe der Kleinen hinweg direkt zum Präsidenten gehen, der ein Geschäft wittern konnte, wenn man ihn mit der Nase darauf stieß. Also war Frank sehr beschäftigt und hatte fast sechzehn Stunden am Tage Sitzungen in seiner alten Weise, so sicher wie der Sonnenaufgang. Zuletzt waren transnationale Lobbyisten wie Andy Jahns der härteste Brocken, praktisch unmöglich zu knacken, da das Geschäft auf ihre Kosten ging und sie das wussten. Sie übten auf die Regierungen des Nordens und deren Gefälligkeitsflaggen jeden Druck aus, den sie kannten, und der war beträchtlich, wie die ärgerliche Reizbarkeit des Präsidenten zeigte und der Rücktritt von Singapore und Sofia von dem Abkommen. Aber Frank überzeugte den Präsidenten auch trotz der großen Entfernung und der tiefen psychologischen Schranke des Zeitschlupfes. Und er benutzte bei jeder anderen nördlichen Regierung die gleichen Argumente. Wenn ihr den Transnationalen nachgebt, pflegte er zu sagen, dann sind sie die wahre Regierung der Welt. Dies ist die Gelegenheit, eure und eurer Bevölkerung Interessen gegenüber jenen frei schwebenden Ansammlungen von Kapital zu sichern, die sehr nahe daran sind, die höchste Macht auf der Erde zu besitzen. Ihr müsst sie irgendwie im Zaum halten!

Und bei der UN bei jedem Beamten dort war es dasselbe. »Ihr oder sie?«

Dennoch war es sehr knapp. Die Druckmittel, welche die Transnationalen einsetzen konnten, waren erschreckend und boten ein eindrucksvolles Bild. Subarashii und Armscor und Shelalco waren jede größer als alle außer den zehn größten Ländern oder Freistaaten, und sie setzten wirklich ihre Mittel ein. Geld ist gleich Macht; Macht schafft das Gesetz; und Gesetz macht Regierung. Daher waren die nationalen Regierungen im Versuch, die Transnationalen zurückzuhalten, wie die Liliputaner, die versuchten, Gulliver festzubinden. Diese brauchten ein großes Netz dünner Fäden, die an jedem Millimeter der Peripherie im Boden angepflockt waren. Und als sich der Riese aufbäumte, um sich loszureißen und anfing, herumzustrampeln, mussten sie von der einen Seite zur anderen rennen, neue Leinen über das Ungeheuer werfen und neue kleine Pfähle einrammen. So musste Frank herumrennen und viertelstündliche Termine zum Einschlagen von Pfählen wahrnehmen — sechzehn Stunden am Tag.

Andy Jahns, einer der ältesten Kontaktpersonen Franks bei den Korporationen, nahm ihn eines Abends zum Essen mit. Natürlich war Andy auf Chalmers schlecht zu sprechen; aber er bemühte sich, das zu verbergen, da es ihm an diesem Abend darum ging, Frank eine leicht getarnte Bestechung vorzuschlagen, begleitet von kaum verschleierten Drohungen. Mit anderen Worten: »Business as usual«. Er bot Chalmers eine Position als Chef einer Stiftung an, die von dem Konsortium für den Transport von der Erde zum Mars gegründet werden sollte — den alten Luft- und Raumfahrtindustrien, in deren Taschen noch das alte Pentagondepot herumschwappte. Diese neue Stiftung sollte dem Konsortium helfen, Politik zu betreiben, und die UN in Angelegenheiten beraten, die mit dem Mars zu tun hatten. Er sollte diesen Posten übernehmen, sobald seine Amtszeit als Marsminister vorbei wäre, um jeden Anschein eines Interessenkonflikts zu vermeiden.

Chalmers sagte: »Das klingt wundervoll. Ich bin wirklich sehr interessiert.« Und im Laufe des Dinners überzeugte er Jahns, dass er es ernst meinte. Nicht nur hinsichtlich Übernahme der Stellung in der Stiftung, sondern mit sofortiger Arbeit für das Konsortium. Das bedeutete wirklich Arbeit; aber darin war er gut. Er konnte sehen, wie das Misstrauen Jahns langsam schwand, als die Zeit fortschritt. Die Schwäche von Geschäftsleuten war ihr Glaube, dass mit Geld alles machbar war. Sie arbeiteten vierzehn Stunden täglich, um genug davon zu verdienen, damit sie Wagen mit Lederausstattung kaufen konnten. Das hielten sie für eine sinnvolle Reaktion, um damit in Kasinos auftreten zu können. Kurzum — Idioten. Aber nützliche Idioten. »Ich werde tun, was ich kann«, versprach Chalmers energisch und skizzierte einige Strategien, mit denen er sogleich anfangen wollte. Mit den Chinesen über ihren Bedarf an Land sprechen, dem Kongress wieder die Idee eines fairen Ertrages von Investitionen nahe bringen. Gewiss! Hier und da Versprechungen machen, dann würde der Druck nachlassen, und inzwischen konnte die Arbeit weitergehen. Das war kein solcher Spaß, wie zweimal über einen Bach zu hüpfen.

Also kehrte er an den Konferenztisch zurück und machte weiter wie zuvor. Der Spaziergang auf der Brücke, wie er jetzt genannt wurde (andere nannten ihn den Chalmers-Trick), hatte aus der Sackgasse geführt. Der 6. Februar 2057 = Ls 144 wurde in der Geschichte der Diplomatie ein Datum, das rot angestrichen wurde. Jetzt kam es noch darauf an, jedem anderen ein Stück zu geben und die tatsächlichen Zahlen festzusetzen. Im Verlauf dieses Prozesses sprach Chalmers mit all den Beobachtern der Ersten Hundert dort, gab ihnen Zuversicht und sondierte ihre Ansichten.

Sax war, wie sich zeigte, verärgert über ihn, weil er dachte, dass das Terraformen erheblich verlangsamt werden würde, wenn die Transnationalen ihre Investitionen einstellten. Er sah bei allen neuen Unternehmen Wärme entstehen. Und Ann war ihm auch gram, weil ein neuer Vertrag auf Basis seines Tricks sowohl verstärkte Einwanderung als auch Investition zulassen würde; und sie und die Roten hatten immer auf einen Vertrag gehofft, der dem Mars den Status einer Art von Welt-Naturschutzpark geben sollte. Diese Realitätsfremdheit machte ihn rasend. »Ich habe euch gerade fünfzig Millionen chinesischer Immigranten erspart«, schrie er sie an, »und du hackst auf mich ein, weil ich es nicht geschafft habe, alle nach Hause zu schicken. Du meckerst, weil ich kein Wunder getan und diesen Felsen in einen heiligen Schrein verwandelt habe, gleich Tür an Tür mit einer Welt, die allmählich aussieht wie Calcutta an einem schlechten Tag. Ann, Ann, Ann! Was hättest du denn getan, außer herumzustolzieren und alles mieszumachen, was die Leute sagen, und alle zu überzeugen, dass du vom Mars kommst? Mein Gott, geh los und spiele mit deinen Steinen und überlaß die Politik den Leuten, die denken können!«

»Frank, erinnere dich daran, was Denken ist!« erwiderte sie gelassen. Irgendwie hatte er sie da für eine Sekunde zum Lächeln veranlasst, mitten in seiner Tirade. Aber sie funkelte ihn genauso wie früher an, ehe sie ging.

Aber Maya — nun Maya war mit ihm zufrieden. Er konnte ihren Blick fühlen, wenn er in den öffentlichen Versammlungen sprach. Millionen schauten zu, und er fühlte nur diesen Blick. Das ärgerte ihn. Sie war voller Bewunderung für den Spaziergang auf der Brücke, und er erzählte ihr nur das, was sie gern hören wollte über die Kompromisse, die er hinter der Bühne machte, um Zustimmung zu erzielen. Sie leistete ihm am Abend während der Cocktailstunde immer häufiger Gesellschaft. Sie ging auf ihn zu, sobald der erste Ansturm von Kritikern und Bittstellern abgeebbt war, stand an seiner Seite während der zweiten und dritten Wellen. Sie sah zu und erleichterte die Dinge mit ihrem Lachen und holte ihn von Zeit zu Zeit heraus durch den Hinweis, dass sie gehen müssten, um etwas zu essen. Dann pflegten sie in ein Terrassenrestaurant unter den Sternen zu gehen, zu essen und Kaffee zu trinken, über die orangefarbenen Fliesen und Dachgärten unter einem der großen Zelte oben auf einer Mesa Ausschau zu halten und die abendliche Brise genau so zu fühlen, als wären sie im Freien. Die Schar von Mars-zuerst hatte sich für diesen Plan entschieden, damit hatte er die meisten Hiesigen hinter sich und das Heimatbüro und damit wohl die zwei wichtigsten Einzelgruppen in dem ganzen Prozess, außer der transnationalen Führungsschicht, bei der er wenig ausrichten konnte. Es war also nur eine Sache der Zeit, bis er den Handel durchführen könnte. Manchmal, spät am Abend, wenn er etwas ihrem Reiz erlegen war, sprach er so. Wurde von ihr beruhigt. »Wir werden es unter uns schaffen«, pflegte er zu sagen, wenn er zu den Sternen am Himmel aufschaute, unfähig, ihren durchdringenden Blick zu ertragen.

Und eines Abends kam sie während der Cocktailparty immer wieder zu ihm zurück. Zusammen mit allen anderen sahen sie die Nachrichtenmeldungen der Erde über den Tagesverlauf und sahen wieder, wie verzerrt und verflacht sie wirkten, wie winzige Akteure in einer unverständlichen Seifen-Oper. Und dann brachen sie zusammen auf, speisten und gingen über die breiten Grasboulevards, bis sie zu seinem Zimmer in der Unterstadt kamen. Maya ging mit ihm hinein, ohne Erklärung oder Bemerkung, wie es ihre Art war. Es geschah einfach. Sie befand sich in seinem Zimmer und dann in seinen Armen und drückte ihn an sich. Sie lagen auf seinem Bett, und sie küsste ihn. Für Frank war das ein solcher Schock, dass er sich völlig von seinem Körper getrennt fühlte und sein Fleisch wie Gummi war. Das beunruhigte ihn, bis ihre schiere animalische Präsenz den Schock durchbrach, Körper zu Körper sprach, und er sie plötzlich wieder fühlen konnte. Die Sinnesempfindungen kehrten zurück, und er reagierte mit animalischer Intensität. Es hatte lange gedauert.

Danach stand sie auf, drapierte ein weißes Laken wie ein Cape um sich und holte sich ein Glas Wasser. »Mir gefällt es, wie du mit diesen Leuten umgehst«, sagte sie, wobei sie ihm den Rücken zukehrte. Sie trank das Glas aus und blickte über die Schulter mit ihrem alten Grinsen der Zuneigung und diesem offenem Blick — einem Blick, der so durchdringend schien wie Laserlicht, das ihn sezierte, so dass er sich plötzlich nicht nur nackt, sondern bloßgestellt fühlte. Er zog sich den Rest des Lakens über die Hüfte und hatte das Gefühl sich lächerlich gemacht zu haben. Sie würde sicher sehen, wie die Luft in seiner Lunge zu kaltem Wasser wurde, sein Magen sich verkrampfte und seine Füße erstarrten. Er zwinkerte und erwiderte ihr Lächeln. Er wusste, dass das ein schwaches und schiefes Lächeln war, aber es tröstete ihn, wenn er sein Gesicht wie eine steife Maske über seinem wirklichen Fleisch fühlte. Niemand konnte aus dem Gesichtsausdruck Emotionen genau erkennen, das war alles gelogen, ein Schwindel wie Handlesen oder Astrologie. Also war er sicher.

Aber nach dieser Nacht fing sie an, viel Zeit mit ihm zu verbringen, sowohl in der Öffentlichkeit wie privat. Sie begleitete ihn bei den Empfängen, die jeden Abend von dem einen oder anderen nationalen Büro gegeben wurden; sie saß neben ihm bei vielen Gruppenbanketten; sie befuhr mit ihm danach die raue See der Konversation, wenn sie sich die schlechten Nachrichten von der Erde ansahen, oder sie saß in der engen Gruppe der Ersten Hundert. Und sie ging mit ihm jeden Abend in sein Zimmer oder, was noch verwirrender war, nahm ihn mit in ihres.

Und das alles ohne jedes Anzeichen, was sie von ihm wollte. Er konnte nur vermuten, sie wüsste, dass sie nicht darüber sprechen musste. Dass es genügte, einfach bei ihm zu sein, dass er wissen würde, was sie wünschte, und sein Bestes tun würde, dies zu tun, ohne dass sie je ein Wort sagen müsste. Dass sie bekommen würde, was sie wollte. Natürlich war es unmöglich, dass sie all das ohne Grund täte. Das lag im Wesen der Macht. Wenn man sie besaß, war niemand wieder einfach bloß ein Freund oder ein Liebhaber. Unvermeidlicherweise begehrten alle Dinge, die man ihnen geben konnte, sei es auch nur das Prestige einer Freundschaft mit dem Mächtigen. Ein solches Prestige hatte Maya nicht nötig; aber sie wusste, was sie wollte. Und tat er das schließlich nicht auch? Er verärgerte einen großen Teil seiner Machtbasis und schmiedete an einem Vertrag, der niemandem außer einer Handvoll Ortsansässiger gefallen würde. Ja, sie bekam, was sie wollte. Und das alles ohne ein Wort, jedenfalls ohne ein direktes Wort. Nichts als Lob und Zuneigung.

Als er so in den endlosen Konferenzen der Ausschüsse sprach und sorgfältig die Formulierung jedes einzelnen Satzes in dem Vertrag durchpaukte und die Rolle eines James Madison vor diesem merkwürdigen Phantom einer konstitutionierenden Versammlung spielte, gingen Spencer und Samantha herum und halfen ihm, und Maya beobachtete ihn mit einem minimalen Lächeln, das nur ihm ihre Zustimmung und ihren Stolz auf ihn kundtat. Und dann, durch die Arbeit des Tages mit Energie geladen, wanderte er durch den abendlichen Empfang, und sie lachte ihn an und stand an seiner Seite und plauderte mit allen anderen als eine Art von Gefährtin. Und was für eine Gefährtin! Und bei Nacht überschüttete sie ihn mit Küssen, bis es unmöglich war, sich vorzustellen, dass sie ihn nicht liebte.

Dies war unerträglich. Dass es so einfach sein sollte, sogar die Leute zu täuschen, die einen am besten kannten … dass sie so stupide sein könnte … Es war schockierend, das deutlicher denn je zu erkennen. Wie versteckt ist doch die Wahrheit, dachte er, unter der phänomenologischen Maske. In Wirklichkeit waren alle die ganze Zeit Schauspieler, die ihre Video-Rollen spielten; und es gab keine Chance mehr, mit den wahren Persönlichkeiten in den anderen in Kontakt zu kommen. Im Laufe langer Jahre waren ihre Schalen verkrustet und die Personen drinnen atrophiert oder fortgewandert und verloren gegangen. Und jetzt waren sie alle hohl.

Oder vielleicht war es gerade bloß er. Weil sie so real schien! Ihr Lachen, ihr weißes Haar, ihre Leidenschaft — mein Gott! Ihre verschwitzte Haut und die Rippen darunter, Rippen, die unter seinen Fingern hin und her glitten wie die Latten einer Jalousie, Rippen, die sich im Paroxysmus des Orgasmus verhärteten. Ein wahres Selbst, musste das nicht so sein? Er konnte es sich kaum anders vorstellen. Ein wahres Selbst.

Aber er täuschte sich bitter. Eines Morgens erwachte er aus einem Traum über John. Es war vor ihrer gemeinsamen Zeit in der Raumstation, als sie jung gewesen waren. Nur waren sie in dem Traum alt gewesen, und John nicht gestorben und dennoch. Er sprach als ein Geist, wissend, dass er tot war und dass Frank ihn getötet hatte, aber auch all dessen bewusst, was seither geschehen war, und ganz frei von Ärger oder Vorwurf. Es war eben einfach passiert, so wie damals, als John den Auftrag zur Erstlandung erhalten oder ihm Maya auf der Ares weggenommen hatte. Zwischen ihnen war auf die eine oder andere Weise viel geschehen, aber sie waren immer noch Freunde, immer noch Brüder. Sie konnten miteinander reden, sie verstanden einander. Als Frank diesen Horror empfand, hatte er im Traum gestöhnt und versucht, sich in sich zurückzuziehen. Dann erwachte er. Es war warm, seine Haut war verschwitzt. Maya hatte sich mit wildem Haar aufgerichtet, ihre Brüste baumelten lose zwischen ihren Armen. »Was ist los?« sagte sie. »Fehlt dir was?«

»Nichts!« schrie er, stand auf und tapste ins Bad. Aber sie kam hinter ihm her und legte ihre Hände auf ihn. »Frank, was war das?«

»Nichts«, schrie er und riss sich unwillkürlich von ihr los. »Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?«

»Natürlich«, sagte sie gekränkt. Ein Wutanfall. »Natürlich kann ich das.« Und sie verließ das Bad.

»Natürlich kannst du das!« rief er ihr nach, plötzlich wütend über ihre Stupidität, dass sie ihn so schlecht kannte und so verwundbar war, wenn nun schon alles egal war. »Jetzt, wo du von mir bekommen hast, was du wolltest!«

»Was soll das heißen?« fragte sie und erschien wieder in der Tür des Bads, in ein Laken gewickelt.

»Du weißt, was ich meine«, sagte er grimmig. »Du hast doch vom Vertrag bekommen, was du wolltest, nicht wahr? Und das hättest du ohne mich nie erlangt.«

Sie stand mit den Händen auf den Hüften da und sah ihn an. Das Laken hing ihr locker um die Hüften, und sie sah aus wie diese legendäre französische Freiheitskämpferin, sehr schön und sehr gefährlich. Ihr Mund war ein schmaler Strich. Sie schüttelte missmutig den Kopf und ging weg. »Du hast nicht die geringste Ahnung«, sagte sie.

Er folgte ihr. »Was meinst du?«

Sie warf das Laken fort und stieg heftig in ihre Unterwäsche und zerrte sie über ihr Hinterteil. Während sie sich anzog, warf sie ihm kurze Sätze zu. »Du weißt überhaupt nichts davon, was andere Leute denken. Du weißt nicht einmal, was du selbst denkst. Was verlangst du selber von dem Vertrag? Du, Frank Chalmers? Du weißt es nicht. Es geht nur darum, was ich will, was Sax will, was Helmut will — was jeder von ihnen will. Du selbst hast gar keine Meinung. Was immer am einfachsten zu managen ist. Was immer dir am Ende die Führung lässt.

Und was Gefühle anbetrifft!« Sie war angekleidet und stand in der Tür. Sie blieb stehen, um ihn anzustarren. Ein Blick wie ein Blitzschlag. Er hatte dagestanden, zu verdutzt, um sich zu bewegen; und so stand er jetzt nackt vor ihr, der vollen Wucht ihres Zorns ausgesetzt. »Du hast überhaupt keine Gefühle. Ich habe es versucht, glaube mir, aber du …« Sie erbebte, offenbar außerstande, Worte zu finden, die hässlich genug waren, ihn zu beschreiben. Hohl, wollte er sagen. Leer. Und dennoch …

Sie ging hinaus.


Als sie dann den neuen Vertrag unterzeichneten, war Maya nicht an seiner Seite, nicht einmal in Burroughs. Das war in mancher Hinsicht wirklich eine Erleichterung. Aber dennoch konnte er nicht umhin, sich leer und kalt in der Brust zu fühlen. Und sicher wussten (mindestens) die anderen der Ersten Hundert, dass (wieder) etwas zwischen ihnen vorgefallen war. Und das war ärgerlich, wie er sich selbst sagte.

Sie unterzeichneten den Vertrag in dem gleichen Konferenzraum, in dem sie ihn ausgefochten hatten. Helmut machte mit einem breiten Lächeln die Honneurs, und die Delegierten kamen nacheinander heran, im Frack oder schwarzen Abendkleid, sprachen ein paar Worte für die Kameras und legten dann die Hand auf ›das Dokument‹ eine Geste, die nur Frank als bizarr archaisch zu empfinden schien wie das Einritzen von Hieroglyphen. Lächerlich! Als er an der Reihe war, sagte er etwas über eine erzielte Ausgewogenheit. Und genau das war es auch. Er hatte die konkurrierenden Interessen so disponiert, dass sie unter Winkeln zusammentrafen, die genau ihren Impuls ausglichen. Bei einem Verkehrsunfall wären auf diese Weise alle Fahrzeuge zu einer kompakten Masse zusammengestoßen. Das Ergebnis war der früheren Version des Vertrags gar nicht allzu unähnlich, indem sowohl Emigration wie Investitionen, die beiden Hauptmerkmale des Status quo (falls es auf dem Mars so etwas gab) größtenteils blockiert waren und zwar (das war der raffinierte Teil der Sache) sich gegenseitig blockierten. Das war eine gute Arbeit, und er unterzeichnete mit einem Schnörkel. Emphatisch erklärte er: »Für die Vereinigten Staaten von Amerika« und strahlte rundum alle an. Das würde sich im Fernsehen gut machen.

An der anschließenden Parade nahm er mit der kühlen Genugtuung einer gut erledigten Arbeit teil. Die Zelte mit Grasböden und die Gehröhren der Stadt waren voll Tausender Zuschauer; und die Parade schlängelte sich hindurch, hinab durch das große Zelt an der Kanalseite mit Abzweigungen in die Mesas und dann zurück und unter Beifallsrufen über jede Kanalbrücke und weiter hinauf zum Princess Park zu einer großen Straßenparty. Das Wetter war auf kühl und frisch eingestellt worden mit lebhaften Fallwinden. Spielzeugdrachen wetteiferten unter den Zeltdächern miteinander in hellen Farben vor dem dunkelroten Nachmittagshimmel.

Frank fand die Party im Park unbequem. Zu viele Leute beobachteten ihn, zu viele wollten sich ihm nähern und reden. Das brachte der Ruhm mit sich. Man musste zu den Leuten sprechen, wenn sie beisammen waren. Also machte er kehrt und ging wieder zu dem Zelt am Kanal hinauf.

Zwei parallele Reihen weißer Säulen flankierten den Kanal. Jede war im Bareißstil oben und unten halbkreisförmig, aber mit um 180 Grad gegeneinander versetzten Hemisphären. Durch diesen einfachen Trick entstanden Säulen, die völlig verschieden aussahen, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie anschaute. Und die beiden Reihen wirkten seltsam baufällig, als ob sie schon Ruinen wären, obwohl die Glätte und weiße Farbe ihrer von Diamantsplittern bedeckten Oberflächen diesen Eindruck Lügen straften. Sie erhoben sich aus dem Gras wie Zuckerwürfel und glänzten, als wären sie feucht.

Frank ging zwischen den Reihen entlang und berührte abwechselnd jede einzelne Säule. Über ihnen stiegen zu beiden Seiten die Talhänge zu den mit Fenstern besetzten Klippen von Mesas an. Hinter dem ungefärbten Glas dieser Steilwände war massenhaft Grünzeug zu sehen, so dass die Stadt von riesigen Terrarien eingefasst schien. Ein wirklich eleganter Ameisenbau. Der unter Zelten befindliche Teil des Talhanges war getüpfelt von Bäumen und Fliesendächern und von breiten begrasten Boulevards durchschnitten. Der nicht überdachte Teil war noch eine rote Steinflache. Eine große Anzahl von Gebäuden war gerade fertig gestellt worden oder noch im Bau. Überall ragten Kräne zu den Zeltdächern auf, eine Art seltsamer bunter Skulpturen. Es gab auch Dutzende von Bauten mit Gerüsten, so dass Helmut gesagt hatte, die von Zelten bedeckten Hänge erinnerten ihn an die Schweiz — kein Wunder, da die Konstruktion größtenteils von Schweizern stammte. »Sie rüsten ein Haus ein, auch wenn sie nur einen Blumenkasten ersetzen.«

Sax Russell stand am Fuß eines solchen eingerüsteten Bauwerks und sah kritisch daran empor. Frank machte kehrt, ging durch eine Röhre zu ihm und begrüßte ihn.

»Die haben doppelt so viel Stützen, als sie brauchen«, sagte Sax. »Vielleicht noch mehr.«

»Die Schweizer mögen das.«

Sax nickte. Sie starrten das Gebäude an.

»Nun, was meinst du?« sagte Frank.

»Der Vertrag? Er wird die Unterstützung für das Terraformen mindern«, sagte Sax. »Die Leute sind mehr geneigt zu investieren als zu geben.«

»Sax, nicht jede Investition ist gut fürs Terraformen, das musst du bedenken«, brummte Frank. »Eine Menge von jenem Geld wird für ganz andere Zwecke ausgegeben.«

»Aber siehst du, Terraformen ist ein Weg zur Reduzierung der Gesamtkosten. Ein gewisser Prozentsatz des gesamten Investments wird ihm immer gewidmet sein. Darum möchte ich das Ganze so hoch wie möglich haben.«

»Realer Nutzen kann nur mit realen Kosten errechnet werden«, erwiderte Frank. »Die Wirtschaftler der Erde hat das nie gekümmert; aber du bist Wissenschaftler und solltest es tun. Du musst sowohl den Schaden beurteilen, der durch höhere Bevölkerungszahlen und größere Aktivität entsteht, wie auch den damit einhergehenden Nutzen für das Terraformen. Man sollte lieber die Investitionen erhöhen, die reiner Terraformung dienen, als einen Kompromiss eingehen und einen prozentualen Anteil vom Ganzen nehmen, der in mancher Hinsicht gegen einen arbeitet.«

Sax blinzelte. »Frank, es ist komisch zu hören, wenn du nach den letzten vier Monaten gegen Kompromisse sprichst. Die Umweltkosten sind vernachlässigbar. Bei richtigem Management können sie größtenteils in Vorteile verwandelt werden. Man kann eine Ökonomie in Terrawatt oder Kilokalorien messen, wie John zu sagen pflegte. Und das ist Energie. Und Energie können wir hier in jeder Form gebrauchen, sogar als eine Menge von Körpern. Körper sind bloß mehr Arbeit, sehr anpassungsfähig und sehr energetisch.«

»Reale Kosten, Sax. Sie alle. Du versuchst immer noch, mit Ökonomie zu spielen. Aber die ist nicht wie Physik, sondern wie Politik. Stelle dir vor, was geschehen würde, wenn Millionen vertriebener Emigranten von der Erde hier einträfen mit all ihren biologischen und psychischen Viren. Vielleicht würden sie sich alle Arkady oder Ann anschließen. Hast du je daran gedacht? Epidemien, die Körper und Geist des Pöbels durchziehen, würden dein ganzes System zusammenbrechen lassen. Schau, hat nicht die Acherongruppe versucht, dich Biologie zu lehren? Du solltest aufpassen! Das ist keine Mechanik, Sax. Es ist Ökologie. Und es ist eine gebrechliche, gesteuerte Ökologie, darum muss sie gelenkt werden.«

»Vielleicht«, sagte Sax. Diese Phrase war eine Manier von John. Frank entging eine Minute lang das, was Sax sagte. Dann war seine Aufmerksamkeit wieder gebannt.

»… dieser Vertrag wird auf keinen Fall einen so großen Unterschied machen. Die Transnationalen, die investieren wollen, werden einen Weg finden. Sie werden eine neue Flagge der Gefälligkeit schaffen, und es wird so aussehen, als ob ein Land hier seinen Claim absteckt, genau nach den Quoten des Vertrages. Aber dahinter wird transnationales Kapital stehen. Frank, es werden allerhand Sachen dieser Art passieren. Du weißt, wie es ist. Politik, nicht wahr?«

»Vielleicht«, sagte Frank mürrisch und ärgerlich. Er ging weg.


Später befand er sich in einem höher im Tal gelegenen Distrikt, der noch im Bau befindlich war. Die Gerüste waren extrem, wie Sax gesagt hatte, speziell für Marsschwere. Manche sahen aus, als ob sie schwer abzumontieren sein würden. Er wandte sich um und schaute über das Tal. Die Stadt war schön platziert. Das stand außer Diskussion. Die zwei Seiten des Tales brachten es mit sich, dass von jeder Stelle aus eine Menge zu sehen war. Überall in der Stadt würde man eine Aussicht haben.

Plötzlich piepte sein Armband, und er antwortete. Es war Ann. »Was willst du?« knurrte er. »Ich nehme an, du denkst, dass ich auch dich verhökert habe. Die Horden hereingelassen, die deinen Spielplatz überrennen.«

Sie machte eine Grimasse. »Nein. Du hast das Beste getan, das angesichts der Lage möglich war. Das wollte ich sagen.« Sie schaltete ab, und sein Handschirm wurde leer.

»Großartig!« sagte er laut. »Alle Leute auf zwei Welten sind jetzt auf mich wütend außer Ann Clayborne.« Er lachte bitter und ging weiter.

Wieder unten am Kanal und bei den Reihen von Bareißsäulen. Salzsäulen wie die Frau von Lot. Über die Rasenflächen waren Gruppen feiernder Menschen verteilt, und im Licht des späten Nachmittags warfen sie lange Schatten. Der Anblick wirkte etwas unheimlich, und Frank wandte sich ab, unentschieden wohin. Er liebte nicht den Nachhall der Ereignisse. Alles schien beendet, fertig, sinnlos zu sein. So ging es ihm immer.

Eine Gruppe Terraner stand unter einem der üppigeren neuen Geschäftshäuser im Niederdorf-Zelt. Andy Jahns befand sich unter ihnen.

Wenn Ann erfreut war, müsste Andy wütend sein. Frank ging zu ihm. Er wollte das erleben.

Andy sah ihn, und sein Gesicht entspannte sich für einen Moment. Er sagte: »Frank Chalmers, was bringt dich hier herunter?«

Sein Ton war liebenswürdig, aber seine Augen waren nicht heiter, sondern sogar kalt. Jawohl, er war ärgerlich. Frank fühlte sich sofort wohler und sagte: »Ich gehe bloß so umher, Andy, um das Blut wieder in Gang zu bringen. Was macht ihr so?«

Jahns sagte nach ganz kurzem Zögern: »Wir sehen uns nach Büroraum um.«

Er beobachtete, wie Frank verdaute, was das zu bedeuten hatte. Sein Lächeln wurde freundlicher. Er fuhr fort: »Das sind Freunde von mir aus Äthiopien, aus Addis Abeba. Wir gedenken, unser Stammbüro nächstes Jahr hierher zu verlegen. Und so …« Sein Lächeln wurde breiter, ohne Zweifel als Reaktion auf Franks Miene, die sich, wie dieser fühlte, auf seinem Gesicht verhärtete. »Und so haben wir eine Menge zu besprechen.«


Al-Qahira ist der arabische Name für Mars, ebenso auf malaiisch und indonesisch. Diese zwei Sprachen haben ihn von der erstgenannten übernommen. Man nehme einen Globus und sehe sich an, wie weit sich die Religion der Araber ausgebreitet hat. Die ganze Mitte der Welt, von Westafrika bis zum Westpazifik. Und das meiste davon in einem einzigen Jahrhundert. O ja, das war zu seiner Zeit ein Imperium; und es hatte wie alle Imperien nach seinem Tod ein langes Nachleben.

Die außerhalb von Arabien lebenden Araber nennt man Mahdschari, und diejenigen, die auf den Mars kamen, sind die Mahdscharis von Qahira (wörtlich: die Kairo-Vorstädter). Als eine große Anzahl von ihnen auf dem Mars angekommen war, begannen sie durch Vastitas Borealis (die nördliche Badija = Wüste) und die Große Böschung zu wandern. Das waren meistens arabische Beduinen, und sie reisten in Karawanen, in einer absichtlichen Neuschöpfung eines Lebens, das auf der Erde verschwunden war. Leute, die ihr ganzes Leben in Städten verbracht hatten, kamen zum Mars und zogen in Rovern und Zelten herum. Als Vorwand für ihr unablässiges Wandern diente auch die Suche nach Metallen, die Areologie und der Handel; aber offenbar war die Hauptsache das Reisen, das Leben selbst.

Frank Chalmers kam zur Karawane des alten Zeyk Tuqan einen Monat, nachdem der Vertrag unterzeichnet worden war, im nördlichen Herbst des M-Jahres 15 (Juli 2057). Er zog lange Zeit mit dieser Karawane über die zerrissenen Hänge der Großen Böschung. Er verbesserte seine arabischen Sprachkenntnisse, half bei ihren Minenarbeiten und machte meteorologische Beobachtungen. Die Karawane bestand aus wirklichen Beduinen aus Awlad ’Ali, der Westküste Ägyptens. Die hatten nördlich des Gebietes gelebt, welches die ägyptische Regierung das Neue Talprojekt genannt hatte, als bei der Suche nach Öl ein Wasserlager entdeckt wurde, dessen Umfang der vorn Nil in tausend Jahren geführten Wassermenge entsprach. Schon vor der Entdeckung der gerontologischen Behandlung war in Ägypten die Bevölkerungslage angespannt gewesen. Bei sechsundneunzig Prozent Wüstenland und neunundneunzig Prozent der Bevölkerung im Niltal war es unvermeidlich, dass die ins Neue Talprojekt umgesiedelten Horden die Beduinen und ihre völlig andere Kultur überwältigen würden. Die Beduinen wollten sich nicht einmal als Ägypter bezeichnen und verachteten die Nil-Ägypter als rückgratlos und unmoralisch. Aber das hinderte die Ägypter nicht daran, von Norden her aus dem Neuen Talprojekt nach Awlad ’Ali einzuströmen. Beduinen in den anderen arabischen Ländern hatten für diese überwältigten Außenposten ihrer Kultur Partei ergriffen. Und als das Arabische Commonwealth ein Marsprogramm startete und Platz auf der ständigen zwischen Erde und Mars pendelnden Flotte kaufte, bat es Ägypten, seinen westlichen Beduinen den Vorzug zu geben. Die ägyptische Regierung war nur allzu froh gewesen zuzustimmen und so die Region von ihrer lästigen Minorität zu säubern. So waren sie nun hier, Beduinen auf dem Mars, und zogen durch die den Planeten umspannende nördliche Wüste.


Die Wetterbeobachtungen stachelten Franks Interesse an Klimatologie an, wie es noch kein Wissenschaftler mit seinen Worten hatte tun können. Das Wetter auf der Böschung war oft rau, mit katabatischen Winden, die nach unten bliesen und mit den Monsunen der Syrte zusammenstießen und so große, schnelle rote Tornados oder Kieshagelschläge erzeugten. Gewöhnlich betrug der Luftdruck im Sommer um 130 Millibar, bei einer Mischung aus rund achtzig Prozent Kohlendioxid und zehn Prozent Sauerstoff, wobei der Rest meistens Stickstoff aus den neuen Pflanzen war, die Stickstoff produzierten. Es war noch nicht klar, ob diese das CO2 mit Sauerstoff und den anderen Gasen übertreffen würden; aber Sax schien bisher mit ihrem Fortschritt zufrieden zu sein. An einem windigen Tage auf der Böschung war es gewiss deutlich, dass die Luft dichter wurde. Sie fühlte sich gewichtiger an, streute schweren Sand und verdunkelte die Nachmittage zur Farbe eines Skarabäus. Und bei stärksten Stürmen konnten die Böen einen leicht umwerfen. Frank stoppte eine katabatische Bö mit vierhundert Kilometern in der Stunde. Es war ein Glück, dass alle sich in den Rovern befanden, als ein solch harter Windstoß eintrat.


Die Karawane war ein mobiles Bergwerksunternehmen. Metalle und erzhaltige Minerale wurden auf dem Mars überall und in allen Konzentrationen entdeckt; aber als Besonderheit fanden die arabischen Prospektoren heraus, dass eine Menge Sulfide auf der Großen Böschung und den Ebenen unmittelbar darunter sehr dünn verteilt waren. Die meisten dieser Lagerstätten wiesen Konzentrationen und Gesamtmengen auf, die die Anwendung konventioneller Montanverfahren nicht rechtfertigen würden. Darum beschäftigten sich die Araber in Pionierfunktion mit neuen Extraktions- und Verarbeitungsmethoden. Sie hatten eine Kolonne mobilen Geräts gebaut, wobei sie Baufahrzeuge und Mutungsrover ihren Zwecken entsprechend umkonstruiert hatten. Dabei kamen große, segmentierte Maschinen zustande, die ganz ähnlich wie Insekten aussahen. Sie wirkten wie Geschöpfe aus dem Alptraum eines Lastwagenmechanikers. Diese Kreaturen wanderten in lockeren Karawanen über die Große Böschung und suchten nach diffus an der Oberfläche verteilten Schichten von Kupferlagern, vorzugsweise solchen mit hohem Gehalt an Tetrahedrit oder Chalkozit, so dass sie als Nebenprodukt zum Kupfer auch noch Silber gewinnen konnten. Hatten sie eine derartige Stelle gefunden, hielten sie an, um — wie sie sagten — ans Ernten zu gehen.

Während sie das taten, fuhren Mutungsrover auf der Böschung voraus in Expeditionen von einer Woche oder zehn Tagen. Dabei folgten sie den alten Strömen und Spalten. Als Frank angekommen war, hatte Zeyk ihn begrüßt und ihm freigestellt zu tun, was immer er möchte. Also übernahm Frank einen Mutungsrover und fuhr mit ihm auf Solo-Expeditionen. Er pflegte draußen eine Woche zu verbringen, trödelte herum mit automatischer Suche, las den Seismographen, Sonden und Wetterinstrumente ab, machte gelegentlich eine Bohrung und beobachtete die Himmelserscheinungen.

Überall in beiden Welten sahen Beduinensiedlungen von außen schäbig aus. Bei abgebauten Zeltkuppeln boten sie ein Bild ohne Fenster mit dicken Wänden, als ob sie ständig nach vorn geneigt wären, um sich vor der Hitze der Wüste zu schützen. Erst wenn man hineinging, sah man, was alles geschützt war — die Höfe, Gärten, Fontänen, Vögel, Treppen, Spiegel und Arabesken.

Die Große Böschung war ein seltsames Land, in nordsüdlicher Richtung durchzogen von Canyonsystemen, entstellt durch alte Krater, überflutet von Lava, zerteilt in Buckel, Karstplateaus, Mesas und Grate, und das alles auf einem steilen Abhang, so dass man von jedem Felsblock oder Hügel bis weit nach Norden hinunterschauen konnte. In seinen einsamen Reisetagen überließ Frank dem Mutungsprogramm die meisten Entscheidungen und ließ das Land an sich vorbeiziehen: still, riesig, zerrissen wie die tote Vergangenheit selbst. Die Tage vergingen, und die Schatten drehten sich. Am Morgen wirbelten die Winde den Hang empor und in den späten Nachmittagen abwärts. Wolken drängten sich am Himmel, von niedrigen Nebelklumpen, die über die Felsen hüpften, bis zu hohen Cirrusfetzen und gelegentlichen Gewitterköpfen, die die ganze Distanz überspannten, solide Wolkenmassen von siebentausend Metern Höhe.

Gelegentlich schaltete er das Fernsehen ein und verfolgte den arabischen Nachrichtenkanal. Manchmal in morgendlicher Stille schimpfte er darüber. Ein Teil von ihm war ärgerlich über die Stupidität der Medien und der von ihnen verkauften Ereignisse. Die Dummheit der menschlichen Rasse, die sich darin tummelte. Nur erschien die überwältigende Masse der Menschheit nie im Fernsehen, nicht einmal im Leben, nicht einmal in den Szenen, wo eine Kamera über den Pöbel schwenkte. Dort lebten die Terraner immer noch in enormen Regionen, wo Dorfleben sich dahinschleppte, wie es immer gewesen war. Vielleicht war das eine von alten Weibern und Schamanen vertretene Weisheit. Vielleicht. Aber es war schwer zu glauben, denn man sah, was geschah, wenn sie sich in Städten sammelten. Idioten auf Video, Geschichte im Entstehen. »Man kann sagen, dass die Verlängerung menschlichen Lebens definitionsgemäß eine große Wohltat ist.« So etwas reizte ihn zum Lachen. »Hast du noch nie von Sekundäreffekten gehört, du Mistvieh?«

Eines Abends sah er einen Bericht über die Düngung des Antarktischen Ozeans mit Eisenstaub, der als zusätzliche Nahrung für Phytoplankton dienen sollte, eine Population, die ohne klaren Grund alarmierend abnahm. Der Eisenstaub wurde aus Flugzeugen abgeworfen. Es sah aus, als ob sie eine Art von Feuer unter dem Meeresspiegel bekämpften. Das Projekt würde jährlich zehn Milliarden Dollar kosten und müsste auf immer fortgesetzt werden; aber man hatte berechnet, dass um den Preis eines Jahrhunderts Düngung die globale Konzentration von Kohlendioxid um fünfzehn Prozent plus oder minus zehn Prozent herabsetzen würde; und angesichts der ständigen Erwärmung und entsprechenden Bedrohung der Küstenstädte, geschweige denn des Todes der meisten Korallenriffe der Welt, hatte man befunden, dass das Projekt soviel wert wäre. »Ann wird sich darüber freuen«, knurrte Frank. »Jetzt wird die Erde terrageformt.«

Bei jedem Stimmausbruch löste sich ein Knoten in seiner Brust. Er wurde sich bewusst, dass ihn niemand beobachtete und niemand zuhörte. Die winzige imaginäre Zuhörerschaft in seinem Kopf existierte nicht. Niemand verfolgt die Filme unseres Lebens. Kein Freund oder Feind würde je erfahren, was er hier machte. Er konnte tun, was immer ihm gefiel. Die Normalität sei verflucht. Offenbar war es dies, wonach er sich gesehnt und was er instinktiv gesucht hatte. Er konnte losgehen und den ganzen Nachmittag Steine von der Seite eines Karstes hinuntertreten; oder schreien; oder Aphorismen in den Sand schreiben; oder Schmähungen gegen die Monde ausstoßen, die über den Südhimmel torkelten. Er konnte sich über Mahlzeiten beschweren oder das Fernsehen beschimpfen; er konnte Gespräche mit seinen Eltern oder verlorenen Freunden führen, mit dem Präsidenten oder John oder Maya. Er konnte lange weitschweifige Einträge in sein Notizbuch machen: Teile einer soziobiologischen Weltgeschichte, ein Journal, eine philosophische Abhandlung, einen pornographischen Roman (er konnte masturbieren), eine Analyse der arabischen Kultur und ihrer Geschichte. Er tat all dies, und wenn er und sein Prospektor zu den Karawanen zurückrollten, fühlte er sich wohler, leerer, ruhiger. Eigentlich eher hohl. Wie die Japaner hilfreich gesagt hatten: »Leben ist, wenn du schon tot bist.«


Aber die Japaner waren fremdartig. Und das Leben mit den Arabern schärfte seinen Sinn dafür, wie fremdartig auch diese waren. Gewiss waren sie ein Teil der Menschheit des einundzwanzigsten Jahrhunderts, eingesponnen wie jeder andere auch in eine Schutzhülle aus Technik in jedem Moment ihres Lebens und eifrig damit beschäftigt, die Filme ihres Lebens zu drehen und anzuschauen. Aber dennoch beteten sie drei- bis sechsmal am Tag, verbeugten sich bis zum Boden, wenn es der Morgen- oder Abendstern war. Und der Grund dafür, weshalb ihre Techno-Karawanen ihnen eine so große und auffällige Freude machten, lag darin, dass diese Karawanen eine äußere Manifestation dieser Hinwendung der modernen Welt zu ihren alten Zielen waren. Zeyk pflegte zu sagen: »Die Aufgabe des Menschen ist die Verwirklichung von Gottes Willen in der Geschichte. Wir können die Welt auf Weisen verändern, die helfen, den göttlichen Plan zu aktualisieren. Das ist immer unsere Art gewesen. Der Islam sagt, dass die Wüste nicht Wüste bleibt und der Berg nicht Berg. Die Welt muss nach dem göttlichen Plan umgeformt werden, und das ist es, was im Islam Geschichte bedeutet. Al-Qahira stellt uns die gleiche Herausforderung wie die alte Welt, nur in reinerer Form.« So sprach er zu Frank, wenn sie in seinem Rover in der Runde saßen, in seiner kleinen Residenz. Diese Familienrover waren zu privaten Reservaten geworden, zu Räumen, in die Frank selten eingeladen wurde, und dann nur von Zeyk. Bei jedem Besuch war er von neuem überrascht. Von außen war der Rover unauffällig: groß, mit verdunkelten Fenstern, einer von mehreren, die zusammen geparkt waren mit Gehröhren dazwischen. Aber dann duckte man sich durch eine Tür nach innen und trat in einen Raum, der erfüllt war von Sonnenlicht, das durch Oberlichtfenster strömte, Sofas und prächtige Teppiche beleuchtete, geflieste Fußböden, Pflanzen mit grünen Blättern, Schalen mit Obst, ein Fenster mit der Ansicht des Mars, gefärbt und gerahmt wie ein Foto, niedrige Liegen, silberne Kaffeekannen, Computerkonsolen mit Intarsien aus Teakholz und Mahagoni, fließendes Wasser in Becken und Springbrunnen. Eine kühle feuchte Welt, grün und weiß, intim und klein. Wenn Frank sich umschaute, hatte er den Eindruck, dass es solche Räume schon seit Jahrhunderten gegeben hatte und dass die Kammer sofort als das, was sie war, erkannt werden würde von Menschen, die im zehnten Jahrhundert in leeren Regionen gelebt hatten oder im nördlichen Asien im zwölften.

Zeyks Einladungen kamen oft am Nachmittag, wenn sich in seinem Rover eine Gruppe von Männern zu Kaffee und Gespräch zusammenfand. Frank saß an seinem Platz nahe Zeyk, schlürfte seinen trüben Kaffee und hörte dem Arabischen zu mit aller Aufmerksamkeit, die er aufbringen konnte. Es war eine schöne Sprache, musikalisch und sehr metaphorisch, so dass alle ihre moderne Terminologie von Bildern aus der Wüste widerhallte wegen der Bedeutung der Stammwurzeln aller neuen Wörter, die wie die meisten ihrer abstrakten Ausdrücke konkreten physischen Ursprung hatten. Arabisch war wie Griechisch von Alters her eine wissenschaftliche Sprache gewesen; und es ergaben sich viele überraschende Verwandtschaften mit dem Englischen, auch in der organischen und kompakten Natur des Wortschatzes.

Die Gespräche plätscherten so dahin. Sie wurden aber geleitet von Zeyk und den anderen Senioren, die von den jüngeren Männern in einer Weise geachtet wurden, die Frank unglaublich erschien. Oft wurde die Konversation für ihn zu einer deutlichen Lektion über beduinische Lebensweise, was ihm ermöglichte, zu nicken und Fragen zu stellen und gelegentlich auch Bemerkungen oder Kritik anzubringen. Zeyk sagte: »Wenn es in einer Gesellschaft einen stark konservativen Zug gibt, der sich von dem progressiven Teil absondert, kommt es zu Bürgerkriegen der schlimmsten Art. Wie zum Beispiel bei dem Konflikt in Columbien, den man La Violencia genannt hat. Ein Bürgerkrieg, der zum völligen Zusammenbruch des Staates führte, einem Chaos, das niemand verstehen, geschweige denn kontrollieren konnte.«

»Oder wie Beirut«, sagte Frank arglos.

»Nein, nein« erwiderte Zeyk lächelnd. »Beirut war viel komplexer. Das war nicht nur Bürgerkrieg, sondern auch eine Anzahl äußerer Kriege, die da mitspielten. Es war nicht nur eine Sache sozialer oder religiöser Konservativer, die sich vom normalen Fortgang der Kultur absonderten, wie in Columbien oder im Spanischen Bürgerkrieg.«

»Gesprochen wie ein echter Konservativer.«

»Alle Mahdscharis von Al-Qahira sind definitionsgemäß progressiv, sonst wären wir nicht hier. Aber der Islam hat Bürgerkriege dadurch vermieden, dass er ein Ganzes geblieben ist. Wir haben eine kohärente Kultur, so dass die Araber hier immer noch fromm sind. Das verstehen auch die konservativsten Elemente in der Heimat. Wir werden nie Bürgerkriege erleben, weil wir durch unseren Glauben geeint sind.«

Frank drückte nur durch seine Miene die Tatsache der schiitischen Häresie aus, neben vielen anderen islamischen ›Bürgerkriegen‹ Zeyk verstand ihn, ignorierte das aber und fuhr fort: »Wir alle bewegen uns durch die Geschichte fort, eine lockere Karawane. Man könnte sagen, dass wir hier auf Al-Qahira wie einer unserer prospektierenden Rover sind. Und du weißt, was für ein Vergnügen es ist, in einem solchen zu sein.«

»So …« Frank dachte angestrengt nach, wie er seine Frage formulieren sollte. Seine mangelnde Erfahrung mit dem Arabischen würde ihm nur einen gewissen Spielraum geben, ehe sie beleidigt wären. »Gibt es im Islam wirklich den Begriff des sozialen Fortschritts?«

»Oh, gewiss!« Mehrere hatten das bejaht und nickten. Zeyk sagte: »Ist das nicht deine Ansicht?«

»Nun …« Frank gab es auf. Es gab immer noch keine einzige arabische Demokratie. Es war eine hierarchische Kultur mit hoher Wertschätzung von Ehre und Freiheit; und für diejenigen, die in der Hierarchie weit unten standen, waren Ehre und Freiheit nur durch Ergebenheit erreichbar. Was das System stärkte und stabil hielt. Aber was konnte er sagen?

Ein anderer Mann sagte: »Die Zerstörung von Beirut war eine Katastrophe für die fortgeschrittene arabische Kultur. Beirut war die Stadt, wohin Intellektuelle, Künstler und Radikale gingen, wenn sie von ihren lokalen Regierungen angegriffen wurden. Alle nationalen Regierungen hassten das panarabische Ideal; aber es ist eine Tatsache, dass wir seit etlichen Jahrhunderten eine einzige Sprache sprechen, und Sprache ist ein mächtiges Bindemittel der Kultur. Zusammen mit dem Islam macht sie uns wirklich zu einem Ganzen, trotz der politischen Grenzen. Beirut war immer der Ort, um diese Position zu bestätigen; und als die Israelis es zerstört hatten, wurde diese Bestätigung schwieriger. Die Zerstörung war darauf abgestellt, uns zu zersplittern, und das gelang. Also fangen wir von vorn an.« Und das war ihr sozialer Fortschritt.


Die flächenhafte Kupferlagerstätte, die sie abgeschürft hatten, wurde leer, und es war Zeit für eine weitere rahla, die Bewegung der hidschra zu einer neuen Stätte. Sie fuhren zwei Tage lang und kamen zu einer anderen Flächenablagerung, die Frank gefunden hatte. Frank selbst zog wieder zu einer neuen Mutungsreise los.

Er saß tagelang im Fahrersitz, die Füße auf dem Armaturenbrett, und sah das Land vorbeiziehen. Sie waren in einem Gebiet von thulmas oder kleinen Rippen, die parallel bergab verliefen. Er stellte das Fernsehen überhaupt nicht mehr an. Er musste über vieles nachdenken. »Die Araber glauben nicht an so etwas wie Erbsünde«, schrieb er in sein Notizbuch. »Sie glauben, dass der Mensch unschuldig und der Tod eine natürliche Sache ist. Es gibt weder Himmel noch Hölle, sondern nur Lohn und Strafe, welche die Form dieses Lebens annehmen und wie es gelebt wurde. Das ist sozusagen eine humanistische Korrektur von Judentum und Christenrum. Obwohl sie es in einem anderen Sinne stets abgelehnt haben, die Verantwortung für ihr Schicksal zu tragen. Es ist immer Allahs Wille. Ich verstehe diesen Widerspruch nicht. Aber jetzt sind sie hier. Und die Mahdscharis sind immer ein intimer Teil arabischer Kultur gewesen, oft an führender Stelle. Die arabische Dichtkunst ist im zwanzigsten Jahrhundert wiederbelebt worden von Poeten, die in New York oder Lateinamerika gelebt haben. Vielleicht wird es hier das gleiche sein. Es ist überraschend, wie sehr ihre Sicht der Geschichte dem entspricht, was Boone geglaubt hat. Ich glaube nicht, dass ich beides verstanden habe. Nur wenige Leute bemühen sich überhaupt herauszufinden, was andere Menschen wirklich denken. Sie sind bereit, alles zu akzeptieren, was man ihnen über jemanden erzählt, der hinreichend weit entfernt ist.«

Er stieß auf Porphyrkupfer, ungewöhnlich dicht und auch mit hohen Konzentrationen an Silber. Das würde willkommen sein. Kupfer und Silber waren beide auf der Erde recht knappe Metalle. Aber Silber wurde in großen Mengen von einer großen Anzahl Industrien gebraucht, denen die Ressourcen allmählich ausgingen. Und hier gab es mehr davon, direkt auf der Oberfläche in guten Konzentrationen. Natürlich nicht so viel wie in Silver Mountain auf dem Elysium-Massiv; aber den Arabern würde das nichts ausmachen. Man erntete es ab und würde dann weiterziehen.

Er zog selbst weiter. Die Tage vergingen, die Schatten drehten sich. Der Wind wehte den Abhang hinab, hinauf, hinab und wieder hinauf. Wolken bildeten sich, und Stürme brachen los. Manchmal war der Himmel geschmückt mit Eisbögen und Nebensonnen und Windhosen aus Hagel, die wie Glimmer im rosa Sonnenlicht schimmerten. Manchmal sah er eine der luftgebremsten ständigen Fähren wie einen Meteor gleichmäßig über den Himmel ziehen. An einem klaren Morgen erblickte er Elysium Montes, die über den Horizont wie ein schwarzer Himalaya aufragten. Durch eine Inversionsschicht in der Atmosphäre war die Sicht bis tausend Kilometer über den Horizont gekrümmt worden. Er hielt an und schaltete das Tagebuch aus wie vorher schon den Fernseher. Wind packte den Sand und schleuderte ihn in Wolken gegen den Rover. Khala, das leere Land.


Aber dann begannen ihn Träume zu plagen, Träume der Erinnerung, die so intensiv, voll’ und korrekt waren, als ob er im Schlaf seine Vergangenheit nacherleben würde. Eines Nachts träumte er von dem Tag, an dem ihm endgültig klar geworden war, dass er die amerikanische Hälfte der ersten Marskolonie leiten würde. Er war von Washington zum Shenandoah Valley hinausgefahren und fühlte sich sehr sonderbar. Er ging lange im großen Eastern Hardwood Forest spazieren. Er kam zu den Kalksteinhöhlen in Luray, jetzt eine Touristenattraktion, und nahm aus einer Laune heraus an der Führung teil. Jeder Stalaktit und Stalagmit war von geisterhaften farbigen Lampen beleuchtet. An einigen waren Hämmerchen befestigt, und ein Organist konnte darauf spielen wie mit einem Glockenspiel. Die wohltemperierte Höhle! Er musste weiter hinaus in die Finsternis gehen und sich einen Ärmel in den Mund stopfen, damit ihn die Touristen nicht lachen hören konnten.

Dann parkte er an einem Aussichtspunkt, ging in den Wald hinein und setzte sich zwischen den Wurzeln eines großen Baumes hin. Niemand in der Runde, eine warme Herbstnacht, die Erde dunkel und wie ein Pelz von Bäumen bedeckt. Zikaden ließen ihr eigenartiges Lied ertönen und Grillen stießen ihre letzten Klageschreie aus im Vorgefühl des ersten Frostes, der sie töten würde. Er fühlte sich so sonderbar … Konnte er diese Welt wirklich verlassen? Während er so auf der Erde saß, hatte er sich gewünscht, er könnte wie ein Wechselbalg in eine Felsspalte rutschen und wieder herauskommen als etwas Besseres, etwas Mächtiges, Edles, Langlebiges — so etwas wie ein Baum. Aber natürlich geschah nichts. Er lag auf dem Boden, schon von ihm abgeschnitten. Schon ein Marsmensch.

Und er erwachte und war den ganzen Rest des Tages verstört.

Danach, noch schlimmer, träumte er von John. Er träumte von der Nacht, da er in Washington gesessen und John im Fernsehen gesehen hatte, wie er zum ersten Mal auf den Mars hinausging, dicht gefolgt von den anderen drei. Frank verließ die offizielle Feier bei der NASA und ging durch die Straßen in einer heißen Nacht von D.C. im Sommer 2020. Es hatte zu seinem Plan gehört, John die erste Landung machen zu lassen. Er hatte ihm das zukommen lassen, wie man eine Königin im Schach opfert, weil jene erste Crew auf der Reise von der Strahlung geröstet werden würde und gemäß den Vorschriften nach ihrer Rückkehr für immer auf dem Boden bleiben müsste. Und dann wurde das Feld für die nächste Ausreise freigegeben, für die Touristen, die endgültig dort bleiben würden. Das war die eigentliche Aufgabe und die, welche Frank zu leiten gedachte.

Aber in jener historischen Nacht befand er sich in miserabler Stimmung. Er kehrte zu seinem Apartment nahe Dupont Circle zurück und ging dann wieder los ohne sein FBI-Abzeichen, schlüpfte in eine dunkle Bar, nahm Platz und sah sich über die Köpfe der Barkeeper das Fernsehen an. Das Licht des Mars strömte aus dem Fernseher und rötete den dunklen Raum. Er wurde betrunken und hörte sich Johns alberne Rede an. Seine Stimmung wurde immer schlechter. In der Bar war es laut, und die Leute passten nicht auf. Nicht, dass man die Landung nicht beachtet hätte; aber die stellte hier nur eine Art von Unterhaltung dar, auf dem gleichen Niveau wie das Spiel der Bullets, auf das ein Barkeeper immer umschaltete. Dann wieder zurück auf die Szene in Chryse Planitia. Sein Nachbar schimpfte darüber. »Basketball müsste auf dem Mars ’ne tolle Sache sein«, sagte Frank in dem Florida-Akzent, den er längst abgelegt hatte.

»Müssen den Reifen höher legen, sonst brechen sie sich den Hals.«

»Sicher, aber denk an die Sprünge. Leicht zwanzig Fuß.«

»Na ja, auch ihr weißen Jungs springt da hoch. Aber bleibt lieber vom Korb weg, sonst kriegt ihr die gleichen Schwierigkeiten wie hier.«

Frank lachte. Aber draußen war es heiß, eine dumpfe D.C.-Sommernacht, und er ging nach Hause in einer miserablen Stimmung, die mit jedem Schritt noch schlimmer wurde. Als er auf einen Bettler vor Dupont traf, zückte er eine Zehn-Dollarnote und warf sie dem Kerl zu. Als der hinlangte, stieß er ihn fort und rief: »Hau ab! Such dir Arbeit!« Aber dann kamen Leute aus der Metro, und er eilte davon, schockiert und wütend. Bettler sackten in den Eingängen zusammen. Da waren Menschen auf dem Mars, und in der Hauptstadt der Nation gab es Bettler, an denen alle Rechtskundigen täglich vorbeigingen, deren Gerede von Freiheit und Gerechtigkeit nur eine Tarnung ihrer Gier war. »Wir werden es auf dem Mars anders machen«, sagte Frank giftig. Und ganz plötzlich wünschte er sich, dort zu sein, ohne umständliche Jahre des Wartens und Kämpfens. »Besorg dir einen verdammten Job«, brüllte er einen anderen obdachlosen Mann an. Dann weiter zu seinem Appartementhaus, hinter dem im Foyer am Pult gelangweilte Sicherheitsleute saßen, die ihr ganzes Leben da mit Nichtstun verbrachten. Oben angekommen, zitterten seine Hände so stark, dass er erst seine Tür nicht aufkriegte. Als er dann drinnen stand, erstarrte er, schockiert von all dem geschniegelten Mobiliar eines höheren Beamten, das Ganze eine Theaterausstattung, darauf abgestellt, seltene Besucher zu beeindrucken, tatsächlich nur von der NASA und dem FBI. Nichts davon seines! Nichts als ein Plan.

Und dann erwachte er, allein, in einem Rover auf der Großen Böschung.


Schließlich kehrte er von seiner schrecklichen Expedition voller Träume zurück. Wieder in der Karawane fand er es schwer zu sprechen. Er wurde von Zeyk zum Kaffee eingeladen und schluckte eine Tablette gemischten Opiats, um sich in der Gesellschaft von Männern zu entspannen. In Zeyks Rover saß er auf seinem Platz und wartete darauf, dass Zeyk kleine Tassen mit durch Nelken gewürztem Kaffee austeilte. Unsi Al-Khal saß zu seiner Linken und redete langatmig über die islamische Vision der Geschichte und wie sie in der Dschahiliya oder vorislamischen Periode begonnen hatte. Al-Khal war nie freundlich gewesen; und als Frank ihm in einer üblichen höflichen Geste die zu ihm kommende Tasse weiterzureichen versuchte, bestand Al-Khal darauf, dass Frank die Ehre gebühre und er sie ihm nicht rauben wolle. Eine typische Kränkung aus übertriebener Höflichkeit, wieder die Hierarchie. Man konnte keinem, der im System höher stand, eine Gunst erweisen. Gefälligkeiten gab es nur abwärts. Alphamännchen, Hackordnungen. Sie hätten wirklich ebenso gut wieder auf der Savanne (oder in Washington) sein können. Wiederum nichts weiter als Primatentaktik.

Frank knirschte mit den Zähnen, und als Al-Khal wieder zu predigen anfing, sagte er: »Wie ist es mit euren Frauen?«

Sie waren aus der Fassung gebracht, und Al-Khal zuckte die Achseln. »Im Islam haben Männer und Frauen verschiedene Rollen. Genau wie im Westen. Das hat biologische Gründe.«

Frank schüttelte den Kopf und fühlte die Wirkung der Tabletten und das finstere Gewicht der Vergangenheit. Der Druck eines ständigen Wasserreservoirs auf dem Boden seines Denkens verstärkte sich, etwas gab nach, und plötzlich war ihm alles egal, und er war es satt, so zu tun als ob. Er war all der Maske überdrüssig, des klebrigen Öls, welches der Gesellschaft erlaubte, auf ihrem knirschenden schrecklichen Weg weiterzugehen.

»Ja«, sagte er. »Aber das ist doch Sklaverei, nicht wahr?«

Die Männer um ihn herum waren über dieses Wort schockiert und erstarrten.

»Nicht wahr?« wiederholte er und fühlte hilflos die Worte aus seiner Kehle sprudeln. »Eure Frauen und Töchter sind machtlos, und das ist Sklaverei. Ihr mögt sie gut behandeln, und sie können Sklavinnen mit besonderen und intimen Kräften über ihre Herren sein, aber die Beziehung von Herren zu Sklaven führt darauf hinaus, dass alle diese Beziehungen verzerrt sind und bis zum Zerreißen gespannt.«

Zeyk rümpfte die Nase. »Das ist nicht die gelebte Erfahrung davon. Das kann ich dir versichern. Du solltest unsere Poesie hören.«

»Aber würden eure Frauen mir das bestätigen?«

»Ja«, sagte Zeyk im Brustton absoluter Überzeugung.

»Mag sein. Aber schau, die erfolgreichsten Frauen unter euch sind immer bescheiden und ergeben. Sie sind peinlich darum bemüht, das System zu ehren. Das sind diejenigen, welche ihren Gatten und Söhnen helfen, im System aufzusteigen. Um damit Erfolg zu haben, müssen sie dieses System stärken, das sie unterdrückt. Das hat gefährliche Auswirkungen. Und der Zyklus wiederholt sich Generation um Generation. Getragen von Herren und Sklavinnen gleichermaßen.«

»Der Gebrauch des Wortes Sklave«, sagte Al-Khal langsam und machte eine Pause, »ist offensiv; denn er nimmt ein Urteil vorweg. Das Urteil über eine Kultur, die du nicht wirklich kennst.«

»Sicher. Ich sage nur, wie es von außen aussieht. Das kann für einen fortschrittlichen Muslim nur von Interesse sein. Ist dies der göttliche Plan, für dessen Verwirklichung in der Geschichte ihr kämpft? Die Gesetze sind dazu da, dass man sie liest und ihre Einhaltung überwacht; und für mich sieht das wie eine Form von Sklaverei aus. Und ihr wisst, dass wir Kriege geführt haben, um die Sklaverei abzuschaffen. Und wir haben Südafrika aus der Völkergemeinschaft ausgeschlossen, weil dessen Gesetze so angelegt waren, dass die Schwarzen nie so gut leben konnten wie die Weißen. Ihr aber tut das die ganze Zeit. Wenn irgendwelche Menschen auf der Welt so behandelt würden, wie ihr eure Frauen behandelt, würde die UN diese Nation ächten. Aber weil es eine Angelegenheit der Frauen ist, schauen die Männer, die an der Macht sind, weg. Sie sagen, es sei eine Sache der Kultur, der Religion, in die man sich nicht einmischen dürfe. Oder es heißt deshalb nicht Sklaverei, weil es nur eine Übertreibung davon ist, wie Frauen anderswo behandelt werden.«

»Oder nicht einmal eine Übertreibung«, meinte Zeyk. »Eine Variante.«

»Nein, es ist eine Übertreibung. Westliche Frauen können vieles von dem, was sie tun, wählen. Sie können ihr eigenes Leben führen. Aber nicht so bei euch. Menschen wollen kein Eigentum sein. Sie hassen das und wenden sich dagegen und rächen sich dafür, soweit sie können. So sind eben die Menschen. Und in diesem Falle handelt es sich um eure Mutter, eure Frau, eure Schwestern, eure Töchter.«

Die Männer sahen ihn an, immer noch mehr schockiert als gekränkt. Aber Frank schaute in seine Kaffeetasse und fuhr unerbittlich fort: »Ihr müsst eure Frauen befreien!«

»Was schlägst du vor, wie wir das tun sollten?« fragte Zeyk und sah Frank neugierig an.

»Ändert eure Gesetze! Erzieht eure Töchter so, dass sie in die gleichen Schulen wie eure Söhne gehen. Macht sie gleichberechtigt mit jedem Muslim jeder Art überall. Bedenkt, dass in euren Gesetzen viel ist, das nicht im Koran steht, sondern in der Zeit nach Muhammad hinzufügt wurde.«

»Hinzugefügt von heiligen Männern«, sagte Al-Khal ärgerlich.

»Gewiss. Aber wir suchen die Wege, in denen wir unsere religiösen Glaubenssätze stärken können, im alltäglichen Verhalten. Das trifft für alle Kulturen zu. Und wir können neue Wege wählen. Ihr müsst eure Frauen befreien!«

»Ich mag mir keine Predigten anhören außer von einem Mullah«, sagte Al-Khal mit schmalen Lippen unter seinem Schnurrbart. »Mögen die, welche ohne Schuld sind, verkünden, was recht ist.«

Zeyk lächelte heiter und sagte: »So pflegte Selim el-Hayil zu sprechen.«

Und es trat tiefe, gespannte Stille ein.

Frank zwinkerte. Viele Männer lächelten jetzt und sahen Zeyk zustimmend an. Frank fiel blitzartig ein, was in Nicosia geschehen war. Natürlich! Selim war in jener Nacht nur Stunden nach dem Attentat gestorben, vergiftet durch eine fremdartige Kombination von Mikroben. Aber sie wussten jedenfalls Bescheid.

Und dennoch hatten sie ihn akzeptiert und in ihre Wohnungen geführt, in ihre persönlichen Bezirke, wo sie ihr Privatleben führten. Sie hatten versucht, ihn das zu lehren, was sie glaubten.

»Vielleicht sollten wir sie so frei machen wie russische Frauen?« sagte Zeyk lachend und entlastete Frank für den Moment. »Durch Überarbeitung verrückt, so sagen sie doch? Man erzählt ihnen, sie seien gleich, sind das in Wirklichkeit aber nicht!«

Yussuf Hawl, ein schneidiger junger Mann, kicherte tückisch. »Das sind tolle Weiber, kann ich euch sagen! Aber nicht mehr oder weniger als alle anderen Frauen. Ist es nicht so, dass daheim die Macht immer an den Stärkeren fällt? In meinem Rover bin ich der Sklave, das kann ich euch erzählen. Bei meiner Aziza bin ich bloß ein Pantoffelheld!«

Die Männer brüllten vor Lachen über ihn. Zeyk nahm ihre Tassen und schenkte eine neue Runde Kaffee aus. Die Männer retteten die Lage, so gut sie konnten. Sie sahen über Franks grobe Kränkung hinweg, entweder, weil sie so maßlos war, dass sie nur Ignoranz verriet, oder weil sie Zeyks Gönnerschaft für ihn anerkennen und unterstützen wollten. Aber nur die Hälfte von ihnen schaute Frank überhaupt wieder an.

Er zog sich zurück und hörte wieder zu, sehr über sich selbst verärgert. Es war ein Fehler, seine Meinung jederzeit zu äußern, es sei denn, sie diente einem politischen Zweck. Und das war nie der Fall. Am besten war es, alle Äußerungen des realen Inhalts zu entkleiden. Das war die Grundregel von Diplomatie. Draußen auf der Böschung hatte er das vergessen.

Erregt stieg er wieder in seinen Rover. Die Träume wurden seltener. Als er zurückkam, nahm er keine Medikamente. Er saß schweigend in den Kaffeerunden oder sprach über Mineralien und Grundwasser oder den Komfort der neu modifizierten Mutungsrover. Die Männer sahen ihn zurückhaltend an und beteiligten ihn wieder an der Konversation wegen Zeyks Freundlichkeit, die nie erlahmte — außer in jenem einen Moment, da er Frank nachdrücklich an eine der Grundtatsachen der Lage erinnert hatte.

Eines Abends lud ihn Zeyk zu einem privaten Abendessen mit ihm und seiner Frau Nazik ein. Nazik trug ein langes weißes Kleid im traditionellen Beduinenstil mit einem blauen Bund und war barhäuptig. Ihr dichtes schwarzes Haar war mit einem flachen Kamm zurückgehalten und hing ihr dann den Rücken hinab. Frank hatte genug gelesen, um zu wissen, dass das alles falsch war. Bei den Beduinen von Awlad ’Ali trugen die Frauen schwarze Gewänder und rote Bauchbinden, um ihre Unreinheit, Sexualität und moralische Unterlegenheit anzuzeigen. Sie hielten den Kopf bedeckt und benutzten den Schleier in einem komplizierten Code von Bescheidenheit. Alles, um sich männlicher Macht zu beugen; so dass Naziks Bekleidung ihre Mutter und Großmütter schockiert hätte, selbst wenn sie sie wie jetzt vor einem Außenseiter trug, auf den es eigentlich nicht ankam. Aber wenn er genug wusste, um zu verstehen, dann war das ein Zeichen.

Und dann, als gerade alle lachten, erhob sich Nazik auf Zeyks Bitte hin, um das Dessert zu bringen, und sagte zu Zeyk lachend: »Jawohl, Herr.«

Zeyk runzelte die Stirn, sagte: »Geh, Sklavin!« und gab ihr einen Stoß, und sie schnappte mit den Zähnen nach ihm. Sie lachten, als Frank heftig errötete, und sahen, dass er verstand. Sie machten sich über ihn lustig und brachen auch das Tabu der Beduinen gegen das Zeigen ehelicher Zuneigung jeder Art vor jedermann. Nazik kam herüber und legte ihm eine Fingerspitze auf die Schulter mit den Worten: »Wir scherzen nur mit dir, musst du wissen. Wir Frauen haben von deiner Äußerung vor den Männern gehört und lieben dich dafür. Du könntest bei uns so viele Frauen haben wie ein osmanischer Sultan. Denn in dem, was du gesagt hast, liegt einige Wahrheit — zu viel.« Sie nickte ernsthaft und zeigte mit einem Finger auf Zeyk, der sich das Grinsen verkniff und auch nickte. Nazik fuhr fort: »Aber von den Menschen hängt in den Gesetzen so viel ab, findest du nicht auch? Die Männer in dieser Karawane sind gute Männer, kluge Männer. Und die Frauen sind noch klüger, denn wir haben sie vollkommen übernommen.« Zeyk hob die Augenbrauen, und Nazik lachte. »Nein, in Wirklichkeit haben wir uns nur unseren Anteil genommen. Ernsthaft.«

»Aber wo seid ihr denn?« fragte Frank. »Ich meine, wo sind alle die Frauen der Karawane tagsüber? Was tut ihr?«

»Wir arbeiten«, sagte Nazik einfach. »Sieh es dir an! Du wirst uns sehen.«

»Ihr macht alle Arten von Arbeit?«

»O ja. Vielleicht nicht da, wo du uns viel sehen kannst. Es gibt noch gewisse — Bräuche, Gewohnheiten. Wir leben zurückgezogen, getrennt, haben unsere eigene Welt. Das ist vielleicht nicht gut. Wir Bedus schließen uns gern in Gruppen zusammen, Männer und Frauen. Wir haben unsere Traditionen, siehst du, und die dauern an. Aber hier ist vieles dabei, sich zu ändern, schnell zu ändern. Also ist dies die nächste Stufe des islamischen Weges. Wir sind …« Sie suchte nach dem Wort.

»Utopia«, schlug Seyk vor. »Das islamische Utopia.«

Sie wedelte zweifelnd mit der Hand und sagte: »Geschichte. Der Hadsch nach Utopia.«

Zeyk lachte vergnügt. »Aber der Hadsch ist das Ziel. Das ist es, was uns die Mullahs immer lehren. So sind wir schon da, nicht?« Und er und seine Frau lachten sich an, eine private Kommunikation mit hoher Dichte an Informationsaustausch und ein Lächeln, das sie einen Moment mit Frank teilten. Und dann wandte sich ihr Gespräch anderen Themen zu.


Praktisch gesehen war Al-Qahira der lebendig gewordene panarabische Traum, da alle Nationen für die Mahdscharis Geld und Menschen beigesteuert hatten. Die Mischung arabischer Nationen auf dem Mars war vollkommen, aber die individuellen Karawanen gingen etwas ihre eigenen Wege. Immerhin vermischten sie sich. Und ob sie aus den ölreichen oder ölarmen Nationen kamen, schien keine Rolle zu spielen. Hier unter den Fremden waren sie alle Vettern. Syrer, Iraker, Ägypter und Saudis, Golfanrainer, Palästinenser, Libyer und Beduinen. Alles Vettern.

Frank begann sich besser zu fühlen. Er schlief wieder tief, jeden Tag erfrischt durch den Zeitrutsch, etwas lässig im ganztägigen Rhythmus, der Körper nach seiner Eigenzeit abgeschaltet. Tatsächlich hatte alles Leben in der Karawane ein anderes Zeitmaß, als ob sogar der Augenblick gedehnt wäre. Er fühlte, dass man Zeit erübrigen konnte, dass es nie einen Grund zur Eile gab.

Und die Jahreszeiten glitten dahin. Die Sonne ging jeden Abend fast an der gleichen Stelle unter, die sich nur ganz langsam verschob. Sie lebten jetzt ganz nach dem Marskalender. Er war das einzige Neujahr, das sie beachteten oder feierten: Ls = 0, der Beginn des nördlichen Frühlings des Jahres 16. Eine Jahreszeit nach der anderen, jede sechs Monate lang und jede ablaufend ohne das scharfe Empfinden von Sterblichkeit. Es war so, als ob man jetzt im Ewigen lebte, in einer endlosen Runde von Arbeiten und Tagen, im kontinuierlichen Zyklus von Gebet zu dem ach so entfernten Mekka, im pausenlosen Wandern übers Land. In der ständigen Kälte.

Als sie eines Morgens erwachten, stellten sie fest, dass es über Nacht geschneit hatte, und die ganze Landschaft war rein weiß. Und hauptsächlich Wasser-Eis. Die ganze Karawane spielte den Tag über verrückt. Sie alle, Männer und Frauen, draußen in Schutzanzügen, närrisch von dem Anblick, traten Schnee, machten Schneebälle, die nicht richtig zusammenhielten, versuchten, Schneemänner zu bauen, die ebenso wenig zusammenhielten. Der Schnee war zu kalt.

Zeyk lachte über diese Bemühungen. »Was für eine Albedo«, sagte er. »Es ist erstaunlich, wie viel von dem, was Sax tut, auf ihn zurückschlägt. Gegeneffekte arbeiten von Natur der Homöostase entgegen, meinst du nicht auch? Ich frage mich, ob Sax nicht zuerst die Dinge so viel kälter hätte machen sollen, dass die ganze Atmosphäre bis zur Oberfläche ausgefroren wäre. Wie dick würde sie sein — ein Zentimeter? Dann unsere Verarbeitungsmaschinen von Pol zu Pol aufreihen und rund um die Welt wie Breitenkreise laufen lassen, um das Kohlendioxid zu guter Luft und Dünger zu verarbeiten. Leuchtet dir das nicht ein?«

Frank schüttelte den Kopf. »Sax hat das wahrscheinlich erwogen, es aber aus irgendeinem Grunde verworfen, den wir nicht sehen.« »Ohne Zweifel.«


Der Schnee verschwand durch Sublimation, das rote Land kehrte zurück, und sie zogen auf ihrem Weg weiter. Gelegentlich kamen sie an Kernreaktoren vorbei, die wie Burgen auf der Höhe der Böschung standen — nicht gerade Rickovers, aber gigantische Westinghouse-Brüter, mit Reiffahnen wie Gewitterwolken. Über Mangalavid sahen sie Programme über den Prototyp einer Fusion in Chasma Borealis.

Canyon nach Canyon. Sie kannten das Land noch besser als Ann. Diese interessierte jeder Teil vom Mars gleichermaßen, so dass sie sich nicht auf ein einziges Gebiet konzentrieren konnte. Aber sie lasen das Land wie ein Buch, folgten seinen Angaben durch das rote Gestein zu einer Stelle mit schwärzlichen Sulfiden oder dem zarten Zinnober von Quecksilbervorkommen. Sie waren nicht so sehr Studenten des Landes als seine Liebhaber. Sie wollten etwas von ihm und fragten nur nach Antworten. Es gab so viele verschiedene Arten von Sehnsucht.

Die Tage vergingen und dann weitere Jahreszeiten. Wenn sie auf andere arabische Karawanen trafen, feierten sie bis weit in die Nacht mit Musik und Tanz, Kaffee, Wasserpfeifen und Gesprächen in Versammlungszelten, die ein Achteck aus geparkten Rovern bedeckten. Die Musik wurde nie aufgezeichnet, spielte aber mit großem Geschick auf Flöten und elektrischen Gitarren, dazu viel Gesang in Vierteltönen und lang gezogenen Tönen, so fremdartig für Franks Ohren, dass er lange nicht sagen konnte, ob die Sänger gut waren oder nicht. Die Mahlzeiten dauerten stundenlang, und danach plauderten sie bis zur Dämmerung. Es kam ihnen darauf an, das Aufblitzen des Sonnenaufgangs zu beobachten.

Aber wenn sie andere Nationalitäten trafen, waren sie natürlich zurückhaltender. Einmal kamen sie an einer neuen Amex-Bergbaustation vorbei, die meistens mit Amerikanern bemannt war und auf einer der seltenen großen an Platinoiden reichen Adern in Tantalus Fossae nahe Alba Patera lag. Die Mine selbst lag unten auf dem langen flachen Boden des engen Canyons. Sie wurde aber hauptsächlich von Robotern betrieben, und die Crew wohnte in einem feudalen Zelt auf dem Grat oberhalb der Spalte. Die Araber drehten eine Runde bei diesem Zelt, machten drinnen einen kurzen Besuch und zogen sich dann für die Nacht in ihre insektenähnlichen Rover zurück. Es wäre für die Amerikaner unmöglich gewesen, irgend etwas von ihnen zu erfahren.

Aber an diesem Abend ging Frank von sich aus wieder zum Amexzelt. Die Leute darin kamen aus Florida, und ihre Stimmen riefen bei ihm Erinnerungen hervor wie Netze voller Quastenflosser. Frank ignorierte alle kleinen Gemütsausbrüche und stellte eine Frage nach der anderen. Er konzentrierte sich auf die schwarzen, lateinamerikanischen und rothalsigert Gesichter, die ihm antworteten. Er sah, dass diese Gruppe eine ältere Form von Gemeinschaft nachahmte genau wie die Araber. Das war eine draufgängerische Ölsuchmannschaft, die raue Verhältnisse und lange Arbeitszeiten ertrug, um dicke Lohnschecks zu bekommen, die alle für die Rückkehr in die Zivilisation gespart wurden. Es war das wert, selbst wenn der Mars einen erschöpfte, was er ja tat. »Ich meine, selbst auf dem Eis kannst du nach draußen gehen, aber hier …? — Mist!«

Ihnen war es egal, wer Frank war, und als er unter ihnen saß und zuhörte, erzählten sie einander alte Geschichten, die ihn erstaunten, obwohl sie irgendwie sehr vertraut waren. »Zwanzig von uns waren mit diesem kleinen mobilen Habitat ohne Zimmer darin zwecks Ölsuche unterwegs; und eines Abends machten wir eine Party und zogen uns vollständig aus. Und die Frauen bildeten auf dem Fußboden einen Kreis mit den Köpfen in der Mitte. Und wir Burschen bildeten außen einen Kreis. Und da waren zwölf Männer und zehn Weiber, so dass die zwei Kerle die Rotation hübsch schnell in Gang hielten. Und tatsächlich sind wir während des Zeitrutsches ganz herumgekommen. Wir versuchten, an seinem Ende alle gleichzeitig zu kommen, und das klappte recht gut. Nur einige Paare schafften es nicht. Es war wie ein Strudel und zog alle in sich hinein. War ein so gutes Gefühl!«

Und dann, nach dem Gelächter und lauten Äußerungen von Ungläubigkeit: »In Acidalia pflegten wir diese Schweine zu töten und einzufrieren, aber das Schlachten war so, als ob man ihnen einen großen Pfeil in den Kopf schösse. Darum gedachten wir, sie gleichzeitig zu töten und einzufrieren und zu sehen, was dabei geschieht. Also haben wir sie alle mit Handicaps belegt und gewettet, welche es am weitesten bringen würden. Dann öffneten wir die äußere Schleusentür, und alle Schweine rannten hinaus und bums kippten alle um innerhalb vor fünfzig Yards von der Tür, außer einem kleinen weiblichen Exemplar, das fast zweihundert Yards schaffte und aufrecht stehend gefror. Ich habe dabei tausend Dollar gewonnen.«

Frank grinste über ihr Gejohle. Er war wieder in Amerika. Er fragte sie, was sie sonst noch auf dem Mars getan hätten. Einige hatten auf dem Gipfel von Pavonis Mons Kernreaktoren gebaut, wo der Raumlift herunterkommen würde. Andere hatten an der Wasserleitung gearbeitet, die von Noctis bis Pavonis den östlichen Tharsisbuckel hinaufführte. Praxis, die federführende Transnationale für den Aufzug, hatte viele Interessen am ›Arsch‹, wie sie es nannten. »Ich habe an einem Westinghouse gearbeitet oben auf dem Compton-Wasserreservoir unter Noctis, von dem man annimmt, dass es soviel Wasser enthält wie das Mittelmeer. Und die ganze Energie dieses Reaktors war für eine Anzahl von Befeuchtern bestimmt. Tolle zweihundert Megawatt im ganzen. Es sind die gleichen Befeuchter, wie ich als Kind einen in meinem Schlafzimmer hatte, nur brauchen sie je fünfzig Kilowatt. Gigantische Rockwell-Ungetüme mit Einzelmolekülverdampfern und Düsenturboaggregaten, die den Nebel aus tausend Meter hohen Kaminen blasen. Einfach unglaublich. Eine Million Liter Wasserstoff und Sauerstoff jeden Tag in die Luft geblasen.«

Ein anderer hatte eine neue Zeltstadt im Echuskanal unter Overlook gebaut. »Die haben dort ein Wasserreservoir angezapft, und in der ganzen Stadt gibt es Springbrunnen mit Statuen darin, Wasserfälle, Kanäle, Teiche, Schwimmbecken und so weiter. Es ist ein kleines Venedig da oben. Und auch große Wärmedämmung.«

Das Gespräch wandte sich dem Fitnessraum zu, der gut ausgestattet war mit Maschinen, die ihre Benutzer in die Lage versetzen sollten, für die Erde bereit zu bleiben. Fast alle waren bestrebt, einen strengen Trainingsplan einzuhalten, mindestens drei Stunden täglich. »Wenn du aufgibst, bleibt du hier hängen, nicht wahr? Und wozu ist dann dein Sparkonto gut?«

»Das wird schließlich legal werden«, sagte ein anderer. »Wo die Leute hingehen, wird der amerikanische Dollar sicher folgen.«

»Ich dachte, der Vertrag verböte hier den Gebrauch von Geld der Erde«, sagte Frank.

»Der Vertrag ist ein Kasperltheater«, sagte einer und machte Klimmzüge.

»So tot wie Bessie, das Langstreckenschwein.«

Sie blickten auf Frank, alle in den zwanziger und dreißiger Jahren, eine Generation, mit der er nie viel gesprochen hatte. Er wusste nicht, wie diese Menschen aufgewachsen waren, was sie geformt hatte, an was sie vielleicht glaubten. Die nur allzu vertrauten Akzente und Gesichter könnten täuschen, und taten das wahrscheinlich auch. »Meint ihr das?« fragte er.

Einige schienen mehr als die übrigen zu merken, dass er mit dem Vertrag zu tun haben könnte bei all seinen anderen historischen Anklängen. Aber den Mann mit den Klimmzügen kümmerte das nicht. »Wir sind hier aufgrund eines Handels, den der Vertrag für illegal erklärt, Mann. Und das geschieht überall. Brasilien, Georgien, die Golfstaaten, alle Länder, die gegen den Vertrag gestimmt haben, lassen die Transnationalen herein. Es ist unter den Gefälligkeitsflaggen ein Wettbewerb, wie gefällig sie sein können! Und UNOMA liegt flach auf dem Rücken mit gespreizten Beinen und sagt: Mehr, mehr! Menschen landen zu Tausenden, und die meisten werden von Transnats beschäftigt. Sie haben ihre staatlichen Visa und Fünfjahresverträge, einschließlich Rehabilitationszeit, um wieder erdentauglich zu werden und so weiter.«

»Zu Tausenden?« fragte Frank.

»O ja! Zu Zehntausenden.«

Er merkte, dass er lange nicht mehr ferngesehen hatte.

Ein Mann mit Stemmübungen sprach, während er die ganze Zeit die Stange mit schwarzen Gewichten stemmte. »Ich werde bald die Fliege machen — eine Menge Leute mögen es nicht — nicht gerade Oldtimer wie du — ein ganzer Haufen Neuankömmlinge auch sie verschwinden in Massen — ganze Betriebsgruppen — manchmal ganze Städte — bin zu einer Mine in Syrtis gekommen — vollkommen leer — alles Nützliche weg — komplett ausgeräumt — sogar Zeug wie Schleusentüren — Sauerstofftanks — Toiletten — Zeug, das Stunden gedauert hat loszumachen.«

»Warum haben sie das gemacht?«

»Zu den Eingeborenen gehen!« erklärte einer mit Liegestützen. »Von deinem Genossen Arkady Bogdanov abgeworben.«

Von unten her sah der Mann Frank ins Gesicht. Ein großer breitschultriger Kerl mit einer Adlernase. Er sagte: »Die Leute kommen hierher, und die Kompanie bemüht sich, einen guten Eindruck zu machen. Gymnastik, gutes Essen, Freizeit und alles; aber es läuft immer darauf hinaus, dass sie einem alles vorschreiben, was man zu tun und zu lassen hat. Alles ist geregelt, beim Aufwachen, beim Essen, beim Scheißen. Es ist so, als hätte die Navy den Club Med übernommen, verstehst du? Und dann kommt dein Kumpel Arkady und sagt uns: Jungs, ihr seid Amerikaner, ihr solltet frei sein, dieser Mars ist die neue Grenze, und ihr müsst wissen, dass einige von uns ihn so behandeln.

Wir sind keine Roboter-Software, sondern freie Männer und machen unsere eigenen Gesetze auf unserer eigenen Welt. Und das ist es, Mann!«

Der Raum, prasselte vor Gelächter. Jeder hatte innegehalten, um zuzuhören. »Das ist der Trick! Die Leute kommen hierher und sehen, dass sie reglementierte Software sind und hier vielleicht für immer hängen bleiben. Sklaven, Mann! Elende Sklaven! Und glaub mir, das kotzt eine Menge an. Sie sind bereit zurückzuschlagen, das kann ich dir sagen. Und das sind die Leute, die verschwinden. Wird eine ganze Menge sein, ehe alles vorbei ist.«

Frank sah zu dem Mann hinunter. »Warum bist du nicht verschwunden?«

Der Mann lachte kurz und pumpte wieder seine Gewichte.

»Sicherheit«, rief jemand von der Nautilusmaschine.

Der Gewichtsheber war anderer Ansicht. »Die Sicherheit ist schlapp. Aber du musst etwas haben, wohin du gehen kannst. Sobald Arkady auftaucht — weg!«

Der Liegestützler sagte: »Ich habe mal ein Video von ihm gesehen, wo er darüber redete, dass Farbige sich besser für den Mars eignen als Weiße, weil wir besser mit dem UV zurechtkommen.«

»O ja, o ja!« Alle lachten darüber, zugleich skeptisch und belustigt.

»Das ist alles Mist, aber zum Teufel, warum nicht?« sagte der Liegestützler. »Warum nicht? Nenne es unsere Welt. Nenne es Nova Africa. Sage, dass kein Boss es uns diesmal wegnehmen wird.« Er lachte wieder, als ob alles, was er gesagt hatte, nur eine ulkige Idee gewesen wäre, oder aber eine heitere Wahrheit, eine so entzückende Wahrheit, dass man schon laut lachen musste, wenn man sie aussprach.

Und so ging Frank spät in der Nacht zu den arabischen Rovern zurück und machte mit ihnen weiter.

Aber es war nicht mehr dasselbe. Er war in die Zeit zurückgerissen, und jetzt bereiteten ihm die langen Tage in dem Schürfer nur Unbehagen. Er schaute das Fernsehen an. Er machte einige Anrufe. Er hatte sein Amt als Minister nie aufgegeben. Das Büro wurde in seiner Abwesenheit vom Staatssekretär Slusinski und dem Stab geführt; und er hatte ihnen mit Telefonieren genug geliefert, ihn zu decken, indem sie Washington sagten, dass er arbeitete, dass er Grundlagenforschung betriebe und dann, dass er einen Arbeitsurlaub nähme und dass er als einer der Ersten Hundert da draußen umherwandern müsste. Das hätte nicht viel länger gedauert; aber als Frank Washington direkt anrief, war der Präsident erfreut, und in Burroughs sah der erschöpft wirkende Slusinski richtig glücklich aus. Tatsächlich schien sich das ganze Büro in Burroughs zu freuen, dass er zurückzukehren beabsichtigte, was Frank einigermaßen erstaunte. Als er Burroughs verlassen hatte, enttäuscht von dem Vertrag und bekümmert wegen Maya, hatte er geglaubt, ein miserabler Chef gewesen zu sein. Aber sie hatten ihn fast zwei Jahre lang gedeckt und schienen froh zu sein zu hören, dass er zurückkäme. Die Menschen waren seltsam. Ohne Zweifel die Aura der Ersten Hundert. Als ob das eine Rolle spielte.


Also kehrte Frank von seinem letzten Schürfausflug zurück und saß an diesem Abend in Zeyks Rover, schlürfte seinen Kaffee und lauschte ihrem Gespräch — Zeyk und AI-Khan und Yussuf und die übrigen und ein- und ausgehend Nazik und Aziza. Es waren Menschen, die ihn akzeptiert hatten, die ihn in gewisser Weise verstanden. Nach ihrem Codex hatte er getan, was notwendig war. Er entspannte sich in dem Strom von Arabisch, immer noch durch Mehrdeutigkeit verwirrt. Lilie, Fluss, Wald, Lerche, Jasmin — Wörter, die eine Waldo-Hand bezeichnen könnten, ein Rohr, eine Art Böschung, Teile von Robotern. Oder vielleicht wirklich nur Lilie, Fluss, Wald, Lerche, Jasmin. Eine wunderschöne Sprache. Die Sprache des Volkes, das ihn aufgenommen hatte und ihm Ruhe gab. Aber er würde fortgehen müssen.


Man hatte es so arrangiert, dass man, wenn man ein halbes Jahr in Underhill verbrachte, ein festes eigenes Zimmer zugewiesen bekam. Die Städte im ganzen Planeten gingen zu ähnlichen Systemen über, weil die Leute so viel umherzogen, dass sich niemand irgendwo zu Hause fühlte; und diese Regelung schien das zu mildern. Gewiss hatten die Ersten Hundert, die zu den mobilsten von allen gehörten, angefangen, mehr Zeit in Underhill zu verbringen als in den Jahren davor; und das war für die meisten von ihnen vorwiegend ein Vergnügen. Zu jeder beliebigen Zeit pflegten zwanzig oder dreißig von ihnen da zu sein, und andere kamen herein und blieben eine Weile zwischen ihren Jobs. Und in dem ständigen Kommen und Gehen hatten sie Gelegenheit, eine mehr oder weniger ständige Konferenz über den Stand der Dinge abzuhalten, wobei Neuankömmlinge berichteten, was sie zunächst gesehen hatten, und der Rest darüber diskutierte, was das zu bedeuten hätte.

Aber Frank verbrachte nicht die erforderlichen zwölf Monate jährlich in Underhill und durfte deshalb dort kein Zimmer haben. Er war mit dem Chefbüro des Ministeriums schon 2050 nach Burroughs umgezogen, und ehe er 2057 zu den Arabern ging, hatte sich sein einziges Zimmer in den Büros befunden.

Jetzt war es 2059, und er war wieder da, in einem Zimmer auf einem Stockwerk unterhalb seines alten. Als er sein Gepäck auf den Boden warf und sich im Raum umschaute, fluchte er laut. Persönlich in Burroughs anwesend sein zu müssen — als ob die physische Präsenz in diesen Tagen irgendeinen Unterschied ausmachte! Das war ein absurder Anachronismus, aber so waren die Menschen eben einmal. Wieder eine Spur der Savanne. Sie lebten immer noch wie Affen, während ihre neuen göttlichen Kräfte um sie herum im Unkraut steckten.

Slusinki kam herein. Obwohl sein Akzent reines New York war, hatte Frank ihn immer Jeeves genannt; weil er wie der Darsteller in der NBC-Serie ›Wir sind wie Zwerge in einem Waldo‹ aussah. Frank sagte ärgerlich zu ihm: »Einer dieser wirklich großen Waldo-Bagger. Wir sitzen darin und sollen einen Berg bewegen; aber anstatt die Waldo-Möglichkeiten zu benutzen, beugen wir uns aus einem Fenster und graben mit Teelöffeln. Und machen uns gegenseitig Komplimente darüber, wie wir die Höhe ausnutzen.«

»Ich verstehe«, sagte Jeeves vorsichtig.

Aber man konnte daran nichts ändern. Er war wieder zurück in Burroughs, sauste umher, vier Sitzungen in der Stunde, Konferenzen, die ihm mitteilten, was er schon wusste, nämlich dass UNOMA den Vertrag als Toilettenpapier benutzte. Sie bildete Bilanzierungsysteme, die garantierten, dass die Schürfungen nie irgendeinen Profit für die Mitglieder der Generalversammlung abwerfen würden, selbst nachdem der Aufzug arbeitete. Sie wiesen Tausenden von Emigranten den Status als notwendiges Personal zu. Sie ignorierten die zahlreichen lokalen Gruppen und Mars-zuerst. Das meiste geschah im Namen des Aufzugs selbst, der eine endlose Kette von Entschuldigungen lieferte, 35000 Kilometer lang. 120 Milliarden Dollar an Entschuldigungen. Was gar nicht allzu teuer war im Vergleich mit den Militäretats des vorigen Jahrhunderts. Und die meisten Geldmittel für den Aufzug waren in den ersten Jahren gebraucht worden, um den Satelliten zu finden und in die richtige Umlaufbahn zu bringen und um die Kabelfabrik zu errichten. Danach fraß die Fabrik den Asteroiden und spie das Kabel aus, und das war es dann. Sie mussten nur noch abwarten, bis das lang genug wurde, und es dann in Position bringen. Ein wirklich gutes Geschäft!

Und auch eine großartige Entschuldigung, den Vertrag zu verletzen, wann immer es passend schien. »Verdammt!« rief Frank am Ende eines langen Tages in der ersten Woche nach seiner Rückkehr. »Warum hat UNOMA so klein beigegeben?«

Jeeves und sein übriger Stab verstanden das als eine rhetorische Frage und boten keine Theorien an. Er war entschieden zu lange fort gewesen. Sie hatten jetzt vor ihm Angst. Er musste die Frage selbst beantworten. »Ich nehme an, es ist Habsucht, sie werden alle auf die eine oder andere kosmetische Art bezahlt.«

An diesem Abend traf er beim Dinner auf Janet Blyleven, Ursula Kohl und Vlad Taneev. Beim Essen sahen sie sich die Nachrichten von der Erde an einem Fernseher der Bar an. Es war wirklich fast zu viel geworden, um alles aufzunehmen. Kanada und Norwegen traten dem Plan bei, das Bevölkerungswachstum zu verlangsamen. Niemand wollte natürlich von Geburtenkontrolle sprechen. Das war in der Politik eine verbotene Parole. Aber in Wirklichkeit war es das Hauptproblem, und es war wieder dabei, zu einer Tragödie des einfachen Volkes zu werden. Wenn ein Land die UN-Resolutionen ignorierte, heulten benachbarte Länder auf aus Furcht, überwältigt zu werden. Eine törichte Angst, aber es gab sie. Inzwischen hatten Australien, Neuseeland, Skandinavien, Azania, die Vereinigten Staaten, Kanada und die Schweiz alle Immigration für illegal erklärt, während Indien jährlich um acht Prozent zunahm. Hungersnot würde die Lösung sein wie in vielen Ländern. Die vier apokalyptischen Reiter waren gut für Bevölkerungskontrolle. Bis dann … Das Fernsehen schaltete um auf Werbung für ein beliebtes Diätfett, das unverdaulich war und unverändert den Darm durchlief. »Essen Sie alles, was Sie wollen!«

Janet stellte den Apparat ab. »Lasst uns das Thema wechseln!«

Sie saßen um ihren Tisch herum und blickten auf ihre Teller. Es stellte sich heraus, dass Vlad und Ursula von Acheron gekommen waren wegen eines Ausbruchs resistenter Tuberkulose in Elysium. »Der cordon sanitaire ist zerrissen«, sagte Ursula. »Einige der Emigrantenviren werden sicherlich mutieren oder sich mit einem unserer maßgeschneiderten Systeme verbinden.«

Wieder die Erde. Es war unmöglich, ihr zu entgehen. Janet sagte: »Da unten fällt alles auseinander.«

»Das war schon seit Jahren im Gange«, sagte Frank grob. Seine Zunge war durch die Gesichter der alten Freunde gelöster geworden. »Schon vor dem Vertrag war die Lebenserwartung in den reichen Ländern fast doppelt so hoch wie in den armen. Denkt darüber nach! Aber in alten Zeiten waren die Armen so arm, dass sie kaum wussten, was Lebenserwartung war. Sie lebten nur in den Tag hinein. Jetzt hat jeder Laden an der Ecke einen Fernseher, und sie können sehen, was passiert — dass sie AIDS bekommen haben, während die Reichen die gerontologische Behandlung erhalten. Es ist über einen graduellen Unterschied hinausgegangen. Ich meine, sie sterben jung, und die Reichen leben für immer! Warum sollten sie sich zurückhalten? Sie haben nichts zu verlieren.«

»Und alles zu gewinnen«, sagte Vlad. »Sie könnten leben wie wir.«

Sie scharten sich um Tassen mit Kaffee. Das Licht im Raum war gedämpft. Die Möbel aus Kiefernholz hatten eine dunkle Patina: Flecke, Kerben, von Hand einpolierter Grus … Es hätte eine jener Nächte sein können in jener fernen Zeit, da sie die einzigen auf der Welt waren und miteinander sprachen. Nur Frank blinzelte und sah sich um und erkannte in den Gesichtern seiner Freunde die Müdigkeit, das weiße Haar, die schildkrötenartigen Gesichter des Alters. Es war Zeit vergangen, sie hatten sich über den Planeten verteilt und liefen herum wie er, oder waren versteckt wie Hiroko oder tot wie John. Plötzlich erschien Johns Abwesenheit wie eine riesige Lücke, wie ein Krater, auf dessen Rand sie sich mürrisch zusammendrängten, um ihre Hände zu wärmen. Frank grauste es.

Später gingen Vlad und Ursula zu Bett. Frank sah Janet an. Er fühlte sich unbeweglich wie manchmal am Ende eines langen Tages, unfähig, sich wieder zu rühren. Er fragte: »Wo treibt sich Maya eigentlich herum?«, um zu verhindern, dass sich auch Janet zurückzog. Sie und Maya waren in den Hellas-Jahren gut befreundet gewesen.

»Oh, sie ist in Burroughs. Wusstest du das nicht?« sagte Janet.

»Nein.«

»Sie hat Samanthas alte Zimmer bekommen. Vielleicht geht sie dir aus dem Wege.«

»Was?«

»Sie ist auf dich ziemlich böse.«

»Auf mich böse?«

»Sicher.« Sie sah ihn in dem halbdunklen, von gedämpftem Stimmengewirr erfüllten Raum an. »Das hättest du wissen müssen.«

Während er noch überlegte, wie offen er mit ihr sein könnte, sagte er: »Nein! Warum sollte sie das sein?«

Sie lehnte sich in ihrem Sessel vor und sagte: »O Frank! Hör auf, dich so zu benehmen, als hättest du eine Elle verschluckt! Wir kennen dich, wir waren da, wir haben gesehen, wie alles geschah.« Und als er zurückwich, lehnte sie sich auch zurück und sagte ruhig: »Du musst wissen, dass Maya dich liebt. Sie mag es hart. Und das bist du.«

Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«

Janet lachte. »Ich weiß, dass ich recht habe. Sie hat mir genug erzählt. Schon seit der Vertragskonferenz ist sie dir gram, und sie spricht immer davon, wenn sie wütend ist.«

»Aber warum ist sie wütend?«

»Weil du sie verschmäht hast. Verschmäht, nachdem du ihr Jahre um Jahre nachgestellt hast. Und sie hatte sich daran gewöhnt, und es gefiel ihr. Die Art, wie beharrlich du warst, war romantisch. Sie war sich dessen sicher, gewiss, aber sie liebte dich deswegen. Und sie liebte es, wie mächtig du warst. Und jetzt ist John tot, und sie könnte dir endlich ja sagen; und du hast sie fortgeschickt. Sie war wütend, und das hält bei ihr lange an.«

»Das …« Frank bemühte sich um Fassung. »Das passt einfach nicht zu dem, wie ich das Geschehene verstehe.«

Janet stand auf, um zu gehen, und im Vorbeigehen klopfte sie ihm leicht auf den Kopf. »Vielleicht solltest du dann mit Maya darüber reden.« Sie ging fort.

Er saß lange da, fühlte sich benommen und betrachtete die feine Körnung der Sessellehne. Schließlich hörte er auf und ging zu Bett.


Er schlief mäßig, und am Ende einer langen Nacht träumte er wieder von John. Sie waren in den langen, zugigen, nach oben gekrümmten Räumen der Raumstation, die mit Marsschwere rotierte, bei ihrem langen Aufenthalt da oben, sechs Wochen beisammen, jung und stark. John sagte: Ich fühle mich wie Superman, diese Schwere ist großartig! Laufe Runden durch den großen Ring der Stationskorridore. Auf dem Mars wird sich alles ändern, Frank. Alles!

Nein. Jeder Schritt war wie der letzte Schritt eines Dreisprungs. Päng, päng, päng.

Ja! Es kommt nur darauf an, schnell genug laufen zu lernen.

Ein perfektes Interferenzmuster von Wolkenflecken hing über der Westküste von Madagaskar. Die Sonne verlieh dem Ozean unten einen Bronzeschimmer.

Von hier oben sieht alles so schön aus.

Geh näher, und du beginnst, zu viel zu sehen, murmelte Frank.

Oder nicht genug.

Es war kalt, sie diskutierten über die Temperatur. John war aus Minnesota und hatte als Junge stets bei offenem Fenster geschlafen. Darum erschauerte Frank. Er hatte eine Daunendecke um die Schultern gelegt, seine Füße waren Eisklumpen. Sie spielten Schach, und Frank gewann. John lachte. Wie dumm, sagte er.

Was meinst du?

Spiele haben keine Bedeutung.

Bist du sicher? Manchmal kommt mir das Leben wie eine Art Spiel vor.

John schüttelte den Kopf. Im Spiel gibt es Regeln, aber im Leben ändern sich die Regeln ständig. Du könntest deinen Läufer hierher setzen, um den König des Spielpartners mattzusetzen; und plötzlich spielt er für ihn und bewegt sich wie ein Turm. Und du bist angeschmiert.

Frank nickte. Er hatte John diese Dinge beigebracht.

Ein Durcheinander von Mahlzeiten, Schachspielen, Gesprächen, der Anblick der rollenden Erde. Es war, als ob er einzig dieses Leben gelebt hätte. Die Stimmen von Houston klangen wie aus Computern, ihre Anliegen waren absurd. Der Planet selbst war so schön, so fein von seinem Land und seinen Wolken gemustert.

Ich möchte nie wieder hinuntergehen. Ich denke, dies ist fast besser, als der Mars sein wird. Meinst du nicht auch?

Nein.

Zusammengekauert und zitternd hörte er John von seiner Kindheit erzählen. Mädchen, Sport, Träume vom Weltraum. Frank antwortete mit Geschichten von Washington, Lektionen von Machiavelli, bis er merkte, dass John so schon schrecklich genug war. Freundschaft war letztlich nur Diplomatie mit anderen Mitteln. Aber später, nach einer unklaren Pause … reden, einhalten, zittern, reden über seinen Vater, betrunken aus den Bars in Jacksonville heimkommen, Priscilla und ihr weißblondes Haar, ihr Gesicht wie aus dem Modemagazin, wie ihm das nichts mehr bedeutete, eine Ehe als Resume, um für die Gehirnklempner einen normalen Eindruck zu machen. Und nicht sein Fehler. Schließlich aufgegeben. Betrogen.

Das klingt schlimm. Kein Wunder, wenn du die Menschen für so schlecht hältst.

Frank winkte ihrer großen blauen Lampe zu. Das sind sie aber. Winkt zufällig gerade beim Horn von Afrika. Denk darüber nach, was da unten passiert.

Das ist Geschichte, Frank. Wir können es besser machen. Können wir? Können wir?

Nur abwarten und sehen.


Er wachte auf mit verklemmtem Magen und verschwitzter Haut. Er stand auf und duschte. Er konnte sich nur noch an ein einziges Fragment des Traums erinnern. John sagte: »Abwarten und sehen.« Aber sein Magen war wie Holz.

Nach dem Frühstück warf er die Gabel auf den Tisch und dachte nach. Den ganzen Tag über war er zerstreut, lief herum wie noch im Traum, fragte sich von Zeit zu Zeit, wie man den Unterschied erkannte. War sein Leben nicht in jeder Hinsicht traumhaft? Alles überbelichtet, bizarr, symbolisch für etwas anderes?

Am Abend ging er, um nach Maya zu schauen. Er fühlte sich hilflos, von einem Zwang getrieben. Die Entscheidung hatte er in der Nacht zuvor getroffen, als Janet sagte: »Weißt du, sie liebt dich.« Und er ging um eine Ecke zu den Speisesälen; und da war sie, den Kopf mitten in ihrem schallenden Gelächter zurückgeworfen, ganz die muntere Maya, ihr Haar so weiß, wie es früher schwarz gewesen war, die Augen fest auf ihren Begleiter gerichtet, einen Mann mit dunklem Haar, hübsch, vielleicht in den Fünfzigern, der ihr zulächelte. Maya legte die Hand auf seinen Oberarm, eine charakteristische Geste, eine ihrer gewöhnlichen Vertraulichkeiten, die nichts zu sagen hatte und tatsächlich anzeigte, dass er nicht ihr Liebhaber war, sondern eher jemand, den sie gerade becircen wollte. Sie hätten sich erst vor wenigen Minuten getroffen haben können, obwohl seine Miene dagegen sprach.

Sie wandte sich um, erblickte Frank und zwinkerte vor Überraschung. Sie sah wieder den Mann an und redete weiter, auf russisch, ihre Hand immer noch auf seinem Arm.

Frank zögerte. Er hätte sich fast umgedreht und wäre hinausgegangen. Im stillen verfluchte er sich selbst. War er denn nicht mehr als ein Schuljunge? Er ging an ihnen vorbei und grüßte flüchtig. Er hörte nicht, ob sie antworteten. Während des ganzen Dinners blieb sie fest an der Seite des Mannes kleben, ohne in seine Richtung zu blicken oder herüberzukommen. Der Mann, der recht gut aussah, war über ihre Aufmerksamkeit überrascht — überrascht aber erfreut. Sicher würden sie zusammen gehen; sicher würden sie die Nacht zusammen verbringen. Dieses im voraus zu wissen, machte Leute immer liebenswürdig. Sie würde Menschen in dieser Weise benutzen ohne Bedenken, das Weibsbild. Liebe … Je mehr er darüber nachdachte, desto ärgerlicher wurde er. Sie hatte nie jemanden geliebt außer sich selbst. Und dennoch … Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie ihn erblickte. War sie nicht für einen Sekundenbruchteil erfreut gewesen und hatte dann gewünscht, dass er auf sie böse wäre? Und war das nicht ein Zeichen für verletzte Gefühle oder das Verlangen zurückzuschlagen, das ein gewisses (unglaublich kindisches) Verlangen nach ihm bedeutete?

Nun, zur Hölle mit ihr! Er ging wieder in sein Zimmer, packte sein Zeug und nahm die U-Bahn zur Bahnstation. Er nahm einen Nachtzug nach Westen, Tharsis hinauf zu Pavonis Mons.


Binnen weniger Monate, wenn der Aufzug in seinen interessanten Orbit manövriert sein würde, sollte Pavonis Mons der Nabel des Mars werden und Burroughs übertreffen, wie Burroughs einst Underhill in den Schatten gestellt hatte. Und als das Herunterkommen des Aufzugs nicht mehr fern war, waren schon überall Anzeichen der künftigen Überlegenheit des Gebietes zu erkennen. Parallel zu der Bahnroute, die den steilen Osthang des Vulkans hinaufführte, gab es zwei neue Straßen und vier dicke Pipelines, sowie etliche Kabel, eine Reihe von Mikrowellentürmen und ein ständiges Gewirr von Stationen, Verladegleisen, Lagerhäusern und Depots. Und dann, auf der letzten und steilsten Kurve zum Vulkan hinauf, war eine große Ansammlung von Kuppeln und Industriebauten, dichter und dichter, bis sie auf dem breiten Rand alles bedeckten, und ringsum immense Felder mit Flächen zum Einfangen der Sonnenstrahlung und Empfänger für die Energie, die von den Orbitalen Sonnenpaddeln auf Mikrowelle heruntergestrahlt wurde. Jede Kuppel entlang des Weges war eine kleine Stadt voller kleiner Apartmentblocks, und jeder Apartmentblock war gedrängt voll mit Menschen, deren Wäsche in jedem Fenster hing. In den Kuppeln in unmittelbarer Nähe der Piste standen nur wenige Bäume. Hier drängten sich Versorgungseinrichtungen. Frank konnte kurz Imbißbuden, Videoshops, offene Fitnessräume, Kleidungsläden und Waschsalons erkennen. In den Straßen türmte sich Abfall.


Dann kam er in die Bahnstation auf dem Rand, verließ den Zug und ging in die geräumige Kuppel des Bahnhofs. Der Südrand bot eine ergreifende Aussicht auf die große Caldera, ein ungeheures, fast kreisrundes Loch, dessen Makellosigkeit nur durch eine einzelne riesige Mulde gestört wurde, die nach Nordosten den Rand durchbrach. Diese Mulde bildete eine große Lücke dem Bahnhof gegenüber als Zeichen einer echt gigantischen seitlichen Explosion. Aber das war der einzige Mangel in der Anlage. Sonst war die Steilwand regelmäßig und der Boden der Caldera fast vollkommen rund und fast vollkommen eben. Sechzig Kilometer im Durchmesser und volle sechstausend Meter tief. Wie der Anfang eines Moholes, das allen anderen Moholen ein Ende setzen würde. Die wenigen Zeichen menschlicher Anwesenheit auf dem Calderaboden waren im Maßstab von Ameisen und vom Rand aus fast unsichtbar.

Der Äquator verlief genau quer über den Südrand; und dort sollte das untere Ende des Aufzugs festgemacht werden. Der Befestigungspunkt stach in die Augen. Es war ein massiver braunweißer Betonblock, einige Kilometer von der großen Kuppel über dem Bahnhof entfernt. Von dem Block aus verlief nach Westen eine Reihe von Fabriken und Bodenbewegern und Kegeln von Verpflegungsvorräten, die alle in der reinen staubfreien dünnen Höhenluft fotografisch scharf zu sehen waren unter einem Himmel, der pflaumenschwarz war. Einige Sterne in Zenitnähe waren selbst bei Tag zu erkennen.

Am Tag nach seiner Ankunft führte ihn der Stab der örtlichen Verwaltungsbehörde zur Basis des Aufzuges. Man sah, dass Techniker an diesem Nachmittag das Leitseil des Kabels einfangen wollten. Das war eigentlich nicht spektakulär, aber doch ein interessantes Schauspiel. Das Ende des Führungsseils war mit einer kleinen Leitrakete markiert, deren nach Osten gerichtete Triebwerke ständig brannten, während die Nord- und Süddüsen nur ab und zu feuerten. Die Rakete senkte sich langsam in die Klammern eines Gerüstes.

Sie sah aus wie jedes andere Landevehikel, nur dass von ihr eine silberne Trosse nach oben führte, eine feine gerade Linie, die nur bis zu einigen tausend Metern über der Rakete zu erkennen war. Als Frank sie ansah, kam es ihm vor, als stünde er auf dem Meeresboden und beobachtete eine Angelschnur, die von der dunklen Wasseroberfläche zu ihnen heruntergelassen würde, eine Angelschnur, die an einem hellen bunten Köder befestigt war, um ein Wrack auf dem Boden einzufangen. Sein Blut brannte ihm im Halse, und er musste nach unten schauen und tief atmen. Sehr eindrucksvoll.

Sie machten einen Rundgang um den Basiskomplex. Der Stützblock, der die Führungstrosse eingefangen hatte, befand sich in einem großen Loch des Betonklotzes, einem Betontrichter mit starkem Rand. Dessen Wände waren mit gebogenen Silbersäulen besetzt, die magnetische Spulen festhielten, welche das Kabelende in einem stoßdämpfenden Kragen fixierten. Das Kabel würde über den Betonboden der Kammer gleiten, dort hängend durch den Zug der anderen Hälfte des Kabels. Ein subtil ausbalancierter Orbit, ein Objekt, das sich von einem kleinen Mond in diesen Raum hinab erstreckte, im ganzen 37000 Kilometer. Und nur zehn Meter Durchmesser.

War die Führungstrosse gesichert, würde das Kabel selbst recht leicht heruntergeleitet werden, aber nicht schnell, da es wirklich sehr sanft asymptotisch in seinen endgültigen Orbit driften musste. »Es wird wie Zenos Paradoxon gehen«, sagte Slusinski.

So erschien dann viele Tage nach jenem Besuch das Ende des Kabels wirklich am Himmel und hing dort. Während der nächsten Wochen senkte es sich immer langsamer vom Himmel herab. Tatsächlich ein sehr seltsamer Anblick, der bei Frank einen leichten Schwindel hervorrief und jedes Mal, wenn er es sah, kam ihm wieder das Bild in den Sinn, er stünde auf einem Meeresboden. Man sah an einer Angelschnur in die Höhe, einem schwarzen Faden, der von der dunklen Oberfläche des Ozeans herunterhing.


Frank verbrachte diese Zeit mit der Einrichtung der leitenden Ministerialbüros des Mars in der Stadt, die eines Tages den Namen Sheffield erhielt. Der Stab in Burroughs protestierte gegen den Umzug, aber er ignorierte ihn. Er traf sich in dieser Zeit mit amerikanischen Beamten und Projektmanagern, die alle an verschiedenen Aspekten des Aufzugs in Sheffield arbeiteten oder in den Städten der Umgebung von Pavonis. Amerikaner bildeten nur einen Teil der vor Ort tätigen Arbeitskräfte, aber Chalmers wurde trotzdem in Atem gehalten, weil das Projekt im Ganzen so riesig war. Und Amerikaner schienen die Oberleitung zu beherrschen und auch die mit den eigentlichen Aufzugswagen verbundene Software. Dieses Unternehmen war milliardenschwer, und viele Leute schrieben es Frank zu, obwohl faktisch sein intelligenter Computer und Slusinski zusammen mit Phyllis dafür verantwortlich waren.

Viele Amerikaner wohnten in einer Kuppelstadt östlich von Sheffield namens Texas und teilten sich den Raum mit Internationalen, denen die Idee von Texas gefiel, oder die zufällig dorthin geraten waren. Frank kam mit so vielen von ihnen zusammen, wie er konnte, so dass sie zu der Zeit, da das Kabel unten ankam, organisiert waren und mit einer kohärenten Direktive arbeiteten oder, wie manche es ausdrückten, unter seiner Fuchtel. Aber sie waren froh, dort zu sein, so lange es für sie reizvoll war. Sie wussten, dass sie weniger Macht hatten als das Ostasiatische Commonwealth, das die Wagenkabinen baute, und als die Gesellschaft, welche das Kabel gebaut hatte. Und auch weniger mächtig als Praxis, Amex, Armscor und Subarashii.

Schließlich kam der Tag, da das Kabel unten landen würde. In Sheffield versammelte sich eine riesige Volksmenge, um das zu sehen. Die Bahnhofshalle war überfüllt, da man von dort einen guten Blick längs des Randes zum Basiskomplex hatte, der populär als die Steckdose bezeichnet wurde.

Während die Stunden vergingen, driftete das Ende der schwarzen Säule nach unten und bewegte sich immer langsamer, bis es seinem Ziel nahe war. Da hing es nun, nicht sehr viel dicker als die Führungstrosse, die es nach unten lenkte, tatsächlich kleiner als das untere Ende einer Energija-Rakete. Es ragte genau senkrecht in den Himmel auf, war aber so dünn, und die perspektivische Verkürzung war so stark, dass es nicht viel länger wirkte als ein hoher Wolkenkratzer. Ein sehr magerer Wolkenkratzer, der auf der Luft ruhte. Ein schwarzer Baumstamm, höher als der Himmel. »Wir sollten uns direkt darunter befinden auf dem Boden der Steckdose«, sagte einer von seinen Leuten. »Dort wird noch lichte Höhe sein, wenn es anhält, nicht wahr?«

Slusinski entgegnete, ohne den Blick vom Himmel zu wenden: »Das Magnetfeld könnte dich etwas zerzausen.«

Als es näher kam, sahen sie, dass das Kabel allerhand Vorsprünge aufwies und mit Silberfäden umsponnen war. Die Lücke unter ihm wurde kleiner. Dann verschwand sein Ende im Basiskomplex, und das wie das Rauschen in einer Muschel klingende Geräusch der Menge im Bahnhof wurde lauter. Die Leute verfolgten es genau im Fernsehen. Kameras im Innern der Steckdose zeigten, wie das Kabel langsam anhielt, noch zehn Meter über dem Betonboden. Danach kam die pinzettenartige Bewegung von Stützblöcken und die Verklammerung eines festen Kragens um das Kabel einige Meter vor seinem Ende. Alles geschah in traumartiger Zeitlupe; und als es fertig war, sah es so aus, als ob der runde Raum der Steckdose plötzlich ein schlecht passendes schwarzes Dach bekommen hätte.

Über das Lautsprechersystem sagte eine Frauenstimme: »Der Aufzug ist gesichert.« Es gab kurze Hochrufe. Die Leute entfernten sich von den Fernsehern und schauten wieder aus den Wänden der Kuppeln nach draußen. Jetzt sah das Objekt viel weniger seltsam aus, als da es aus dem Himmel herausgehangen hatte. Jetzt war es nicht mehr als die reductio ad absurdum von Mars-Architektur, ein sehr schlanker, sehr hoher schwarzer Kirchturm. Eine Bohnenstange, komisch, aber nicht umwerfend. Die Menge löste sich in tausend Gespräche auf und ging auseinander.


Und nicht lange danach arbeiteten die Aufzüge. Im Laufe der Jahre, als sich das Kabel von Clarke aus verlängerte, waren Roboter wie Spinnen daran entlanggekrochen und hatten die Stromleitungen, Sicherheitstrossen, Generatoren, supraleitenden Pisten, Wartungsstationen, Verteidigungsstationen, Positionierungsraketen, Treibstofftanks und Schutzräume installiert, die alle paar Kilometer das Kabel markierten. Diese Arbeit war im gleichen Tempo fortgeschritten wie die Konstruktion des Kabels selbst, so dass bald nach Erdberührung die Wagen auf und ab liefen, je vierhundert in einer Richtung, wie Parasiten auf einer Haarsträhne. Und einige Monate später konnte man mit dem Aufzug in den Orbit fahren. Und man konnte einen anderen Lift vom Orbit nach unten hinab zur Oberfläche nehmen.

Und sie kamen herunter, von der Erde befördert durch die Flotte ständiger Shuttles, jene großen Raumschiffe, von denen es um das System Erde-Venus-Mars wimmelte, welche die drei Planeten und Luna als Gravitationshebel benutzten, indem sie wild beschleunigende Frachten von Erde und Mars losschickten. Jedes der dreizehn in Betrieb befindlichen Schiffe nahm dreitausend Personen auf und war bei jedem Trip nach draußen voll besetzt. So gab es also einen ständigen Strom von Menschen, die bei Clarke andockten, in Aufzugswagen herunterkamen und in der Steckdose ausstiegen. Dann strömten sie in die Säle von Sheffield, wild, wackelig und mit Stielaugen, wenn man sie mit einiger Schwierigkeit in den Bahnhof trieb und zu den Zügen nach draußen. Die meisten Züge entledigten sich ihrer Fracht in den Kuppelstädten von Pavonis. Roboterteams bauten die Kuppeln eben schnell genug, um den Zustrom zu beherbergen. Und die Fertigstellung zweier neuer Pipelines hatte die Wasserversorgung von Pavonis gesichert.

Das Wasser wurde aus dem Comptonreservoir unter Noctis Labyrinthus heraufgepumpt. So wurden die Emigranten angesiedelt.

In der Steckdose auf der anderen Seite des Kabels wurden nach oben bestimmte Aufzugswagen mit aufbereiteten Metallen, Platin, Gold, Uran und Silber beladen. Dann schwenkten die Wagen ein, wurden auf der Piste angeschlossen und stiegen wieder nach oben. Sie wurden langsam auf ihr volles Tempo von dreihundert Kilometern in der Stunde beschleunigt. Fünf Tage später kamen sie am oberen Ende des Kabels an und bremsten ab zu Schleusen im Innern des BallastAsteroiden Clarke, der jetzt ein von vielen Tunneln durchzogener Klumpen aus kohlenstoffhaltigem Chondrit geworden war, so filigranhaft voller äußerer Gebäude und innerer Kammern, dass er mehr einem Raumschiff oder einer Stadt glich als dem dritten Mond des Mars. Es war ein betriebsamer Ort, belebt von einer nicht abreißenden Folge von ankommenden und abfahrenden Schiffen und Besatzungen, die dauernd unterwegs waren, sowie einer großen Schar von Verkehrsüberwachern, die die leistungsfähigsten KIs benutzten. Obwohl die meisten mit dem Kabel zusammenhängenden Vorgänge durch Computer kontrolliert und robotisch ausgeführt wurden, entstanden ganze neue Berufszweige für Menschen, die alle diese Leistungen leiteten und überwachten.

Und natürlich wurden alle diese neuen Bilder von den Medien unmittelbar und intensiv erfasst. Alles in allem schien es trotz der Dekade des Wartens, als ob der Aufzug dem Nichts entsprungen wäre wie Athene aus dem Haupt des Zeus.


Aber es gab Schwierigkeiten. Frank stellte fest, dass sein Stab immer mehr Zeit mit Männern und Frauen aus den Kuppeln verbrachte, die nach Sheffield und direkt in ihre Büros gekommen waren — Neuankömmlinge, die manchmal nervös und manchmal laut und ärgerlich waren und sich über beengte Lebensbedingungen oder unzulängliche Polizei oder schlechtes Essen beschwerten. Ein stämmiger Mann mit rotem Gesicht und einer Baseballmütze wackelte mit einem Finger und sagte: »Private Sicherheitsdienste kommen von höher gelegenen Zelten herunter und bieten ihren Schutz an. Aber das sind nur Gangs, es ist reine Erpressung! Ich kann nicht einmal Ihnen meinen Namen angeben, sonst könnten die herausfinden, dass ich hergekommen bin. Ich meine, ich glaube an die schwarze Wirtschaft so wie an den nächsten Burschen, aber das ist verrückt! Deswegen bin ich nicht hier hergekommen.«

Frank ging in seinem Büro auf und ab und schäumte vor Wut. Diese Art von Vorwürfen waren sicher wahr, aber schwer zu verifizieren ohne einen eigenen Sicherheitsdienst, was auf eine große Polizeimacht hinauslief. Als der Mann gegangen war, heizte er seinem Stab ein; aber die Leute konnten ihm nichts Neues sagen, was ihn noch ärgerlicher machte. »Ihr werdet dafür bezahlt, dass ihr für mich diese Dinge herausfindet. Das ist euer Job. Ihr sitzt bloß den ganzen Tag herum und seht euch die Nachrichten von der Erde an.«

Er sagte die Termine für einen Tag ab, siebenunddreißig im ganzen. »Schlappe, unfähige Burschen!« sagte er laut, als er aus der Tür stolzierte. Er ging zum Bahnhof und nahm einen Nahverkehrszug nach unten, um selbst nachzusehen.

Der Zug hielt bei jedem Kilometer an in kleinen rostfreien Schleusen, die als Stationen für die Kuppelstädte dienten. Bei einer stieg er aus. Schilder in der Schleuse identifizierten sie als El Paso. Er ging durch die offenen Türen des Ausgangs.

Diese Kuppelzelte boten zumindest eine Aussicht, das ließ sich nicht bestreiten. Den großen Osthang des Vulkans hinab liefen die Bahntrasse und die Pipelines, und zu beiden Seiten von ihnen standen sie wie Ketten von Blasen eins hinter dem andern. Das helle Material der älteren wurde schon etwas purpurn. Ventilatoren brummten laut von der physikalischen Anlage bei der Station her, und irgendwo fügte ein Hydrazingenerator in hohen Tönen sein Brausen hinzu. Die Leute unterhielten sich auf spanisch und englisch. Frank veranlasste sein Büro, das Apartment eines Mannes aus El Paso anzurufen, der bei ihm aufgekreuzt war. Der Mann antwortete, und Frank verabredete sich mit ihm in einem Cafe am Bahnhof, ging dann hinüber und nahm an einem äußeren Tisch Platz. Männer und Frauen saßen an Tischen und aßen und redeten wie anderswo auch. Kleine elektrische Wagen brummten die Straßen auf und ab, zumeist hoch beladen mit Kisten. Die Gebäude in Nähe des Bahnhofs waren drei Stockwerke hoch und schienen vorgefertigt zu sein, mit Stahl verstärkter Beton, der hellblau und weiß gestrichen war. Eine Reihe junger Bäume in Kübeln lief vom Bahnhof durch die Hauptstraße. Kleine Menschengruppen saßen am Astroturf oder gingen ziellos von einem Laden zum andern oder eilten mit Umhängetaschen und Tagesgepäck zum Bahnhof. Sie sahen alle etwas desorientiert oder unsicher aus, als ob sie keine rechte Verhaltensweise hätten oder noch nicht gelernt hätten, richtig zu gehen.

Der Mann erschien mit einem ganzen Haufen seiner Nachbarn, alle in den Zwanzigern, zu jung, um auf dem Mars zu sein, wie man jedenfalls zu sagen pflegte. Vielleicht konnte die Behandlung Strahlenschäden heilen und ihnen gestatten, sich korrekt fortzupflanzen. Wer konnte das sicher sagen, ehe man es versucht hatte? Labortiere, das waren sie. Das waren sie immer gewesen.

Es war eigenartig, zwischen ihnen zu stehen wie ein alter Patriarch und mit einer Mischung aus Achtung und Herablassung behandelt zu werden wie ein Großvater. Gereizt bat er sie, mit ihm einen Spaziergang zu machen und ihn herumzuführen. Sie führten ihn durch enge Straßen vom Bahnhof und den höheren Gebäuden weg zwischen langen Reihen einer Art von Baracken, die als Behelfsunterkünfte in der Fremde gedacht waren für wissenschaftliche Außenstellen oder Wasserstationen oder Flüchtlingshütten. Jetzt dutzendweise aufgereiht. Der Abhang des Vulkans war hastig planiert worden, und viele Hütten standen auf einer Neigung von zwei oder drei Grad, so dass sie, wie sie sagten, in der Küche aufpassen mussten und sich vergewissern, dass ihre Betten richtig aufgestellt waren.

Frank fragte sie, was sie machten. Packer in Sheffield, sagten die meisten. Die Aufzugswagen entladen und das Zeug auf Züge laden. Das hatten Roboter tun sollen, aber es war überraschend, wie viel Arbeit für menschliche Muskeln dabei noch übrig blieb. Bedienungspersonal für schweres Gerät, Roboterprogrammierer, Maschinenreparaturleute, Waldozwerge, Bauarbeiter. Die meisten von ihnen waren nur selten auf die Oberfläche gekommen, manche von ihnen nie. Sie hatten daheim ähnliche Arbeiten erledigt oder waren arbeitslos gewesen. Dies war ihre Chance. Die meisten wollten eines Tages zur Erde zurückkehren, aber die Trainingszentren waren überfüllt, teuer und zeitraubend, und sie verloren alle ihre körperliche Form. Sie hatten südliche Akzente, die Frank seit seiner Kindheit nicht mehr gehört hatte. Es war, als ob man Stimmen aus einem früheren Jahrhundert hörte, aus dem Elisabethanischen Zeitalter. Sprachen Leute noch so? Das Fernsehen zeigte das nie. »Ihr seid alle schon so lange hier, dass es euch nichts ausmacht, drinnen zu sein, aber ich kann das nicht aushalten.« Ich kann das nicht.

Frank schaute in eine Küche und fragte: »Was esst ihr?«

Fisch. Gemüse, Reis, Tofu. Das kam alles in Großpackungen. Sie hatten keine Beschwerden und fanden es gut. Amerikaner hatten die heruntergekommensten Gaumen der Geschichte. Her mit ’ner Käsestulle. Nein, was sie nicht mochten, war das Eingesperrtsein, der Mangel an Privatsphäre, die Fernmanipulation, die Beengtheit. Und die sich daraus ergebenden Probleme: »Alle meine Klamotten geklaut am Tag nach meiner Ankunft.« — »Meine auch.« — »Meine auch.« Diebstahl, Überfall, Erpressung. Die Kriminellen kamen alle aus anderen Kuppelstädten, sagten sie. Russen, sagten sie. Weiße Leute mit eigenartiger Sprache. Auch einige Schwarze, aber nicht so viele wie zu Hause. Eine Frau war in der vorigen Woche vergewaltigt worden. »Ihr macht Witze!« sagte Frank.

»Was soll das heißen: Ihr macht Witze?« fragte eine Frau empört.

Schließlich führten sie ihn wieder zum Bahnhof zurück. Frank blieb in der Tür stehen und wusste nicht, was er ihnen sagen sollte. Es war eine ganze Menge zusammengekommen, als Leute ihn erkannt hatten oder zu der Gruppe gerufen oder hinzugekommen waren. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, murmelte er und schlüpfte durch die Schleuse.

Ohne nachzudenken blickte er in Kuppelzelte, als er mit einem Zug wieder nach oben fuhr. Da war eins mit Sargbetten im Tokiostil. Das wäre noch viel enger als El Paso, aber kümmerte das seine Bewohner? Manche Leute waren es gewohnt, wie Kugellager behandelt zu werden. Wirklich eine Menge Leute. Aber auf dem Mars hatte es doch anders sein sollen!

Wieder zurück am Sheffield marschierte er über den Rand Boulevard, blickte auf die dünne vertikale Linie des Aufzugs, ignorierte andere Leute und zwang sie, beiseite zu springen, wenn er kam. Einmal blieb er stehen und sah sich in der Menge um. Es waren im Augenblick etwa fünfhundert Leute zu sehen, die ihr tägliches Leben führten. Wann war es so weit gekommen? Sie waren eine wissenschaftliche Außenstelle gewesen, eine Handvoll Forscher, zerstreut über eine Welt mit so viel Landfläche wie die Erde. Ein ganzes Eurasien, Afrika, Amerika, Australien und Antarctica — alles für sie. All dieses Land gab es da draußen noch; aber wie viel Prozent davon waren überkuppelt und bewohnbar? Weniger als ein Prozent. Aber was sagte UNOMA? Eine Million Menschen schon hier und noch mehr unterwegs. Und keine Polizei oder Verbrechen. Oder vielmehr: Verbrechen ohne Polizei. Eine Million Menschen und kein Gesetz. Kein Gesetz, aber Körperschaftsrecht. Die untere Grenze. Ausgaben minimieren, Profite maximieren. Lief glatt auf Kugellagern.


In der nächsten Woche begannen die Leute in einer Gruppe von Kuppeln am Südhang zu streiken. Chalmers hörte davon, als er zu seinem Büro unterwegs war. Slusinski platzte mit einem Anruf dazwischen. Die streikenden Kuppeln waren zumeist amerikanisch, und sein Stab war in Panik. »Sie haben die Bahnhöfe geschlossen und lassen niemanden aus den Zügen aussteigen. Darum kann man sie nicht kontrollieren, wenn nicht ihre Notschleusen gestürmt werden …« »Halt’s Maul!«

Frank ging an der Südpiste zu den streikenden Kuppeln hinunter, trotz Slusinskis Einwänden. Er wies sogar einige Leute seines Stabes an, ihm nach unten zu folgen.

Ein Team des Sicherheitsdienstes von Sheffield stand im Bahnhof; aber er befahl ihnen, den Zug zu besteigen und sich zu entfernen. Nach einer Beratung mit den leitenden Beamten von Sheffield taten sie es. An der Durchgangsschleuse wies er sich aus und bat, allein hineingelassen zu werden. Sie ließen ihn passieren.

Er erschien auf dem Hauptplatz einer anderen Kuppel, umgeben von einem Meer wütender Gesichter. Er sagte: »Packt das Fernsehen weg! Lasst uns privat miteinander reden!«

Sie stellten die Kameras ab. Es war dasselbe wie in El Paso.

Andere Akzente, aber die gleichen Beschwerden. Sein früherer Besuch machte es ihm möglich, vorwegzunehmen, was sie sagen wollten, und es vor ihnen auszusprechen. Er stellte grimmig fest, dass ihre Gesichter erkennen ließen, wie sehr sie von dieser Fähigkeit beeindruckt waren. Sie waren noch jung.

»Seht, es ist eine schlimme Situation«, sagte er, nachdem sie eine Stunde lang geredet hatten. »Aber wenn ihr lange streikt, macht ihr es nur noch schlimmer. Sie werden Sicherheitsleute schicken; und es wird nicht so sein, als ob Banden und Polizisten unter euch leben, es wird wie das Leben im Gefängnis sein. Ihr habt euren Punkt schon herausgestellt und solltet jetzt wissen, wann es Zeit ist abzulassen und zu verhandeln. Bildet ein Komitee, das euch vertritt, und macht eine Liste von Beschwerden und Wünschen! Dokumentiert alle Fälle von Verbrechen! Schreibt sie einfach auf und lasst sie von den Opfern unterschreiben! Ich werde davon guten Gebrauch machen. Das wird Arbeit bei der UNOMA und daheim erfordern, weil die den Vertrag verletzen.«

Er machte eine Pause, um zu sich zu kommen und seine Züge zu entspannen. »Geht inzwischen wieder an die Arbeit! Damit verbringt ihr die Zeit besser, als wenn ihr hier beisammenhockt, und es wird euch gute Punkte bei den Verhandlungen eintragen. Falls ihr das nicht tut, werden sie euch vielleicht die Verpflegung abschneiden und euch fertigmachen. Besser, es aus freiem Willen tun und wie vernünftige Verhandlungspartner aussehen.«

So endete der Streik. Sie applaudierten ihm sogar, als er wieder in den Bahnhof ging.

Er bestieg den Zug in blinder Wut und lehnte es ab, Fragen seines Stabs zu beantworten oder auf ihre stummen Blicke einzugehen. Er nahm sich den Leiter der Sicherheitsgruppe vor, der ein arroganter Idiot war. »Wenn ihr korrupten Bastarde irgendwelche Integrität besäßet, wäre das nicht passiert. Ihr seid weiter nichts als eine Bestechungsbande. Warum werden Menschen in den Kuppeln Überfallen? Warum zahlen sie Schutzgelder? Wo seid ihr, wenn all das passiert?«

»Das fällt nicht in unsere Zuständigkeit«, sagte der Mann mit blassen Lippen.

»Na, macht schon, was ist denn eure Zuständigkeit? Eure einzige Zuständigkeit ist euer Portemonnaie.« Er fuhr fort, bis die Sicherheitsleute aufstanden und den Wagen verließen, so wütend auf ihn wie er auf sie, aber zu diszipliniert, um zu widersprechen.

In den Büros von Sheffield ging er von Zimmer zu Zimmer, brüllte den Stab an und tätigte Anrufe. Sax, Vlad, Janet. Er sagte ihnen, was geschah, und sie alle machten den gleichen Vorschlag, den er als gut anerkennen musste. Er würde sich mit dem Aufzug nach oben begeben und mit Phyllis sprechen müssen. »Seht zu, ob ihr die Platzreservierungen machen könnt«, sagte er zu seinem Stab.


Der Wagen des Aufzugs war wie ein altes Haus in Amsterdam, eng und hoch, mit einem von Licht erfüllten Raum ganz oben, in diesem Fall ein Raum mit klaren Wänden und einer Kuppel, die Frank an die Blasenkuppel der Ares erinnerte. Am zweiten Tage der Fahrt kam er mit den anderen Passagieren zusammen (in diesem Wagen nur zwanzig, weil nicht sehr viele Leute in diese Richtung fuhren), und sie nahmen den kleinen eigenen Lift des Aufzugs dreißig Stockwerke nach oben zu diesem klaren Dachstübchen, um Phobos vorbeiziehen zu sehen. Der Raum ragte etwas über den eigentlichen Aufzug hinaus, so dass man auch nach unten blicken konnte. Frank sah auf die gekrümmte Horizontlinie des Planeten hinab, viel weißer und dichter, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Die Atmosphäre war jetzt bei 150 Millibar angelangt, wirklich recht eindrucksvoll, selbst wenn sie aus giftigem Gas bestand.

Während sie auf das Erscheinen des kleinen Mondes warteten, schaute Frank den Planeten unter sich an. Der filigranartige Pfeil des Kabels zeigte genau darauf hin. Es sah aus, als stiegen sie auf einer seltsamen dünnen Rakete empor, die sich einige Kilometer über und unter ihnen hinzog. Das war alles, was sie je vom Kabel zu sehen bekommen würden. Und unten sah der runde orangefarbene Boden des Mars genau so leer aus wie bei ihrer ersten Annäherung vor so langer Zeit, unverändert trotz all ihrer Einmischung. Man musste sich nur weit genug entfernen.

Dann deutete einer der Aufzugspiloten auf Phobos, ein mattes weißes Objekt im Westen. Nach zehn Minuten war er bei ihnen und sauste mit erstaunlicher Geschwindigkeit vorbei, eine große graue Kartoffel, die schneller wirbelte, als man den Kopf drehen konnte.

Wusch! Vorbei. Die Zuschauer im Kuppelraum johlten, schrien und plapperten. Frank hatte nur einen ganz kurzen Blick auf die Kuppel von Stickney erhascht, die wie ein Juwel im Gestein blinkte. Und dann war da ein Schienenstrang gewesen, der die Mitte wie ein Ring umspannte, und einige helle Silberbrocken. Das war alles, an das er sich nach dem verwischten Bild erinnern konnte. Als das geschah, war Phobos fünfzig Kilometer entfernt, wie der Pilot sagte. Bei 7000 Kilometern in der Stunde. Gar nicht so besonders schnell. Es gab Meteore, die den Planeten mit 50000 trafen. Aber immer noch schnell genug.

Frank ging wieder zurück in die Speise-Etage und bemühte sich, das flüchtige Bild im Geist festzuhalten. Phobos: Leute am Nachbartisch sprachen davon, ihn in eine sich wie eine Zopfflechte hin und her schlängelnde Bahn mit Deimos zu schieben, da er jetzt nur ein Hindernis für das Kabel bedeutete. Und Phyllis hatte schon immer argumentiert, dass den Mars das gleiche Schicksal in großem Stil ereilt haben würde, wenn nicht der Aufzug gebaut worden wäre, um seine Gravitationssenke zu überwinden. Die Montanleute hätten ihn außer acht gelassen. Sie wären zu den an Metall reichen Asteroiden gegangen, bei denen man sich nicht mit Schwerkraft plagen musste. Und dann waren da auch noch die Monde von Jupiter, Saturn und den äußeren Planeten …

Aber diese Gefahr bestand jetzt nicht mehr.


Am fünften Tag näherten sie sich Clarke und bremsten ab. Clarke war ein Asteroid von etwa zwei Kilometern Durchmesser gewesen, ein kohlenstoffhaltiger Brocken, der jetzt zu einem Würfel umgestaltet war, von dessen auf den Mars gerichteter Seite jeder Zentimeter der Oberfläche planiert und von Beton, Stahl oder Glas bedeckt war. Das Kabel tauchte genau in das Zentrum dieser Anordnung. Auf beiden Seiten des Gelenks, wo das Kabel auf den Mond traf, waren Löcher, die genau groß genug waren, um die Passage der Aufzugswagen zu ermöglichen.

Sie glitten in eines dieser Löcher und hielten sanft an. Der Innenraum, in den sie gelangten, war wie ein vertikaler U-Bahnhof. Die Passagiere stiegen aus und verschwanden in den Tunneln von Clarke. Ein Assistent von Phyllis holte Frank ab und fuhr ihn in einem kleinen Wagen durch ein Labyrinth von Tunneln mit Steinwänden. Sie kamen zu Phyllis’ Büros, die sich auf der Planetenseite des Mondes befanden, und mit Spiegeln und grünem Bambus verkleidet waren. Obwohl sie sich fast in Mikroschwere befanden und nur sehr langsam vom Mars wegdrifteten, standen sie auf dem Fußboden mit Klettsohlen an den Schuhen. Eine recht konservative Praxis, die aber an einem solchen auf die Erde bezogenen Ort zu erwarten war. Frank tauschte seine Schuhe an der Tür gegen solche Velcro-Sandalen aus und trat ein.

Phyllis war gerade dabei, ein Gespräch mit einigen Männern zu beenden. »Nicht nur ein billiger und sauberer Aufzug aus der Gravitationssenke, sondern ein Antriebsverfahren, um Lasten durch das ganze Sonnensystem zu schleudern! Das ist doch eine außerordentlich elegante Ingenieurleistung, meinen Sie nicht auch?«

»Ja«, antworteten die Männer.

Phyllis sah etwa fünfzig Jahre alt aus. Nach lästiger Vorstellung — die Männer waren von Amex — gingen die anderen. Als Phyllis und Frank im Zimmer allein waren, sagte Frank zu ihr: »Ihr sollt besser aufhören, diese außerordentlich elegante Ingenieurleistung zu benutzen, um den Mars mit Emigranten zu überfluten, sonst wird er euch ins Gesicht explodieren, und ihr verliert euren Ankerpunkt.«

»O Frank!« Sie lachte. Sie war wirklich deutlich gealtert: silbernes Haar, das Gesicht straff, mit hübschen Falten, eine schlanke Figur. Sauber wie eine Nadel in einem rostfarbenen Einteiler und viel Goldschmuck, was ihr zusammen mit dem Silberhaar einen umfassenden metallischen Schimmer verlieh. Sie sah Frank durch eine Brille mit einer Fassung aus Golddraht an, eine Affektiertheit, die sie von dem Raum distanzierte, als ob sie sich auf flache Videobilder an der Innenseite ihrer Gläser konzentrierte.

Frank drängte weiter: »Ehr könnt nicht so viele so schnell hinunterschicken. Es gibt für sie keine Infrastruktur, weder physisch noch kulturell. Was sich da entwickelt, sind Rabaukensiedlungen der schlimmsten Art, wie Lager von Flüchtlingen oder Zwangsarbeitern; und das wird nach Hause gemeldet werden. Du weißt, wie sie immer Analogien zu Situationen auf der Erde benutzen. Und das muss euch sicher verletzen.«

Sie starrte auf einen Punkt ungefähr drei Meter vor ihm und erklärte, als ob der Raum voller Zuhörer wäre: »Ich sehe es nicht so. Das ist nur ein Schritt auf dem Weg zur vollen Nutzung des Mars durch den Menschen. Er ist hier für uns, und wir werden ihn nutzen. Die Erde ist hoffnungslos übervölkert und die Sterblichkeitsrate sinkt immer noch. Wissenschaft und Glaube werden weiterhin neue Gelegenheiten schaffen, wie sie es immer getan haben. Diese ersten Pioniere mögen manche Unbilden erdulden, aber die werden nicht lange dauern. Wir haben schlechter gelebt als sie jetzt, als wir zuerst ankamen.«

Aufgebracht über diese Lüge, sah Frank sie an. Aber sie wich nicht zurück. Wütend sagte er: »Du gibst nicht Obacht!« Aber der Gedanke erschreckte ihn, und er hielt inne.

Er gewann die Selbstbeherrschung zurück, blickte durch die klare Decke zum Planeten. Da sie mit ihm rotierten, hatten sie natürlich immer Tharsis im Blickfeld, und aus dieser Entfernung sah er aus wie eine alte Fotografie, der orangefarbene Ball mit allen vertrauten Merkmalen seiner berühmtesten Hemisphäre: den großen Vulkanen, Noctis, den Canyons, dem Chaos, alles unversehrt. Er fragte sie: »Wann bist du zum letzten Mal hinuntergegangen?«

»Lg = 60. Ich gehe regelmäßig hinunter.« Sie lächelte.

»Wo wohnst du, wenn du hinunterkommst?«

»In UNOMA-Gebäuden.« Wo sie emsig daran arbeitete, den UN-Vertrag zu brechen.

Aber das war ihr Job, das war es, was UNOMA ihr aufgetragen hatte. Aufzugsmanagerin und zugleich die erste Verbindung zu den Montankonzernen. Wenn sie die UN verließ, konnte sie ihnen alle Tätigkeiten, denen sie gewachsen war, wegnehmen. Königin des Aufzugs. Der jetzt die Brücke war für den größten Teil der Marswirtschaft. Sie würde alles Kapital zur Verfügung haben von jedem Transnationalen, mit dem sie sich zusammentat.

Und all dies kam natürlich darin zum Ausdruck, wie sie in dem glitzernden Raum herumhüpfte und zu allen seinen abfälligen Bemerkungen lächelte. Nun, sie war schon immer etwas stupide gewesen. Frank knirschte mit den Zähnen. Es war wohl an der Zeit, die guten alten USA als Vorschlaghammer zu benutzen und zu sehen, ob noch etwas Schwung darin geblieben war.

»Die meisten Transnationalen haben in den Staaten mächtige Guthaben«, sagte er. »Wenn die amerikanische Regierung sich entschlösse, ihre Konten einzufrieren, weil sie den Vertrag brechen, würde das sie alle hemmen und einige zusammenbrechen lassen.«

»Das könntest du nie tun«, sagte Phyllis. »Es würde die Regierung bankrott machen.«

»Das ist so, als ob man einem toten Mann mit Erhängen drohen würde. Einige Nullen mehr an der Zahl erhöhen nur die Irrealität. Man kann sich das ohnehin nicht mehr vorstellen. Die einzigen, die denken, sie könnten das, sind genau deine transnationalen Manager. Sie halten die Obligationen, aber niemand sonst kümmert sich um ihr Geld. Ich könnte Washington in einer Minute davon überzeugen, und dann würdest du sehen, wie es dir genau ins Gesicht explodiert. Welchen Weg es auch geht, es ruiniert dein Spiel.« Er machte eine ärgerliche Handbewegung. »Zu diesem Zeitpunkt wird jemand anders diese Räume einnehmen …« — eine plötzliche Intuition — »du wirst wieder in Underhill sein.«

Das erregte ohne Zweifel ihre Aufmerksamkeit. Ihre lässige Geringschätzung bekam einen Stoß. »Niemand kann Washington von etwas überzeugen. Da gibt es Flugsand. Du kannst denen sagen, was du willst, und ich werde meine Aussage machen. Dann werden wir sehen, wer den größeren Einfluss hat.« Sie trippelte durchs Zimmer, öffnete die Tür und begrüßte laut eine Schar UN-Beamter.


Nichts als Zeitverschwendung. Er war nicht überrascht. Anders als diejenigen, welche ihm geraten hatten zu kommen, hatte er kein Vertrauen in die Idee gehabt, dass Phyllis vernünftig sein könnte. Wie für viele gläubige Fundamentalisten war für sie Geschäft ein Teil der Religion. Die beiden Dogmen verstärkten sich gegenseitig, waren Teil des gleichen Systems. Vernunft hatte damit nichts zu tun. Und während Phyllis noch an Amerikas Stärke glauben mochte, glaubte sie bestimmt nicht, dass Frank sie lenken könnte. Er würde ihr das Gegenteil beweisen.

Während der Rückfahrt am Kabel hinunter traf er alle halbe Stunden Videoverabredungen, fünfzehn Stunden am Tag. Seine Mitteilungen nach Washington führten bald zu komplexen, durch die Übertragung verzögerten Gesprächen mit seinen Leuten in den Außen- und Handelsministerien und mit den verschiedenen Kabinettschefs, auf die es ankam. Bald würde ihn auch der neue Präsident anhören. Inzwischen hüpften die Nachrichten wie Frösche mit allen möglichen Argumenten hin und her, je nachdem, welcher Korrespondent ihn zuerst erreichte. Es war kompliziert und erschöpfend. Der Fall auf der Erde musste wie ein Kartenhaus gebaut werden, und viele der Karten waren krumm.

Gegen Ende des Fahrt, als das Kabel schon bis hinunter zur Steckdose bei Sheffield zu sehen war, fühlte er sich plötzlich richtig sonderbar. Eine Welle physischer Erinnerung durchlief ihn. Das Gefühl ging vorbei, und nach etwas Nachdenken kam er zu der Ansicht, dass der abbremsende Wagen für einen Moment ein G durchlaufen harte. Es erschien ihm ein Bild, dass er über einen langen Pier liefe, wo unebene Bretter mit silbernen Fischschuppen zusammenplatschten. Er konnte sogar riechen, wie die salzigen Fische stanken. Ein G — merkwürdig, wie sich der Körper daran erinnerte.

Wieder in Sheffield eingetroffen, kam er wieder in den ständigen Trott, dass er Mitteilungen aufzeichnete, eingehende Antworten analysierte, sich mit alten Kumpeln und aufkommenden Mächten abgeben musste, wobei alles zusammen einen Fleckenteppich von Diskussionen ergab, die unterschiedlich schnell abliefen. Einmal, spät im nördlichen Herbst, war er in etwa fünfzig Konferenzen gleichzeitig engagiert. Es war wie mit einem Raum voller Gegner simultan blind Schach zu spielen. Aber nach drei solchen Wochen sprach es sich allmählich herum, hauptsächlich deshalb, weil Präsident Incaviglia persönlich höchst daran interessiert war, etwas gegen Amex, Mitsubishi und Armscor in die Hand zu bekommen. Er war gern bereit, etwas in die Medien dringen zu lassen von seiner Absicht, sich um angebliche Vertragsverletzungen zu kümmern.

Er tat das auch, und die Wertpapiere fielen stark in den betreffenden Sektoren. Zwei Tage später verkündete das Aufzugskonsortium, die Begeisterung für Mars-Ausreisen sei so gestiegen, dass die Nachfrage gegenwärtig das Angebot überträfe. Natürlich würden sie entsprechend ihren Gepflogenheiten die Preise erhöhen, aber sie müssten auch zeitweilig die Emigration verringern, bis mehr Städte und Bauroboter geschaffen würden.

Frank erfuhr dies zuerst durch eine Fernsehmeldung in der Bar, eines Abends bei einem einsamen Dinner. Er grinste wie ein Wolf, während er weiterkaute. »Jetzt sehen wir also, wer beim Ringen in Flugsand besser ist, du Biest.« Nach dem Essen ging er auf der Randpromenade spazieren. Er wusste, dass das nur eine Schlacht war. Und es würde ein bitterer, langer Krieg werden. Aber dennoch machte er ihm Spaß.


Dann meuterten im nördlichen Mittwinter die Bewohner der ältesten Kuppel auf dem Osthang, warfen alle UNOMA-Polizisten hinaus und schlossen sich ein. Die Russen nebenan machten es genauso.

Eine schnelle Besprechung mit Slusinski setzte Frank von der Vorgeschichte in Kenntnis. Offenbar waren beide Gruppen in der Unterabteilung für Straßenbau von Armscor beschäftigt; und beide Kuppelzelte waren mitten in der Nacht von eingedrungenen asiatischen Rowdies überfallen worden, die den Zeltstoff aufgeschlitzt, in jeder Kuppel drei Männer getötet und etliche weitere mit Messern verletzt hatten. Sowohl Amerikaner wie Russen behaupteten, die Angreifer wären yakusa in einem Rassenrausch gewesen, obwohl es sich in Franks Ohren mehr und mehr nach Subarashiis Sicherheitskräften anhörte, einer kleinen Armee, die hauptsächlich aus Koreanern bestand. Auf jeden Fall waren Polizei-Einheiten der UNOMA auf dem Schauplatz erschienen. Sie hatten festgestellt, dass die Angreifer verschwunden waren und die Kuppeln sich in Aufruhr befanden. Sie hatten beide Kuppeln versiegelt und über ihre Bewohner eine Ausgangssperre verhängt. Die Bewohner hatten sich als Gefangene empfunden, waren über diese Ungerechtigkeit erbost aus ihren Schleusen gebrochen — und hatten die durch ihre Bahnhöfe führenden Gleise mit Schweißgeräten zerstört. Auf beiden Seiten wurden einige Leute getötet. Die UNOMA-Polizei hatte massive Verstärkungen geschickt, und die Arbeiter in den beiden Kuppeln saßen nun mehr in der Falle denn je.

Wütend und entrüstet ging Frank wieder nach unten, um sich persönlich darum zu kümmern. Er musste sowohl die üblichen Einwände seines Stabes ignorieren wie auch das Verbot seitens des neuen Managers. (Helmut war zur Erde zurückgerufen worden.) Auf der Station musste er auch noch den Chef der UNOMA-Polizei kleinkriegen, kein leichtes Unterfangen. Er hatte noch nie zuvor versucht, sich so stark auf das Charisma der Ersten Hundert zu verlassen. Das machte ihn ärgerlich. Am Ende musste er bloß zwischen den Polizisten hindurchgehen — ein verrückter alter Mann, der alle zivilisierte Hemmung überwand. Und niemand wollte ihn anhalten. Diesmal nicht.

Die Meute drinnen sah auf den Monitoren wirklich hässlich aus. Aber er klopfte an ihre Schleusentür und wurde schließlich eingelassen, in eine Menge wütender junger Männer und Frauen. Er ging durch die innere Schleusentür und atmete warme abgestandene Luft. Es brüllten so viele Leute durcheinander, dass er die einzelnen Sprecher nicht ausmachen konnte, aber die in der vordersten Reihe erkannten ihn und waren deutlich überrascht, ihn hier zu sehen. Einige stießen Hochrufe aus.

Er schrie: »Okay! Ich bin hier. Wer ist euer Sprecher?«

Sie hatten keinen. Er fluchte heftig. »Was für Idioten seid ihr eigentlich? Ihr solltet besser lernen, mit dem System umzugehen, sonst steckt ihr für immer so in der Klemme. So wie jetzt — oder gar in Leichensäcken!«

Mehrere Leute riefen ihm etwas zu, aber die meisten wollten hören, was er zu sagen hatte. Und immer noch keine Spur von einem Sprecher. Darum brüllte Chalmers: »In Ordnung. Ich werde zu euch allen sprechen. Setzt euch hin, damit ich sehen kann, wer redet!«

Sie konnten sich nicht setzen, standen aber da, ohne sich zu rühren, in einer Gruppe um ihn auf dem zerwühlten Rasen des Hauptplatzes der Kuppel. Chalmers kletterte auf eine umgedrehte Kiste in ihrer Mitte. Es war später Nachmittag, und sie warfen Schatten bis hinunter zum Osthang. Er fragte, was geschehen sei; und verschiedene Stimmen schilderten den mitternächtlichen Angriff und das Scharmützel in der Station, »Ihr wurdet provoziert«, sagte er, als sie fertig waren. »Sie wollten, dass ihr einen idiotischen Krawall macht. Das ist ein uralter Trick. Sie haben euch dazu gebracht, einige Personen zu töten, die mit dem Angriff auf euch nichts zu tun hatten; und jetzt seid ihr die Mörder, die die Polizei erwischt hat! Man hat euch reingelegt, und ihr wart so blöde, euch reinlegen zu lassen.«

Die Menge murrte und fluchte, aber einige waren bestürzt. Einer sagte laut: »Diese so genannte Polizei war auch beteiligt!«

»Mag sein«, sagte Chalmers. »Aber es waren korporative Truppen, die euch angriffen, keine beliebigen Japaner in einem Wutausbruch. Ihr hättet den Unterschied erkennen sollen, ihr hättet euch bemühen müssen, das herauszufinden! So, wie es ist, habt ihr ihnen in die Hände gespielt, und die UNOMA-Polizei hat mit Vergnügen losgelegt. Sie stehen jetzt auf der Gegenseite, wenigstens manche von ihnen. Aber die nationalen Streitkräfte sind dabei, sich auf eure Seite zu stellen. Also müsst ihr lernen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, ihr müsst merken, wer eure Verbündeten sind, und entsprechend handeln. Ich weiß nicht, warum so wenige Leute auf diesem Planeten fähig sind, das zu tun. Es ist, als ob die Passage von der Erde vielen den Verstand verwirrte oder so.«

Manche lachten verdutzt. Frank fragte sie nach den Verhältnissen in den Kuppeln. Sie hatten die gleichen Beschwerden wie die anderen; und wieder konnte er das vorwegnehmen und an ihrer Stelle aussprechen. Dann schilderte er das Ergebnis seiner Reise zu Clarke. »Ich habe ein Moratorium für Emigration bekommen; und das bedeutet mehr als nur gerade etwas mehr Zeit für das Erbauen neuer Städte. Es bedeutet den Beginn einer neuen Phase zwischen den USA und der UN. Sie haben in Washington endlich begriffen, dass die UN für die Transnationalen arbeitet, und müssen darum selbst den Vertrag durchsetzen. Das liegt im vitalen Interesse von Washington, und sie sind die einzigen, die das tun werden. Der Vertrag ist jetzt ein Teil der Schlacht, der Schlacht zwischen dem Volk und den Transnationalen. Ihr steht in dieser Schlacht. Ihr seid angegriffen worden, und ihr müsst herausfinden, wem der Gegenangriff zu gelten hat, und wie ihr euch mit euren Verbündeten zusammenschließt.«

Sie machten dazu grimmige Gesichter, was verständlich war, und Frank sagte: »Ihr sollt wissen, dass wir schließlich gewinnen werden. Unsere Zahl ist größer als die ihre.«

So weit die Rübe, die man Eseln vorhielt. Was den Knüppel anging, war das mit so machtlosen Leuten immer einfach. »Seht, wenn die nationalen Regierungen die Lage nicht schnell ins reine bringen können, wenn hier mehr Unrecht geschieht und sich Chaos anbahnt, dann werden sie sagen: Zum Teufel! Sollen die Transnationalen ihre Arbeiterprobleme selber lösen, dabei werden sie erfolgreicher sein. Und ihr wisst, was das für euch bedeutet.«

»Wir haben das satt!« rief ein Mann.

»Natürlich«, sagte er. »Habt ihr nun einen Plan, die Sache zu Ende zu bringen, oder nicht?«

Es dauerte eine Weile, sie zu einer Übereinkunft zu bringen. Entwaffnung, Kooperation, Organisation, eine Petition an die amerikanische Regierung um Unterstützung und Gerechtigkeit. Die Sache selbst in die Hand zu nehmen, darauf lief es hinaus. Natürlich dauerte das einige Zeit. Und währenddessen musste er versprechen, jede Beschwerde anzuhören, jede Ungerechtigkeit zu bereinigen und alles in Ordnung zu bringen, was falsch war. Das war lächerlich und widerlich, aber er verzog das Gesicht und machte es. Er beriet sie über Medienbeziehungen und Schlichtungsverfahren und wie man Zellen und Komitees bildet und Führer wählt. Sie waren ja so unwissend! Junge Männer und Frauen, sorgfältig erzogen, unpolitisch zu sein, Techniker zu sein, die jede Politik verabscheuten, um sie zu Wachs in der Hand ihrer Anführer zu machen. So wie immer. Es war erschreckend, wie stupide sie waren, und er konnte nicht umhin, sie aufzuputschen.

Als er ging, erhielt er Beifall.


Maya war draußen im Bahnhof. Er war erschöpft und konnte sie nur ungläubig anstarren. Sie hatte ihm über Video zugesehen, wie sie sagte. Frank schüttelte den Kopf. Die Idioten da drin hatten sich nicht einmal bemüht, die inneren Kameras auszuschalten. Vielleicht wussten sie nicht einmal, dass es sie gab. Also hatte die Welt alles gesehen. Und Maya hatte die gleiche Miene von Bewunderung, als ob die Befriedung ausgebeuteter Arbeiter mit Lügen und Raffinesse höchstes Heldentum bedeutete. Was es für sie ohne Zweifel war.

Tatsächlich war sie losgezogen, um in der russischen Kuppel die gleiche Masche anzuwenden, weil es dort keinen Fortschritt gegeben hatte und sie nach ihr gefragt hatten. Also waren die Russen offenbar noch dümmer als die Amerikaner.

Sie bat ihn, sie zu begleiten; und er war zu erschöpft, um Vorteil und Nutzen davon abzuwägen. Mit verzogenem Munde sagte er zu. Es war leichter, einfach weiterzumachen.

Sie nahmen den Zug nach unten zur nächsten Station und bahnten sich ihren Weg durch die Polizei nach innen. Die russische Kuppel war dicht gefüllt wie ein Schaltbrett. Frank sah sich um und sagte: »Du wirst es wohl noch schwerer haben als ich.«

»Russen sind es gewohnt«, erwiderte sie. »Die Unterkünfte in den Kuppeln unterscheiden sich gar nicht so sehr von Moskauer Wohnungen.«

»O ja.« Russland war zu einer Art immensem Korea geworden, das denselben brutalen stromlinienförmigen Kapitalismus kultivierte, perfekt nach dem Taylor-System und mit einer Tünche aus Demokratie und Gebrauchsgütern, um die Junta zu tarnen. »Es ist erstaunlich, wie wenig man braucht, um verhungernde Menschen nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.«

»Frank, bitte!«

»Denk daran, und es wird klappen.«

»Wirst du helfen oder nicht?«

»Doch, ja.«


Der Hauptplatz roch nach Bohnen, saurer Milch, Borschtsch und elektrischen Öfen, und die Menge war viel ungebärdiger und lauter als in der amerikanischen Kuppel. Jeder war ein trotziger Führer und bereit, eine Erklärung abzugeben. Es waren viel mehr Frauen dabei als bei den Amerikanern. Die Leute hatten einen Zug zum Entgleisen gebracht, und das hatte sie elektrisiert. Sie drängten auf weitere Aktionen. Maya musste sich eines Handmegaphons bedienen und stand während der ganzen Zeit auf einem Stuhl und redete. Die Menge wirbelte um sie herum, und Teilnehmer mit lauten Argumenten ignorierten sie, als ob sie eine Cocktailpianistin wäre.

Franks Russisch war eingerostet, und er konnte das meiste von dem, was die Menge Maya zubrüllte, nicht verstehen. Er folgte aber sehr gut ihren Antworten. Sie erklärte das Emigrationsmoratorium, den Engpass in der Produktion von Städtebaurobotern und bei der Wasserversorgung, die Notwendigkeit von Disziplin und das Versprechen eines künftigen besseren Lebens, wenn alles ordentlich abliefe. Er hatte den Eindruck, dass das eine typische Babuschka-Ansprache war; und sie hatte den Effekt, die Leute etwas zu beruhigen, da bei vielen Russen jetzt eine starke reaktionäre Stimmung herrschte. Sie erinnerten sich, was soziale Unruhe wirklich bedeutete, und hatten verständlicherweise Angst davor. Und es gab viel zu versprechen. Alles erschien plausibel: eine große Welt, wenig Menschen, eine Menge von Rohstoffen, gute Roboterkonstruktionen, Computerprogramme, Gen-Muster …

Als die Diskussion einmal wirklich laut wurde, sagte er zu ihr auf englisch: »Denk an den Knüppel!«

»Was?«

»Den Knüppel! Droh ihnen! Rübe und Knüppel.«

Sie nickte und nahm wieder das Megaphon. Die ständige Unsicherheit der giftigen Luft, die tödliche Kälte. Sie waren nur durch die Kuppel am Leben und durch die Lieferung von Elektrizität und Wasser. Sie waren auf vielfältige Weise gefährdet, an die sie nicht richtig gedacht hatten und die es daheim überhaupt nicht gab.

Sie war schnell, wie sie es immer gewesen war. Zurück zu Versprechungen. Vor und zurück, Knüppel und Rübe, ein Schlag mit der Peitsche und einige Leckereien. Schließlich waren auch die Russen befriedet.

Nachher im Zug hinauf nach Sheffield schnatterte Maya nervös erleichtert, mit gerötetem Gesicht und leuchtenden Augen. Sie ergriff seinen Arm, warf den Kopf zurück und lachte. Diese nervöse Intelligenz, diese anhaltende physische Präsenz … Er musste selbst erschöpft gewesen sein oder mehr erschüttert durch das, was er während der Zeit in den Kuppeln gesehen hatte. Oder vielleicht war es auch die Begegnung mit Phyllis gewesen. Er hatte jetzt wärmere Gefühle für Maya. Es war, als ob man in eine Sauna käme nach einem kalten Tag im Freien, mit dem gleichen Gefühl von Erleichterung und tiefem Wohlgefühl. Sie sagte schnell: »Ich weiß nicht, was ich hätte tun können ohne dich. Du bist in solchen Situationen wirklich so gut, so klar, fest und scharf. Sie schenken dir Glauben, weil du nicht versuchst, ihnen zu schmeicheln oder die Wahrheit abzumildern.«

»Das funktioniert am besten«, sagte er und schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Kuppeln. »Besonders wenn man ihnen schmeichelt und sie anlügt.«

»O Frank!«

»Das ist wahr. Darin bist du selbst gut.«

Das war eine typische rhetorische Floskel, aber Maya merkte es nicht. Es gab dafür einen Fachausdruck, an den er sich nicht erinnern konnte. Metonymie? Synekdoche? Aber sie lachte bloß, lehnte sich an ihn und drückte seine Schulter. Als ob der Kampf in Burroughs nie stattgefunden hätte, von dem, was davor lag, ganz zu schweigen. Und in Sheffield ließ sie ihre Station passieren und stieg dann mit ihm zusammen aus. Sie ging an seine Schulter gelehnt durch die große Bahnhofshalle und dann zu seiner Wohnung. Dort entkleidete sie sich, duschte und zog einen Pullover von ihm an. Dabei plapperte sie ständig über den Tag und die Lage im allgemeinen. Als ob sie das immer so machten, gingen sie essen: Suppe, Forelle, Salat, eine Flasche Wein — wie alle Tage! Dann lehnten sie sich in ihren Sesseln zurück, um Kaffee und Brandy zu trinken. Politiker nach einen arbeitsreichen Tag. Die Anführer.

Schließlich hatte sie genug und lag lässig in ihrem Sessel, damit zufrieden, ihn bloß anzusehen. Und erstaunlicherweise machte ihn das nicht nervös. Es war, als ob ein Kraftfeld ihn vor alledem schützte. Vielleicht der Ausdruck in ihren Augen. Manchmal schien es, als ob man wirklich sagen könnte, dass jemand einen mochte.

Sie verbrachten die Nacht zusammen. Und danach teilte sie ihre Zeit zwischen ihrer Wohnung im ›Mars-zuerst‹-Büro und seinen Zimmern, ohne je zu diskutieren, was sie tat und was das bedeutete. Und wenn es Zeit fürs Bett war, zog sie sich aus, rollte sich neben ihn und dann auf ihn, warm und ruhig. Die Berührung eines ganzen Körpers, alles auf einmal … Und wenn er etwas unternahm, reagierte sie unverzüglich. Er brauchte nur ihren Arm zu berühren. Als ob man in eine Sauna ginge. Sie war in diesen Tagen so angenehm, so ruhig. Wie eine andere Person. Es war erstaunlich. Ganz und gar nicht Maya. Aber da war sie und flüsterte: Frank, Frank.

Aber sie sprachen nie darüber. Es ging immer um die Lage, die Neuigkeiten des Tages; und das gab ihnen wahrhaft reichlich Gesprächsstoff. Die Unruhe auf Pavonis war in einen zeitweiligen Schwebezustand übergegangen; aber die Schwierigkeiten umfassten den ganzen Planeten und wurden immer schlimmer: Sabotagen, Streiks, Krawalle, Kämpfe, Scharmützel, Morde. Und die Meldungen von der Erde waren durch den schwärzesten Galgenhumor in schieres Entsetzen abgesunken. Mars bot demgegenüber ein Bild der Ordnung, ein kleiner lokaler Wirbel, abgetrennt von dem gigantischen Mahlstrom, der Frank wie eine Todesspirale vorkam für alles, was hineingeriet. Kleine Kriege flackerten überall auf wie Zündhölzer. Indien und Pakistan hatten in Kaschmir Kernwaffen eingesetzt.

Afrika lag im Sterben, und der Norden zankte sich darum, wer zuerst helfen sollte.

Eines Tages erfuhren sie, dass die Mohole-Stadt Hephaestus westlich von Elysium, bemannt von Amerikanern und Russen, verlassen worden war. Der Funkkontakt war abgerissen; und als Leute aus Elysium gekommen waren, um nachzusehen, hatten sie die Stadt leer vorgefunden. Ganz Elysium war in Aufruhr; und Frank und Maya beschlossen zu sehen, ob sie in Person etwas ausrichten könnten. Sie nahmen zusammen den Zug nach Tharsis, hinab in die dicker werdende Luft und über die steinigen Ebenen, die jetzt gefleckt waren von Treibschnee, der nie schmolz. Der Schnee war jetzt gekörnt, schmutzig rosa, ähnlich wie die Nordseite jeder Düne und jedes Felsblocks, wie farbige Schatten. Und dann über die glitzernden schwarzen Flächen von Isidis, wo der Permafrost an warmen Sommertagen schmolz, um wieder zu schwarzen Schollen zu gefrieren. Eine Tundra im Entstehen, vielleicht sogar ein Sumpf. An den Fenstern des Zuges flogen Büschel schwarzen Grases vorbei, vielleicht sogar arktische Blüten. Oder war es vielleicht bloß Abfall?

Burroughs war still und ungemütlich, die breiten begrasten Boulevards leer, ihr Grün so schockierend wie die Halluzination eines Nachbildes, wenn man in die Sonne geblickt hat. Während sie auf den Zug nach Elysium warteten, ging Frank in den Gepäckraum des Bahnhofs und reklamierte den Inhalt seines Zimmers in Burroughs, den er zurückgelassen hatte. Der Wärter kam mit einer einzigen großen Kiste zurück, die die Kücheneinrichtung eines Junggesellen enthielt, eine Lampe, einige Pullover und ein Lesegerät. Er konnte sich an nichts davon erinnern. Er steckte das Lese- und Notizgerät in die Tasche und warf den Rest in einen Müllbehälter. Vertane Jahre. Er konnte sich an keinen Tag davon erinnern. Die Vertragsübereinkunft hatte sich jetzt als reines Theater entpuppt, als ob jemand die Stütze einer Bühnendekoration umgeworfen und den ganzen Hintergrund hätte herunterkommen lassen, womit eine wahre Geschichte auf den Stufen dahinter zum Vorschein gekommen wäre, die zwei Männer zeigte, die sich die Hände schüttelten und zunickten.

Das russische Büro in Burroughs wünschte, dass Maya bliebe und sich mit einigen russischen Angelegenheiten dort befasste. Also nahm Frank allein einen Zug nach Elysium und schloss sich dann einer Roverkarawane nach Hephaestus an. Die Leute in seinem Wagen waren durch seine Anwesenheit gehemmt. Er ignorierte sie ärgerlich und sah sein Notizbuch durch. Größtenteils eine Standardauswahl, eine große Reihe von Büchern, die nur durch einige politisch-philosophische Titel ergänzt wurde. Hunderttausend Bände. Heute fassen solche Geräte das Hundertfache, obwohl das eine sinnlose Verbesserung war; denn es gab nicht mehr Zeit, auch nur ein einziges Buch zu lesen. Er hatte sich in jenen Tagen offenbar für Nietzsche interessiert. Ungefähr die Hälfte der markierten Stellen stammten von ihm. Als Frank sie durchsah, konnte er nicht nachvollziehen, weshalb er sie markiert hatte. Es war alles windiges Gefasel. Und dann las er etwas, das ihn erschaudern machte: »Das Individuum ist in seiner Zukunft und seiner Vergangenheit ein Stück Schicksal, ein Gesetz mehr und eine Notwendigkeit mehr für alles, das ist und alles, das sein wird. Wenn man zu ihm sagt ›Verändere dich!‹, heißt das zu verlangen, dass alles sich ändern soll, sogar in der Vergangenheit …«

In Hephaestus richtete sich eine neue Mohole-Mannschaft ein, größtenteils Oldtimer, Techniker und Ingenieure, aber viel gebildeter als die Neulinge auf Pavonis. Frank unterhielt sich mit einer Reihe von ihnen und fragte nach denen, die verschwunden waren.

Eines Morgens beim Frühstück, als er an einem Fenster saß, durch das man die weiße Thermalpumpe des Moholes sah, sagte eine Frau, die ihn an Ursula erinnerte: »Diese Leute haben ihr ganzes Leben lang die Videos gesehen, sie haben den Mars studiert, sie glauben an ihn wie an einen Gral und organisieren ihr Leben dafür, hier zu leben. Sie arbeiten jahrelang und sparen und verkaufen dann alles, was sie haben, um eine Passage zu bekommen, weil sie eine ideale Vorstellung davon haben, wie es sein wird. Und dann kommen sie hierher und werden eingesperrt oder geraten bestenfalls in die alten Gleise, arbeiten irgendwo in einer Kuppel, so dass alles nur immer noch so ist wie im Fernsehen. Und so verschwinden sie. Denn sie suchen nach dem, weswegen sie hergekommen sind.«

Chalmers entgegnete: »Aber sie wissen nicht, wie die Verschwundenen leben. Wenn sie überhaupt überleben.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Das spricht sich herum. Leute kommen zurück. Es gibt Videos für einmalige Wiedergabe, die gelegentlich auftauchen.« Die Leute um sie herum nickten. »Und wir können sehen, was nach uns von der Erde heraufkommt. Am besten ist es, hinauszugehen, solange man noch die Chance hat.«

Frank schüttelte erstaunt den Kopf. Es war dasselbe, was der Liegestützler im Bergmannscamp gesagt hatte. Aber es war etwas beunruhigend, dass es von dieser ruhigen Frau in mittleren Jahren kam.

Als er an diesem Abend nicht einschlafen konnte, rief er Arkady an und bekam ihn nach einer halben Stunde zu sprechen. Arkady war oben auf Olympus Mons im Observatorium. Frank sagte: »Was, meinst du, wird geschehen, wenn sich hier alles in die Berge verdrückt?«

Arkady grinste. »Nun, Frank, dann werden wir ein menschliches Leben schaffen. Wir werden arbeiten, tun für unsere Bedürfnisse zu sorgen, und werden wissenschaftlich arbeiten und vielleicht etwas mehr terraformen. Wir werden singen und tanzen und vor der Sonne spazieren gehen und wie Wilde arbeiten für Nahrung und aus Neugier.«

Frank rief: »Das ist unmöglich! Wir sind ein Teil der Welt, wir können ihr nicht entrinnen.«

»Können wir nicht? Die Welt, von der du sprichst, ist nur der blaue Abendstern. Für uns ist jetzt die rote Welt die einzig reale.«

Frank gab es ärgerlich auf. Er war nie fähig gewesen, mit Arkady zu diskutieren, niemals. Mit John war es anders gewesen. Aber er und John waren schließlich auch Freunde gewesen.

Er fuhr mit dem Zug nach Elysium zurück. Das Elysium-Massiv erhob sich über den Horizont wie ein enormer Sattel, der auf die Wüste gefallen war. Die steilen Flanken der beiden Vulkane waren jetzt rötlich weiß, tief in Schneemassen begraben, die sich zu Firn verfestigt hatten. Die würden bald zu Gletschern werden. Er hatte sich die Städte in Elysium immer als Gegengewicht zu Tharsis gedacht — älter, kleiner, leichter zu verwalten und gesünder. Aber jetzt verschwanden Menschen zu Hunderten. Es war ein Absprungpunkt in die unbekannte Nation, die da draußen in der Kraterwildnis verborgen war.

In Elysium baten sie ihn, zu einer Gruppe amerikanischer Neuankömmlinge zu sprechen am ersten Abend ihrer Einführung. Eine offizielle Rede; aber vorher war eine informelle Zusammenkunft, und Frank ging herum und stellte Fragen wie üblich. Ein Mann sagte zu ihm frech: »Natürlich werden wir hinausgehen, wenn wir können.«

Andere fuhren gleich dazwischen. »Man hat uns gesagt, wir sollten nicht herkommen, wenn wir viel ins Freie gehen wollten. Sie sagten, auf dem Mars ist das nicht so.«

»Wen glauben sie zum Narren halten zu können?«

»Wir können das Video, das du zur Erde geschickt hast, ebenso gut sehen wie sie.«

»Zum Teufel, jeder zweite Artikel, den man liest, handelt vom Untergrund auf dem Mars und dass sie Kommunisten wären oder Nudisten oder Rosenkreuzer …«

»Utopias oder Karawanen oder primitive Höhlenbewohner …«

»Amazonen oder Lamas oder Cowboys …«

»Es ist so, dass ein jeder seine Phantasien nach hier draußen projiziert, weil es da unten so schlecht ist, verstehst du?«

»Vielleicht gibt es eine koordinierte Gegenwelt.«

»Das ist wieder so eine große Phantasievorstellung …«

»Die wahren Herren des Planeten, warum nicht? Versteckt, vielleicht von deiner Freundin Hiroko angeführt, vielleicht in Kontakt mit deinem Freund Arkady, vielleicht auch nicht. Wer weiß? Niemand weiß es sicher, jedenfalls nicht auf der Erde.«

»Das sind alles Geschichten. Am besten sollte man gleich losgehen. Millionen auf der Erde sind dabei. Viele von ihnen möchten kommen, aber nur wenige von uns kommen dazu. Und ein guter Prozentsatz derer von uns, die ausgesucht wurden, gelangten durch den Auswahlprozeß, indem sie denen die Hucke vollgelogen haben.«

»Ja, ja«, schaltete Frank sich bekümmert ein. »Wir alle haben das getan.« Es erinnerte ihn an Michels alten Witz, dass sie alle sowieso verrückt werden würden …

»Nun, ihr seid aber hier. Was hattet ihr erwartet?«

»Ich weiß nicht.« Er schüttelte unglücklich den Kopf. »Aber es ist alles Phantasie, versteht ihr? Die Notwendigkeit versteckt zu bleiben, würde jede Gemeinschaft verkümmern lassen. Es sind alles nur Fiktionen, wenn ihr der Sache auf den Grund geht. Nur Geschichten.«

»Wohin gehen denn alle, die verschwinden?«

Frank zuckte mürrisch die Achseln, und sie grinsten.

Eine Stunde später dachte er immer noch darüber nach. Sie hatten sich alle in ein Amphitheater begeben, das aus festen Salzblöcken in klassisch griechischem Stil erbaut war. Der Halbkreis ansteigender weißer Bänke war gefüllt mit aufmerksamen Personen, die auf seine Rede warteten, gespannt darauf, was einer der Ersten Hundert ihnen sagen würde. Er war ein Relikt aus der Vergangenheit, eine Person der Geschichte, er war zehn Jahre früher auf dem Mars gewesen, als einige der Zuhörer geboren wurden, und seine Erinnerungen an die Erde stammten aus großelterlicher Zeit, jenseits einer weiten und düsteren Kluft von Jahren.

Die Griechen der Antike hatten richtig die Größe und Proportionen für einen einzelnen Sprecher getroffen. Er brauchte kaum die Stimme zu erheben, und alle konnten ihn hören. Er erzählte ihnen einige der üblichen Dinge, seine Standardansprache, alles gestückelt und zensiert, da es durch laufende Ereignisse jämmerlich zerfetzt worden war. »Seht«, sagte er, während er die Gesichter in der Menge erforschte und krampfhaft revidierte und extemporierte, »als wir hier ankamen, war es ein anderer Ort, eine andere Welt; und das macht uns notwendigerweise zu anderen Menschen, als wir vorher waren. Keine der alten Direktiven der Erde spielen mehr eine Rolle. Wir werden unausweichlich eine neue Marsgesellschaft begründen. Das liegt in der Natur der Dinge. Sie entsteht aus den Entscheidungen, die wir zusammen treffen, aus unserer kollektiven Tätigkeit. Und das sind Entscheidungen, die wir in unserer Zeit treffen, in diesen Jahren, in diesem Augenblick. Aber wenn ihr euch in die Wildnis verdrückt und euch einer der verborgenen Kolonien anschließt, dann isoliert ihr euch selbst! Ihr bleibt, was immer ihr wart, als ihr kamt, und verwandelt euch nie in einen Menschen des Mars. Und ihr beraubt auch uns übrigen eurer Erfahrung und eures Beitrags. Ich kenne das persönlich, glaubt mir!« Er wurde von Schmerz durchdrungen und war darüber erstaunt.

»Wie ihr wisst, sind einige der Ersten Hundert als erste verschwunden, vermutlich unter Führung von Hiroko Ai. Ich verstehe immer noch nicht, warum sie das taten, wirklich nicht. Aber wie sehr haben wir ihren Genius für Systemplanung in der Folgezeit vermisst. Das kann ich euch versichern! Ich glaube, man kann tatsächlich sagen, dass ein Teil unserer jetzigen Schwierigkeiten aus ihrer Abwesenheit in diesen vielen Jahren resultiert.« Er schüttelte den Kopf und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. »Als ich zum ersten Mal diesen Canyon sah, in dem wir uns befinden, war ich mit ihr zusammen. Es war eine der ersten Erkundungen dieses Gebietes, ich hatte Hiroko an meiner Seite, und wir blickten in diesen Canyon hinunter, seinen ebnen und kahlen Boden; und sie sagte zu mir: ›Das ist wie der Fußboden eines Zimmers. ‹«

Er sah sein Publikum an und suchte sich an Hirokos Gesicht zu erinnern. Ja … nein. Seltsam, wie man sich an Gesichter erinnerte, bis man sie im Geist vor sich zu sehen bemüht war, als sie sich von einem abgewendet hatten. »Ich habe sie vermisst. Ich komme hierher, und es ist unmöglich zu glauben, dass es derselbe Ort ist, und so … fällt es mir schwer zu glauben, dass ich sie wirklich gekannt habe.« Er machte eine Pause und versuchte, sich auf ihre Gesichter zu konzentrieren. »Versteht ihr?«

»Nee!« kläfften einige.

Er war verwirrt und ärgerte sich wieder. »Ich sage, wir müssen hier einen neuen Mars schaffen! Ich sage, wir sind völlig neue Wesen und dass hier nichts dasselbe ist. Nichts ist dasselbe!«

Er musste aufgeben und sich setzen. Andere Redner folgten, und ihre dröhnenden Stimmen ergossen sich über ihn, während er wie gelähmt dasaß und über das offene Ende des Amphitheaters in einen Park locker gepflanzter Sykomoren blickte. Dahinter schlanke weiße Gebäude mit Bäumen auf Dächern und Balkons. Eine Vision in Grün und Weiß.

Er konnte es ihnen nicht sagen. Niemand konnte es ihnen sagen. Nur Zeit und der Mars selbst. Und in der Zwischenzeit würden sie in offenem Widerspruch zu ihren eigenen materiellen Interessen handeln. Es war immer wieder dasselbe. Aber wie konnte das nur sein? Warum waren die Menschen so blöd?

Er verließ das Amphitheater und ging durch den Park und die Stadt. Über sein Armband fragte er Slusinski: »Wie können Menschen gegen ihre eigenen offenkundigen Interessen handeln? Das ist Wahnsinn! Marxisten waren Materialisten. Wie haben die das erklärt?«

»Ideologie, Sir.«

»Aber wenn die materielle Welt und unsere Art, damit umzugehen, alles andere bestimmen, wie kann da Ideologie aufkommen? Woher, sagen sie, ist sie gekommen?«

»Einige von ihnen haben Ideologie als eine imaginäre Beziehung zu einer realen Situation definiert. Sie haben zugegeben, dass Ideologie eine mächtige Kraft im menschlichen Leben ist.«

»Aber dann waren sie gar keine Materialisten!« Er fluchte ärgerlich. »Kein Wunder, dass der Marxismus tot ist.«

»Nun, Sir, tatsächlich bezeichnen sich viele Leute auf dem Mars als Marxisten.«

»Scheiße! Sie könnten sich ebenso gut Zoroastrier oder Jansenisten oder Hegelianer nennen.«

»Marxisten sind Hegelianer, Sir.«

»Schluss!« knurrte Frank und trennte die Verbindung.

Imaginäre Wesen in einer realen Landschaft. Kein Wunder, dass er die Rübe und den Knüppel vergessen hatte und durch die Gefilde neuen Seins und radikalen Unterschieds und all solchen Unfug gewandelt war. Zu versuchen, John Boone zu sein. Ja, das stimmte! Er versuchte, das zu tun, was John gemacht hatte. Aber John war darin gut gewesen. Frank hatte in den alten Zeiten seinen Zauber immer wieder wirken sehen, wo er alles bloß durch seine Worte veränderte.

Dagegen waren für Frank Worte nur Steine im Mund. Selbst jetzt, wo sie gerade das brauchten, wenn es das einzige war, das sie retten würde.


Maya traf ihn in der Burroughs-Station und drückte ihn an sich. Er ließ sich das steif gefallen, während seine herunterhängenden Hände die Gepäckstücke hielten. Außerhalb der Kuppel blähten sich an einem malvenfarbenen Himmel tiefe schokoladenfarbene Gewitterwolken. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie sagte: »Du warst wundervoll. Jeder spricht darüber.«

»Eine Stunde lang.« Danach würden die Emigranten verschwinden wie zuvor. Es war eine Welt der Taten, und Worte hatten darauf nicht mehr Einfluss als das Rauschen eines Wasserfalls auf den Fluss des Stromes.

Er begab sich eilig zu den Mesa-Büros. Maya kam herbei und plauderte mit ihm, als er in einen der Räume mit gelben Wänden im vierten Stock hineinschaute. Bambusmöbel, geblümte Folien und Couchkissen. Maya war voller Pläne und war mit ihm zufrieden. Sie war mit ihm zufrieden! Er biss die Zähne aufeinander, bis es weh tat …

Schließlich stand er auf und ging zur Tür. »Ich muss Spazierengehen«, sagte er. Als er ging, sah er ihr Gesicht im Augenwinkel. Verletztes Erstaunen. Wie üblich.

Er ging rasch zum Rasen hinunter und längs der Reihe von Bareißsäulen, die in ihrer Unordnung wie fliegende Kegel aussahen. Auf der anderen Seite des Kanals setzte er sich am Rande eines Cafes an einen runden weißen Tisch und labte sich eine Stunde lang an griechischem Kaffee.

Plötzlich stand Maya vor ihm.

»Was meinst du damit?« sagte sie und zeigte auf den Tisch und seine mürrische Miene. »Was stimmt jetzt nicht?«

Er blickte auf seine Kaffeetasse, dann zu ihr auf, dann wieder in die Tasse. Es war unmöglich. In seinem Kopf bildete sich ein Satz, der jedes Wort gleichmäßig betonte: Ich … habe … John … getötet.

Er sagte: »Es ist alles in Ordnung. Was meinst du?«

Sie straffte die Mundwinkel. Das verlieh ihr einen verächtlichen Blick, und sie wirkte alt dabei. Jetzt war sie fast achtzig. Sie waren beide dafür zu alt. Nach langem Schweigen setzte sie sich ihm gegenüber hin.

»Schau«, sagte sie langsam. »Ich kümmere mich nicht um das, was in der Vergangenheit geschehen ist.« Sie hielt inne, und er wagte einen Blick auf sie. Sie schaute nach unten, in sich hinein. »Ich meine, was auf der Ares geschehen ist oder in Underhill. Oder sonst wo.«

Sein Herz hämmerte wie ein Kind, das heraus will. Seine Lungen waren kalt. Sie redete immer, aber er hatte es nicht mitbekommen. Wusste sie Bescheid? Wusste sie, was er in Nicosia getan hatte? Das war unmöglich, sonst wäre sie nicht hier gewesen. (Wirklich?) Aber sie hätte es wissen müssen.

»Verstehst du?« fragte sie.

Er hatte nicht gehört, was sie meinte. Er starrte weiter auf seine Kaffeetasse und schleuderte sie jäh mit dem Handrücken fort. Sie polterte unter einen Tisch in der Nähe und zerbrach. Der weiße keramische Halbkreis des Henkels drehte sich auf dem Boden.

»Ich sagte: Verstehst du?«

Er starrte gelähmt weiter auf die leere Tischfläche. Sich überschneidende Ringe aus braunen Kaffeeflecken. Maya beugte sich vor und nahm ihr Gesicht in die Hände. Sie krümmte sich über dem Magen zusammen und atmete nicht.

Endlich holte sie wieder Luft und hob den Kopf.

»Nein«, sagte sie so ruhig, dass er zuerst glaubte, sie spräche mit sich selbst. Sie blickte auf, schaute ihm in die Augen und sagte: »Es war vor dreißig Jahren. Vor mehr als fünfunddreißig haben wir uns kennen gelernt; und dreißig sind es her, dass all dies geschah. Ich bin nicht jene Maya Katarina Toitovna. Ich kenne sie nicht. Ich weiß nicht, was sie dachte oder fühlte, oder warum. Das macht mir jetzt nichts mehr aus. Ich habe kein Empfinden dafür. Jetzt bin ich, und dies bin ich.« Sie stieß sich mit einem Daumen zwischen die Brüste. »Und schau: Ich liebe dich.«

Die Stille zog sich hin. Ihre letzten Worte drifteten davon wie die kleinen Wellen in einem Teich. Er konnte nicht aufhören, sie anzusehen. Dann wandte er den Blick ab und schaute zu den Sternen über ihren Köpfen auf und ließ deren Position in seine Erinnerung einsinken. Als sie sagte Ich liebe dich, stand Orion hoch am Südhimmel. Der Metallstuhl war hart. Die Füße waren kalt.

Sie sagte: »Ich will über nichts nachdenken als dies.«

Sie wusste nicht, aber er. Und jeder musste seine Vergangenheit irgendwie akzeptieren. Sie waren jetzt fast achtzig Jahre alt — und gesund. Es gab Leute, die jetzt einhundertzehn Jahre alt waren — gesund und kräftig. Wer wusste, wie lange das dauern würde? Sie würden sich mit einer Menge Vergangenheit abfinden müssen. Und wenn das so weiterging und die Jahre ihrer Jugend in ferne Vergangenheit entwichen, und alle die verzehrenden Leidenschaften, die so tiefe Wunden geschnitten hatten … würden sie wirklich nur Narben sein? Waren sie nicht entstellende Wunden, Tausende von Amputationen?

Aber es war nichts Körperliches. Amputationen, Kastrationen, Aushöhlungen. Die gab es alle in der Einbildung. Eine imaginäre Beziehung zu einer realen Situation …

»Der Geist ist ein komisches Vieh«, murmelte er.

Sie neigte den Kopf und blickte ihn wissbegierig an. Plötzlich hatte er Angst. Sie waren ihre Vergangenheiten. Sie mussten es sein, oder sie waren gar nichts. Und was auch immer sie in der Gegenwart fühlten oder dachten oder sagten, war nicht mehr als ein Echo der Vergangenheit. Und wenn sie also sagten, was sie sagten, wie konnten sie wissen, was ihre tieferen Gehirne wirklich fühlten, dachten und sagten? Sie wussten das nicht, nicht wirklich. Aus diesem Grund waren Beziehungen höchst mysteriös. Sie fanden statt zwischen zwei Unterbewußtseinsebenen; und was auch immer der dünne Strom des Oberbewußtseins dachte, das vor sich ginge, dem konnte man nicht trauen, dass es wahr wäre. Ob Maya dies auf der tiefsten Ebene wusste oder nicht wusste, sich erinnerte oder vergaß, Rache schwor oder verzieh? Es gab keine Möglichkeit, das zu sagen. Er konnte nie sicher sein. Es war unmöglich.

Und dennoch war sie da, saß da in jämmerlichem Zustand und sah aus, als ob er sie wie eine Kaffeetasse zerschmettern könnte mit einem einzigen Schnippen des Fingers. Wenn er nicht mindestens vorgeben würde, ihr zu glauben, was dann? Was dann? Wie konnte er sie so zerbrechen? Sie würde ihn deswegen hassen, weil er sie zwang, sich an die Vergangenheit zu erinnern und sich darum zu kümmern. Und so … musste man fortfahren, handeln.

Er hob die Hand, so erschreckt, dass ihm diese Bewegung wie eine Teleoperation vorkam. Er war ein Zwerg in einem Waldo-Manipulator, einem Waldo, das steif, heikel und ungewohnt war: Heben, rasch manipulieren! Nach links, halt, zurück. Ruhig. Sanft nach unten. Ganz sanft auf ihren Handrücken. Zufassen, sehr zart. Ihre Hand war wirklich sehr kalt. Und auch die seine.

Sie blickte von ihm fort.

»Lass uns …« Er musste sich räuspern. »Lass uns wieder in unsere Zimmer gehen!«


Noch Wochen danach blieb er körperlich unbeholfen, als hätte er sich in einen Raum anderer Art zurückgezogen und müsste seinen Körper aus der Entfernung betätigen. Teleoperation. Das machte ihm bewusst, wie viele Muskeln er hatte. Manchmal kannte er sie so gut, dass er sich wie eine Schlange durch die Luft bewegen konnte; aber meistens schoss er durch die Gegend wie Frankensteins Monstrum.

Burroughs war von schlechten Nachrichten überschwemmt. Das Leben in der Stadt schien ziemlich normal, aber die Videoschirme brachten Szenen einer Welt, die Frank kaum glauben konnte. Krawalle in Hellas. Der überkuppelte Krater New Houston erklärte sich zu einer unabhängigen Republik; und in der gleichen Woche schickte Slusinski ein amerikanisches Band, wonach alle fünf Wohngruppen dafür gestimmt hatten, Hellas ohne gültige Reisegenehmigungen zu verlassen. Chalmers setzte sich mit dem neuen UNOMA-Agenten in Verbindung und erhielt ein Sonderkommando von UN-Sicherheitspolizei, das dorthin gehen sollte. Zehn Männer verhafteten fünfhundert durch den einfachen Trick, indem sie den Versorgungscomputer der Kuppel überwanden und die hilflosen Bewohner zwangen, eine Reihe von Bahnwagen zu besteigen, ehe die Luft aus der Kuppel abgelassen würde. Sie wurden per Bahn nach Korolyov gebracht, das jetzt praktisch eine Gefängnisstadt war. Seine Umfunktionierung in ein Gefängnis war kürzlich allgemein zur Kenntnis gebracht worden; es war schwer zu sagen, wann, weil es von langer Hand vorbereitet schien, vielleicht weil die Teile eines Gefängnissystems schon seit einigen Jahren planetenweit existiert hatten.

Chalmers interviewte einige Insassen über ihre Zimmerfernseher, immer zwei oder drei gleichzeitig. Er sagte ihnen: »Ihr seht, wie leicht es war, euch festzusetzen. Und so wird es überall sein. Die Lebenserhaltungssysteme sind so empfindlich, dass man sie unmöglich verteidigen kann. Selbst auf der Erde ist ein Polizeistaat mit fortgeschrittener Militärtechnik viel leichter zu verwirklichen. Aber hier ist es lächerlich einfach.«

Ein Mann in den Sechzigern entgegnete: »Nun gut, ihr habt uns erwischt, als es am leichtesten war. Das war geschickt. Wenn wir einmal freikommen, möchte ich sehen, wie du uns fängst. In dieser Hinsicht ist euer Lebenserhaltungssystem ebenso verwundbar für uns wie unseres für euch. Und eures ist leichter auszumachen.«

»Das solltet ihr eigentlich besser wissen! Alles, was zur Erhaltung des Lebens dient, ist letztlich an die Erde gebunden. Und die haben ungeheure Militärmacht zur Verfügung, wir aber nicht. Ihr und alle eure Freunde versucht, eine Phantasie-Rebellion zu inszenieren, eine Art Science Fiction im Stil von 1776, wo Grenzer das Joch der Tyrannei abschütteln. Aber hier ist das nicht so! Die Analogien sind alle falsch und trügerisch, weil sie die Realität verschleiern, die wahre Natur unserer Abhängigkeit und die Macht jener. Sie hindern euch daran zu erkennen, dass es eine Phantasterei ist!«

Der Mann sagte grinsend: »Ich bin sicher, dass es in den Kolonien manchen guten Tory-Nachbar gab, der genau so argumentierte. In mancher Hinsicht ist die Analogie gut. Wir sind hier nicht bloß kleine Rädchen in der Maschine, sondern Individuen, die meisten von uns sind gewöhnliche Leute, aber es gibt auch etliche echte Persönlichkeiten. Ich garantiere dir, dass wir unsere Washingtons, Jeffersons und Paines erleben werden. Auch die Andrew Jacksons und Forrest Mosebys, die brutalen Männer, die sich darauf verstehen, das zu bekommen, was sie wollen.«

»Das ist lächerlich!« rief Frank. »Das ist eine falsche Analogie.«

»Nun ja, es ist eher eine Metapher als eine Analogie. Es gibt Unterschiede, aber wir wollen kreativ antworten. Wir wollen nicht Flinten über Steinmauern heben, um unfaire Schüsse abzugeben.«

»Laserkanonen über Kraterwände heben? Meinst du, dass das anders ist?«

Der Mann schlug nach ihm, als ob die Kamera in seinem Zimmer ein Moskito wäre. »Ich nehme an, die eigentliche Frage ist, ob wir einen Lincoln haben werden.«

»Lincoln ist tot«, erwiderte Frank. »Und historische Analogien sind die letzte Zuflucht für Leute, die die aktuelle Situation nicht begreifen können.« Er trennte die Verbindung.

Vernunft war nutzlos. Ebenso Ärger und Sarkasmus, von Ironie ganz zu schweigen. Er konnte nur versuchen, sich mit ihnen im Lande der Phantasie auseinanderzusetzen. So trat er in Versammlungen auf und tat sein Allerbestes. Er trug ihnen vor, was der Mars war, wie er entstanden war und was für eine schöne Zukunft er als eine kollektive Gesellschaft haben könnte, spezifisch und organisch marsmäßig in seiner Natur, »wenn die Schlacken all dieser terranischen Hassgefühle weggebrannt sind, alle jene toten Gewohnheiten, die uns hindern, wirklich zu leben von der Schöpfung, welche die einzige reale Schönheit der Welt ist, verdammt!«

Zwecklos. Er versuchte, Zusammenkünfte mit einigen Verschwundenen zu arrangieren. Einmal sprach er mit einer Gruppe am Telefon und bat sie, wenn möglich Hiroko zu übermitteln, dass er dringend mit ihr reden müsse. Aber niemand schien zu wissen, wo sie war.

Dann bekam er eines Tages eine Mitteilung von ihr, in Druckschrift von Phobos gefaxt. Es hieß, er sollte lieber mit Arkady sprechen. Aber Arkady war verschwunden, als er in Hellas war, und nahm keine Anrufe mehr entgegen.

Frank sagte eines Tages vergrämt zu Maya: »Es ist ein Versteckspiel. Hattet ihr dieses Spiel in Russland? Ich erinnere mich, dass ich es einmal mit einigen älteren Kindern gespielt habe. Es war gegen Sonnenuntergang, und ein über dem Wasser aufziehendes Gewitter machte es richtig dunkel; und da war ich, lief in leeren Straßen herum und merkte, dass ich nie einen von ihnen finden würde.«

Sie gab ihm den Rat: »Vergiß die Verschwundenen! Konzentrier dich auf diejenigen, die du sehen kannst. Die Verschwundenen werden dir sowieso auf der Spur bleiben. Es spielt keine Rolle, wenn du sie nicht sehen kannst oder sie nicht antworten.«

Er schüttelte den Kopf.

Dann kam eine neue Einwanderungswelle. Er rief nach Slusinski und befahl ihm, eine Erklärung von Washington zu fordern.

»Offensichtlich, Sir, ist das Konsortium des Aufzugs im Kampf von Subarashii übernommen worden, so dass sich seine Guthaben in Trinidad Tobago befinden und es nicht länger interessiert ist, amerikanischen Belangen in der Sache zu entsprechen. Sie sagen, dass die Kapazität der Infrastruktur jetzt mit einer gemäßigten Emigrationsrate im Einklang wäre.«

»Zum Teufel mit ihnen!« sagte Frank. »Sie wissen nicht, was sie damit anrichten.«

Er ging im Kreis herum und knirschte mit den Zähnen. Die Worte strömten ruhig in einem Monolog eigener Art aus ihm heraus. »Dir seht, aber ihr versteht nicht. Es ist so, wie John zu sagen pflegte, dass es Teile der Realität des Mars gibt, die sich nicht durch das Vakuum bewegen können. Das ist nicht bloß die Empfindung der Schwerkraft, sondern das Gefühl, in einem Wohnkomplex aufzustehen und ins Bad zu gehen und dann über die Allee in einen Speisesaal. Und ihr versteht alles falsch, ihr arroganten, Ignoranten, stupiden Scheißkerle …«

Er und Maya nahmen den Zug von Burroughs zurück hinauf zum Pavonis Mons. Während der ganzen Fahrt saß sie am Fenster und sah zu, wie Landschaft aufstieg und sich senkte und sich im Flachland auf fünf Kilometer verengte und dann beim Anstieg sich auf fünfzig oder hundert Kilometer ausweitete. Eine so große Beule war Tharsis an dem Planeten. Etwas war darin ausgebrochen. Wie in der gegenwärtigen Lage. Ja, sie waren auf dem Tharsisbuckel der Geschichte des Mars stecken geblieben, wobei die großen Vulkane vor dem Ausbruch standen.

Und dann war da einer, Pavonis Mons, ein riesiger Traumberg, als ob die Welt ein Druck von Hokusai wäre. Frank hatte Mühe zu sprechen. Er vermied es, das Fernsehen auf der Vorderseite des Wagens anzuschauen. Nachrichten leuchteten im ganzen Zug sowieso ständig auf, um wieder zu erlöschen — in Stücken mitgehörter Gespräche oder dem Aussehen von Gesichtern der Leute. Es war nie nötig, das Video zu verfolgen, um die wirklich wichtigen Meldungen herauszufinden.

Der Zug bewegte sich durch einen Wald von Acheronkiefern, kleine zähe Gewächse mit einer Rinde wie Schmiedeeisen und zylindrischen Nadelbüscheln. Aber die Nadeln waren alle gelb und hingen herab. Er hatte davon gehört. Es gab Probleme mit dem Boden, zu viel Salz oder zu wenig Stickstoff. Sie waren nicht ganz sicher. Gestalten mit Helmen standen um einen herum und pflückten Proben der kranken Nadeln. »Das bin ich«, sagte Frank leise zu Maya, denn sie schlief. »Mit Nadeln herumspielen, wenn die Wurzeln krank sind.«


In den Sheffieldbüros nahm er Besprechungen auf mit den neuen Verwaltern des Aufzugs und fing zugleich eine neuer Runde simultaner Konferenzen mit Washington an. Es stellte sich heraus, dass Phyllis immer noch die Leitung des Aufzugs hatte, nachdem sie Subarashii bei der feindlichen Übernahme unterstützt hatte.

Dann hörte er, dass Arkady sich in Nicosia befand, gleich unterhalb des Abhangs von Pavonis, und dass er und seine Gefolgsleute Nicosia zu einer freien Stadt wie New Houston erklärt hatten. Nicosia war ein großer Absprungpunkt für die Verschwundenen geworden. Man konnte nach Nicosia hineinschlüpfen und nie wieder auftauchen. Das war Hunderte Male vorgekommen, so klar, dass es ziemlich deutlich war, es müsste dahinter ein System von Kontakt und Übermittlung stecken, eine Art Untergrundbahn, in die noch kein verdeckter Ermittler hatte eindringen oder aus ihr zurückkommen können. Als Frank das hörte, sagte er zu Maya: »Lass uns hinuntergehen und mit ihm reden. Ich möchte ihm wirklich in Person gegenüberstehen.«

Maya sagte finster: »Das wird nichts nützen.« Aber Nadia war vermutlich auch dort, und so kam sie mit.

Den ganzen Abhang von Tharsis hinunter fuhren sie schweigend und sahen den überfrorenen Fels vorbeifliegen. In Nicosia öffnete sich der Bahnhof für ihren Zug, als ob eine Verweigerung für sie überhaupt nicht fraglich gewesen wäre. Aber Arkady und Nadia waren nicht in der kleinen Schar, die sie begrüßte. Statt dessen war es Alexander Zhalin. Im Büro des Stadtverwalters riefen sie Arkady über eine Videoverbindung an. Nach dem Sonnenlicht hinter ihm zu urteilen, befand er sich viele Kilometer weit im Osten. Und Nadia, hieß es, wäre überhaupt nie in Nicosia gewesen.

Arkady sah so aus wie immer — freundlich und entspannt. »Das ist Wahnsinn«, sagte Frank zu ihm, wütend, dass er ihn nicht in Person erreicht hatte. »Du kannst nicht hoffen, Erfolg zu haben.«

»O doch«, sagte Arkady. »Wir können.« Sein üppiger roter und weißer Bart war ein deutliches Revolutionsabzeichen, als wäre er der junge Fidel Castro und im Begriff, Havanna einzunehmen. »Natürlich wäre es mit eurer Hilfe leichter, Frank. Denk darüber nach!«

Ehe Frank mehr sagen konnte, erweckte jemand außerhalb des Bildschirms Arkadys Aufmerksamkeit. Eine geflüsterte Konversation auf russisch, und dann sah Arkady ihn wieder an. Er sagte: »Entschuldigung, ich muss mich um etwas kümmern. Ich komme so schnell wie möglich wieder zu dir zurück.«

»Geh nicht!« brüllte Frank, aber die Verbindung war schon getrennt. »Gottverdammt!«

Nadia kam in die Leitung. Sie war in Burroughs gewesen, war aber in die Verbindung eingeschaltet gewesen, wie es schien. Im Gegensatz zu Arkady war sie streng, brüsk und mürrisch. »Du kannst nicht das unterstützen, was er tut!« rief Frank.

»Nein«, sagte Nadia grimmig. »Wir sprechen nicht. Wir haben noch diesen Telefonkontakt, daher weiß ich, wo du warst; aber wir benutzen ihn nicht mehr direkt. Keinen Sinn.«

»Du kannst ihn nicht beeinflussen?« fragte Maya.

»Nein.«

Frank sah, dass es Maya schwer fiel, das zu glauben, und er musste fast darüber lachen. Keinen Mann beeinflussen und manipulieren? Nadia hatte doch damit nie Probleme gehabt.


In dieser Nacht blieben sie in einem Wohnheim nahe dem Bahnhof. Nach dem Abendessen ging Maya wieder zum Büro des Stadtverwalters, um mit Alexander, Dmitri und Elena zu sprechen. Frank war nicht interessiert. Es war Zeitvergeudung. Er ging ruhelos um die alte Stadt herum, durch Gassen, die zur Kuppelwand führten, und erinnerte sich an jene Nacht, die so lange zurücklag. Tatsächlich nur neun Jahre, obwohl es ihm wie hundert vorkam. Nicosia war in diesen Tagen nicht sehr ansehnlich. Der Park am westlichen Ende bot noch einen guten Anblick im ganzen, aber es war so finster, dass er kaum etwas erkennen konnte.

In dem Sykomorenhain, der jetzt voll ausgewachsen war, kam er an einem kleinen Mann vorbei, der in umgekehrter Richtung ging. Der rief: »Chalmers!«

Frank wandte sich um. Der Mann hatte ein schmales Gesicht, lange verfilzte Haarfransen und dunkle Haut. Aber als er ihn erblickte, erschauerte er und platzte heraus: »Ja?«

Der Mann schaute ihn an und sagte: »Du kennst mich wohl nicht?«

»Nein. Wer bist du?«

Das Grinsen des Mannes war schief, als ob sein Gesicht durch ein gebrochenes Kiefergelenk gehandicapt wäre. Bei der Straßenbeleuchtung sah es undeutlich und entstellt aus.

»Wer bist du?« fragte Frank wieder.

Der Mann hob den Finger. »Als wir uns das letzte Mal begegneten, hast du die Stadt kaputt gemacht. Heute Nacht bin ich an der Reihe. Ha!« Er ging lachend davon. Jedes scharfe »Ha!« war höher als das vorige.

Als er kurz darauf ins Stadtbüro kam, ergriff Maya ihn am Arm. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Du solltest nicht allein in dieser Stadt umhergehen.«

»Halt den Mund!« Er ging ans Telefon und rief die Versorgungszentrale. Alles war normal. Er rief die UNOMA-Polizei an und sagte den Leuten, sie sollten eine bewaffnete Wache an der Zentrale und am Bahnhof in Stellung bringen. Er wiederholte die Anordnung noch für jemanden, der höhere Befugnisse hatte; aber es schien, als ob er bis zu dem neuen Manager gehen müsste, um eine Bestätigung zu erhalten, als der Schirm leer wurde. Unter den Füßen bebte es, und alle Alarmglocken der Stadt schrillten zugleich los.

Dann gab es einen heftigen Stoß. Alle Türen schlossen sich zischend. Das Gebäude schloss sich hermetisch, was bedeutete, dass der Druck draußen jäh gefallen war. Frank und Maya rannten ans Fenster und schauten hinaus. Die Kuppel über Nicosia war heruntergekommen. An manchen Stellen hatte sie sich wie eine Kunststoff-Folie über die höchsten Dächer gebreitet, anderswo blies der Wind sie fort. Leute unten auf den Straßen klopften an Türen, rannten, brachen zusammen und kauerten sich hin wie die Leichen in Pompeji. Frank wandte sich rasch ab. Seine Zähne klapperten vor grimmem Schmerz.

Offenbar hatte sich das Gebäude erfolgreich abgedichtet. Unter all dem Lärm konnte Frank das Summen eines Generators hören oder fühlen. Die Videoschirme waren leer, so dass es schwer war, dem Blick aus dem Fenster zu glauben. Mayas Gesicht war gerötet, aber sie verhielt sich ruhig. »Die Kuppel ist heruntergekommen!«

»Ich weiß.«

»Aber was ist passiert?«

Er antwortete nicht.

Sie hantierte noch an den Bildschirmen. »Hast du schon das Radio versucht?«

»Nein.«

»Na und?« schrie sie, außer Fassung durch sein Schweigen. »Weißt du, was vor sich geht?«

»Revolution«, sagte er.

Загрузка...