»Da sie sowieso den Verstand verlieren werden, warum nicht gleich von vornherein Verrückte schicken und ihnen so die Mühe ersparen?« sagte Michel Duval.
Er scherzte nur halb. Er hatte stets die Position vertreten, dass die Kriterien für die Auswahl eine ungewöhnliche Kombination doppelter Bindungen darstellten.
Seine psychiatrischen Kollegen starrten ihn an. Der Vorsitzende, Charles York, fragte: »Können Sie irgendwelche spezifischen Veränderungen vorschlagen?«
»Vielleicht sollten wir alle mit ihnen nach Antarctica gehen und sie gemeinsam in dieser ersten Periode beobachten. Das würde uns eine Menge lehren.«
»Aber unsere Anwesenheit wäre hinderlich. Ich denke, dass gerade einer von uns genug ist.«
Also schickten sie Michel Duval. Er traf etwa hundertvierzig Finalisten auf der McMurdo-Station an. Die erste Zusammenkunft ähnelte jeder anderen internationalen wissenschaftlichen Konferenz, wie sie allen aus ihren unterschiedlichen Disziplinen vertraut war. Aber es gab da einen Unterschied: Dies war die Fortsetzung eines Auswahlprozesses, der Jahre gedauert hatte und noch ein weiteres Jahr dauern würde. Und diejenigen, die man auserwählt hatte, würden zum Mars gehen.
Also lebten sie in Antarctica mehr als ein Jahr zusammen. Sie machten sich mit den Unterkünften und Geräten vertraut, die bereits in Robotvehikeln auf dem Mars landeten; ebenso mit einer Landschaft, die fast so kalt und rau war wie der Mars selbst; und ebenso miteinander. Sie lebten in einer Gruppe von Habitaten in Wright Valley, dem größten der Trockenen Täler von Antarctica. Sie betrieben eine Biosphärenfarm und verbrachten in den Unterkünften einen finsteren südpolaren Winter. Sie studierten zweite oder dritte Berufe oder durchliefen Simulationen der vielfältigen Aufgaben, die sie auf dem Raumschiff Ares oder später auf dem Roten Planeten selbst zu lösen haben würden — immer bewusst, dass man sie beobachtete, bewertete und beurteilte.
Sie waren keineswegs alle Astronauten oder Kosmonauten, obwohl es etwa je ein Dutzend davon gab, wobei viel mehr oben im Norden auch dazu gehören wollten. Aber die Mehrzahl der Kolonisten mussten Experten auf Gebieten sein, die erst nach der Landung ins Spiel kämen: Medizin, Computertechnik, Systementwurf, Robotik, Architektur, Areologie, Biosphärenplanung und Biologie. Ebenso jede Art von Ingenieurwesen und mancherlei Konstruktionserfahrungen. Diejenigen, die es bis Antarctica geschafft hatten, waren eine beeindruckende Gruppe von Experten in den relevanten Wissenschaften und Berufen; und sie verbrachten einen guten Teil ihrer Zeit damit, sich gegenseitig etwas beizubringen, um auch auf sekundären und tertiären Gebieten etwas darzustellen.
Und all ihre Aktivität spielte sich ab unter dem ständigen Druck von Beobachtung, Bewertung und Beurteilung. Das war notwendigerweise eine anstrengende Prozedur. Sie bildete einen Teil des Testes. Michel Duval merkte, dass das ein Fehler war, da es zu Zurückhaltung und Misstrauen bei den Kolonisten führen konnte und die große Verträglichkeit verhinderte, die das Auswahlkomitee suchte. Tatsächlich eine der vielen doppelten Bindungen. Die Kandidaten ihrerseits schwiegen über diesen Aspekt, und er machte ihnen daraus keinen Vorwurf. Man konnte keine bessere Strategie wählen, als eine doppelte Bindung bot. Sie sicherte Ruhe. Sie konnten es nicht wagen, jemanden zu beleidigen oder sich zu viel zu beklagen. Sie konnten es nicht riskieren, sich sehr zurückzuziehen. Sie würden sich keine Feinde machen.
Also kamen sie tüchtig und perfekt voran, um durchzuhalten, aber auch normal genug, um hinzukommen. Sie waren alt genug, um eine Menge gelernt zu haben, aber jung genug, um die physischen Härten der Arbeiten durchzustehen. Sie waren hinreichend motiviert, um sich auszuzeichnen, aber genügend entspannt, um gesellig zu sein. Und sie waren verrückt genug, um die Erde für immer verlassen zu wollen, aber vernünftig genug, um diese fundamentale Verrücktheit zu verbergen und sie in der Tat als reine Rationalität, wissenschaftliche Wissbegier oder etwas Derartiges zu verteidigen — was der einzig akzeptable Grund für diesen Wunsch zu sein schien. Somit behaupteten sie, die wissenschaftlich neugierigsten Leute in der Geschichte zu sein. Aber natürlich musste noch mehr daran sein. Sie mussten irgendwie entfremdet sein, entfremdet und einsam genug, um sich nicht darum zu kümmern, jeden für immer hinter sich zu lassen, den sie gekannt hatten — und dennoch verbunden und sozial genug, um mit allen ihren neuen Bekanntschaften in Wright Valley auszukommen, mit jedem Mitglied des kleinen Dorfes, welches die Kolonie bilden würde. Oh, die doppelten Bindungen waren endlos!
Sie mussten gleichzeitig sowohl außergewöhnlich sein und extra-außergewöhnlich. Ein unmögliches Unterfangen, aber doch eine Aufgabe, die ein Hindernis für ihren größten Herzenswunsch darstellte und zu einer Quelle von Besorgnis, Furcht, Groll und Wut machte. All diesen Stress zu besiegen …
Aber auch das war ein Teil der Prüfung. Michel konnte nicht umhin, mit großem Interesse zu beobachten. Manche versagten, auf die eine oder andere Weise zerbrochen. Ein amerikanischer Thermalingenieur wurde zunehmend introvertiert, zerstörte dann einige ihrer Rover und musste mit Gewalt in Gewahrsam genommen und entfernt werden. Ein russisches Paar verliebte sich ineinander und hatte dann einen so heftigen Streit, dass sie einander nicht mehr ausstehen konnten und beide ausschieden. Dieses Melodram erläuterte die Gefahren einer schief gehenden Romanze und machte alle anderen in dieser Hinsicht sehr vorsichtig. Es entwickelten sich immer noch Beziehungen; und bis sie Antarctica verließen, hatte es drei Heiraten gegeben. Und diese glücklichen sechs konnten sich in gewisser Weise ›sicher‹ fühlen. Aber die meisten waren so darauf versessen, auf den Mars zu kommen, dass sie diesen Teil ihres Lebens im Zaum hielten und höchstens diskrete sexuelle Partnerschaften pflegten, die in manchen Fällen jedermann verborgen blieben, sonst aber nur vor dem Auswahlkomitee geheim gehalten wurden.
Und Michel wusste, dass er nur die Spitze des Eisbergs sah. Er wusste, dass in Antarctica hinter seinem Rücken kritische Sachen passierten. Beziehungen hatten ihren Anfang. Und bisweilen bestimmt der Anfang einer Beziehung, wie der Rest laufen wird. In den kurzen Stunden von Tageslicht könnte jemand das Lager verlassen und nach Lookout Point trampen. Ein anderer würde ihm folgen. Und was da draußen geschah, könnte seine Spur für immer hinterlassen. Aber Michel würde es nie erfahren.
Und dann verließen sie Antarctica, und das Team war ausgesucht. Es waren fünfzig Männer und fünfzig Frauen — fünfunddreißig Amerikaner, fünfunddreißig Russen und dreißig aus gemischten internationalen Verbündeten, je fünfzehn von einem der zwei großen Partner eingeladen. Es war schwierig gewesen, eine so vollkommene Symmetrie einzuhalten, aber das Auswahlkomitee hatte darauf bestanden.
Die Glücklichen flogen nach Cape Canaveral oder Baikonur, um in die Umlaufbahn aufzusteigen. Inzwischen kannten sie sich recht gut und zugleich doch nicht so gut. Sie waren ein Team, dachte Michel, mit festen Freundschaften und etlichen Gruppenzeremonien, Ritualen, Bräuchen und Tendenzen. Und zu diesen Tendenzen gehörte ein Instinkt, sich zu verstecken, eine Rolle zu spielen und das wahre Selbst zu verkleiden. Vielleicht war das einfach die Definition von dörflichem oder sozialem Leben. Aber Michel schien es noch schlimmer zu sein. Niemand hatte sich zuvor derart streng bemühen müssen, sich in ein Dorf einzufügen. Und die radikale Trennung von öffentlichem und privatem Leben war neu und fremd. In ihnen war jetzt ein gewisser konkurrierender Unterstrom eingeprägt, ein ständiges subtiles Gefühl, dass jeder für sich allein war und dass jeder im Fall einer Schwierigkeit von den übrigen verlassen und aus der Gruppe verbannt werden könnte.
Damit hatte das Auswahlkomitee eines der größten Probleme geschaffen, die es gehofft hatte zu verhindern. Einige Leute waren sich dessen bewusst; und natürlich sorgten sie dafür, dass zu den Kolonisten der bestqualifizierte Psychiater gehörte, den sie sich vorstellen konnten.
Also schickten sie Michel Duval.
Zuerst war es wie ein Druck auf der Brust. Dann wurden sie in ihren Sesseln nach hinten geschoben, und eine Sekunde lang war der Druck recht vertraut: Ein G, die Schwerkraft, die sie nie wieder erleben würden. Die Ares hatte die Erde mit 28000 Kilometern in der Stunde umkreist. Einige Minuten lang beschleunigten sie. Der Schub der Raketen war so stark, dass ihre Sicht unscharf wurde, als sich die Hornhaut abflachte und das Atmen anstrengend wurde. Bei 40000 Stundenkilometern war Brennschluß. Sie waren von der Erdanziehung frei und nur noch im Sonnenorbit.
Die Kolonisten saßen in den Beschleunigungssesseln und zwinkerten, ihre Haut rötete sich, und sie hatten Herzklopfen. Maya Katarina Toitovna, die offizielle Leiterin des russischen Kontingents, schaute sich um. Die Leute wirkten benommen. Wenn man Besessenen das Objekt ihrer Begierde gibt, was fühlen sie dann? Das ist wirklich schwer zu sagen. In gewissem Sinne war ihr Leben zu Ende. Aber etwas anderes, irgendein anderes Leben, hatte endlich, endlich begonnen … Auf einmal voll so vieler Emotionen war es unmöglich, nicht verwirrt zu sein. Es war eine Interferenzerscheinung, manche Gefühle waren verschwunden, andere verstärkt. Maya schnallte sich von ihrem Sitz los und merkte, dass ihr Gesicht durch ein Grinsen verzerrt wurde. Und auf den Gesichtern ringsum sah sie dasselbe hilflose Grinsen — bei allen außer Sax Russell, der gleichgültig wie eine Eule war und blinzelte, als er die Datenangaben auf den Computerschirmen des Raums überflog.
Sie schwebten gewichtslos in der Kabine herum. 21. Dezember 2026: Sie bewegten sich schneller als sich je ein Mensch bewegt hatte. Sie waren unterwegs. Es war der Beginn einer neunmonatigen Reise — oder einer Reise, die den Rest ihres Lebens dauern würde. Sie waren auf sich allein gestellt.
Die für die Steuerung der Ares Verantwortlichen zogen sich an die Kontrollkonsolen und gaben Anweisung, seitliche Haltungsraketen zu feuern. Die Ares fing an, sich um ihre Achse zu drehen und stabilisierte sich bei vier Umdrehungen pro Minute. Die Kolonisten sanken zu Boden und standen in einer Pseudoschwerkraft von 0,38 G, sehr nahe der, die sie auf dem Mars fühlen würden. Viele Mannjahre an Tests hatten gezeigt, dass man dabei recht gesund würde leben können, und so sehr viel vorteilhafter als Gewichtslosigkeit, dass man die Rotation des Schiffs der Mühe für wert erachtet hatte. Und es war ein großartiges Gefühl, dachte Maya. Es gab genug Zug, um ziemlich leicht die Balance halten zu können, erzeugte aber kaum irgendeinen Eindruck von Gepreßtsein. Es entsprach vollkommen ihrer Stimmung. Sie stolperten durch die Korridore in den großen Speisesaal im Torus D, ungehemmt und fröhlich, wie auf Luft wandelnd.
In dem Speisesaal mischten sie sich zu einer Art Cocktailparty und feierten den Abflug. Maya ging umher, nippte ungezwungen an einem Glas Champagner und fühlte sich unreal und höchst glücklich, eine Mischung, die sie an ihre Hochzeitsfeier vor vielen Jahren erinnerte. Sie hoffte, dass es jetzt besser gehen würde als damals, weil es jetzt für immer währen müsste. In dem Saal war es laut. Gespräche wurden geführt. »Es ist eine nicht so sehr soziologische als vielmehr mathematische Symmetrie. Eine Art ästhetischer Balance.« — »Wir hoffen, in den Bereich von eins zu einer Milliarde zu gelangen, aber das dürfte nicht leicht sein.« Maya lehnte das Angebot nachzuschenken ab, da sie sich schwindlig genug fühlte. Außerdem war das hier Arbeit. Sie war sozusagen Mit-Bürgermeister dieses Dorfes und verantwortlich für Gruppendynamik, die kompliziert werden dürfte. Antarktische Gewohnheiten machten sich selbst in diesem Moment des Triumphs geltend, und sie horchte und beobachtete wie ein Anthropologe oder Spion.
»Die Schrumpfung hat ihre Gründe. Wir werden zuletzt fünfzig glückliche Paare sein.«
»Und sie wissen schon, wer zusammenpasst.«
Sie merkte, wie sie lachten. Schlau, gesund, höchst wohlerzogen — war dies endlich die rationale Gesellschaft, die wissenschaftlich geplante Gemeinschaft, die der Traum der Aufklärung gewesen war? Aber da waren Arkady, Nadia, Vlad, Ivana. Sie kannte das russische Kontingent zu gut, um deswegen viele Illusionen zu haben. Es konnte ebenso gut damit enden, dass es wie ein Wohnquartier einer Technischen Universität würde, voller bizarrer Streiche und wilder Affären. Nur sahen sie für so etwas schon ein wenig zu alt aus. Einige Männer bekamen Glatzen, und viele Personen beiderlei Geschlechts zeigten graue Strähnen im Haar. Es war ein langer Weg gewesen. Das Durchschnittsalter betrug sechsundvierzig Jahre, mit Extremen von dreiunddreißig (Hiroko Ai, das japanische Wunderkind für Biosphärenplanung) bis achtundfünfzig (Vlad Taneev, Nobelpreisträger für Medizin).
Aber jetzt war doch der Hauch von Jugend auf allen Gesichtern: Arkady Bogdanov war ein Porträt in Rot: Haar, Bart, Haut. In all diesem Rot hatten seine Augen ein wildes Stahlblau und traten fröhlich hervor, als er rief: »Endlich frei! Endlich frei! Alle unsere Kinder sind endlich frei!« Die Videokameras waren ausgeschaltet, nachdem Janet Blyleven eine Reihe Interviews für die Fernsehsender daheim aufgezeichnet hatte. Sie waren ohne Kontakt mit der Erde, zumindest im Speisesaal, und Arkady sang, und die Gruppe um ihn stieß darauf an. Maya blieb stehen, um zu dieser Gruppe zu stoßen. Endlich frei; es war kaum zu glauben, sie waren wirklich unterwegs zum Mars! Zusammengescharte Leute führten Gespräche, viele davon Weltklasse auf ihrem Gebiet: Ivana hatte den Teil eines Nobelpreises in Chemie gewonnen, Vlad war einer der berühmtesten Medizinbiologen der Welt, Sax gehörte in das Pantheon derer, die große Beiträge für die subatomare Theorie geleistet hatten, Hiroko war unerreicht in der Planung geschlossener Lebenserhaltungssysteme — und so alle rundum. Ein brillanter Haufen!
Und Maya war ein Teil ihrer Führer. Das war etwas kühn. Ihre Fähigkeiten als Ingenieur und Kosmonaut waren recht bescheiden. Es war wohl ihr diplomatisches Geschick, das sie an Bord gebracht hatte. Dass man sie erwählt hatte, das ungleiche, uneinige russische Team, mit diversen Mitgliedern des Commonwealth, zu leiten, nun, das war in Ordnung. Es war eine interessante Arbeit, und sie war daran gewöhnt. Und ihre Fähigkeiten könnten sich sehr wohl als die wichtigsten an Bord erweisen. Schließlich mussten sie alle zurechtkommen. Und das war eine Sache von List, Schläue und Willen. Andere Leute dazu zu bewegen, das zu tun, was man ihnen auftrug! Sie blickte auf die Menge leuchtender Gesichter und lachte. Hier an Bord waren alle gut bei ihrer Arbeit; aber einige waren viel höher befähigt. Sie musste diese Personen herausfinden und kultivieren. Ihre Führungsqualifikation hing davon ab; denn sie dachte, dass sie am Ende sicher eine Art loser, auf wissenschaftlichen Verdiensten beruhender Gemeinschaft sein würden. Und in einer solchen Gemeinschaft stellten die außergewöhnlichen Talente die wichtigen Kräfte dar. Wenn es hart auf hart ginge, würden sie die wahren Führer der Kolonie sein — sie oder jene, die sie beeinflussten.
Sie schaute sich um und entdeckte ihren Gegenspieler, Frank Chalmers. In Antarctica hatte sie ihn nicht besonders gut kennen gelernt. Ein hochgewachsener, großer, dunkelhäutiger Mann. Er war recht redselig und unglaublich energisch, aber schwer zu durchschauen. Sie fand ihn attraktiv. Sah er die Dinge ebenso wie sie? Sie hatte das nie herausfinden können. Er sprach gerade quer durch den Raum mit einer Gruppe und hörte auf seine scharfe unergründliche Art zu, den Kopf zur Seite geneigt und bereit, mit einer geistvollen Bemerkung dazwischenzufahren. Sie müsste über ihn mehr herausfinden. Und überdies würde sie mit ihm auskommen müssen.
Sie ging durch den Saal, hielt neben ihm an, so dass ihre Oberarme sich fast berührten. Sie neigte den Kopf seinem zu. Eine kurze Geste an ihre Kameraden: »Das wird lustig werden, meint ihr nicht auch?«
Chalmers sah sie an und sagte: »Es geht gut.«
Nach der Feier und dem Essen wanderte Maya, die nicht schlafen konnte, durch die Ares. Sie alle hatten schon einige Zeit im Weltraum verbracht, aber nicht in so etwas wie der Ares, die wirklich enorm war. Am Bugende des Schiffs befand sich eine Art Penthaus, ein einziger Tank wie ein Bugspriet, der in der umgekehrten Richtung wie das Schiff rotierte, so dass er stillstand. Instrumente zur Sonnenbeobachtung, Radioantennen und alle anderen Geräte, die am besten ohne Rotation arbeiteten, waren in diesem Tank untergebracht; und ganz an der Spitze war ein kugeliger Raum aus transparentem Kunststoff, der Blasenkuppel genannt wurde. Er lieferte der Besatzung einen schwerelosen, sich nicht drehenden Anblick der Sterne und eine Teilansicht des großen Schiffs.
Maya schwebte zur Fensterwand dieser Blasenkuppel und blickte neugierig auf das Schiff zurück. Dies war unter Verwendung der Außentanks von Raumfähren erbaut worden. Um die Wende des Jahrhunderts hatten NASA und Glavkosmos angefangen, kleine Schubraketen an den Tanks zu befestigen und sie alle in eine Umlaufbahn zu stoßen. Dutzende von Tanks waren so losgeschickt worden. Dann hatte man sie zu Arbeitsstellen geschleppt und in Gebrauch genommen. Man hatte daraus zwei große Raumstationen gebaut, eine Station im Librationspunkt L5, eine Station in der Mondumlaufbahn, das erste bemannte Marsvehikel und Dutzende unbemannter Frachter zum Mars. Im Laufe der Zeit einigten sich die zwei Behörden auf den Bau der Ares, die Benutzung der Tanks war zur Routine geworden, mit standardisierten Kopplungselementen, Innenräumen, Antriebssystemen und so weiter. Der Bau des großen Schiffs hatte weniger als zwei Jahre gedauert.
Es sah aus wie aus einem Baukasten für Kinder, indem Zylinder an ihren Enden verbunden waren, um kompliziertere Figuren zu bilden. In diesem Falle waren es acht Hexagone zusammengefügter Zylinder, die man Torusse nannte, aufgereiht und in der Mitte durchzogen von einem zentralen Nabenschacht aus einem Bündel von fünf Reihen Zylindern. Die Torusse waren mit der Nabe durch dünne begehbare Speichen verbunden; und das ganze Objekt sah aus wie eine Art landwirtschaftlicher Maschine, etwa der Arm eines Mähdreschers oder eine mobile Beregnungsanlage. Oder wie acht wulstige Krapfen, auf einer Stange aufgespießt, dachte Maya. Genau das, was einem Kind gefallen würde.
Die acht Ringwülste waren aus amerikanischen Tanks angefertigt, und die fünf gebündelten Längen des Zentralschachts waren russische. Beide Arten von Tanks waren ungefähr fünfzig Meter lang und hatten einen Durchmesser von zehn Metern. Maya schwebte ziellos die Tanks des Nabenschachts hinab. Das dauerte lange, aber sie hatte es nicht eilig. Sie gelangte in Torus G. Dort gab es Räume aller Formen und Größen, bis hin zum größten, der ganze Tanks beanspruchte. Der Boden in einem davon, den sie passierte, befand sich genau unter der Markierung der Hälfte, so dass sein Inneres einer langen Nissenhütte ähnelte. Aber die meisten Tanks waren in kleinere Räume unterteilt.
Sie hatte gehört, dass es davon über fünfhundert gäbe, wodurch der gesamte Innenraum ungefähr einem großen Stadthotel entsprach. Würde das aber genügen?
Vielleicht würde es das. Nach der Antarktis war das Leben auf der Ares wie eine kostspielige, labyrinthische und luftige Erfahrung. Ungefähr um sechs an jedem Morgen erhellte sich die Dunkelheit in den Wohnterassen langsam zu einer grauen Dämmerung; und um sechs Uhr dreißig etwa markierte ein plötzliches Hellwerden ›Sonnenaufgang‹. Maya wachte dabei auf, wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte. Nach dem Besuch des Baderaums begab sie sich in die Küche von Torus D, erwärmte eine Mahlzeit und ging damit in den großen Speisesaal. Dort setzte sie sich an einen Tisch zwischen Citrusbäumen in Töpfen. Hummeln, Finken, Meisen, Sperlinge und Papageien pickten zu ihren Füßen und huschten in die Höhe, vorbei an den kletternden Reben, die von der langen gewölbten Decke des Saales herabhingen, welche in einem Graublau bemalt war, das sie an den Winterhimmel von St. Petersburg erinnerte. Sie pflegte langsam zu essen, die Vögel zu beobachten, sich in ihrem Sessel zu entspannen und auf die Gespräche ringsum zu lauschen. Ein gemächliches Frühstück! Nach einem Leben in der Tretmühle wirkte es zunächst eher unbequem, sogar alarmierend, wie ein gestohlener Luxus. Als ob jeden Morgen Sonntag wäre, wie Nadia sagte. Aber Mayas Sonntagmorgen waren nie besonders lässig gewesen. In ihrer Kindheit war das die Zeit gewesen, die Einzimmerwohnung zu putzen, die sie mit ihrer Mutter geteilt hatte. Diese war Ärztin gewesen und hatte wie die meisten Frauen ihrer Generation angestrengt arbeiten müssen, um zurechtzukommen, Nahrung zu beschaffen, ein Kind aufzuziehen, sich eine eigene Wohnung zu leisten und eine Laufbahn durchzuhalten. Schließlich war das zuviel für sie gewesen, und sie hatte sich mit den vielen Frauen zusammengetan, die wütend ein besseres Leben forderten, als sie in den Sowjetjahren gehabt hatten, die ihnen halb bezahlte Jobs gegeben und die ganze Hausarbeit überlassen hatten. Kein Anstehen mehr, keine stumme Duldung. Sie mussten vorankommen, solange die Instabilität dauerte. »Auf dem Tisch steht alles«, pflegte Mayas Mutter zu sagen, wenn sie ihre mageren Mahlzeiten kochte, »Alles außer Essen!«
Und vielleicht hatten sie Fortschritte erzielt. In der Sowjetära hatten Frauen gelernt, einander zu helfen. Eine fast selbständige Welt war entstanden, von Müttern, Schwestern, Töchtern, Babuschkas, Freundinnen, Kolleginnen und sogar Fremden. Im Commonwealth hatte diese Welt ihre Gewinne konsolidiert und war noch weiter in die Machtstruktur vorgedrungen, in die engen männlichen Oligarchien russischer Regierung.
Ein besonders betroffenes Gebiet war das Raumprogramm gewesen. Mayas Mutter, die etwas mit Weltraummedizin zu tun hatte, schwor immer, dass die Kosmonautik einen Zustrom an Frauen brauchen würde. Sei es auch nur, um weibliche Daten für medizinische Versuche zu liefern. »Sie können uns nicht für immer Valentina Tereschkowa vorhalten!« pflegte ihre Mutter zu sagen. Und offenbar hatte sie recht; denn nach dem Studium der Flugzeugwissenschaften an der Moskauer Universität war Maya in ein Programm in Baikonur aufgenommen worden, hatte sich dort gut gemacht und einen Auftrag für die Station Novy Mir erhalten. Während sie dort oben war, hatte sie die Innenräume im Sinne verbesserter ergonomischer Leistungsfähigkeit umkonstruiert. Später verbrachte sie ein Jahr als Kommandantin der Station, während dessen etliche Notreparaturen ihren Ruf gemehrt hatten.
Administrative Arbeiten in Baikonur und Moskau waren gefolgt; und im Laufe der Zeit hatte sie es geschafft, in das kleine Politbüro von Glavkosmos vorzudringen und die Männer in subtilster Weise gegeneinander auszuspielen. Sie heiratete einen davon, ließ sich scheiden und stieg dann im Glavkosmos zur freien Agentin auf. Sie wurde ein Glied des innersten Kreises, des doppelten Triumvirats.
Und nun war sie also hier und genoss ein behagliches Frühstück. »So zivilisiert«, würde Nadia spotten. Sie war Mayas beste Freundin auf der Ares, eine kleine Frau mit kurz geschnittenem, graumeliertem Haar. So schlicht wie möglich. Maya, die wusste, dass sie gut aussah, was ihr öfters geholfen hatte, liebte Nadias Schlichtheit, die ihre Kompetenz irgendwie betonte. Nadia war Ingenieurin und sehr praktisch, eine Expertin für Bauten in kaltem Klima. Sie hatten sich vor zwanzig Jahren in Baikonur kennen gelernt und auf der Novy Mir einige Monate zusammengelebt. Im Lauf der Jahre waren sie wie Schwestern geworden. Obwohl sie sich wenig ähnelten und gar nicht so gut miteinander auskamen, waren sie sehr vertraut.
Jetzt schaute Nadia sich um und sagte: »Die russischen und amerikanischen Wohneinheiten in verschiedenen Torussen unterzubringen, war eine fürchterliche Idee. Wir arbeiten tagsüber mit ihnen zusammen, verbringen aber den größten Teil unserer Zeit mit den gleichen alten Gesichtern. Das verstärkt nur die alten Trennungen zwischen uns.«
»Vielleicht sollten wir vorschlagen, die Hälfte der Zimmer zu tauschen.«
Arkady, der sein Frühstücksbrötchen verschlang, beugte sich vom Nachbartisch herüber und sagte: »Das genügt nicht«, als ob er die ganze Zeit an ihrer Unterhaltung teilgenommen hätte. Sein roter Bart, der jeden Tag wilder aussah, war mit Krumen bestäubt. »Wir sollten jeden zweiten Sonntag zum Umzugstag erklären und alle veranlassen, die Wohnungen auf Zufallsbasis zu wechseln. Die Leute würden mehr von den anderen kennen lernen, und es gäbe weniger Cliquen. Und der Begriff von Eigentum an den Räumen würde gemindert.«
»Aber ich mag gern einen Raum besitzen«, sagte Nadia.
Arkady erledigte ein weiteres Brötchen und grinste beim Kauen. Es war ein Wunder, dass er durch das Auswahlkomitee gekommen war.
Aber Maya trug das Thema bei den Amerikanern vor; und obwohl niemandem Arkadys Plan gefiel, leuchtete ihnen ein einmaliger Austausch der Wohnungen als gute Idee ein. Nach einigen Beratungen und Diskussionen wurde der Umzug vorgesehen. Er fand an einem Sonntagmorgen statt, und danach war das Frühstück etwas mehr kosmopolitisch. Morgens im Speisesaal D waren jetzt auch Frank Chalmers und John Boone, sowie Sax Russell, Mary Dunkel, Janet Blyleven, Rya Jimenez, Michel Duval und Ursula Kohl dabei.
John Boone erwies sich als Frühaufsteher und erschien noch vor Maya im Speisesaal. »Dieser Raum ist weit und luftig, man hat dabei wirklich das Gefühl, im Freien zu sei«, sagte er eines frühen Morgens von seinem Tisch aus, als Maya hereinkam. »Viel besser als der Saal von B.«
Maya erwiderte: »Der Trick dabei ist, alles Chrom und weißes Plastik zu entfernen.« Ihr Englisch war ziemlich gut und wurde schnell noch besser. »Und dann die Decke wie echten Himmel zu bemalen.«
»Nicht einfach monoton blau, meinst du?«
»Ja.«
Er war, wie sie dachte, ein typischer Amerikaner: schlicht, offen, geradeheraus, entspannt. Und dennoch war dieses Exemplar eine der berühmtesten Personen der Geschichte. Das war eine unausweichliche, gewichtige Tatsache; aber Boone schien sich davon zu drücken, um mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben. Wenn er sich um den Geschmack eines Brötchens oder irgendeine Nachricht auf dem Bildschirm des Tisches kümmerte, erwähnte er nie seine frühere Expedition. Und wenn jemand dieses Thema anschnitt, sprach er davon, als unterschiede es sich nicht von den übrigen Flügen, die er gemacht hatte. Aber so war es nicht, und nur seine Lässigkeit ließ es so erscheinen. Jeden Morgen am gleichen Tisch lachte er über Nadias lahme technischen Witze und nahm an der Unterhaltung seinen Anteil. Nach einiger Zeit musste man sich anstrengen, die ihn umgebende Aura zu sehen.
Frank Chalmers war interessanter. Er kam immer spät und setzte sich für sich allein hin. Aufmerksamkeit schenkte er nur seinem Kaffee und dem Tischschirm. Nach einigen Tassen pflegte er mit den Leuten in der Nähe zu plaudern — in einem hässlichen, aber brauchbaren Russisch. Die meisten Frühstücksgespräche in Halle D waren jetzt zu Englisch übergegangen, um es den Amerikanern zu erleichtern. Die linguistische Lage war wie eine Reihe ineinander geschachtelter Puppen: Englisch umfasste alle, darin war Russisch und darin die Sprachen des Commonwealth und dann die der Internationalen. Acht Personen an Bord waren idiolinguistisch, nach Mayas Ansicht eine Art von Verwaisung. Diese waren mehr zur Erde ausgerichtet als die übrigen und standen in häufiger Kommunikation mit den Leuten daheim. Es war drollig, dass ihr Psychiater auch zu der Kategorie zählte.
Jedenfalls war Englisch die Lingua franca des Schiffs, und Maya hatte zuerst geglaubt, dass dies den Amerikanern einen Vorteil gäbe. Aber dann merkte sie, dass diese, wenn sie redeten, immer auf gleichem Fuß mit jedermann waren, während der Rest mehr private Sprachen hatte, zu denen sie umschalten konnten, wenn sie wollten.
Frank Chalmers war allerdings von diesem allen die Ausnahme. Er sprach fünf Sprachen, mehr als sonst jeder an Bord. Und er hatte auch keine Angst, sein Russisch zu benutzen, obwohl es sehr schlecht war. Er stieß einfach Fragen heraus und horchte auf die Antworten mit einer wirklich bohrenden Intensität und einem schnell und heftig ausbrechenden Lachen. Er war ein auf vielfache Weise ungewöhnlicher Amerikaner, dachte Maya. Zuerst schien er alle entsprechenden Merkmale zu haben. Er war groß, laut, von besessener Energie, vertrauensvoll und rastlos. Er war nach dem ersten Kaffee recht gesprächig und freundlich. Es dauerte eine Weile, bis man bemerkte, wie er diese Freundlichkeit ein- und ausschaltete, und zu erkennen, wie wenig sein Gespräch verriet. Zum Beispiel erfuhr Maya nie etwas über seine Vergangenheit, trotz entschiedener Bemühungen, ihn zum Reden zu bringen. Das machte sie neugierig. Er hatte schwarzes Haar, ein dunkel getöntes Gesicht, hellbraune Augen — hübsch im Sinne eines zähen Burschen. Sein Lächeln war kurz und sein Lachen scharf wie das von Mayas Mutter. Auch sein Blick war scharf, besonders, wenn er Maya ansah. Sie nahm an, dass er die andere Führungsperson abschätzte. Er verhielt sich ihr gegenüber, als bestünde ein Einvernehmen auf der Basis langer Bekanntschaft, eine Annahme, die sie verunsicherte aufgrund dessen, wie wenig sie in Antarctica miteinander gesprochen hatten. Sie pflegte sich Frauen als ihre Verbündeten vorzustellen und Männer als attraktive, aber gefährliche Probleme. Also war ein Mann, der ihr Verbündeter zu sein vorgab, desto problematischer. Und gefährlich. Und — noch etwas anderes.
Sie erinnerte sich nur an einen Moment, wo sie ihm bis unter die Haut hatte blicken können; und das war damals in Antarctica gewesen. Nachdem der thermische Ingenieur zusammengebrochen und nach Norden geschickt worden war und die Nachricht von seinem Ersatz eintraf; und als das bekannt gegeben wurde, war ein jeder höchst überrascht und aufgeregt zu hören, dass es John Boone selbst sein würde, obwohl dieser bestimmt auf seiner früheren Expedition mehr als die maximale Höchstdosis an Strahlung mitbekommen hatte. Während der abendliche Saal noch von der Nachricht brodelte, hatte Maya gesehen, wie Chalmers hereinkam und ihm das mitgeteilt wurde. Da hatte er den Kopf herumgeworfen, um seinen Informanten anzustarren. Dann hatte sie für einen Sekundenbruchteil gesehen, wie Wut aufblitzte, so kurz, dass es fast ein unterschwelliges Ereignis war.
Aber dadurch war sie auf ihn aufmerksam geworden. Und sicher bestand zwischen ihm und John eine seltsame Beziehung. Natürlich war das für Chalmers schwierig. Er war der offizielle Anführer der Amerikaner und hatte sogar den Titel ›Captain‹; aber Boone hatte mit seinem guten blonden Aussehen und der eigenartigen Präsenz seiner Perfektion sicher mehr Autorität. Er erschien als der wahre amerikanische Führer, und Frank Chalmers mehr wie ein übereifriger stellvertretender Offizier, der die unausgesprochenen Befehle Boones ausführte. Das konnte nicht angenehm sein.
Sie waren alte Freunde, hatte man Maya gesagt, als sie fragte. Aber sie selbst sah nur selten Anzeichen davon, auch wenn sie die beiden aufmerksam beobachtete. Sie sprachen selten in der Öffentlichkeit miteinander und schienen privat nicht zu verkehren. Also beobachtete sie die beiden, wenn sie nahe beisammen waren, desto genauer, ohne sich je ernsthaft zu fragen, weshalb. Die natürliche Logik der Situation schien das einfach zu verlangen. Wenn sie wieder bei Glavkosmos gewesen wären, hätte es strategisch Sinn ergeben, einen Keil zwischen sie zu treiben. Aber hier dachte sie nicht an so etwas. Es gab vieles, über das Maya nicht bewusst nachdachte.
Dennoch passte sie auf. Und eines Morgens brachte Janet Blyleven ihre Videobrille zum Frühstück in die Halle D mit. Sie war Chefreporterin für das amerikanische Fernsehen und wanderte oft durch das Schiff mit aufgesetzter Fernsehbrille. Sie schaute sich um und sprach den Kommentar. Sie sammelte Geschichten und schickte sie nach Hause, wo sie, wie Arkady sich ausdrückte, »vorverdaut und in die kindische öffentliche Meinung ausgekotzt« werden würden.
Natürlich gab es nichts Neues. Die Aufmerksamkeit der Medien war ein gewohnter Teil im Leben eines jeden Astronauten, und während des Auswahlprozesses waren sie mehr denn je aufs Korn genommen worden. Aber jetzt waren sie das Rohmaterial für Programme, die um Größenordnungen beliebter waren, als je zuvor ein Weltraumthema gewesen war. Millionen sahen sie als die ultimate Space Opera; und das war einigen von ihnen lästig. Als sich daher Janet am Ende des Tisches niederließ mit dieser modischen Brille, in deren Gestell Faseroptik steckte, ertönte einiges Stöhnen. Und am anderen Ende des Tisches diskutierten Ann Clayborne und Sax Russell, ohne irgendwie Notiz zu nehmen.
»Es wird Jahre dauern herauszufinden, was wir dort haben, Sax. Dekaden. Auf dem Mars gibt es so viel Landoberfläche wie auf der Erde, mit einer einzigartigen Geologie und Chemie. Das Land muss gründlich studiert werden, ehe wir damit anfangen können, es zu verändern.«
»Wir werden es schon durch die Landung verändern.« Russell wischte Anns Einwände fort, als wären es Spinnweben auf seinem Gesicht. »Die Entscheidung, zum Mars zu gehen, ist wie der erste Teil eines Satzes, und der ganze Satz lautet …«
»Veni, vidi, vici.«
Russell zuckte die Achseln. »Wenn du es so ausdrücken willst.«
»Du bist ein Würstchen, Sax«, sagte Ann und verzog ärgerlich den Mund. Sie war eine breitschultrige Frau mit wildem braunen Haar, eine Geologin mit strengen Ansichten und in der Diskussion schwierig. »Schau, der Mars ist eine Welt für sich. Du kannst deine das Klima verändernden Spielchen hinten auf der Erde treiben, wenn du willst. Die brauchen die Hilfe. Oder es auf der Venus versuchen. Aber du kannst nicht einfach die drei Milliarden Jahre alte Oberfläche eines Planeten auslöschen.«
Russell schob noch mehr Spinnweben weg und sagte einfach: »Er ist tot. Außerdem ist es eigentlich gar nicht unsere Entscheidung. Sie wird uns aus den Händen genommen werden.«
»Keine dieser Entscheidungen wird uns aus den Händen genommen werden«, warf Arkady scharf ein.
Janet sah von Sprecher zu Sprecher und nahm sie alle auf. Ann wurde allmählich erregt und hob die Stimme. Maya schaute sich um und sah, dass Frank die Situation nicht gefiel. Aber wenn er sich einmischte, würde er den Millionen die Tatsache verraten, dass er keine Diskussionen der Kolonisten vor ihnen wollte. Statt dessen blickte er über den Tisch und fing Boones Blick ein. Es gab zwischen beiden einen so raschen Austausch von Mienenspiel, dass Maya zwinkern musste.
Boone sagte: »Als ich dort war, hatte ich den Eindruck, dass er schon erdartig wäre.«
»Mit Ausnahme von zweihundert Kelvin Temperatur«, sagte Russell.
»Sicher, aber es sah aus wie die Mojave-Wüste oder die Dry Valleys. Das erste Mal, als ich mich auf dem Mars umschaute, merkte ich, dass ich mich nach jenen mumifizierten Flossenfüßlern umsah, die wir in den Dry Valleys gesehen hatten.«
Und so weiter. Janet wandte sich ihm zu; und Ann nahm mit enttäuschtem Gesicht ihren Kaffee und verschwand damit.
Danach konzentrierte sich Maya und suchte, sich die Mienen wieder ins Gedächtnis zu rufen, die Boone und Chalmers ausgetauscht hatten. Sie waren wie eine Art Code gewesen oder wie die privaten Sprachen, die identische Zwillinge manchmal für sich erfinden.
Die Wochen vergingen, und die Tage begannen alle mit einem lässigen Frühstück. Die nachfolgenden Vormittage waren viel geschäftiger. Jeder hatte einen Zeitplan, wenn auch manche voller waren als andere. Der von Frank war gedrängt voll, so wie er es liebte, ein manischer Nebel von Aktivität. Aber die notwendige Arbeit war durchaus nicht immer so großartig. Sie mussten sich am Leben und in Form halten, das Schiff in Gang halten und sich auf den Mars vorbereiten. Die Wartung des Schiffs erstreckte sich von den Finessen des Programmierens oder Reparaturen bis hin zu primitiven Tätigkeiten wie Vorräte aus dem Lager holen oder Abfall zu den Aufbereitern bringen. Das Biosphärenteam verbrachte den größten Teil seiner Zeit auf der Farm, die große Teile der Torusse C, E und F einnahm. Und jedermann an Bord hatte auf der Farm zu arbeiten. Die meisten hatten daran Freude, und manche kehrten sogar in ihren freien Stunden dorthin zurück. Auf Anweisung der Ärzte mussten alle täglich drei Stunden mit Tretmühlen, Rolltreppen, Laufrädern oder Gewichtsapparaten zubringen. Diese Stunden wurden genossen, ertragen oder geschmäht, je nach Temperament; aber selbst jene, welche behaupteten, sie nicht zu mögen, erledigten ihre Übungen in merklich (und sogar messbar) besserer Stimmung. »Beta-Endorphine sind die beste Droge«, würde Michel Duval sagen.
»Was ein Glück ist, da wir keine anderen haben«, würde John Boone antworten.
»Oh, es gibt Koffein …«
»Macht mich schläfrig.«
»Alkohol …«
»Bereitet mir Kopfschmerzen.«
»Prokain, Darvon, Morphin …«
»Morphin?«
»In den medizinischen Vorräten. Nicht für allgemeinen Gebrauch.«
Arkady lächelte. »Vielleicht sollte ich lieber krank werden.«
Die Ingenieure einschließlich Maya verbrachten viele Vormittage beim Training von Simulationen. Diese fanden auf der Ersatzbrücke in Torus B statt, der die neuesten Errungenschaften an Bildsynthesizern hatte. Die Simulationen waren so geschickt, dass es kaum einen sichtbaren Unterschied zwischen ihnen und der eigentlichen Aktion gab. Das machte sie nicht unbedingt interessant. Die standardisierte Orbitalannäherung, allwöchentlich geübt, hatte den Spitznamen ›Der Mantra-Lauf‹ und wurde für jegliche Flugmannschaft zu einer langweiligen Plage.
Aber manchmal war selbst Langeweile den Alternativen vorzuziehen. Arkady war ihr Trainigsspezialist und hatte ein geradezu perverses Talent zum Entwerfen von Problemläufen, die so hart waren, dass sie oft jeden ›töteten‹. Diese Läufe waren eigenartig unangenehme Erfahrungen und machten Arkady bei seinen Opfern nicht beliebt. Er mischte willkürlich Problemläufe mit Mantraläufen, aber es waren immer mehr Problemläufe. Sie ›näherten sich dem Mars‹, und rote Lampen flammten auf, bisweilen mit Sirenen; und sie waren wieder in Schwierigkeiten. Einmal hatten sie einen Treffer durch ein Planetesimal von etwa fünfzehn Gramm, das einen großen Riss im Hitzeschild hinterließ. Sax Russell hatte ausgerechnet, dass ihre Chancen, mit etwas größer als ein Gramm zusammenzutreffen, ungefähr zu eins in siebentausend Reisejahren stünden; aber es gab sie dennoch: Notfall! Adrenalin durchströmte sie, obwohl sie schon über diese Idee die Nase rümpften. Sie rannten in die Nabe und legten Anzüge für Außenarbeiten an, um das Loch zu verstopfen, ehe sie in die Marsatmosphäre gerieten und knusprig gebraten würden. Als sie halb soweit waren, kam über ihre Interkoms Arkadys Stimme: »Nicht schnell genug! Wir sind längst alle tot!«
Aber das war noch ein einfacherer Fall. Andere … Zum Beispiel wurde das Schiff durch Drahtflugsystem gesteuert, was bedeutete, dass die Piloten in die Flugcomputer Befehle eingaben, die diese dann in die tatsächlichen Schübe umsetzten, um das verlangte Resultat zu erzielen. Das sollte sein; denn wenn man sich mit ihrer Geschwindigkeit einer gravitierenden Masse wie dem Mars näherte, war es glatt unmöglich zu fühlen oder zu ahnen, welche Zündperioden die gewünschten Effekte erzielen würden. Darum waren sie alle keine Flugzeugpiloten im üblichen Sinne. Nichtsdestoweniger ließ Arkady öfters das ganze massiv redundante System hochgehen, gerade wenn sie einen kritischen Moment erreichten (ein Versagen, das, wie Russell sagte, ungefähr mit einer Wahrscheinlichkeit von einmal in zehn Milliarden Fällen eintrat), und sie mussten übernehmen und alle Raketen mechanisch bedienen, wobei sie die Monitore und ein orangefarbenes Bild auf schwarzem Grund des auf sie zukommenden Mars beobachten mussten. Dann konnten sie entweder weitermachen, in den tiefen Raum entweichen und eines langsamen Todes sterben, oder kurz auf den Planeten prallen und sofort sterben. In diesem Falle mussten sie das bis hin zu dem simulierten tödlichen Zerschellen mit 120 Kilometern in der Sekunde erleben.
Oder es könnte ein mechanisches Versagen eintreten: Hauptantrieb, Stabilisierungsraketen, Computerhardware oder -Software, Entfaltung des Hitzeschildes; all das musste bei der Annäherung perfekt funktionieren. Und Versager in diesen Systemen waren am allerwahrscheinlichsten — im Bereich von, wie Sax sagte (obwohl andere seine Risikoabschätzungsmethoden in Frage stellten) einer bei zehntausend Annäherungen. Also machten sie es noch einmal, und rote Lampen würden aufleuchten, und sie wurden stöhnen und einen ›Mantralauf‹ herbeisehnen, obwohl sie zum Teil die neue Herausforderung begrüßten. Wenn sie es schafften, einen mechanischen Fehler zu überleben, waren sie kolossal stolz. Das konnte der Höhepunkt einer Woche sein. Einmal gelang es John Boone, erfolgreich von Hand eine aerodynamische Bremsung auszuführen bei nur einer funktionierenden Rakete, indem er die sichere Bogenmillisekunde bei der einzig möglichen Geschwindigkeit traf. Niemand konnte das glauben. »Reines Glück«, sagte Boone und grinste breit, als die Tat beim Essen zur Sprache kam.
Die meisten von Arkadys Übungsläufen endeten aber mit Versagen, was für alle den Tod bedeutete. Simuliert oder nicht, es war für alle hart, bei diesen Erfahrungen nicht ernüchtert zu werden und überdies gereizt, weil Arkady sie erfunden hatte. Einmal reparierten sie jeden Monitor auf der Brücke gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Schirme den Treffer eines kleinen Asteroiden verzeichneten, der durch die Nabe stieß und sie alle tötete. Ein andermal machte Arkady als Teil des Navigationsteams einen ›Fehler‹ und wies die Computer an, die Rotation des Schiffs zu erhöhen, anstatt sie herabzusetzen. »Mit sechs G auf den Fußboden genagelt!« schrie er in gespieltem Entsetzen; und sie mussten eine halbe Stunde lang auf dem Boden kriechen und so tun, als ob sie den Fehler berichtigten, während sie jeder eine halbe Tonne wogen. Als sie Erfolg hatten, sprang Arkady vom Boden auf und fing an, sie vom Kontrollmonitor wegzustoßen.
»Was, zum Teufel, machst du?« kreischte Maya.
»Er ist verrückt geworden«, sagte Janet.
»Er hat simuliert, dass er verrückt wurde«, korrigierte Nadia sie. »Wir müssen uns vorstellen …« — dabei drehte sie eine letzte Runde um Arcady —, »wie man mit jemand zurechtkommt, der auf der Brücke verrückt wird!«
Was ohne Zweifel stimmte. Aber sie konnten die ganze Zeit das Weiße in Arkadys Augen sehen, und es war keine Spur von Erkennen in ihm, während er sie stumm attackierte. Alle fünf waren nötig, um ihn festzuhalten, und Janet und Phyllis Boyle wurden durch seine spitzigen Ellbogen verletzt.
»Nun?« sagte er später beim Essen und grinste schief, als er eine Schnute zog. »Wie, wenn das passiert? Wir stehen hier oben unter Druck, und die Annäherung wird das Allerschlimmste sein. Was, wenn jemand zusammenbricht?« Er wandte sich zu Russell, und sein Grinsen wurde noch wilder. »Wie stehen die Chancen dafür, he?« Und er stimmte ein Lied aus Jamaika an mit slawisch karibischem Akzent: »Druckabfall, oh, Druckabfall, oho, der Druck wird fallen auch bei euch, oho!«
Also übten sie weiter und nahmen die Problemläufe so ernst sie konnten, selbst den Angriff durch Eingeborene auf dem Mars oder die Loskopplung von Torus D, verursacht durch ›Sprengbolzen, die beim Bau des Schiffs versehentlich eingesetzt wurden‹, oder das Ausscheren von Phobos aus seiner Bahn im letzten Moment. Der Umgang mit weniger plausiblen Szenarien nahm bisweilen eine Art von surrealem schwarzen Humor an; und Arkady spielte einige seiner Videobänder zur Unterhaltung nach dem Essen ab, wodurch manchmal Leute lachend Luftsprünge machten.
Aber die plausiblen Problemläufe … Die kamen ständig, jeden Morgen, einer nach dem anderen. Und trotz den Lösungen, trotz den Protokollen, um Lösungen zu finden, war da immer wieder dieser Anblick, wie der Rote Planet mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit von 40000 Kilometern in der Sekunde auf sie zuraste, bis er den Bildschirm ausfüllte und kleine schwarze Buchstaben darauf erschienen: Kollision.
Sie reisten zum Mars auf einer Hohmann-Ellipse vom Typ II. Das war ein langsamer, aber wirksamer Kurs, den man gegenüber anderen Alternativen hauptsächlich deshalb gewählt hatte, weil die beiden Planeten in der richtigen Position dafür waren, als das Schiff endlich fertig war, indem der Mars in der Ebene der Ekliptik ungefähr fünfundvierzig Grad vor der Erde stand. Während der Reise würden sie gerade halb um die Sonne fahren und dreihundert und ein paar Tage später den Mars treffen. Das war ihre vorgeburtliche Zeit, meinte Hiroko.
Die Psychologen daheim hatten es der Mühe für wert erachtet, von Zeit zu Zeit Veränderungen vorzunehmen, um auf der Ares den Ablauf der Jahreszeiten vorzutäuschen. Die Dauer von Tag und Nacht, Wetter und Farben der Umwelt wurden zu diesem Zweck verändert. Manche hatten gewollt, dass ihre Landung ein Herbst sein sollte; andere wollten einen Frühling. Nach kurzer Debatte wurde durch Abstimmung unter den Reisenden beschlossen, dass man mit einem zeitigen Frühling anfangen sollte, so dass sie im Sommer und nicht im Winter reisen würden. Und wenn sie sich dem Ziel näherten, würden die Farben des Schiffs die Herbsttöne des Mars annehmen anstelle der hellen grünen und blütenhaften Pastellfarben, die sie so weit hinter sich gelassen hatten.
Also gingen sie in diesen ersten Monaten nach getaner Morgenarbeit, wenn sie die Farm oder die Brücke verließen oder von Arkadys fröhlich sadistischen Simulationen herausstolperten, in den Frühling. Die Wände waren mit blaßgrünen Tafeln behängt oder großen Fotos von Azaleen, Jacarandas und ornamentalen Kirschen. Gerste und Senf in den großen Farmräumen glühten in lebhaftem Gelb mit neuen Blüten und die Bäume und Sträucher im Frühling ihrer Zyklen. Maya liebte diese farbigen Frühlingsblüten und erledigte nach der morgendlichen Arbeit einen Teil ihres physischen Trainings durch einen Spaziergang im Waldbiotop, das einen hügligen Boden hatte und so dicht voller Bäume war, dass sie nicht vom einen Ende der Kammer zum anderen blicken konnte. Hier traf sie oft Frank Chalmers, der eine seiner kurzen Pausen machte. Er sagte, er liebe das Blattwerk im Frühling, obwohl er es nie anzuschauen schien. Sie gingen zusammen und redeten oder nicht, wie es sich gerade ergab. Wenn sie sich unterhielten, war es nie über etwas von Bedeutung. Frank liebte es nicht, ihre Arbeit als Führer der Expedition zu erörtern. Maya fand das drollig, wenn sie es auch nicht sagte. Aber ihre Tätigkeiten waren nicht genau gleich, was für seine Zurückhaltung sprechen mochte. Mayas Position war recht informell und nichthierarchisch — Kosmonauten hatten sich immer auf relativ gleicher Ebene verhalten. Das war eine Tradition seit den Zeiten von Korolyov. Das amerikanische Programm hatte eine mehr militärische Tradition, die sogar in Titeln zum Ausdruck kam. Während Maya bloß Koordinator des Russischen Kontingents war, war Frank Captain Chalmers, und das wohl im strengen Sinne der alten Segelschiffmarinen.
Ob diese Autorität es ihm mehr oder weniger schwermachte, sagte er nicht. Manchmal diskutierte er über das Arboretum oder kleine technische Probleme oder Nachrichten von daheim. Öfters aber schien er nur mit ihr spazieren gehen zu wollen. Also — stumme Märsche, auf und ab in engen Wegen, durch dichte Gruppen von Kiefern, Eschen und Birken. Und immer diese vorgebliche Vertrautheit, als wären sie alte Freunde, oder als ob er ihr sehr schüchtern (oder subtil) den Hof machte.
Als Maya eines Tages darüber nachdachte, kam ihr in den Sinn, dass der Start der Ares im Frühling ein Problem geschaffen haben könnte. Sie waren hier in ihrem Mesokosmos, fuhren durch Frühling, und alles war fruchtbar und blühend, verschwenderisch und grün, die Luft voller Blütenduft und bewegt, die Tage länger und wärmer, und alle Leute in Shirts und Shorts, hundert gesunde Tiere, auf engem Raum, essend, übend, duschend und schlafend. Da musste es natürlich Sex geben.
Nun, das war nichts Neues. Maya hatte im Weltraum phantastische Sexspiele erlebt, am ausgeprägtesten während ihrer zweiten Dienstzeit auf Novy Mir, wo sie und Georgi und Yeli und Irina jede vorstellbare Variante in Gewichtslosigkeit ausprobiert hatten — und das waren wirklich sehr viele. Aber jetzt war es anders. Sie waren älter und für immer beisammen. »In einem geschlossenen System ist alles anders«, wie Hiroko oft in anderem Zusammenhang gesagt hatte. Die Idee, auf brüderlicher Ebene zu bleiben, war bei der NASA groß angeschrieben. Von den 1348 Seiten des Buches, welches die NASA unter dem Titel Menschliche Beziehungen beim Flug zum Mars herausgegeben hatte, war nur eine einzige Seite dem Sex gewidmet, und diese Seite riet davon ab. Sie waren, wie das Buch meinte, etwas wie ein Stamm, mit spürbarem Tabu gegen Paarung innerhalb des Stammes. Die Russen lachten fröhlich darüber, aber die Amerikaner waren wirklich so prüde. Arkady sagte: »Wir sind kein Stamm. Wir sind die Welt.«
Und es war Frühling. Und es gab die verheirateten Paare an Bord, von denen manche recht auffällig waren. Und da gab es das Schwimmbecken in Torus E und die Sauna und das Sprudelbad. Bei gemischter Gesellschaft trug man Badeanzüge, wiederum wegen der Amerikaner. Aber Badeanzüge machten nichts aus. Natürlich fing es an zu passieren. Sie hörte von Nadia und Ivana, dass die Blasenkuppel für Verabredungen in den stillen Nachtstunden diente. Es zeigte sich, dass viele Kosmonauten und Astronauten die Gewichtslosigkeit liebten. Und die vielen Winkel in den Parks und dem Arboretum dienten als Verstecke für solche mit weniger Erfahrung in Gewichtslosigkeit. Die Parks waren dafür vorgesehen, den Leuten das Gefühl zu geben, sie könnten Abstand gewinnen. Und jede Person hatte ein eigenes schalldichtes Zimmer. Wenn bei all dem ein Paar eine Beziehung anfangen wollte, ohne zum Tagesgespräch zu werden, war es möglich, sehr diskret zu sein. Maya war sicher, dass mehr vor sich ging, als irgendeine Einzelperson erfahren würde.
Das konnte sie fühlen. Anderen ging es ohne Zweifel genau so. Leise Gespräche zwischen Paaren, Wechsel bei Partnern im Speisesaal, rasche Blicke, Hände, die im Vorbeigehen Schultern oder Ellbogen berührten — o ja, es geschah einiges. Das bewirkte eine gewisse Spannung in der Luft, eine Spannung, die nur zum Teil angenehm war. Es kamen wieder antarktische Ängste ins Spiel, und außerdem gab es nur eine kleine Anzahl potentieller Partner, was den Dingen den Anstrich einer Wechselpolonaise verlieh.
Und für Maya gab es noch zusätzliche Probleme. Sie war russischer Männer mehr als überdrüssig, weil das bedeuten würde, mit dem (oder: der) Vorgesetzten zu schlafen. Sie war in dieser Hinsicht argwöhnisch, da sie wusste, was für ein Gefühl es gewesen war, wenn sie es selbst gemacht hatte. Außerdem war keiner von denen … — nun, sie fühlte sich von Arkady angezogen, mochte ihn aber nicht, und er wirkte uninteressiert.
Yeli kannte sie von früher, er war bloß ein Freund. An Dmitri lag ihr nichts, Vlad war älter, Yuri nicht ihr Typ, Alex ein Gefolgsmann Arkadys … und so weiter.
Und was die Amerikaner oder die Internationalen anging — nun, das war ein Problem anderer Art. Mischkulturen, wer konnte das wissen? Aber sie dachte darüber nach. Und gelegentlich, wenn sie morgens aufwachte oder eine Ausarbeitung beendete, schwebte sie auf einer Woge von Verlangen, das sie an der Bettkante oder unter der Dusche davonspülte und das ein Gefühl von Alleinsein hinterließ.
So traf sie eines Morgens spät nach einem besonders anstrengenden Problemlauf, den sie fast gelöst und dann doch verfehlt hatten, im Arboretum auf Frank Chalmers und erwiderte seine Begrüßung. Dann gingen sie etwa zehn Meter weit in den Wald und blieben stehen. Sie trug Shorts und ein knappes Oberteil, war barfüßig, verschwitzt und von der verrückten Simulation erregt. Er trug Shorts und ein T-Shirt, war barfüßig und von der Farm staubig. Plötzlich stieß er sein scharfes Lachen aus und langte hin, um ihren Oberarm mit zwei Fingerspitzen zu berühren. »Heute siehst du glücklich aus.« Mit dem bewussten aggressiven Lächeln.
Die Führer der beiden Hälften der Expedition. Gleichgestellt. Sie hob die Hand, um seine zu berühren, und mehr war nicht nötig.
Sie verließen den Pfad und tauchten in ein dichtes Kieferndickicht ein. Sie blieben stehen, um sich zu küssen. Das war so lange her, dass es ihr seltsam vorkam. Frank stolperte über eine Wurzel und lachte leise vor sich hin — jenes geheimnistuerische Lachen, das Maya fast erschauern ließ. Sie setzten sich auf Kiefernadern hin und rollten sich zusammen wie Studenten bei Schmusespielen im Wald. Sie lachte, sie hatte schon immer den schnellen sexuellen Kontakt geliebt, jene Art, mit der sie einen Mann umhauen konnte, wenn sie wollte.
Und so trieben sie Liebesspiele, und für einige Zeit riss ihre Leidenschaft sie mit. Als es vorbei war, entspannte sie sich und genoss die Brandung der Nachglut. Aber es wurde irgendwie ein wenig unbehaglich. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. An ihm war immer noch etwas Verborgenes, als ob er sich selbst beim Liebesspiel verstecken würde. Und noch schlimmer, was sie hinter seiner Zurückhaltung sehen konnte, war eine Art von Triumph, als ob er etwas gewonnen und sie etwas verloren hätte. Jener puritanische Zug bei Amerikanern, der Gedanke, dass Sex etwas Unrechtes wäre und Männer Frauen dazu verführen müssten. Sie zog sich etwas zurück, verärgert durch sein heimliches Grinsen. Gewinnen und Verlieren — wie Kinder.
Und dennoch waren sie sozusagen Kollegen. Wenn es also für beide auf dasselbe hinauslief.
Sie plauderten einige Zeit recht jovial und liebten sich schließlich noch einmal, ehe sie sich trennten. Aber es war nicht ganz dasselbe wie beim ersten Mal. Sie merkte, dass sie zerstreut war. Beim Sex entzog sich vieles einer rationalen Beurteilung. Maya fühlte bei ihren Partnern immer Dinge, die sie nicht analysieren oder gar ausdrücken konnte. Aber immer gefiel ihr, was sie tat, oder es gefiel ihr nicht. Daran gab es keinen Zweifel. Und als sie nach dem ersten Mal Frank Chalmers ins Gesicht geschaut hatte, wurde sie sicher, dass etwas nicht stimmte. Das machte sie missgestimmt.
Aber sie gab sich freundlich und leidenschaftlich. Es hätte keinen Sinn, in einem solchen Moment abzubrechen. Das würde niemand verzeihen. Sie standen auf, zogen sich an und gingen wieder zum Torus D. Sie speisten am gleichen Tisch mit einigen anderen; und da erschien es ganz richtig, mehr Distanz zu halten. Aber später in den Tagen nach ihrem ersten Beisammensein war sie überrascht und ärgerlich zu merken, dass sie ihn mied und Vorwände suchte, nicht mit ihm allein zu sein. Das war ungeschickt und keineswegs das, was sie gewollt hatte. Sie hätte lieber nicht so gefühlt; und ein paar Mal gingen sie wieder zusammen fort, und als er sie anmachte, trieb sie es wieder mit ihm. Sie wünschte, dass es klappen würde, da sie fühlte, dass sie mit einer Ablehnung einen Fehler gemacht hätte oder dann irgendwie in schlechter Stimmung gewesen wäre. Aber es war immer dasselbe, da war immer dieses angedeutete triumphierende Grinsen, das Ich-habe-dich-bekommen, welches sie so verabscheute, diese moralinsaure, puritanische, doppelbödige Schmuddeligkeit.
Und so mied sie ihn immer mehr, um nicht wieder in die Ausgangssituation zu geraten. Und er kapierte recht schnell, wie der Wind wehte. Eines Nachmittags bat er sie um einen Spaziergang in das Biotop; und als sie unter dem Vorwand, müde zu sein, ablehnte, zog ein Staccato von Überraschung über sein Gesicht, und dann war es wie eine Maske verschlossen. Sie hatte ein schlechtes Gefühl, weil sie es nicht einmal selbst erklären konnte.
Im Versuch, einen solch unvernünftigen Rückzug gutzumachen, war sie danach zu ihm freundlich und aufrichtig, solange die Lage sicher war. Und ein paar Mal gab sie indirekt zu verstehen, dass ihre Begegnungen für sie nur eine Besiegelung ihrer Freundschaft gewesen wären, etwas, das sie auch mit anderen getan hätte. All dies musste aber zwischen den Worten übermittelt werden; und es war möglich, dass er sie missverstand. Nach jenem ersten Ruck von Begreifen schien er nur verwirrt zu sein. Einmal, als sie eine Gruppe verließ, ehe diese aufbrach, hatte sie gesehen, dass er ihr einen prüfenden Blick zuwarf. Danach — nur Distanz und Reserve. Aber er war nie wirklich verärgert gewesen und drängte nie auf dieses Thema oder kam zu ihr, um darüber zu sprechen. Aber das war doch gerade ein Teil des Problems! Es schien, dass er mit ihr nicht darüber sprechen wollte.
Nun, vielleicht hatte er Affären laufen mit anderen Frauen, mit einigen Amerikanerinnen. Das war schwer zu sagen. Er hielt wirklich an sich. Aber es war … peinlich.
Maya beschloss, der vertrackten Verlockung ein Ende zu machen, so aufregend sie auch war. Hiroko hatte recht: In einem geschlossenen System war alles anders. Das war übel für Frank (falls es ihn kümmerte), weil er auf sie in dieser Hinsicht erzieherisch gewirkt hatte. Am Ende beschloss sie, sich mit ihm wieder zu vertragen, indem sie ihm eine gute Freundin war. Sie war so sehr darum bemüht, dass sie es einmal, fast einen Monat später, übertrieb und etwas zu weit ging, soweit, dass sie glaubte, ihn wieder zu verführen. Sie waren Teil einer Gruppe gewesen, hatten bis spät geplaudert. Und sie hatte dicht bei ihm gesessen. Später hatte er deutlich den falschen Eindruck erhalten und ging mit ihr durch Torus D zu den Baderäumen. Dabei redete er in jener charmanten und umgänglichen Art, die er bei einem solchen Stand der Dinge gewöhnlich an den Tag legte. Maya war unsicher. Sie wollte nicht allzu launisch erscheinen, obwohl in diesem Fall jedes mögliche Verhalten so wirken könnte. Also ging sie mit ihm los, nur weil das einfacher war und weil ein Teil von ihr auch Sex wollte. Drum tat sie es, über sich selbst verärgert und entschlossen, dass dies das letzte Mal sein sollte, eine Art Abschiedsgeschenk, das, wie sie hoffte, die ganze Affäre für ihn zu einer guten Erinnerung machen würde. Sie stellte fast, dass sie leidenschaftlicher war als je zuvor. Sie wollte ihm wirklich gefallen. Und dann, kurz vor dem Orgasmus, schaute sie zu seinem Gesicht auf und erblickte die Fenster eines leeren Hauses. Das war das letzte Mal.
Av, V für Geschwindigkeit, Delta für Veränderung. Im Weltraum ist dies das Maß für die Geschwindigkeit, welche erforderlich ist, um von einem Ort zum anderen zu gelangen — mithin ein Maß für die dazu erforderliche Energie.
Alles ist schon in Bewegung. Um aber etwas von der sich bewegenden Oberfläche der Erde in eine Umlaufbahn um sie zu bringen, ist ein Minimum Av von zehn Kilometern in der Sekunde erforderlich. Um den Erd-Orbit zu verlassen und zum Mars zu fliegen, braucht man mindestens ein Av von 3,6 Kilometern in der Sekunde. Der schwierigste Teil ist, die Erde ganz hinter sich zu lassen, denn dabei kommt die tiefste Gravitationssenke ins Spiel. Das Erklimmen dieser steilen Kurve der Raumzeit verlangt ungeheure Energie, um die Richtung einer enormen Trägheit zu verschieben.
Auch die Geschichte besitzt Trägheit. In den vier Dimensionen von Raumzeit haben Partikel (oder Ereignisse) eine Richtung. Um das zu zeigen, zeichnen Mathematiker so genannte ›Weltlinien‹ in Graphiken. Bei menschlichen Angelegenheiten ringeln sich individuelle Weltlinien aus der Dunkelheit der Vorgeschichte als dichtes Gewirr heraus und erstrecken sich durch die Zeit. Ein Kabel von der Größe der Erde selbst, das die Sonne auf langer Spiralbahn umrundet. Dieses Kabel einer verflochtenen Welt ist die Geschichte. Wenn man sieht, wo es gewesen ist, ist es klar, wohin es läuft. Das ist eine Sache einfacher Extrapolation. Denn welche Art von Av würde es erfordern, der Geschichte zu entrinnen, einer Trägheit, die so mächtig ist, und einen neuen Kurs zu bahnen?
Der härteste Teil ist, die Erde hinter sich zu lassen.
Die Form der Ares verlieh der Realität eine Struktur. Das Vakuum zwischen Erde und Mars kam Maya allmählich vor wie eine lange Reihe von Zylindern, die an ihren Verbindungsstellen um Winkel von fünfundvierzig Grad gedreht waren. Es gab eine Rennbahn, eine Art von Hindernisstrecke, um Torus C. An jeder Ecke verlangsamte sie ihren Lauf und spannte ihre Beine für den erhöhten Druck von zwei Knicken um 22,5 Grad. Dann konnte sie plötzlich die Länge des nächsten Zylinders sehen. Es schien eine recht enge Welt zu sein.
Vielleicht als Ausgleich dafür fingen die Menschen im Innern an größer zu werden. Der Prozess des Abwerfens ihrer antarktischen Masken dauerte an. Jedes Mal, wenn jemand eine neue und bis dahin unbekannte Eigenschaft zeigte, gab das allen denen, die das bemerkten, ein Gefühl viel größerer Freiheit; und dieses Gefühl ließ weitere verborgene Züge hervortreten. Eines Sonntagmorgens feierten die Christen an Bord, etwa ein Dutzend an der Zahl, in der Kuppelhalle Ostern. Daheim war es April, obwohl in der Ares Mitsommer herrschte. Nach dem Gottesdienst gingen sie zum zweiten Frühstück in den Speisesaal von Torus D. Maya, Frank, John, Arkady und Sax saßen an einem Tisch und tranken Kaffee und Tee. Die Gespräche zwischen ihnen und mit anderen Tischen waren eng verflochten; und zuerst hörten nur Maya und Frank, was John zu Phyllis Boyle sagte, der Geologin, die den Ostergottesdienst abgehalten hatte.
»Ich verstehe die Idee des Universums als ein Superwesen, dessen ganze Energie die Gedanken dieses Wesens sind. Das ist eine hübsche Vorstellung. Aber die Geschichte von Christus …« John schüttelte den Kopf.
Phyllis fragte: »Kennst du die Geschichte wirklich?«
John antwortete kurz: »Ich wurde in Minnesota als Lutheraner erzogen. Ich ging zur Konfirmation. Mir wurde das ganze Zeug eingedrillt.«
Was, wie Maya dachte, wohl der Grund war, weshalb er sich in solche Diskussionen einmischen wollte. Er zeigte einen missvergnügten Ausdruck, den Maya noch nie gesehen hatte; und sie beugte sich etwas vor und konzentrierte sich plötzlich. Sie sah Frank an. Der blickte in seine Kaffeetasse wie in eine Traumwelt. Sie war aber sicher, dass er zuhörte.
John sagte: »Man weiß doch längst, dass die Evangelien Jahrzehnte nach dem Ereignis geschrieben wurden, von Leuten, die Christus nie begegnet waren. Und es gibt andere Evangelien, die von einem anderen Christus künden, Evangelien, die in einem politischen Prozess des dritten Jahrhunderts aus der Bibel verbannt wurden. Also ist Christus in Wirklichkeit eine literarische Gestalt, eine politische Konstruktion. Über den Mann selbst wissen wir nichts.«
Phyllis schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wahr.«
»Doch, so ist es«, erwiderte John. Dies veranlasste Sax und Arkady am Nebentisch hochzublicken. »Schau, all dieses Zeug hat eine Geschichte. Monotheismus ist ein Glaubenssystem, das man in frühen Viehzuchtgesellschaften auftauchen sieht. Je stärker ihre Abhängigkeit von der Viehzucht, desto wahrscheinlicher glauben sie an einen Hirtengott. Das ist eine exakte Korrelation, die man sehen und kartieren kann. Und der Gott ist immer männlich, weil jene Gesellschaften patriarchalisch waren. Es gibt eine Archäologie, eine Anthropologie, die das alles vollkommen deutlich macht — wie es dazu kam und welchen Bedürfnissen es entsprach.«
Phyllis sah ihn mit leichtem Lächeln an. »John, ich weiß nicht, was ich dazu sagen kann. Es ist schließlich doch keine Sache der Geschichte. Es ist eine Sache des Glaubens.«
»Glaubst du an die Wunder Christi?«
»Auf die Wunder kommt es nicht an. Es kommt nicht auf die Kirche oder deren Dogma an. Jesus selbst ist es, auf den es ankommt.«
»Der ist doch aber nur eine literarische Konstruktion«, beharrte John. »Etwas wie Sherlock Holmes oder der Einsame Ranger. Und du hast meine Frage wegen der Wunder nicht beantwortet.«
Phyllis zuckte die Achseln. »Für mich ist die Existenz des Universums ein Wunder. Des Universums und alles dessen, was darin ist. Kannst du das bestreiten?«
»Sicher«, sagte John. »Das Universum gibt es einfach. Ich definiere ein Wunder als eine Aktion, die deutlich gegen bekannte physikalische Gesetze verstößt.«
»Wie die Fahrt zu anderen Planeten?«
»Nein. Wie die Auferweckung von Toten.«
»Das machen Ärzte jeden Tag.«
»Das haben sie nie getan.«
Phyllis wirkte unbeeindruckt. »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, John. Ich bin irgendwie überrascht. Wir wissen nicht alles. Wenn wir dies behaupten, ist das Arroganz. Die Schöpfung ist geheimnisvoll. Etwas einen Namen zu geben wie ›Urknall‹ und dann zu denken, man hätte eine Erklärung — das ist schlechte Logik, schlechtes Denken. Außerhalb unseres normalen wissenschaftlichen Bereichs gibt es ein enormes Gebiet von Bewusstsein, ein Gebiet, das wichtiger ist als Wissenschaft. Der Glaube an Gott ist ein Teil davon. Und ich nehme an, man hat ihn entweder oder hat ihn nicht.« Sie stand auf. »Ich hoffe, dass er zu dir kommt.« Sie verließ den Raum.
Nach einigem Schweigen seufzte John. »Tut mir leid, Leute. Manchmal packt es mich einfach.«
Sax sagte: »Immer wenn Wissenschaftler sagen, sie wären Christen, halte ich das für eine ästhetische Äußerung.«
»Die Kirche der Leute, die meinen, es wäre doch hübsch, so zu denken«, sagte Frank und blickte weiterhin in seine Tasse.
»Sie fühlen, dass uns eine spirituelle Dimension des Lebens fehlt«, sagte Sax, »die frühere Generationen hatten; und sie versuchen sie wiederzugewinnen, indem sie die gleichen Mittel anwenden.« Er machte sein Eulengesicht, als ob das Problem definiert und damit erledigt wäre.
»Aber das führt zu so vielen Absurditäten!« rief John.
»Du hast eben keinen Glauben«, sagte Frank und blickte ihn an.
John ignorierte ihn. »Leute, die im Labor so dickköpfig wie überhaupt möglich sein können — ihr solltet einmal sehen, wie Phyllis die Schlüsse ins Kreuzverhör nimmt, die ihre Kollegen aus ihren Daten ziehen! Und dann fangen sie plötzlich an, alle Arten von rhetorischen Tricks anzuwenden, Ausflüchte, Qualifikationen, unscharfes Denken jeder Art. Als ob sie eine völlig andere Person wären.«
»Du hast eben keinen Glauben«, wiederholte Frank.
»Nun, ich hoffe, ihn nie zu bekommen! Das ist so, als würde man mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen!«
John stand auf und trug sein Tablett zur Küche. Der Rest sah einander schweigend an. Maya sagte sich, es muss eine sehr schlechte Konfirmationsklasse gewesen sein. Offenbar hatte keiner der anderen mehr als sie von dieser Seite ihres unbekümmerten Helden gewusst. Wer wusste, was sie als nächstes lernen würden, über ihn oder irgendeinen anderen von ihnen?
Die Nachricht von der Diskussion zwischen John und Phyllis verbreitete sich in der Crew. Maya war nicht sicher, wer die Geschichte verbreitete. Weder John noch Phyllis schienen geneigt, darüber zu sprechen. Dann sah sie Frank mit Hiroko lachen, als er ihr etwas erzählte. Während sie mit ihnen ging, hörte sie Hiroko sagen: »Du musst zugeben, dass Phyllis in dieser Hinsicht recht hat. Wir verstehen ja wirklich nichts vom Warum der Dinge.«
Also Frank. Er säte Zwietracht zwischen Phyllis und John. Und (was nicht trivial war) das Christentum war immer noch eine große Kraft in Amerika und anderswo. Wenn es sich daheim herumspräche, dass John Boone gegen das Christentum war, würde er Schwierigkeiten bekommen. Und das wäre für Frank gar nicht so übel. Sie alle hatten auf der Erde Auftritte in den Medien, aber wenn man einige Nachrichten und Beiträge verfolgte, dann wurde klar, dass manche mehr davon bekamen als andere. Dadurch sahen sie stärker aus und wurden es dann auch tatsächlich. Zu dieser Gruppe gehörten Vlad und Ursula (von denen sie annahm, dass sie jetzt näher befreundet waren), Frank, Sax — alles Leute, die vor der Auswahl schon bekannt gewesen waren, und niemand mehr als John. Daher könnte jede Minderung ihres Ansehens auf der Erde für die betreffende Person auch einen korrespondierenden Effekt auf ihren Status auf der Ares haben. Das also schien Franks Politik zu sein.
Es gab ein Gefühl, als wären sie im Innern eines Hotels ohne Ausgänge eingesperrt, sogar ohne Balkons. Der Druck des Hotellebens nahm zu. Sie waren jetzt seit vier langen Monaten drin, aber das war noch nicht mal die halbe Reise. Und keines ihrer sorgfältig geplanten physischen Milieus oder täglichen Routinen konnte deren Ende beschleunigen.
Dann beschäftigte sich eines Morgens das zweite Flugteam wieder mit einem von Arkadys Problemläufen, als mit einem Mal auf verschiedenen Schirmen rote Lichter aufflammten.
Rya sagte: »Die Sonnenüberwachungsgeräte haben eine Eruption auf der Sonne entdeckt.«
Arkady stand sofort auf. »Das bin ich nicht!« rief er und beugte sich vor, um den ihm nächsten Schirm zu betrachten. Er schaute auf, traf auf das skeptische Grinsen seiner Kollegen und grinste zurück. »Tut mir leid, Freunde. Das ist jetzt der wirkliche Wolf.«
Eine Notmeldung aus Houston bestätigte ihn. Er hätte auch diese vortäuschen können; aber er war schon unterwegs zur nächsten Speiche, und sie konnten nichts machen. Ob Schwindel oder nicht, sie mussten ihm folgen.
Tatsächlich war eine große Sonneneruption ein Ereignis, das sie vorher schon oft simuliert hatten. Ein jeder hatte bestimmte Aufgaben, davon etliche in sehr kurzer Zeit. Darum rannten sie um die Torusse, fluchten auf ihr Pech und bemühten sich, einander nicht in die Quere zu kommen. Es gab sehr viel zu tun, da das Verschalten kompliziert und nicht sehr automatisiert war. Während des Schleppens von Pflanzenkästen in den zugehörigen Schutzraum schrie Janet: »Ist das einer von Arkadys Tests?«
»Er sagt nein.«
»Mist!«
Sie hatten die Erde absichtlich während eines Mimimums im Aktivitätszyklus der Sonne verlassen, um die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer solchen Eruption zu mindern. Sie hatten ungefähr eine halbe Stunde, bis die erste Strahlung eintraf; und nicht mehr als eine Stunde danach würde das wirklich harte Zeug folgen.
Notlagen im Weltraum können so auffällig sein wie eine Explosion oder so ungreifbar wie eine Gleichung, aber ihre Augenfälligkeit hat nichts mit ihrer Gefährlichkeit zu tun. Die Sinnesorgane der Besatzung würden nie den subatomaren Wind spüren, der auf sie zukam, und doch war er eines der schlimmsten Dinge, die passieren konnten. Und das wussten sie alle. Sie rannten durch die Torusse, um ihre Abdeckungsarbeiten zu erledigen — Pflanzen mussten verhüllt oder in geschützte Bereiche geschafft werden, die Hühner und Schweine und Zwergrinder und die übrigen Tiere und Vögel mussten in ihre eigenen gesicherten Schutzräume getrieben werden, Sämereien und gefrorene Embryos mussten eingesammelt und weggeschafft werden. Empfindliche elektrische Geräte mussten in Kästen gebettet oder eingehüllt werden. Nachdem sie mit diesen dringend eiligen Aufgaben fertig waren, hangelten sie sich an den Speichen hinauf zum Zentralschacht und flüchteten sich dann durch dessen Mittelrohr in den Sturmschutzraum, der sich direkt hinter dem hinteren Ende des Schachtes befand.
Hiroko und ihre Biosphärenmannschaft kamen als letzte herein und polterten durch die Schleuse volle siebenundzwanzig Minuten nach dem ersten Alarm. Sie stürzten erhitzt und außer Atem in den schwerelosen Raum. »Hat es schon angefangen?«
»Noch nicht.«
Sie rissen persönliche Dosimeter von einem Klettbandregal und befestigten sie an ihrer Kleidung. Der Rest der Crew schwebte schon in der halbzylindrischen Kammer, schwer atmend und mit der Behandlung von Prellungen und einigen Verrenkungen beschäftigt. Maya ließ sie abzählen und war erleichtert zu hören, dass alle hundert Personen ohne Ausfälle durchgekommen waren.
Der Raum schien gedrängt voll zu sein. Sie hatten seit vielen Wochen nicht alle Hundert auf einem Fleck beisammen gehabt, und sogar ein maximaler Raum wirkte nicht groß genug. Dieser hier beanspruchte einen Tank im mittleren Strang des Nabenschachtes. Die vier Tanks um ihn herum waren mit Wasser gefüllt; und ihr Tank wurde der Länge nach von einem anderen Halbzylinder eingenommen, der mit Schwermetallen gefüllt war. Dessen flache Seite war ihr ›Fußboden‹, und er war auf kreisrunden Schienen in den Tank eingefügt. Er rotierte, um die Achsenrotation des Schiffs aufzuheben und hielt so das Rohr immer zwischen den Menschen und der Sonne.
So schwebten sie in einem nicht rotierenden Raum, während sich das gewölbte Dach des Tanks über ihnen mit den üblichen vier Umläufen pro Minute drehte. Das sah merkwürdig aus und durch die zusätzliche Schwerelosigkeit drohten einige Leute seekrank zu werden. Diese Unglücklichen sammelten sich am Ende des Schutzraums, wo sich die Toiletten befanden. Und um ihnen visuell zu helfen, orientierten sich alle anderen nach dem Fußboden. Deshalb kam die Strahlung durch die Füße herein, zumeist Gammastrahlen, die von den Schwermetallen ausgestreut wurden. Maya fühlte einen Impuls, die Knie zusammenzuhalten. Menschen schwebten an Ort und Stelle oder legten Sandalen mit Klettsohlen an, um über den Flur zu gehen. Sie sprachen leise, fanden instinktiv ihre Türnachbarn, Arbeitskollegen und Freunde. Die Unterhaltungen verliefen gedämpft, als ob man einer Cocktailgesellschaft verkündet hätte, dass die Hors d’oeuvres verdorben gewesen wären.
John Boone zwängte sich zu den Computerterminals am vorderen Ende des Raumes durch, wo Arkady und Rex das Schiff überwachten. Er tastete einen Befehl ein, und die Daten über äußere Strahlung erschienen plötzlich auf dem größten Bildschirm des Raumes. »Wollen wir doch mal sehen, wie viel auf das Schiff trifft«, sagte er fröhlich.
Stöhnen. »Müssen wir das?« rief Ursula.
John sagte: »Das sollten wir schon wissen. Und ich möchte auch sehen, wie gut dieser Schutz funktioniert. Der auf der Rust Eagle war ungefähr so wirkungsvoll wie das Lätzchen beim Zahnarzt.«
Maya lächelte. Es war eine jener bei John so sehr seltenen Erinnerungen daran, dass er mehr Strahlung ausgesetzt gewesen war als alle anderen — ungefähr 160 Rem im Lauf seines Lebens, wie er jetzt in Beantwortung einer ihm gestellten Frage erklärte. Auf der Erde erhielt man ein Fünftel eines Menschen-Röntgen-Äquivalents jährlich; und im Erdorbit bekam man, noch innerhalb der Magnetosphäre der Erde, ungefähr fünfunddreißig pro Jahr ab. Also hatte John es sehr heiß gehabt; und das gab ihm jetzt irgendwie das Recht, die äußeren Daten zu verfolgen, wenn er das wollte.
Die auch daran interessiert waren — etwa sechzig Personen —, drängten sich hinter ihm, um den Schirm anzusehen. Der Rest sammelte sich am anderen Ende des Tanks bei denen, die über Unwohlsein klagten, einer Gruppe, die bestimmt nicht wissen wollte, wie viel Strahlung sie bekamen. Schon der Gedanke daran genügte, dass einige von ihnen aufs Klo eilten.
Dann schlug die Eruption mit voller Gewalt zu. Die Daten der äußeren Strahlung stiegen erheblich über das normale Niveau des Sonnenwindes und sausten dann jäh in die Höhe. Einige Beobachter zogen gleichzeitig scharf die Luft ein, und es gab mehrere Schreckensschreie.
»Seht aber, wie viel der Schutz aufhält!« sagte John und prüfte das Dosimeter an seinem Hemd. »Es sind nur Null Komma drei Rem.«
Das war gewiss soviel wie die Strahlendosis eines Zahnarztes während mehrerer Lebensspannen. Aber die Strahlung außerhalb des Schutzraums betrug schon 70 Rem, was sich bereits einer tödlichen Dosis näherte. Sie kamen also günstig davon. Aber die volle Strahlung flog durch den Rest des Schiffes! Milliarden Partikel drangen hindurch und wurden bei Zusammenstößen mit den Atomen von Wasser und Metall gebunden. Hunderte von Millionen flogen zwischen diesen Atomen durch und durch die Atome ihrer Körper, ohne etwas zu berühren, als wären sie nur Geister. Aber Tausende trafen auf Atome von Fleisch und Knochen. Die meisten dieser Zusammenstöße waren harmlos. Doch unter all diesen Tausenden gab es höchstwahrscheinlich eines oder zwei (oder drei?), in denen ein Chromosomenstrang einen Treffer erhielt und sich in die falsche Richtung knickte. Und dann war es passiert: Tumorauslösung fing mit einer solchen Type im Buch des Lebens an. Und Jahre später, sofern sich nicht die DNA des Opfers zum Glück selbst heilte, würde die Tumoranregung, die ein mehr oder weniger unvermeidlicher Teil des Lebens war, sich auswirken, und es würde im Innern etwas anderes aufblühen: Höchstwahrscheinlich Krebs, Leukämie und ziemlich sicher der Tod.
Also war es schwer, die Zahlen nicht unglücklich anzusehen. 1,4658 Rem, 1,7861, 1,9004. »Wie ein Streckenmeßgerät«, sagte Boone ruhig, während er auf sein Dosimeter blickte. Er packte mit beiden Händen ein Geländer und zog sich vor und zurück, als ob er isometrische Übungen machte. Frank sah das und sagte: »John, was, zum Teufel, machst du da?«
»Ich weiche aus«, sagte John und lächelte über Franks Ärger. »Du weißt — ein bewegliches Ziel.«
Die Leute lachten ihn aus. Da die Größe der Gefahr exakt auf Schirmen und Graphiken angegeben war, begannen sie sich weniger hilflos zu fühlen. Das war unlogisch; aber Benennung war die Kraft, die einen Menschen zu einem guten Wissenschaftler machte. Und sie alle waren Berufsgelehrte, darauf trainiert, die Möglichkeit eines solchen Sturms zu akzeptieren. All solche mentalen Gewohnheiten strömten in ihre Gedanken, und der Schock des Ereignisses verblasste ein wenig. Sie kamen damit zurecht.
Arkady trat an ein Terminal und schaltete Beethovens Pastorale ein, genau im dritten Satz, wenn der Tanz der Landleute durch Sturm unterbrochen wird. Er erhöhte die Lautstärke, und die Leute strömten in dem langen Halbzylinder zusammen, um der Intensität von Beethovens Gewitter zu lauschen, das plötzlich genau die Stöße des stummen Windes auszudrücken schien. Er würde ebenso klingen! Streich- und Blasinstrumente schrien in wilden Böen, außer Kontrolle und dennoch gleichzeitig herrlich melodisch. Ein Schauer lief Maya über den Rücken. Sie hatte diesem alten Kämpen noch nie so bewusst zugehört und blickte mit Bewunderung (und etwas Angst) auf Arkady, der ekstatisch über die Wirkungen seines Discjockey-Einfalls strahlte und wie ein roter Irrwisch im Wind tanzte. Als der Sturm in der Sinfonie seinen Höhepunkt erreichte, war es schwer zu glauben, dass die Strahlenzählung nicht anstieg. Und als der musikalische Sturm abebbte, schien es, als ob es auch bei ihnen still würde. Donner rollte, die letzten Windstöße pfiffen. Das Englischhorn sang seine heitere Entwarnung.
Die Leute fingen an, über andere Dinge zu sprechen. Sie erörterten die verschiedenen Tagesarbeiten, die so jäh unterbrochen worden waren, oder ergriffen die Gelegenheit, über andere Dinge zu plaudern. Nach einer halben Stunde oder mehr wurde eines dieser Gespräche lauter. Maya hatte nicht gehört, wie es anfing; aber plötzlich sagte Arkady sehr laut und auf englisch: »Ich glaube nicht, dass wir uns um Pläne kümmern sollten, die für uns hinten auf der Erde gemacht wurden!«
Andere Gespräche verstummten, und man wandte sich ihm zu. Er hatte sich hochgestoßen und schwebte unter dem rotierenden Dach der Kammer, wo er sie alle überblicken und wie ein verrückter fliegender Geist sprechen konnte.
Er sagte: »Ich denke, wir müssen neue Pläne machen. Wir sollten das jetzt gleich tun. Alles sollte von Anfang neu geplant werden und unser eigenes Denken zum Ausdruck bringen. Es sollte sich auf alles erstrecken, auch auf die ersten Schutzräume, die wir bauen.«
»Warum sich Sorgen machen?« fragte Maya, die sich über seine Großspurigkeit ärgerte. »Es sind gute Konstruktionen.« Es war wirklich aufreizend. Arkady belegte oft die Mitte der Bühne für sich, und die Leute schauten sie immer an, als wäre sie irgendwie für ihn verantwortlich, als wäre es ihre Aufgabe, ihn zu hindern, sie zu plagen.
Arkady sagte: »Gebäude sind die Schablonen einer Gesellschaft.«
»Sie sind Räume«, erklärte Sax Russell.
»Aber Räume drücken die soziale Organisation in ihnen aus.« Arkady schaute sich um und zog mit seinem Blick mehr Leute in die Diskussion. »Das Arrangement eines Gebäudes zeigt, was nach Meinung des Erbauers darin geschehen sollte. Das haben wir zu Beginn der Reise gesehen, als Russen und Amerikaner in Torus D und B getrennt waren. Man hatte erwartet, dass wir zwei verschiedene Entitäten bleiben sollten, seht ihr. Auf dem Mars wird es das gleiche sein. Gebäude drücken Werte aus, sie haben eine Art Grammatik, und Räume sind die Sätze. Ich will nicht, dass Leute in Washington oder Moskau sagen, wie ich mein Leben führen sollte. Davon habe ich genug.«
»Was gefällt dir nicht an dem Entwurf der ersten Unterkünfte?« fragte John mit interessierter Miene.
»Sie sind rechteckig«, sagte Arkady. Das rief Gelächter hervor, aber er beharrte: »Rechteckig, die konventionelle Gestalt! Wobei Arbeitsraum und Wohnungen getrennt sind, als ob Arbeit nicht ein Teil des Lebens wäre. Und die Wohnquartiere bestehen meistens aus Privaträumen. Darin kommen Hierarchien zum Ausdruck, indem Führern mehr Platz zugewiesen wird.«
»Ist das nicht bloß, um ihnen die Arbeit zu erleichtern?« fragte Sax.
»Nein. Das ist nicht wirklich erforderlich. Es ist eine Sache von Prestige. Ein sehr konventionelles Beispiel für amerikanisches Geschäftsdenken, wenn ich so sagen darf.«
Es gab einige Proteste, und Phyllis sagte: »Müssen wir politisch werden, Arkady?«
Bei der bloßen Erwähnung dieses Wortes zerstreute sich die Schar der Zuhörer. Mary Dunkel und etliche andere drängten hinaus und wandten sich dem anderen Ende des Raums zu.
Arkady rief ihnen nach: »Alles ist politisch. Nichts ist es mehr als diese unsere Reise. Wir beginnen eine neue Gesellschaft. Wie könnte die anders sein als politisch?«
»Wir sind eine wissenschaftliche Station«, sagte Sax. »Die muss nicht unbedingt viel Politik in sich bergen.«
»Als ich das letzte Mal dort war, hatte sie bestimmt nicht lange gedauert«, sagte John und sah Arkady nachdenklich an.
»O doch«, widersprach Arkady, »aber sie war einfacher. Ihr seid eine rein amerikanische Crew gewesen, dort auf einer zeitweiligen Mission, und habt getan, was eure Vorgesetzten von euch erwarteten. Aber jetzt sind wir eine internationale Crew, die eine permanente Kolonie gründet. Das ist etwas ganz anderes.«
Allmählich drifteten Leute durch die Luft auf die Konversation zu, um besser zu hören, was gesprochen wurde. Rya Jimenez sagte: »Ich interessiere mich nicht für Politik«, und Mary Dunkel stimmte vom anderen Ende des Raums aus zu: »Das ist eines der Dinge, weshalb ich hier bin, um davon loszukommen.«
Mehrere Russen entgegneten gleichzeitig: »Das ist selbst eine politische Position!« und dergleichen. Alex rief: »Ihr Amerikaner wollt mit Politik und Geschichte Schluss machen, damit ihr in einer Welt bleiben könnt, die ihr beherrscht!«
Einige Amerikaner versuchten zu protestieren, aber Alex ließ sie nicht zu Wort kommen. »Das ist wahr! Die ganze Welt hat sich in den letzten dreißig Jahren verändert; jedes Land kümmert sich um sein Fortkommen und macht enorme Veränderungen durch, um Probleme zu lösen — alle außer den Vereinigten Staaten. Ihr seid das reaktionärste Land der Welt geworden.«
»Die Länder, die sich verändert haben, mussten das tun, weil sie vorher starr und fast bankrott waren«, entgegnete Sax. »Die Vereinigten Staaten hatten schon ein flexibles System und mussten sich daher nicht so drastisch verändern. Ich nenne den Amerikanischen Weg überlegen, weil er glatter ist. Er ist besser gebaut.«
Diese Analogie gab Alex eine Pause. Und während er darüber nachdachte, sagte John Boone, der sehr interessiert zugehört hatte: »Um wieder auf die Unterkünfte zu sprechen zu kommen: Wie würdest du sie anders machen?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte Arkady. »Wir müssen die Plätze sehen, auf denen wir bauen, in ihnen umhergehen und darüber sprechen. Siehst du, es ist ein Prozess, den ich befürworte. Aber im allgemeinen denke ich, dass Arbeitsraum und Wohnraum gemischt sein sollten, soweit das praktikabel ist. Unsere Arbeit wird mehr sein, als Lohn zu verdienen. Sie wird unsere Kunst sein, unser ganzes Leben. Wir werden sie einander geben und nicht erkaufen. Es sollte auch keine Anzeichen von Hierarchie geben. Ich glaube nicht einmal an das Führersystem, das wir jetzt haben.« Er nickte Maya höflich zu. »Wir sind jetzt alle gleichermaßen verantwortlich, und das sollten unsere Gebäude zeigen. Ein Kreis ist am besten — baulich schwierig, aber sinnvoll für Wärme-Ersparnis. Eine geodätische Kuppel wäre ein guter Kompromiss — leicht zu errichten und ein Zeichen unserer Gleichheit. Was das Innere angeht, so größtenteils offen. Gewiss sollte ein jeder seinen Raum haben, aber diese Räume sollten klein sein. Vielleicht am Rande angeordnet und gegenüber größeren kommunalen Räumen …« Er griff nach einer Maus und fing an, auf dem Schirm zu zeichnen. »Da! Das ist eine Architekturgrammatik, die sagen will: ›Alles gleich.‹ Ja?«
John sagte: »Es gibt aber schon viele vorgefertigte Einheiten. Ich bin nicht sicher, ob sie angepasst werden könnten.«
»Das könnten sie, wenn wir es wollten.«
»Ist das aber wirklich notwendig? Ich meine, es ist klar, dass wir schon ein Team aus Gleichen bilden.«
»Ist das klar?« sagte Arkady scharf und schaute sich um. »Wenn Frank und Maya uns sagen, dass wir etwas tun sollen, sind wir dann so frei, sie zu ignorieren? Wenn Houston oder Baikonur uns auftragen, etwas zu tun, sind wir frei, sie zu ignorieren?«
»Ich denke schon«, erwiderte John sanft.
Diese Äußerung brachte ihm einen scharfen Blick von Frank ein. Die Konversation spaltete sich in diverse Diskussionen auf, da eine Menge Leute etwas zu sagen hatten. Aber Arkady fuhr wieder gegen sie alle dazwischen:
»Wir sind von unseren Regierungen hier hergeschickt; und alle unsere Regierungen haben Mängel, und manche katastrophale. Darum ist die Geschichte ein so blutiger Schmutz. Jetzt sind wir auf uns allein gestellt, und ich meinerseits habe keine Lust, alle Fehler der Erde zu wiederholen — nur wegen konventioneller Denkweise. Wir sind die ersten Kolonisten auf dem Mars! Wir sind Wissenschaftler! Es ist unser Beruf, neue Dinge herauszufinden und sie neu zu machen.«
Die Diskussionen gingen wieder los, lauter denn je. Maya wandte sich ab und fluchte im stillen über Arkady. Sie war ärgerlich, wie wütend die Leute wurden. Sie sah, dass John Boone grinste. Er stieß sich vom Fußboden auf Arkady hin ab, kam zum Halt, indem er ihn anstieß und schüttelte ihm dann die Hand. Dadurch wurden sie beide in die Luft geschleudert wie in einem drolligen Tanz. Diese Geste der Unterstützung führte dazu, dass die Leute neu überlegten. Maya sah das an ihren überraschten Gesichtern. John war neben seinem Ruhm auch dafür bekannt, dass er gemäßigt und zurückhaltend war. Und wenn er Arkadys Ideen billigte, war das eine völlig andere Sache.
»Verdammt, Ark!« sagte John. »Erst diese verrückten Problemläufe und nun dies. Du bist wirklich ein wilder Bursche. Wie, zum Teufel, hat man dich überhaupt auf dieses Schiff gelassen?«
Das ist genau meine Frage, dachte Maya.
»Ich habe gelogen«, sagte Arkady.
Alle lachten. Sogar Frank sah überrascht aus. »Aber natürlich habe ich geschwindelt!« brüllte Arkady. Ein breites Grinsen spaltete seinen roten Bart. »Wie anders hätte ich sonst hierher kommen können? Ich will zum Mars gehen, um zu tun, was ich will; und das Auswahlkomitee wollte, dass Leute gingen und taten, was man ihnen auftrug. Das wisst ihr.« Er zeigte auf sie hinunter und rief: »Ihr habt alle gelogen, und das wisst ihr.«
Frank lachte heftiger denn je. Sax machte seinen üblichen Buster Keaton, hob aber einen Finger und sagte: »Die Revidierte Vielphasige Personenbestandsaufnahme von Minnesota«, und allgemeine Heiterkeit brach aus. Sie hatten alle diese Prüfung ablegen müssen. Es war der am meisten benutzte psychologische Test der Welt und von Experten hoch geschätzt. 556 Fragen mussten beantwortet werden. Daraus wurde ein Profil gewonnen. Aber die Beurteilung dessen, was die Antworten besagten, beruhten auf den vorgegangenen Antworten einer Mustergruppe von 2600 weißen verheirateten Farmern der 1930er Jahre. Allen späteren Revisionen zum Trotz war das durch die Natur dieser ersten Testgruppe erzeugte Vorurteil immer noch tief in dem Test verankert. Zumindest dachten das manche. »Minnesota!« brüllte Arkady und rollte mit den Augen. »Farmer! Farmer aus Minnesota! Ich sage euch jetzt, ich habe bei jeder Antwort gelogen! Ich habe genau das Gegenteil geantwortet, was ich wirklich fühlte; und das hat mir erlaubt, als normal eingestuft zu werden!«
Wilde Beifallsrufe begrüßten diese Erklärung. John sagte: »Zum Teufel, ich stamme aus Minnesota und musste auch lügen.«
Weiterer Applaus. Frank war, wie Maya bemerkte, vor Heiterkeit rot angelaufen, des Sprechens unfähig. Er presste sich die Hände auf den Magen. Er nickte und kicherte, unfähig aufzuhören. Sie hatte ihn nie derartig lachen sehen.
Sax sagte: »Der Test hat dich zu lügen gezwungen.«
»Was, und dich nicht?« fragte Arkady. »Hast du nicht auch gelogen?«
»Eigentlich nicht«, sagte Sax und zwinkerte, als ob ihm diese Idee nie gekommen wäre. »Ich habe bei jeder Frage die Wahrheit gesagt.«
Sie lachten noch lauter. Sax machte daraufhin ein erstauntes Gesicht, aber dadurch wirkte er noch komischer.
Jemand rief: »Michel, was sagst du? Was hältst du davon?«
Michel Duval spreizte die Hände. »Vielleicht unterschätzt ihr die Raffinesse dieses Tests. Es gibt Fragen, die prüfen, wie ehrlich man ist.«
Diese Äußerung überschüttete ihn mit einem Regen von Fragen, einer methodologischen Inquisition. Wie war es mit den Kontrollen? Wie sollten die Tester ihre eigenen Theorien in Frage stellen? Wie wiederholten sie die Tests? Wie eliminierten sie die alternative Deutung der Daten? Wie konnten sie überhaupt in irgendeinem Sinne des Wortes beanspruchen, wissenschaftlich zu sein? Offensichtlich hielt eine Menge von ihnen Psychologie für eine Pseudowissenschaft. Viele waren recht verärgert wegen der Reifen, durch die man sie hatte springen lassen. Die Jahre des Wettbewerbs hatten ihren Tribut gefordert. Und die Entdeckung dieses gemeinsamen Gefühls löste dutzendweise heftige Gespräche aus. Die durch Arkadys politische Rede erzeugte Spannung verschwand.
Maya dachte, Arkady hätte vielleicht das eine durch das andere entschärft. Falls ja, wäre das geschickt gewesen. Aber Arkady war ja ein geschickter Mann. Sie dachte zurück. Tatsächlich war es John Boone gewesen, der das Thema gewechselt hatte. Er war wirkungsvoll zur Decke geflogen und Arkady zu Hilfe gekommen, und Arkady hatte die Chance ergriffen. Sie waren beide geschickte Männer. Und es schien möglicht, dass sie irgendwie in Einvernehmen standen. Dass sie vielleicht eine alternative Führerschaft bildeten — einer Amerikaner, einer Russe. Darum würde man sich kümmern müssen.
Sie sagte zu Michel: »Hältst du es für ein schlechtes Zeichen, wenn alle uns für Lügner halten?«
Michel zuckte die Achsel. »Es war heilsam, darüber zu sprechen. Jetzt erkennen wir, dass wir einander ähnlicher sind, als wir dachten. Keiner muss sich mehr den Vorwurf machen, ungewöhnlich unredlich gewesen zu sein, um an Bord zu kommen.«
»Und du?« fragte Arkady. »Hast du dich als ein höchst rationaler und ausgeglichener Psychologe präsentiert, der den seltsamen Geist verbarg, den wir kennen und lieben gelernt haben?«
Michel lächelte schwach. »Du bist der Experte für seltsame Dinge, Arkady.«
Dann ertönten Rufe seitens der wenigen, die noch die Schirme beobachteten. Die Strahlungsrate hatte zu sinken begonnen. Nach einer Weile rutschte sie bis nur ein wenig über normal ab.
Jemand schaltete die Pastorale an der Stelle wieder ein, wo das Horn ertönt. Der letzte Satz der Sinfonie: ›Frohe und dankbare Empfindungen nach dem Sturm‹ strömten aus dem Lautsprechersystem und verbreiteten sich durch das Schiff wie Löwenzahnsamen im Wind. Die schöne alte volkstümliche Melodie wurde durch die Ares getragen und entfaltete sich in all ihrer Beethovenschen Fülle. Während sie lief, stellte man fest, dass alle geschützten Systeme des Schiffs intakt geblieben waren. Die dickeren Wände der Farm und des Arboretums hatten den Pflanzen einigen Schutz geboten. Und obwohl es einige Verluste gab und eine ganze Ernte, die nicht essbar war, waren die Saatbestände nicht geschädigt. Auch die Tiere konnten nicht verzehrt werden. Sie würden aber vermutlich eine gesunde neue Generation zur Welt bringen. Die einzigen Todesfälle waren einige Singvögel aus dem Speisesaal D, die man nicht eingefangen hatte. Es fanden sich einige tot auf dem Boden.
Was die Crew anging, so hatte sie der Schutzraum vor mehr als sechs Rem bewahrt. Das war während gerade nur drei Stunden schlimm, hätte aber übler sein können. Die Hülle des Schiffs hatte mit mehr als 140 Rem eine tödliche Dosis erhalten.
Sechs Monate in einem Hotel, ohne je einen Spaziergang draußen. Drinnen war später Sommer, und die Tage waren lang. Grün beherrschte die Wände und Decken, und die Leute gingen barfuss. Ruhige Unterhaltungen waren kaum zu hören vor dem Summen der Maschinerie und dem Brausen der Ventilatoren. Das Schiff wirkte irgendwie leer. Ganze Sektionen wurden aufgegeben, als die Crew sich zum Warten einrichtete. Kleine Menschengruppen saßen in den Sälen in den Torussen B und D und plauderten. Manche unterbrachen ihre Gespräche, wenn Maya vorbeikam, was sie natürlich beunruhigend fand. Sie hatte Mühe einzuschlafen und aufzuwachen. Die Arbeit machte sie ruhelos. Schließlich warteten alle Ingenieure, und die Simulationen waren nachgerade unerträglich geworden. Sie hatte Mühe, den Ablauf der Zeit zu verfolgen. Sie stolperte mehr als sonst. Sie hatte Vlad aufgesucht, und der hatte Überhydrierung empfohlen, mehr Laufen, mehr Schwimmen.
Hiroko riet ihr, mehr Zeit auf der Farm zu verbringen. Sie machte einen Versuch und beschäftigte sich stundenlang mit Jäten, Ernten, Beschneiden, Düngen, Bewässern, Reden, auf einer Bank sitzen und Blätter betrachten. Abstand gewinnen. Die Farmen waren größtenteils in maximalen Räumen angelegt, deren gewölbte Dächer mit hellen Sonnenstreifen besetzt waren. Die vielstöckigen Böden waren voller Getreide, vieles davon nach dem Sturm neu eingelagert. Es gab nicht genügend Raum, um die Leute gänzlich mit Farmkost zu ernähren, aber Hiroko mochte das nicht und kämpfte dagegen an, indem sie Lagerräume nutzte, wenn sie leer wurden. Zwerghafte Reihen von Weizen, Reis, Soja und Gerste wuchsen in gestapelten Paletten. Darüber hingen Reihen von hydroponischem Gemüse und enorme durchsichtige Krüge mit grünen und gelben Algen, die zur Regelung des Gasaustauschs dienten.
Einige Tage lang tat Maya weiter nichts, als den Farmarbeiten zuzuschauen. Hiroko und ihr Assistent Iwao bastelten immer an den endlosen Projekten herum, der Geschlossenheit ihres biologischen Lebenserhaltungssystems näher zu kommen. Und sie hatten eine Gruppe Mitarbeiter, die dafür eingesetzt waren: Raul, Rya, Gene, Evgenia, Andrea, Roger, Ellen, Bob und Tasha. Der Erfolg bei dem Klausurprojekt wurde in K-Größen gemessen, wobei K die Geschlossenheit darstellte. Also galt für jede Substanz, die wiedergewonnen wurde, die Formel:
Darin war E das Maß dessen, was in dem System verbraucht wurde, e das Maß der (unvollständigen) Geschlossenheit und eine Konstante, für die Hiroko früher in ihrer Laufbahn einen korrigierten Wert festgestellt hatte. Das Ziel, K = I — 1, war unerreichbar, aber eine asymptotische Näherung war das Lieblingsspiel der Farmbiologen, und darüber hinaus kritisch für ihre letztliche Existenz auf dem Mars. Also konnten sich Gespräche darüber tagelang hinziehen und liefen spiralig auf Komplexitäten hin, die niemand wirklich verstand. Im Grunde war die Farm schon bei ihrer realen Arbeit, worauf Maya neidisch war. Sie hatte restlos genug von Simulationen!
Hiroko war für Maya ein Rätsel. Reserviert und ernsthaft schien sie immer von ihrer Arbeit absorbiert zu sein, und ihr Team war immer bestrebt, um sie zu sein; als ob sie die Königin eines Bezirks wäre, der mit dem Rest des Schiffs nichts zu tun hatte. Maya gefiel das nicht, aber sie konnte nichts daran ändern. Und etwas in Hirokos Verhalten machte es nicht so bedrohlich. Es war einfach eine Tatsache. Die Farm war ein abgesonderter Platz, ihre Mannschaft eine Gesellschaft für sich. Und es war möglich, dass Maya sie irgendwie benutzen könnte als Gegengewicht zum Einfluss von Arkady und John. Darum machte sie sich keine Sorgen über ihr abgesondertes Reich. Tatsächlich kam sie mit ihnen mehr als früher zusammen. Manchmal ging sie mit ihnen am Ende einer Arbeitsperiode bis zur Nabe, um ein Spiel zu treiben, das sie erfunden und Tunnelspringen genannt hatten. Es gab eine Sprungröhre, die den Zentralschacht hinabführte, wo alle Verbindungselemente zwischen Zylindern auf dieselbe Weite wie die Zylinder selbst ausgearbeitet waren, so dass ein einziges glattes Rohr entstanden war. Es gab auch Schienen, um schnelle Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen längs des Rohres zu ermöglichen. Aber bei ihrem Spiel standen die Teilnehmer an der Schleuse des Schutzraums gegen Stürme und versuchten die Röhre bis zur Schleuse der Blasenkuppel hinaufzuspringen, die volle fünfhundert Meter entfernt war, ohne an die Wände oder Schienen anzustoßen. Durch Corioliskräfte wurde das fast unmöglich gemacht, und wenn man nur über die halbe Strecke kam, war das gewöhnlich ein Gewinn. Aber eines Tages kam Hiroko vorbei, um eine Versuchsernte in der Blasenkuppel zu inspizieren. Nach einem Gruß kauerte sie sich auf der Schutzraumschleuse hin und sprang. Sie schwebte langsam durch die volle Länge des Tunnels, rotierte unterwegs und hielt mit einer ausgestreckten Hand an der Kuppelschleuse an.
Die Spieler starrten in verblüfftem Schweigen den Tunnel empor.
»He!« rief Rya zu Hiroko. »Wie hast du das geschafft?«
»Was denn?«
Sie erklärten ihr das Spiel. Hiroko lächelte, und Maya war plötzlich sicher, dass sie die Regel schon gekannt hatte. Rya wiederholte: »Wie hast du es also gemacht?«
»Du springst gerade!« sagte Hiroko und verschwand in der Blasenkuppel.
An diesem Abend machte die Geschichte beim Essen die Runde. Frank sagte zu Hiroko: »Vielleicht hast du bloß Glück gehabt.«
Hiroko lächelte. »Vielleicht sollten du und ich uns für zwanzig Sprünge verabreden und sehen, wer gewinnt.«
»Das finde ich gut.«
»Um was wollen wir wetten?«
»Natürlich um Geld.«
Hiroko schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, dass Geld noch etwas bedeutet?«
Ein paar Tage später schwebte Maya unter der Wölbung der Blasenkuppel mit Frank und John. Sie schauten nach vorn zum Mars, der inzwischen eine bucklige Scheibe von der Größe eines Pfennigs war.
John bemerkte beiläufig: »Eine Menge Streitereien dieser Tage. Ich höre, dass Alex und Mary ernsthaft aneinander geraten sind. Michel sagt, das wäre zu erwarten, aber dennoch …«
»Vielleicht haben wir zu viele Führer dabei«, sagte Maya.
»Vielleicht hättest du die einzige sein sollen«, witzelte Frank.
»Zu viele Häuptlinge?« sagte John.
Frank schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.«
»Nein? Es sind viele Stars an Bord.«
»Der Drang, sich auszuzeichnen, und der Drang zu führen, sind nicht dasselbe. Manchmal denke ich, es könnten Gegensätze sein.«
»Das Urteil überlasse ich dir, Captain.« John grinste zu Franks mürrischer Miene. Maya sagte sich, er war unter ihnen noch die einzige entspannte Person.
»Die Bürohengste haben das Problem erkannt«, fuhr Frank fort. »Es war selbst für sie klar genug. Sie benutzten die Harvard-Lösung.«
»Die Harvard-Lösung«, wiederholte John und genoss diesen Ausdruck.
»Vor langer Zeit stellten die Administratoren von Harvard fest, dass, wenn sie nur Einserabiturienten zuließen und dann den Erstsemestern den ganzen Bereich von Noten erteilten, eine betrübliche Anzahl davon über ihre Dreier und Vierer unglücklich waren und durch Selbstmorde das Gelände versauten.«
»So was Dummes!« sagte John.
Maya rollte die Augen. »Ihr beide seid wohl auf Handelsschulen gegangen?«
»Man fand heraus, dass der Trick zur Vermeidung dieser Unannehmlichkeit darin bestand, eine gewisse Prozentzahl an Studenten zuzulassen, die an mittelmäßige Zensuren gewöhnt waren, sich aber auf irgendeine andere Weise ausgezeichnet hatten …«
»Wie zum Beispiel durch ihre Kühnheit, sich mit mäßigen Zensuren in Harvard zu bewerben …«
»… gewöhnt an die schlechtere Benotung und glücklich, überhaupt in Harvard zu sein.«
»Hast du davon gehört?« fragte Maya.
Frank lächelte. »Ich war einer von denen.«
»Wir haben auf diesem Schiff überhaupt keine Mittelmäßigkeiten«, sagte John.
Frank machte ein zweifelndes Gesicht. »Wir haben wirklich eine Menge gescheiter Wissenschaftler ohne ein Interesse an Verwaltungsangelegenheiten. Viele von ihnen halten es für langweilig. Administration, wisst ihr. Sie sind froh, das anderen Personen wie uns zu übertragen.«
»Beta-Männchen«, sagte John und verspottete Frank und dessen Interesse an Soziobiologie. »Brillante Schafe.« Die Art, wie sie einander anpflaumten …
»Du irrst dich«, sagte Maya zu Frank.
»Vielleicht. Jedenfalls sind sie der politische Kern. Sie haben wenigstens die Kraft zu folgen.« Er sagte das so, als ob ihn der Gedanke bedrückte.
John, der zur Schicht auf die Brücke musste, verabschiedete sich und ging.
Frank schwebte zu Maya hinüber, und sie rückte nervös zur Seite. Sie hatten nie über ihre kurze Affäre gesprochen; und die war auch seit etlicher Zeit nicht wieder aufgetaucht. Sie hatte darüber nachgedacht, was sie sagen sollte, wenn es je dazu käme. Sie würde sagen, dass sie sich gelegentlich mit Männern abgab, die ihr gefielen. Dass das etwas aus der momentanen Situation heraus Getanes wäre.
Aber Frank deutete nur auf den roten Pfennig am Himmel. »Ich frage mich, weshalb wir überhaupt gehen.«
Maya zuckte die Achseln. Wahrscheinlich meinte er nicht wir, sondern ich. Sie sagte: »Jeder hat so seine Gründe.«
Er schaute sie an. »Das ist nur zu wahr.«
Sie ignorierte diesen Tonfall von ihm und sagte: »Vielleicht sind es unsere Gene. Vielleicht haben sie gespürt, dass die Dinge auf der Erde schief laufen. Haben einen zunehmenden Mutationsdruck gespürt oder etwas in der Art.«
»Deshalb haben sie für einen sauberen Start losgeschlagen.«
»Ja.«
»Die Theorie des egoistischen Gens. Die Intelligenz nur als ein Werkzeug zur Unterstützung erfolgreicher Fortpflanzung.«
»Das nehme ich an.«
»Aber diese Reise gefährdet erfolgreiche Fortpflanzung«, sagte Frank. »Hier draußen ist es nicht sicher.«
»Aber auf der Erde ist es auch nicht sicher. Vergeudung, Strahlung, andere Menschen …«
Frank schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, dass die Selbstsucht in den Genen steckt. Ich nehme an, sie steckt irgendwo anders.« Er streckte den Zeigefinger aus und stubste sie zwischen die Brüste — ein kräftiger Stoß gegen das Brustbein, durch den er auf den Boden zurückgeschubst wurde. Währenddessen starrte er sie unverwandt an und berührte sich an derselben Stelle. »Gute Nacht, Maya!«
Zwei Wochen später war Maya in der Farm bei der Kohlernte und ging eine Schneise zwischen langen Stapeln von Paletten entlang. Sie hatte den Raum für sich allein. Die Kohlköpfe sahen aus wie Reihen von Gehirnen, die nachdenklich in dem hellen Nachmittagslicht glänzten.
Dann sah sie eine Bewegung und blickte zur Seite. Quer durch den Raum, durch eine Algenflasche hindurch, sah sie ein Gesicht. Es wurde durch das Glas der Flasche verzerrt. Das Gesicht eines Mannes mit brauner Haut. Der Mann schaute zur Seite und bemerkte sie nicht. Er schien mit jemandem zu sprechen, den sie nicht sehen konnte. Er bewegte sich, und das Bild seines Gesichts wurde deutlich, vergrößert in der Mitte der Flasche. Sie begriff, warum sie so genau hinschaute und warum ihr Magen sich verkrampfte: Sie hatte ihn noch nie gesehen.
Er wandte sich um und blickte in ihre Richtung. Durch zwei gekrümmte Glasflächen begegneten sich ihre Augen. Er war ein Fremder, mit schmalem Gesicht und großen Augen.
Er verschwand in einem braunen Schimmer. Maya zögerte eine Sekunde und fürchtete sich, ihn zu verfolgen. Dann zwang sie sich, durch den ganzen Raum zu rennen und die zwei Biegungen der Verbindung hinauf in den nächsten Zylinder. Der war leer. Sie lief durch drei weitere Zylinder, ehe sie anhielt. Dann stand sie da und schaute mit rasselndem Atem auf Tomatenranken. Sie schwitzte, fror aber. Ein Fremder?! Das war unmöglich. Sie hatte ihn aber gesehen! Sie konzentrierte sich auf ihr Gedächtnis und versuchte sich das Gesicht zu vergegenwärtigen. Vielleicht war es … Aber nein. Es war keiner der Hundert gewesen, das wusste sie. Gesichtserkennung gehörte zu den stärksten Fähigkeiten des Geistes und war erstaunlich exakt. Und er war bei ihrem Anblick weggelaufen.
Ein blinder Passagier. Aber auch das war unmöglich! Wo würde er sich verstecken, wie würde er leben? Was würde er während des Strahlungssturms gemacht haben?
Fing sie also schon an zu halluzinieren? War es so weit gekommen?
Sie ging in ihren Raum zurück. Ihr war übel. Die Gänge von Torus D waren etwas finster, trotz der hellen Beleuchtung, und es kribbelte ihr im Nacken. Als die Tür erschien, tauchte sie in das Refugium ihres Zimmers. Aber da gab es nur ein Bett und einen Wandtisch, einen Stuhl und eine Toilette, sowie einige Regale. Sie saß da eine Stunde lang, dann zwei. Aber sie konnte da nichts machen, keine Antworten, keine Zerstreuungen. Kein Entrinnen.
Maya fand sich außerstande, jemandem gegenüber zu erwähnen, was sie gesehen hatte; und das war irgendwie noch erschreckender als der Vorfall an sich, da es seine Unmöglichkeit noch unterstrich. Die Leute wurden denken, sie wäre übergeschnappt. Welche andere Schlussfolgerung gab es? Wie würde er essen, wo würde er sich verstecken? Nein. Das würden zu viele Leute wissen müssen. Es war wirklich unmöglich. Aber dieses Gesicht?
Eines Nachts begegnete es ihr wieder im Traum. Sie wachte schweißgebadet auf. Halluzination war eines der Anzeichen von Zusammenbruch im Raum, wie sie wohl wusste. Das geschah recht häufig während langer Aufenthalte in Erdumlaufbahnen. Einige Dutzend Fälle waren aktenkundig. Gewöhnlich fing es damit an, dass die Leute vor dem ständig vorhandenen Hintergrund von Ventilation und Apparaten Stimmen hörten; aber eine recht häufige Alternative war der Anblick eines Arbeitskollegen, der nicht da war, oder noch schlimmer eines Doppelgängers, als ob sich der leere Raum mit Spiegeln angefüllt hätte. Man glaubte, dass Mangel an Sinneseindrücken diese Phänomene bewirkte. Und die Ares auf ihrer langen Reise und keiner Erde zum Anschauen und einer brillanten (und manche könnten sagen: besessenen) Besatzung war als mögliches Risiko erachtet worden. Dies war einer der Gründe, weshalb man den Schiffsräumen eine solche Vielfalt an Farbe und Struktur gegeben hatte, zusammen mit täglich und jahreszeitlich sich änderndem Wetter. Und dennoch hatte sie etwas gesehen, das sie nicht glauben konnte.
Und wenn sie jetzt durch das Schiff ging, schien es ihr, als ob die Crew sich in kleine private Gruppen aufspaltete, die wenig wechselseitige Beziehungen unterhielten. Das Team der Farm verbrachte fast seine ganze Zeit in den Agrarbezirken, nahm seine Mahlzeiten sogar dort auf dem Fußboden ein und schlief (miteinander, wie man raunte) längs der Reihen von Pflanzen. Das medizinische Team hatte in Torus B seine eigene Suite von Räumen, Büros und Labors; und die Leute verbrachten ihre Zeit dort, vertieft in Experimente und Beobachtungen und Konsultationen mit der Erde. Das Flugteam bereitete sich auf den Eintritt in die Marsumlaufbahn vor und ließ jeden Tag mehrere Simulationen laufen. Und der Rest war … zerstreut und schwer zu finden. Wenn Maya durch die Torusse ging, erschienen ihr die Räume leerer als je zuvor. Der Speisesaal D war nie voll. Und dann bemerkte sie bei den getrennten Klumpen von Essenden, die da waren, dass recht häufig Streitereien ausbrachen und sehr rasch gedämpft wurden. Privates Gezänk, aber worum?
Maya selbst saß weniger am Tisch und hörte mehr zu. Man konnte eine Menge über eine Gesellschaft daraus erfahren, welche Gesprächsthemen vorkamen. In diesen Haufen drehte sich das Gespräch fast immer um wissenschaftliche Fragen.
Fachsimpelei: Biologie, Ingenieurwesen, Geologie, Medizin und was auch immer. Über das Zeug konnte man ewig schwatzen.
Wenn aber die Anzahl der Leute bei einer Konversation unter vier sank, dann pflegten sich die Themen zu ändern. Das Fachsimpeln wurde durch Klatsch bereichert (oder gänzlich ersetzt). Und der Klatsch drehte sich immer um jene zwei großen Formen sozialer Dynamik: Sex und Politik. Die Stimmen wurden gesenkt, die Köpfe zusammengerückt, und das Gesprächskarussell drehte sich. Gerüchte über sexuelle Beziehungen wurden verbreiteter, bissiger und komplexer. In einigen Fällen, wie dem unglücklichen Dreieck von Janet Blyleven, Mary Dunkel und Alex Zhalin, wurde es zum Schiffsgespräch. In anderen Fällen blieb es so verborgen, dass man nur flüsterte, begleitet von gehässigen, vielsagenden Blicken. Janet Blyleven pflegte mit Roger Calinks in den Speisesaal zu gehen, und Frank bemerkte zu John mit einem Unterton, der für Mayas Ohren bestimmt war: »Janet denkt, dass wir der Promiskuität huldigen.« Maya wollte ihn ignorieren wie immer, wenn er auf diese zynische Weise sprach, schaute aber später dieses Wort in einem soziobiologischen Lexikon nach und fand, dass Promiskuität bedeutete, dass jedes Männchen sich mit jedem Weibchen paarte.
Am nächsten Tage sah sie Janet neugierig an. Sie hatte keine Ahnung gehabt. Janet war freundlich, sie beugte sich vor, wenn man mit ihr sprach, und hörte wirklich zu. Und sie lächelte häufig. Aber … nun, das Schiff war so gebaut, dass es viel Privatleben sicherte. Ohne Zweifel passierte mehr, als irgend jemand erfahren konnte.
Und könnte es unter diesen geheimen Leben nicht noch ein anderes geheimes Leben geben, das verhehlt wurde oder nur im Zusammensein mit einigen wenigen unter ihnen existierte, einer kleinen Clique ohne Kabale? Eines Tages fragte sie Nadia nach ihrem gewöhnlichen Frühstücksgespräch: »Hast du in letzter Zeit etwas Komisches bemerkt?«
Nadia zuckte die Achseln. »Die Leute sind gelangweilt. Ich meine, es wäre Zeit anzukommen.«
Vielleicht war das alles.
»Hast du von Hiroko und Arkady gehört?« fragte Nadia.
Über Hiroko schwirrten ständig Gerüchte. Maya fand das geschmacklos und störend. Dass die einsame asiatische Frau unter ihnen der Brennpunkt von so etwas sein sollte wie Drachenlady, geheimnisvoller Orient … Unter den wissenschaftlich rationalen Oberflächen der Leute gab es so viel tiefen und mächtigen Aberglauben. Alles könnte passieren, alles war möglich.
Wie ein Gesicht, das man durch ein Glas sieht.
Und so hörte sie mit einem Gefühl von Krampf im Magen zu, wie Sasha Yefremov sich vom Nachbartisch herüberbeugte und auf Nadias Frage antwortete, ob Hiroko sich einen männlichen Harem aufbaute. Das war Unsinn, obwohl eine gewisse Allianz zwischen Hiroko und Arkady für Maya eine beunruhigende Art von Logik hatte. Sie wusste nicht, warum. Arkady war sehr offen in seiner Empfehlung von Unabhängigkeit vom Kontrollzentrum auf der Erde. Hiroko sprach nie darüber. Hatte sie aber in ihren Aktionen nicht schon das ganze Farmteam entfremdet in einen mentalen Torus, in den die anderen nie hineinkommen konnten?
Als Sasha dann aber behauptete, dass Hiroko plante, etliche ihrer Eier mit Sperma aller Männer auf der Ares zu befruchten und dann tiefgefroren für späteres Wachstum auf dem Mars aufzuheben, konnte Maya nur ihr Tablett nehmen und sich zu den Spülmaschinen begeben. Ihr war irgendwie schwindlig. Die Leute wurden wunderlich.
Die rote Sichel wuchs zur Größe eines Halbmonds an, und das Gefühl von Spannung stieg entsprechend, als ob es die Stunde vor einem Gewitter wäre und die Luft voller Staub, Kreosot und statischer Elektrizität. Als ob der Kriegsgott wirklich dort auf dem blutigen Fleck wäre und auf sie wartete. Die grünen Wandverkleidungen in der Ares hatten jetzt gelbe und braune Flecken, und das Licht des Nachmittags war getränkt mit der blassen Bronzefarbe des Natriums.
Die Leute verbrachten Stunden in der Blasenkuppel und beobachteten, was außer John noch niemand von ihnen gesehen hatte. Die Übungsmaschinen wurden ständig benutzt und die Simulationen mit frischem Enthusiasmus ausgeführt. Janet zog durch die Torusse und schickte Videobilder von allen Veränderungen in ihrer kleinen Welt heim. Dann warf sie ihre Brille auf den Tisch und verzichtete auf ihre Stellung als Reporter. Sie sagte: »Schaut, ich bin es müde, ein Außenseiter zu sein. Jedes Mal, wenn ich in einen Raum komme, verstummen alle oder fangen an, ihre offizielle Linie vorzutragen. Das ist so, als ob ich ein Spion für den Feind wäre, verdammt noch mal!«
»Das warst du auch«, sagte Arkady und drückte sie fest an sich.
Zuerst meldete sich keiner, ihren Job zu übernehmen. Houston äußerte Bedauern, dann Rügen und dann verschleierte Drohungen. Jetzt, da sie kurz davor standen, den Mars zu erreichen, bekam die Expedition viel mehr Fernsehzeit; und die Situation konnte eine ›Nova‹ werden, wie Mission Control sich ausdrückte. Sie erinnerte die Kolonisten daran, dass dieser Ansturm von Publizität für das Raumprogramm letztlich alle Arten von Vorteilen zeitigen würde. Darum sollten die Kolonisten filmen und senden, was sie täten, um öffentliche Unterstützung für die späteren Marsunternehmen anzuregen, von denen sie abhängig sein würden. Es war ihre Pflicht, ihre Geschichten zu senden!
Frank erschien auf dem Schirm und schlug vor, dass Mission Control ihre Videoberichte aus Material von Robotkameras zusammenschustern könnte. Hastings, der Chef von Houston, war über diese Antwort sichtlich wütend. Aber dann sagte Arkady mit einem Grinsen, das den Bereich der Frage auf alles ausdehnte: »Was können die machen?«
Maya schüttelte den Kopf. Sie schickten ein übles Signal und enthüllten, was die Videoberichte bis dahin verheimlicht hatten, dass sich nämlich die Gruppe in rivalisierende Cliquen aufspaltete. Worin zum Ausdruck kam, dass es Maya selbst an Kontrolle über die russische Hälfte der Expedition mangelte. Sie wollte schon Nadia bitten, diese Aufgabe zu übernehmen, um ihr einen Gefallen zu tun, als sich Phyllis und einige ihrer Freunde in Torus B freiwillig dafür meldeten. Maya lachte über den Gesichtsausdruck von Arkady und gab ihre Zustimmung. Arkady tat so, als ob es ihn nichts anginge. Maya sagte ärgerlich auf russisch: »Du weißt, dass du eine Chance verfehlt hast! Wirklich eine Chance, unsere Realität zu gestalten!«
»Nicht unsere Realität, Maya. Ihre Realität. Und es ist mir egal, was sie denken.«
Maya und Frank begannen sich über die Aufgabenverteilung nach der Landung zu beraten. In gewissem Umfang war diese schon vorbestimmt durch die Fachgebiete der einzelnen Mitglieder. Aber wegen mehrfacher und übergreifender Qualifikationen und Erfahrungen mussten einige Entscheidungen getroffen werden. Und Arkadys Provokationen hatten zumindest die Wirkung gehabt, dass die Pläne der Bodenstation vor dem Flug jetzt allgemein nur bestenfalls als provisorisch angesehen wurden. Tatsächlich schien aber auch niemand geneigt, die Autorität von Maya oder Frank anzuerkennen, wodurch die Lage gespannt wurde, wenn die Leute erfuhren, woran sie zu arbeiten hatten.
Der Plan vor dem Flug sah die Einrichtung einer Basiskolonie auf der Ebene nördlich von Ophir Chasma vor, dem riesigen nördlichen Arm von Valles Marineris. Das ganze Farmteam wurde dieser Basis zugeteilt, sowie eine Mehrheit des technischen und medizinischen Personals — insgesamt etwa sechzig der hundert Leute. Der Rest würde auf Hilfseinsätze verteilt und sollte ab und zu zur Basis zurückkehren. Die größte Hilfsmission bestand darin, einen Teil der demontierten Ares auf Phobos zu parken und damit zu beginnen, den Mond in eine Raumstation umzuwandeln. Eine weitere kleinere Mission sollte das Basislager verlassen und nach Norden zur Polkappe reisen, um ein Bergbausystem einzurichten, das Eisblöcke zur Basis befördern sollte. Eine dritte Mission sollte eine Reihe geologischer Durchmusterungen ausführen und den ganzen Planeten bereisen — gewiss ein glanzvoller Auftrag. Alle kleineren Gruppen würden für Zeiträume bis zu einem Jahr halb autonom sein. Darum war die Auswahl keine leichte Aufgabe. Sie wussten jetzt, wie lang ein Jahr sein konnte.
Arkady und eine Gruppe seiner Freunde — Alex, Roger, Samantha, Edvard, Janet, Tatiana, Elena — verlangten alle die Tätigkeiten auf Phobos. Als Phyllis und Mary davon hörten, kamen sie zu Maya und Frank, um zu protestieren. »Die versuchen offenbar, Phobos zu übernehmen; und wer weiß, was sie damit machen werden?«
Maya nickte. Sie bemerkte, dass das Frank auch nicht gefiel. Das Problem war, niemand sonst wollte auf Phobos bleiben. Sogar Phyllis und Mary beanspruchten nicht, Arkadys Leute zu ersetzen. Darum war es nicht klar, wie man sich gegen ihn stellen könnte.
Lautere Zwiste entbrannten, als Ann Clayborne ihre Mannschaftsliste für die geologische Erkundung kursieren ließ. Eine Menge Leute wollten da mitmachen; und einige von denen, die auf der Liste fehlten, sagten, sie würden losziehen, ob Ann sie haben wollte oder nicht.
Die Diskussionen wurden häufiger und heftiger. Fast alle an Bord sprachen sich für die eine oder andere Mission aus und empfahlen sich für die endgültigen Entscheidungen. Maya merkte, dass sie jede Kontrolle über das russische Kontingent verlor. Sie wurde wütend auf Arkady. Bei einer allgemeinen Versammlung schlug sie sarkastisch vor, den Computer die Zuweisungen treffen zu lassen. Die Idee wurde ohne Rücksicht auf ihre Autorität verworfen. Sie warf die Hände hoch: »Was können wir denn tun?«
Niemand wusste es.
Sie und Frank berieten sich privat. »Lass uns versuchen, ihnen die Illusion zu geben, dass sie die Entscheidung träfen«, sagte er ihr mit einem flüchtigen Lächeln. Sie erkannte, dass es ihm nicht unlieb war, ihren Misserfolg bei der allgemeinen Versammlung erlebt zu haben. Sie wurde wieder von der Erinnerung an ihr früheres Beisammensein geplagt, und sie schalt sich eine Närrin. Kleine Politbüros pflegten gefährlich zu sein …
Frank ließ alle ihre Wünsche äußern und gab dann auf der Brücke die Ergebnisse bekannt, wobei er für jedermann die erste, zweite und dritte Wahl auflistete. Die geologischen Erkundungen waren beliebt, der Aufenthalt auf Phobos dagegen nicht. Das war schon allgemein bekannt; und die ausgestellten Listen zeigten, dass es weniger Konflikte gab, als es den Anschein gehabt hatte. »Er gibt Klagen darüber, dass Arkady Phobos übernimmt«, sagte Frank bei der nächsten öffentlichen Versammlung, »aber keiner außer ihm und seinen Freunden will diesen Job. Jeder andere möchte auf die Oberfläche hinuntergehen.«
»Wir sollten eigentlich Härtenausgleich erhalten«, schlug Arkady vor.
»Es sieht dir nicht ähnlich, über Ausgleich zu reden«, sagte Frank sanft.
Arkady grinste und setzte sich wieder hin.
Phyllis war missvergnügt. »Phobos wird ein Verbindungsglied zwischen Erde und Mars sein, wie die Raumstationen im Erdorbit. Ohne sie kann man nicht vom einen Planeten zum anderen gelangen. Sie sind das, was Marinestrategen Würgepunkte nennen.«
Arkady sagte zu ihr: »Ich verspreche, meine Hände von deinem Hals zu lassen.«
Frank fuhr auf. »Wir werden alle Teil des gleichen Dorfes sein! Alles, was wir tun, berührt uns alle! Und danach zu urteilen, wie ihr euch benehmt, wird es für uns gut sein, sich von Zeit zu Zeit zu trennen. Ich meinerseits hätte nichts dagegen, Arkady einige Monate nicht sehen zu müssen.«
Arkady verbeugte sich: »Phobos, wir kommen!« Aber Phyllis und Mary und ihre Schar waren immer noch nicht zufrieden. Sie konferierten lange mit Houston; und immer, wenn Maya in Torus B erschien, schienen die Gespräche zu verstummen, und die Augen folgten ihr misstrauisch, als ob die Tatsache, dass sie Russin war, sie automatisch ins Lager Arkadys versetzte. Sie verfluchte sie als Narren und verfluchte Arkady noch mehr. Er hatte all dies angefangen.
Aber am Ende ließ sich schwer sagen, was vor sich ging bei hundert Menschen, die in etwas verstreut waren, das plötzlich als ein so großes Schiff erschien. Interessengruppen, Mikropolitik — es kam wirklich zu Spaltungen. Nur hundert Personen, und dennoch waren sie eine zu große Gemeinschaft, um zusammenzuhalten. Und es gab nichts, das sie oder Frank daran ändern konnten.
Eines Nachts träumte sie wieder von dem Gesicht in der Farm. Sie wachte erschüttert auf und war nicht imstande wieder einzuschlafen. Plötzlich schien alles außer Kontrolle zu sein. Sie flogen durch das Vakuum des Raums im Innern eines kleinen Bündels aus Blechbüchsen, und sie sollte die Leitung dieses verrückten Schiffsungetüms haben. Das war absurd!
Sie verließ ihren Raum und erstieg den Speichentunnel von D zum Zentralschacht. Sie zog sich in die Blasenkuppel, ohne an das Spiel des Tunnelspringens zu denken.
Es war vier Uhr früh. Das Innere der Blasenkuppel war wie ein Planetarium, nachdem das Publikum gegangen ist: still, leer, mit Tausenden von Sternen dicht gedrängt in der schwarzen Hemisphäre der Kuppel. Der Mars hing direkt über dem Kopf, bucklig und deutlich sphärisch, als ob eine steinerne Orange zwischen die Sterne geschleudert wäre. Die vier großen Vulkane waren sichtbare Pockennarben, und die langen Klüfte von Marineris wären auszumachen. Sie schwebte darunter, Arme und Beine gespreizt und langsam rotierend, bemüht, etwas Besonderes in dem engen Interferenzmuster ihrer Emotionen zu empfinden. Wenn sie zwinkerte, strebten kleine kugelige Tränentropfen hinaus und davon zwischen die Sterne.
Die Schleusentür ging auf. John Boone schwebte herein, sah sie und ergriff den Türgriff, um anzuhalten. »Oh, tut mir leid. Darf ich zu dir kommen?«
»Nein.« Maya schnaufte und rieb sich die Augen. »Warum bist du zu so früher Stunde auf?«
»Ich stehe oft früh auf. Und du?«
»Schlimme Träume.«
»Wovon?«
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte sie und hatte das Gesicht vor ihrem geistigen Auge.
Er stieß sich ab und schwebte an ihr vorbei zur Kuppel. »Ich kann mich nie an meine Träume erinnern.«
»Nie?«
»Nun, selten. Wenn mich mitten drin etwas aufweckt und ich Zeit habe, darüber nachzudenken, dann könnte ich mich daran erinnern, wenigstens für kurze Zeit.«
»Das ist normal. Aber es ist ein schlechtes Zeichen, wenn man sich überhaupt nicht an seine Träume erinnert.«
»Wirklich? Wovon ist das ein Symptom?«
»Von extremer Verdrängung, glaube ich mich zu erinnern.« Sie war an die Seite der Kuppel getrieben, stieß sich ab und hielt dicht bei ihm an. »Aber vielleicht ist das freudianisch.«
»Mit anderen Worten: so etwas wie die Phlogistontheorie.«
Sie lachte. »Genau.«
Beide schauten hinaus zum Mars und wiesen einander auf Merkmale hin. Plauderten. Maya sah ihn an, wenn er redete. Er sah so sanft und glücklich zufrieden aus. Er war wirklich nicht ihr Typ. Tatsächlich hatte sie seine Fröhlichkeit zuerst für eine Art von Einfältigkeit gehalten. Aber im Verlauf der Reise hatte sie erkannt, dass er nicht primitiv war.
»Was sagst du zu all den Diskussionen darüber, was wir da oben tun sollten?« fragte sie und wies auf den roten Stein über ihnen.
»Ich weiß nicht.«
»Ich denke, Phyllis hat eine Menge Punkte für sich.« Er zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt.«
»Was ist deine Meinung?«
»Der einzige Teil eines Arguments, der wirklich wichtig ist, ist das, was wir von denen halten, die sich streiten. X behauptet a, Y behauptet b. Sie tragen Gründe vor, um ihre Ansprüche zu begründen, mit beliebig vielen Punkten. Wenn sich ihre Hörer aber an die Diskussion erinnern, kommt es nur darauf an, dass X an a glaubt und Y an b. Dann bilden die Leute sich ihr Urteil danach, was sie von X und Y halten.«
»Aber wir sind doch Wissenschaftler! Wir sind dafür erzogen, das Beweismaterial abzuwägen.«
John nickte. »Stimmt. Da ich dich mag, räume ich diesen Punkt ein.«
Sie lachte und schubste ihn; und sie kugelten an den Seiten der Kuppel voneinander fort nach unten.
Maya war selbst überrascht und hielt ihre Bewegung auf den Boden zu an. Sie wandte sich um und sah, wie John auf dem Boden landete. Er sah sie lächelnd an, ergriff eine Schiene und schwang sich in die Luft, quer durch den Kuppelraum direkt auf sie zu.
Maya begriff sofort. Sie vergaß völlig ihren Entschluss, so etwas zu vermeiden, und stieß sich ab, um ihn zu parieren. Sie flogen genau aufeinander zu; und um einen schmerzhaften Zusammenstoß zu vermeiden, mussten sie sich packen und mitten in der Luft drehen wie im Tanz. Sie rotierten mit verschlungenen Händen und bewegten sich in Spiralen langsam auf die Kuppel zu. Es war ein Tanz, der ein klares und unvermeidliches Ende nehmen musste, das sie erreichen würden, wann immer es ihnen gefiele. Oha! Mayas Puls raste, und der Atem in ihrer Kehle flatterte. Während sie sich drehten, spannten sie ihren Bizeps, zogen sich zusammen wie ein langsam andockendes Raumschiff und küssten sich.
John stieß sich lächelnd nach unten von ihr ab, so dass sie auf die Kuppel zu flog. Auf dem Boden hielt er an und kroch zur Luke der Schleuse. Er schloss sie ab.
Maya löste ihr Haar auf und schüttelte es so, dass es um ihren Kopf über ihr Gesicht schwebte. Sie lachte wild auf. Es war nicht so, als fühlte sie sich auf der Schwelle einer großen oder überwältigenden Liebe. Es würde einfach Spaß machen, und dieses Gefühl von Einfachheit war … Sie empfand einen wilden Ansturm von Lust und stieß sich von der Kuppel auf John hin ab. Sie rollte sich zu einem langsamen Salto zusammen und zog dabei den Reißverschluss ihrer Jacke auf. Ihr Herz klopfte wie ein Schlagzeug und all ihr Blut drängte sich nach außen zur Haut, die vibrierte, während sie sich vollends entkleidete und auf John prallte. Nachdem sie ihn übereilig am Ärmel gezupft hatte, trieb sie davon. Sie hüpften in dem Raum herum, während sie sich auszogen, und irrten sich in den Winkeln und Impulsen, bis sie mit einem sanften Schub der Großen Zehen ineinander flogen und sich in einer rotierenden Umschlingung vereinten und unter Küssen zwischen ihren dahintreibenden Kleidern dahinschwebten.
In den nachfolgenden Tagen kamen sie immer wieder zusammen. Sie machten keinen Versuch, die Beziehung geheim zu halten. So waren sie sehr schnell ein allgemein bekanntes Paar. Viele an Bord schienen durch diese Entwicklung überrascht zu sein. Eines Morgens kam Maya in den Speisesaal und fing einen raschen Blick von dem an einem Ecktisch sitzenden Frank auf, der sie frösteln ließ. Er erinnerte sie an eine andere Zeit, an ein Ereignis und einen Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie nicht ganz in Erinnerung rufen konnte.
Aber die meisten Leute an Bord schienen erfreut zu sein. Es war schließlich eine Art Royal Match, eine Allianz der zwei Mächte hinter der Kolonie, die Harmonie ausdrückte. Tatsächlich schien diese Verbindung eine Anzahl anderer zu katalysieren, die entweder die Heimlichtuerei aufgaben oder in dem jetzt emotional übersättigten Milieu einfach entstanden. Vlad und Ursula, Dmitri und Elena, Raul und Marina — neue unverhohlene Paare gab es überall, bis es so weit kam, dass die Einzelgänger anfingen, darüber nervöse Scherze zu machen. Aber Maya glaubte weniger Spannung in Gesprächen, weniger Streitigkeiten und mehr Lachen zu bemerken.
Eines Nachts, als sie im Bett lag und darüber grübelte, ob sie in Johns Raum umziehen sollte, fragte sie sich, warum sie sich zusammengefunden hatten. Nicht aus Liebe; denn sie liebte ihn immer noch nicht, sie empfand für ihn nicht mehr als Freundschaft, die befrachtet war mit einer Lust, die stark, aber unpersönlich war. Es war wirklich ein sehr nützliches Match. Nützlich für sie. Aber sie wandte sich von diesem Gedanken ab und konzentrierte sich auf den Nutzen dieses Matches für die Expedition im ganzen. Ja, es war Politik. Wie Feudalpolitik oder die antiken Komödien von Frühling und Wiedererstehen. Und sie musste zugeben, es fühlte sich so an, als würde sie als Reaktion auf Imperative handeln, die stärker waren als ihre eigenen Wünsche, so als ob sie das Verlangen einer größeren Macht verwirklichte. Oder vielleicht von Mars selbst. Das war kein unangenehmes Gefühl.
Was die Idee anging, sie könnte Einfluss auf Arkady oder Frank oder Hiroko gewonnen haben … Nun, sie vermied erfolgreich, darüber nachzudenken. Das war eines ihrer Talente.
Ein Hauch von Gelb, Rot und Orange breitete sich auf den Wänden aus. Mars war jetzt so groß wie der Mond am Himmel der Erde. Es war Zeit, ihre ganze Bemühung zusammenzuraffen. Nur noch eine Woche, und sie würden da sein.
Es gab noch Spannungen wegen der ungelösten Probleme der nach der Landung anstehenden Obliegenheiten. Und Maya fand es jetzt schwieriger denn je, mit Frank zusammenzuarbeiten. Es war nichts Offenkundiges, aber sie hatte den Eindruck, dass ihm ihre Unfähigkeit, die Lage zu beherrschen, nicht unangenehm war; denn die Spaltungen wurden mehr von Arkady verursacht als von sonst jemandem. Daher schien es mehr ihr Fehler zu sein als seiner. Mehr als einmal verließ sie eine Zusammenkunft mit Frank und ging zu John in der Hoffnung auf etwas Hilfe. Aber John hielt sich aus den Diskussionen heraus und befürwortete alles, was Frank vorschlug. Sein privater Rat für Maya war recht scharfsinnig; aber das Problem war, er liebte Arkady und mochte Phyllis nicht. Darum riet er ihr oft, Arkady zu unterstützen — offenkundig unbewußt dessen, wie dies ihre Autorität unter den anderen Russen untergraben könnte. Allerdings wies sie ihn nie darauf hin. Ob ein Liebespaar oder nicht — es gab noch Gebiete, die sie weder mit ihm noch jemand anderem erörtern wollte.
Aber eines Nachts in seinem Zimmer waren ihre Nerven rebellisch. Sie lag da, unfähig zu schlafen, grübelte über dies und jenes und sagte: »Hältst du es für möglich, einen blinden Passagier auf dem Schiff zu verstecken?«
Er sagte erstaunt: »Nun, ich weiß nicht. Warum fragst du?«
Sie schluckte kräftig und erzählte ihm von dem Gesicht hinter der Algenflasche.
Er richtete sich im Bett auf und starrte sie an. »Bist du sicher, dass es nicht …«
»Es war keiner von uns.«
Er rieb sich das Kinn. »Nun … ich nehme an, wenn er von jemandem aus der Crew Unterstützung fände …«
»Hiroko«, schlug Maya vor. »Ich meine, nicht bloß, weil sie Hiroko ist, sondern wegen der Farm und all dessen. Es würde sein Nahrungsproblem lösen, und es gibt dort eine Menge Versteckplätze. Und er könnte während des Strahlungssturms mit den Tieren Schutz gefunden haben.«
»Die haben eine Menge Rems abbekommen.«
»Er könnte sich aber hinter ihrem Wasservorrat befunden haben. Ein kleiner Einpersonenbunker wäre nicht allzu schwer einzurichten.«
John hatte diese Idee noch nicht recht verdaut. »Neun Monate versteckt!«
»Es ist ein großes Schiff. Es hätte sich machen lassen, nicht wahr?«
»Nun, ich denke, ja. O ja, das ginge wohl. Aber warum?«
Maya zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Jemand, der mit wollte, aber die Auswahl nicht bestanden hatte. Jemand, der einen Freund oder Freunde hatte …«
»Dennoch! Ich meine, dass viele von uns Freunde hatten, die mitkommen wollten. Dies bedeutet aber nicht, dass …«
»Ich weiß, ich weiß.«
Sie redeten fast eine Stunde lang darüber. Sie diskutierten die möglichen Gründe, die Methoden, die man hätte anwenden können, um einen Passagier an Bord zu schmuggeln, ihn zu verstecken und so weiter. Und dann fühlte Maya sich endlich viel besser und war prächtig gestimmt. John glaubte ihr! Sie fühlte einen Schwall von Erleichterung und Glück und warf die Arme um ihn. »Es ist so gut, mit dir hierüber sprechen zu können!«
Er lächelte. »Maya, wir sind Freunde. Du solltest es schon früher zur Sprache gebracht haben.«
»Ja.«
Die Blasenkuppel wäre ein wundervoller Ort gewesen, um die letzte Annäherung an den Mars zu beobachten, aber sie würden aerodynamisch bremsen müssen, um die Geschwindigkeit herabzusetzen, und die Kuppel würde sich hinter dem Hitzeschild befinden, den sie jetzt anbrachten. Es würde keine Sicht geben.
Durch das aerodynamische Bremsen sparten sie enorme Mengen an Treibstoff, die sonst erforderlich gewesen wären, um langsamer zu werden. Aber es war eine äußerst heikle Prozedur und deshalb gefährlich. Sie hatten einen Spielraum von weniger als einer tausendstel Bogensekunde. Darum begann schon einige Tage vor Eintritt in den Mars-Orbit das Navigationsteam ihren Kurs mit kleinen Brennstößen fast stündlich leicht zu modifizieren und so die Annäherung fein abzugleichen. Als sie dann näher kamen, hielten sie die Rotation des Schiffs an. Die Rückkehr zur Gewichtslosigkeit war auch in den Torussen ein Schock. Maya wurde jäh klar, dass das nicht eine weitere Simulation war. Sie glitt in hohem Bogen durch die zugige Luft der Gänge, sah alles aus einer seltsamen neuen Perspektive, und plötzlich wirkte alles real.
Sie schlief in kurzen Etappen, eine Stunde hier, drei Stunden dort. Jedes Mal, wenn sie sich rührte, hatte sie, in ihrem Schlafsack schwebend, einen Moment der Desorientierung und glaubte wieder in der Novy Mir zu sein. Dann erinnerte sie sich, und Adrenalin peitschte sie munter. Sie eilte durch die Säle des Torus und riss die Wandverkleidungen aus Gold und Bronze herunter. Auf der Brücke traf sie auf Mary oder Raul, oder Marina oder sonst jemand für die Navigation. Alles noch richtig auf Kurs. Sie näherten sich dem Mars so schnell, dass es schien, sie könnten auf den Schirmen sehen, wie er größer wurde.
Sie mussten den Planeten um dreißig Kilometer verfehlen. Das war etwa ein Zehnmillionstel der zurückgelegten Distanz. Kein Problem, sagte Mary mit einem raschen Blick auf Arkady. Bis jetzt waren sie im Mantralauf und hofften, dass keines seiner verrückten Probleme auftauchen würde.
Die nicht mit Navigation beschäftigten Besatzungsmitglieder waren dafür eingesetzt, zu verschalen und alles auf die Dreh- und Stoßkräfte vorzubereiten, die zweieinhalb G mit sich bringen würden. Einige arbeiteten im freien Raum außerhalb des Schiffs, um zusätzliche Hitzeschilde und dergleichen anzubringen. Es war eine Menge zu tun, und dennoch schienen die Tage irgendwie lang zu sein.
Es würde mitten in der Nacht passieren. Darum blieben an diesem Abend alle Lichter eingeschaltet, und niemand ging zu Bett. Jeder hatte einen Posten — manche im Dienst, und die meisten nur abwartend. Maya saß in ihrem Sessel auf der Brücke, beobachtete die Schirme und Monitore und fand, dass sie genau so aussahen, als wäre das Ganze eine Simulation in Baikonur. Sollten sie wirklich in eine Umlaufbahn um den Mars eintreten?
Sie konnten es. Die Ares traf auf die dünne Hochatmosphäre des Mars mit 40000 Kilometern in der Stunde, und sofort fing das Schiff an, heftig zu vibrieren. Mayas Sessel schüttelte sie in raschen, harten Stößen, und es gab ein schwaches, tiefes Dröhnen, als ob sie durch einen Hochofen flogen. Und so sah es auch aus; denn die Schirme erglühten in einem intensiven orangeroten Schein. Komprimierte Luft prallte von den Hitzeschilden ab und fauchte an den Außenkameras vorbei, so dass die ganze Brücke in die Farbe des Mars getönt war. Dann kehrte die Schwere rachsüchtig zurück. Mayas Rippen wurden so gequetscht, dass sie kaum atmen konnte und ihre Sicht unscharf war. Es schmerzte!
Sie pflügten durch die dünne Luft mit einer Geschwindigkeit und in einer Höhe, die so berechnet waren, dass sie in eine von Aerodynamikern als Übergangszustand bezeichnete Strömung gerieten, einen Zustand halbwegs zwischen freier molekularer und Kontinuumsströmung. Freie Molekularströmung wäre vorzuziehen gewesen. Dabei wurde die auf den Hitzeschild treffende Luft zur Seite gedrückt und das resultierende Vakuum hauptsächlich durch molekulare Diffusion aufgefüllt werden. Aber sie bewegten sich dafür zu schnell und konnten nur knapp die entsetzliche Hitze der Kontinuumsströmung vermeiden, bei der sich Luft über den Schild und das Schiff als Teil einer Wellenwirkung bewegte. Das Beste, was sie tun konnten, war, den höchsten möglichen Kurs zu wählen, der sie hinreichend bremsen und in eine Übergangsströmung bringen würde, die zwischen freier molekularer und kontinuierlicher Strömung schwankte und die Fahrt daher bockig machte. Und darin lag die Gefahr. Falls sie auf eine Hochdruckzelle in der Marsatmosphäre stießen, wo Hitze oder Vibration oder Gravitationskräfte irgendeinen empfindlichen Mechanismus beschädigen würden, dann könnten sie in einen von Arkadys Alpträumen genau zu der Zeit geschleudert werden, da sie in ihren Sesseln zusammengepresst wurden und je fast zweihundert Kilogramm ›wiegen‹ würden — etwas, das zu simulieren Arkady nicht recht gelungen war. Maya dachte voller Ingrimm, dass sie in der realen Welt gerade dann, wenn sie gegenüber einer Gefahr am meisten verwundbar waren, auch am hilflosesten waren, damit fertig zu werden.
Aber wie das Schicksal es wollte, war das Wetter in der Stratosphäre des Mars stabil, und sie blieben im Mantralauf, der sich in der Realität als atemberaubende acht Minuten voller Gebrüll und Erschütterungen erwies. Maya konnte sich an keine Stunde erinnern, die so lange gedauert hätte. Sensoren zeigten, dass der Haupthitzeschild bis auf 600 Kelvin erwärmt worden war …
Und dann hörte die Vibration auf. Das Gebrüll verstummte. Sie waren aus der Atmosphäre hinausgeglitten, nachdem sie etwa ein Viertel des Planeten umrundet hatten. Sie waren um etwa 20.000 Kilometer in der Stunde langsamer geworden, und die Temperatur des Hitzeschildes hatte 710 Kelvin erreicht — fast die Obergrenze. Aber die Methode hatte funktioniert. Alles war still. Sie schwebten wieder gewichtslos dahin, nur durch ihre Sitzgurte festgehalten. Es war, als hätten sie völlig aufgehört, sich zu bewegen, als ob sie in reiner Stille schwimmen würden.
Schwankend schnallten sie sich los und flogen wie Geister in der kühlen Luft der Räume, einer Luft, die in ihren Ohren leise ertönte und die Stille betonte. Sie redeten zu laut und schüttelten sich die Hände. Maya fühlte sich benommen und konnte nicht verstehen, was die Leute zu ihr sagten — nicht weil sie sie nicht hören konnte, sondern weil sie nicht acht gab.
Zwölf schwerelose Stunden später führte ihr neuer Kurs wieder auf eine Periapsis in 35.000 Kilometern Entfernung vom Mars. Dort, an der tiefsten Stelle ihrer Umlaufbahn, zündeten sie die Hauptraketen für einen kurzen Impuls, der ihre Geschwindigkeit um etwa hundert Stundenkilometer erhöhte. Danach wurden sie wieder auf den Mars zu gezogen und beschrieben eine Ellipse, die sie bis auf 500 Kilometer an die Oberfläche heranführte. Sie waren jetzt im Orbit.
Jede elliptische Umrundung des Planeten dauerte etwa einen Tag. Während der nächsten zwei Monate würden die Computer Brennstöße ausführen, die ihre Bahn allmählich kreisförmig knapp innerhalb der von Phobos gestalten sollten. Aber die Landegruppen mussten noch davor zur Oberfläche hinuntergehen, während der tiefste Bahnpunkt so niedrig lag.
Sie verstauten die Hitzeschilde wieder und gingen in die Blasenkuppel, um sich umzuschauen.
In dieser Position nahm der Mars fast den ganzen Himmel ein, als ob sie in einem Höhenflugzeug darüber hinzögen. Die Tiefe von Valles Marineris war deutlich, ebenso die Höhe der vier großen Vulkane, deren breite Gipfel über dem Horizont erschienen, noch ehe die umgebende Landschaft in Sicht kam. Überall auf der Oberfläche gab es Krater. Deren runde Innenflächen waren lebhaft sandfarben, ein bisschen heller als die äußeren Gebiete. Vermutlich Staub. Die kurzen gezackten Bergketten waren dunkler als das umgebende Land — eine durch schwarze Schatten unterbrochene Rostfarbe. Aber sowohl die hellen wie die dunklen Farben waren nur leicht anders getönt als das allgegenwärtige rostig orangefarbene Rot, das alle Bergspitzen, Krater, Schluchten, Dünen und sogar der gekrümmte Streifen der von Staub erfüllten Atmosphäre aufwiesen, der hoch über der hellen Kurve des Planeten zu sehen war. Roter Mars! Er war durchbohrend und faszinierend. Das fühlten sie alle.
Sie verbrachten lange Stunden mit Arbeit, und das war endlich richtige Arbeit. Das Schiff musste teilweise zerlegt werden. Der Hauptkörper würde zuletzt in einem Orbit nahe Phobos geparkt werden, um als Rückkehrvehikel für den Notfall dienen zu können. Aber zwanzig Tanks von den äußeren Längen des Nabenschachts brauchten nur von der Ares getrennt und als planetare Landefahrzeuge hergerichtet zu werden, die die Kolonisten in Fünfergruppen hinunterbringen sollten. Das erste davon sollte sofort landen, wenn es abgekoppelt und vorbereitet war. Darum arbeiteten sie schichtweise rund um die Uhr und verbrachten viel Zeit im freien Raum. Sie rückten zu den Essenszeiten müde und heißhungrig an und führten laute Gespräche. Die Langeweile der Reise schien vergessen. Eines Nachts schwebte Maya im Baderaum und machte sich fertig für das Bett. Ihre Muskeln fühlten sich steif an wie seit Monaten nicht mehr. Um sie herum plauderten Nadia und Sasha und Yeli Zudov fröhlich miteinander, und bei dem warmen Schwall von geläufigem Russisch gewann sie plötzlich den Eindruck, dass alle glücklich waren. Sie befanden sich im letzten Moment ihrer Erwartung — einer Erwartung, die schon ein halbes Leben lang in ihren Herzen geruht hatte, oder schon seit ihrer Kindheit — und jetzt plötzlich unter ihnen erblüht war wie die Zeichnung eines Kindes vom Mars. Sie wurde groß und klein, als ob sie in einem Jojo-Spiel vor ihnen vorwärts und rückwärts hüpfte in all ihrem immensen Potential. Tabula rasa, leere Tafel. Eine leere rote Tafel. Alles war möglich, alles konnte passieren. In diesem Sinne waren sie gerade in diesen letzten Tagen vollkommen frei. Frei von der Vergangenheit, frei von der Zukunft, schwerelos in ihrer warmen Luft, wie Geister umherschwebend, um eine materielle Welt auszustatten … Im Spiegel erwischte Maya einen Blick auf das vom Zähneputzen verzerrte Grinsen ihres Gesichts und packte ein Geländer, um ihre Position zu halten. Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht nie wieder so glücklich sein würde. Schönheit war das Versprechen von Glück, aber nicht das Glück selbst; und die erwartete Welt war oft reicher als irgend etwas Reales. Aber wer konnte das diesmal sagen? Es könnte jetzt sogar endlich die goldene Zeit sein.
Sie ließ das Geländer los und spie Zahnpaste in einen Wasserbeutel. Dann schwebte sie in den Korridor zurück. Komme, was wolle, sie hatten ihr Ziel erreicht. Sie hatten zumindest die Chance für einen Versuch gewonnen.
Die Demontage der Ares bewirkte bei vielen ein seltsames Gefühl. Es war, wie John bemerkte, als ob man eine Stadt zerlegte und die Häuser nach allen Richtungen fortschleuderte. Unter dem Riesenauge des Mars wurden alle ihre Meinungsverschiedenheiten angespannter. Gewiss war es jetzt kritisch, und es war nur noch wenig Zeit. Die Leute diskutierten, offen oder unter der Oberfläche. Es gab jetzt so viele kleine Gruppen, die unter sich berieten … Was war aus jenem kurzen Moment des Glücks geworden? Maya gab hauptsächlich Arkady die Schuld. Er hatte die Büchse der Pandora geöffnet. Hätte sich ohne ihn und seine Reden die Farmgruppe so eng um Hiroko geschart? Hätte das medizinische Team sich so isoliert beraten? Sie meinte, nein.
Sie und Frank arbeiteten angestrengt, um Differenzen auszubügeln und einen Konsens zu schmieden, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie immer noch ein geschlossenes Team bildeten. Dies schloss lange Konferenzen mit Phyllis und Arkady, Ann und Sax, Houston und Baikonur ein. Dabei entwickelte sich eine Beziehung zwischen den beiden Anführern, die noch komplexer war als ihre früheren Begegnungen im Park, obwohl die auch dazu gehörten. Maya erkannte jetzt bei den gelegentlichen Anflügen von Sarkasmus bei Frank, dass ihn dieses Erlebnis mehr bewegt hatte, als sie damals dachte. Aber jetzt konnte man nichts mehr daran ändern.
Schließlich wurde die Phobosmission tatsächlich Arkady und seinen Freunden übertragen, hauptsächlich deshalb, weil sie sonst niemand wollte. Es wurde allen ein Platz bei einer geographischen Forschungstour versprochen, wenn sie das wünschten. Und Phyllis und der Rest der ›Houston-Gruppe‹ erhielten die Zusicherung, dass die Einrichtung des Basislagers nach den Plänen aus Houston erfolgen sollte. Sie beabsichtigten auf der Basis zu arbeiten, um zu sehen, dass das auch wirklich geschah. »Fein, fein«, knurrte Frank am Ende einer solchen Konferenz. »Wir werden doch alle auf dem Mars leben; müssen wir denn so darüber streiten, was wir dort tun werden?«
»So ist das Leben«, sagte Arkady fröhlich. »Auf dem Mars oder nicht, das Leben geht weiter.«
Frank spannte die Kinnmuskeln an. »Ich bin hierher gekommen, um so etwas zu entkommen!«
Arkady schüttelte den Kopf. »Das ist dir bestimmt nicht gelungen. Dies ist dein Leben, Frank. Was würdest du ohne es tun?«
Eines Abends kurz vor der Landung kamen sie zusammen und hielten ein Bankett für die gesamte Besetzung ab. Die meisten Lebensmittel waren auf der Farm gewachsen: Pasta, Salat und Brot, dazu Rotwein aus den Beständen, der für einen besonderen Anlass aufgespart war.
Bei einem Dessert aus Erdbeeren erhob sich Arkady, um einen Toast auszubringen. »Auf die neue Welt, die wir jetzt erschaffen!«
Ein Chor von Murren und Applaus. Inzwischen wussten alle, was er meinte. Phyllis ließ eine Erdbeere fallen und sagte: »Schau, Arkady, diese Niederlassung ist eine wissenschaftliche Station. Deine Ideen spielen dafür keine Rolle. Vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren. Aber vorerst wird es ähnlich sein wie bei den Stationen in Antarctica.«
»Das stimmt«, sagte Arkady. »Aber antarktische Stationen sind in Wirklichkeit höchst politisch. Die meisten von ihnen wurden eingerichtet, damit die betreffenden Länder bei der Revision des Antarktisabkommens mitsprechen könnten. Und jetzt werden die Stationen von Gesetzen beherrscht, die dieses Abkommen aufgestellt hat, welches durch einen sehr politischen Prozess zustande gekommen ist. Du darfst also nicht einfach den Kopf in den Sand stecken und rufen: ›Ich bin Wissenschaftler, ich bin Wissenschaftler!‹« Er legte eine Hand an die Stirn in der allgemeinen Geste, die eine Primadonna verspottet. »Nein. Wenn du das sagst, sagst du nur: ›Ich will nicht über komplexe Systeme nachdenken!‹ Was echten Wissenschaftlern gewiss nicht ansteht.«
»Die Antarktis wird von einem Abkommen regiert, weil dort niemand lebt außer in Forschungsstationen«, sagte Maya ärgerlich. Sollte ihr Schlußbankett, ihr letzter Moment der Freiheit, derartig kaputtgemacht werden?!
»Stimmt«, sagte Arkady. »Denkt aber an das Ergebnis! In Antarctica kann niemand Land besitzen. Kein Land und keine Organisation kann die natürlichen Schätze des Landes ausbeuten oder nehmen und anderen verkaufen, so dass manche davon profitieren, während andere für ihre Nutzung bezahlen. Seht ihr nicht, wie sich dies davon unterscheidet, wie der Rest der Welt betrieben wird? Und dies hier ist das letzte Areal auf der Erde, das organisiert werden und ein Gesetzeswerk bekommen muss. Es stellt das dar, was alle Regierungen in gemeinsamer Arbeit instinktiv für fair halten, sich offenbarend auf einem Land, das frei ist von Herrschaftsansprüchen und sogar von jeglicher Geschichte. Es ist, um es schlicht zu sagen, der beste Versuch der Erde, gerechte Eigentumsverhältnisse zu schaffen. Versteht ihr? Dies ist eine Methode, nach der die ganze Welt betrieben werden sollte, wenn wir sie nur von der Zwangsjacke der Geschichte freimachen könnten!«
Sax Russell blinzelte und sagte: »Aber, Arkady, da der Mars nach einem Abkommen regiert werden soll, das auf dem alten antarktischen beruht, was hast du dagegen einzuwenden? Der Weltraumvertrag besagt, dass kein Land Boden auf dem Mars beanspruchen kann, dass keine militärische Aktivitäten gestattet sind und alle Basen für Inspektion durch jedes Land offen stehen. Auch können keine Bodenschätze des Mars Eigentum einer einzelnen Nation sein. Die UN soll eine internationale Behörde einrichten, der alle montane oder sonstige Ausbeutung untersteht. Wenn alles nach diesen Richtlinien geschieht, was ich bestimmt erwarte, dann haben alle Nationen der Welt daran Anteil.« Er hob die Hand. »Ist nicht das, wofür du agitierst, schon geschehen?«
»Es ist ein Anfang«, erwiderte Arkady. »Aber es gibt Aspekte dieses Vertrages, die du nicht erwähnt hast. Zum Beispiel werden auf dem Mars errichtete Basen dem Land gehören, das sie gebaut hat. Wir werden amerikanische und russische Basen errichten, wie im Gesetz vorgesehen. Und damit sind wir wieder in den Alptraum irdischen Rechts und irdischer Geschichte zurückgeworfen. Amerikanische und russische Firmen werden das Recht haben, den Mars auszubeuten, solange die Profite irgendwie allen Nationen zugute kommen, die den Vertrag unterzeichnen. Das wird dazu führen, dass der UN irgendein Prozentsatz bezahlt wird, der nicht mehr als ein Bestechungsgeld ist. Ich glaube nicht, dass wir diese Maßnahmen auch nur einen Augenblick lang anerkennen sollten!«
Der Bemerkung folgte Schweigen.
Ann Clayborne sagte schließlich: »Dieser Vertrag besagt auch, dass wir Maßnahmen ergreifen müssen, um die Zerstörung der planetaren Umwelt zu verhindern. Das steht wohl in Artikel sieben. Es scheint mir ausdrücklich das Terraformen zu verbieten, über die so viele von euch reden.«
Arkady sagte schnell: »Ich möchte sagen, dass wir auch diese Anweisung ignorieren. Unser Wohlergehen hängt davon ab.«
Dieser Gedanke war populärer als seine anderen; und mehre Leute sprachen sich dafür aus.
»Wenn ihr aber einen Artikel missachten wollt«, erklärte Arkady, »dann solltet ihr auch den Rest verwerfen. Nicht wahr?«
Es folgte ein unbehagliches Schweigen.
»All diese Veränderungen werden unvermeidlich eintreten«, sagte Sax Russell achselzuckend. »Das Leben auf dem Mars wird uns evolutionär verändern.«
Arkady schüttelte heftig den Kopf, so dass er sich ein wenig über dem Tisch drehte. »Nein, nein, nein! Geschichte ist keine Evolution! Das ist eine falsche Analogie. Evolution ist eine Sache von Umgebung und Zufall, die sich in Lebenszeiten und manchmal in Jahren abspielt, oder Monaten oder Tagen. Geschichte verläuft nach Lamarck! Wenn wir uns also entschließen, gewisse Institutionen auf dem Mars zu etablieren, wird es sie geben! Und wenn wir andere wählen, wird es diese geben.« Eine Handbewegung schloss sie alle ein, die an den Tischen Sitzenden und die, welche zwischen den Ranken umherschwebten. »Ich sage, wir sollten selbst diese Wahl treffen und das nicht Leuten hinten auf der Erde überlassen. Leuten, die eigentlich schon lange tot sind.«
Phyllis sagte scharf: »Du willst eine Art kommunaler Utopie, und das ist unmöglich. Ich sollte meinen, dass dich die russische Geschichte in dieser Hinsicht einiges gelehrt haben dürfte.«
»Das hat sie«, sagte Arkady. »Jetzt wende ich praktisch an, was sie mich gelehrt hat.«
»Indem du eine schlecht definierte Revolution befürwortest? Eine Krisensituation anstiftest? Alle gegeneinander aufhetzt?«
Eine Menge Leute nickten hierbei; aber Arkady winkte ab. »Ich lehne es ab, an dieser Stelle der Reise für die Probleme von allen verantwortlich gemacht zu werden. Ich habe nur gesagt, was ich denke. Und das ist mein Recht. Ich bereite einigen von euch Unbehagen. Und das ist euer Problem. Das kommt daher, dass euch nicht die Konsequenzen von dem gefallen, was ich sage, ihr aber keine Gründe findet, sie zu bestreiten.«
»Manche von uns können nicht verstehen, was du sagst«, rief Mary.
»Ich sage nur dies«, erklärte Arkady und starrte sie mit hervorquellenden Augen an. »Wir sind für immer auf den Mars gekommen. Wir werden nicht nur unsere Behausungen und unsere Nahrung herstellen, sondern auch unser Wasser und sogar die Luft, die wir atmen — alles auf einem Planeten, der nichts davon besitzt. Wir können das tun, weil wir die Technik haben, um Materie bis hinab zum molekularen Niveau zu manipulieren. Das ist eine außergewöhnliche Fähigkeit, denkt daran! Und dennoch können einige von uns hier sich damit abfinden, dass wir die ganze physische Realität dieses Planeten umformen, ohne auch nur das Geringste dafür zu tun, uns selbst oder unsere Lebensweise zu ändern. Als Wissenschaftler des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf dem Mars zu sein, aber gleichzeitig in den sozialen Systemen des neunzehnten Jahrhunderts zu leben, gegründet auf Ideologien des siebzehnten Jahrhunderts — das ist absurd, das ist verrückt, es ist …« Er fasste sich an den Kopf, raufte sich das Haar und brüllte: »Es ist unwissenschaftlich! Und ich sage, unter all den vielen Dingen, die wir auf dem Mars umgestalten, sollten auch wir selbst und unsere soziale Realität sein. Wir müssen nicht nur den Mars, sondern auch uns selbst umformen.«
Niemand wagte, dem zu widersprechen. Arkady in vollem Schwung ließ sich kaum aufhalten; und viele waren durch seine Worte ernstlich herausgefordert und brauchten Zeit zum Nachdenken. Andere waren bloß verstimmt, hatten aber keine Lust, bei diesem Bankett, das als Feier gedacht war, viel Staub aufzuwirbeln. Es war einfacher, mit den Augen zu rollen und beim Toast anzustoßen: »Zum Mars! Zum Mars!« Als sie aber nach dem Dessert umherschwebten, sagte Phyllis geringschätzig: »Erst müssen wir überleben. Wie gut werden unsere Chancen stehen bei solcher Unstimmigkeit?«
Michel Duval bemühte sich, sie zu trösten. »Viele dieser Meinungsverschiedenheiten sind Symptome des Fluges. Einmal auf dem Mars, werden wir zusammenstehen. Und wir haben mehr als das, was wir auf der Ares mitgebracht haben, um uns zu helfen — wir werden haben, was die unbemannten Landegeräte schon geliefert haben: Schiffsladungen von Gerät und Nahrung auf der ganzen Oberfläche und den Monden. Das ist alles für uns dort. Die einzige Beschränkung wird unsere Ausdauer sein. Und diese Reise ist ein Teil davon. Sie ist eine Art Vorbereitung, ein Test. Wenn wir hierbei versagen, sollten wir es auf dem Mars gar nicht erst versuchen.«
»Das ist genau, was ich meine!« sagte Phyllis. »Wir werden dabei scheitern.«
Sax stand auf, machte ein gelangweiltes Gesicht und stieß sich zur Küche hin ab. Der Saal war voll von dem Rauschen vielstimmiger Diskussionen, manche davon ziemlich bissig. Viele Leute waren offensichtlich auf Arkady wütend, und andere ärgerten sich ihrerseits über diese, weil sie es waren.
Maya folgte Sax in die Küche. Während er sein Tablett reinigte, seufzte er: »Die Menschen sind so gefühlsbetont. Manchmal komme ich mir vor wie in einer endlosen Vorstellung des Stücks Geschlossene Gesellschaft.«
»Das ist das, wo sie nicht aus einem kleinen Raum hinauskönnen?«
Er nickte. »Wo andere Leute die Hölle sind. Ich hoffe, dass wir diese Hypothese nicht ausprobieren werden.«
Einige Tage später waren die Landevehikel bereit. Sie würden während eines Zeitraums von fünf Tagen hinuntergehen. Nur das Phobosteam würde in dem zurückbleiben, was von der Ares noch übrig war und es zu einem Beinahe-Andocken mit dem kleinen Mond lenken. Arkady, Alex, Dmitri, Roger, Samantha, Edvard, Janet, Raul, Marina, Tatiana und Elena hatten Lebewohl gesagt, schon mit der bevorstehenden Aufgabe beschäftigt. Sie versprachen, alsbald hinunterzukommen, wenn die Phobos-Station errichtet war.
In der Nacht vor der Landung konnte Maya nicht schlafen. Schließlich gab sie den Versuch auf und zog sich durch die Räume und Korridore zur Nabe. Alles, was ihr im Schiff vertraut gewesen war, zeigte sich jetzt verändert durch festgezurrte Stapel von Kisten oder ein abgedichtetes Rohr. Es war, als hätten sie schon die Ares verlassen. Sie schaute sich ein letztes Mal um, von Gefühlen ausgelaugt. Dann zog sie sich durch die Schleusen in das ihr zugewiesene Landevehikel. Sie hätte ebenso gut hier warten können. Sie kroch in ihren Raumanzug und hatte das Gefühl wie schon oft, wenn der richtige Moment kam, dass sie nur eine weitere Simulation ausführte. Sie fragte sich, ob sie je diesem Gefühl entrinnen würde, ob der Aufenthalt auf dem Mars dazu ausreichte, es zu beenden. Allein das wäre es schon wert, um sich wirklich als real zu empfinden. Sie ließ sich in ihrem Sitz nieder.
Einige schlaflose Stunden später stießen zu ihr Sax, Vlad, Nadia und Ann. Ihre Gefährten gurteten sich an, und sie gingen gemeinsam die Checkliste durch. Schalter wurden umgelegt. Dann kam ein Countdown. Die Raketen zündeten. Der Lander trieb von der Ares weg. Ein neuer Raketenstoß. Sie fielen auf den Planeten zu.
Sie gerieten in die Obergrenze der Atmosphäre, und ihr einziges trapezförmiges Fenster erglühte in marsfarbener Luft. Maya vibrierte mit dem Vehikel und starrte hinauf. Sie fühlte sich angespannt und unglücklich, konzentrierte sich mehr nach rückwärts als nach vorn und dachte an alle, die noch auf der Ares waren. Sie meinte, dass die verunglückt wären und sie fünf im Lander eine ungeordnete Gruppe hinter sich ließen. Ihre beste Chance, eine gewisse Eintracht zu schaffen, war vertan. Der momentane Anflug von Glück, den sie beim Zähneputzen erlebt hatte, war genau das gewesen — nur ein Blitz. Sie hatten also versagt. Sie gingen ihre getrennten Wege, zersplittert durch ihre Ansichten. Und selbst nach zwei erzwungenen Jahren des Beisammenseins waren sie wie jede andere menschliche Gruppe nichts mehr als eine Ansammlung von Fremden. Die Würfel waren gefallen.