FÜNFTER TEIL Sturz in Geschichte

Das Labor summte friedlich vor sich hin. Pulte, Tische und Bänke waren von Sachen überhäuft, die weißen Wände gedrängt voller Graphiken, Plakaten und ausgeschnittener Skizzen, die alle unter heller künstlicher Beleuchtung vibrierten. Wie jedes Labor irgendwo. Irgendwie sauber und irgendwie unordentlich. Das einzige Fenster in der Ecke war schwarz und reflektierte das Innere. Draußen war Nacht. Das ganze Gebäude war nahezu leer.

Aber zwei Männer in Laborkitteln standen an einer Bank und beugten sich vor, um einen Computerbildschirm zu betrachten. Der kleinere der beiden drückte mit einem Zeigefinger auf die Tastatur unter dem Schirm, und das Bild wechselte. Grüne Korkenzieher auf schwarzem Grund, die so verschnörkelt waren, dass sie dreidimensional wirkten. Als ob der Bildschirm ein Kasten wäre. Das Bild aus einem Elektronenmikroskop. Das Gesichtsfeld hatte einen Durchmesser von ein paar Mikrons.

Der kleinere Gelehrte sagte: »Sie sehen, es ist eine plasmidische Reparatur der Gensequenz. Brüche in den ursprünglichen Strängen sind identifiziert. Austauschsequenzen sind synthetisiert; und wenn massenhafte Mengen dieser Austauschsequenzen in die Zelle eingeführt werden, sieht man die Brüche als Ansatzstellen, und die Ergänzungen binden sich an die Originale.«

»Führen Sie die durch Transformation ein? Elektroportation?«

»Transformation. Behandelte Zellen werden zusammen mit einer Komponente injiziert, und die Reparaturstränge machen einen konjugalen Transfer.«

»In vivo?«

»In vivo.«

Ein leiser Pfiff. »Also können Sie jedes kleine Ding reparieren? Zellteilungsfehler?«

»Das stimmt.«

Die beiden Männer starrten die Korkenzieher auf dem Schirm an, die hin und her wedelten wie die neuen Spitzen von Weinranken in einer Brise.

»Haben Sie Beweise?«

»Hat Vlad Ihnen diese Mäuse im Nachbarraum gezeigt?«

»Allerdings.«

»Diese Mäuse sind fünfzehn Jahre alt.«

Ein neuer Pfiff.

Sie gingen durch die nächste Tür in das Mäusezimmer und sprachen leise miteinander unter dem Summen der Maschinerie. Der Größere blickte neugierig in einen Käfig, wo Fellstücke unter Holzspänen atmeten. Als sie wieder gingen, schalteten sie die Lichter in beiden Räumen aus. Das Flimmern des Elektronenmikroskopschirms erhellte das erste Labor und verlieh ihm einen grünen Ton. Die Forscher traten ans Fenster und unterhielten sich leise. Sie blickten hinaus. Der Himmel war schon purpurn vom herannahenden Tag. Sterne verschwanden. Fern am Horizont stand ein schwarzes Massiv, der abgeflachte Berg eines riesigen Vulkans. Olympus Mons, der größte Berg im Sonnensystem.

Der größere Wissenschaftler schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, dies ändert alles.«

»Ich weiß.«


Aus dem Boden des Schachts sah der Himmel wie eine helle rosa Münze aus. Der Schacht war rund, hatte ein Kilometer Durchmesser und war sieben Kilometer tief. Aber vom Boden aus wirkte er viel enger und tiefer. Die Perspektive spielt dem menschlichen Auge viele Tricks.

So zum Beispiel sah dieser Vogel, der von dem runden rosa Punkt des Himmels herunterflog, so groß aus. Aber es war kein Vogel. »He!« sagte John. Der Direktor des Schachts, ein Japaner mit rundem Gesicht namens Etsu Okakura, sah ihn an; und durch ihre beiden Frontscheiben konnte John das nervöse Grinsen des Mannes erkennen. Einer seiner Zähne war verfärbt.

Okakura schaute auf. »Da fällt etwas«, sagte er rasch und dann: »Laufen!«

Sie machten kehrt und rannten über den Boden des Schachtes. John stellte schnell fest, dass, obwohl das meiste Gestein von dem schwarzen Basalt beseitigt war, man sich nicht bemüht hatte, den Boden des Schachts vollkommen eben zu machen. Sehr kleine Krater und Böschungen machten immer mehr Schwierigkeiten, als er schneller wurde. In diesem Moment primitiver Flucht wurden die in der Kindheit geformten Instinkte wieder aktiviert; und er stieß sich bei jedem Schritt zu hart ab, so dass er auf nicht inspiziertem Gelände heftig aufschlug und sich dann wieder wild abstieß in einem verrückten Rennen, bis er schließlich mit dem Zeh hängen blieb, zwischen die gezackten Steine krachte und die Kontrolle verlor, die Arme ausgebreitet, um seine Visierscheibe zu retten. Es war wenig tröstlich zu sehen, dass Okakura auch hingefallen war. Zum Glück ließ ihnen die gleiche Schwere, die sie zu Fall gebracht hatte, auch mehr Zeit zum Ausweichen. Das herunterfallende Objekt war noch nicht gelandet. Sie standen auf und rannten wieder los. Mit einem Mal fiel Okakura wieder hin. John blickte zurück und sah, wie ein heller metallischer Wisch auf den Fels traf; und dann war der Ton des Aufpralls ein solides Wumm, wie ein Schlag. Silberstücke spritzten fort, manche in ihre Richtung. Er hörte zu laufen auf und suchte den Himmel nach Bruchstücken ab. Überhaupt kein Ton.

Ein großer hydraulischer Zylinder kam herunter und prallte, sich überschlagend, links von ihnen auf. Sie sprangen beide fort. Sie hatten ihn nicht kommen sehen.

Danach herrschte Stille. Sie blieben fast eine Minute lang stehen. Dann rührte sich Boone. Er schwitzte. Sie trugen Druckanzüge, aber mit 49 Grad Celsius war der Boden des Schachtes die heißeste Stelle auf dem Mars, und die Isolation des Anzugs war gegen Kälte gedacht. Boone machte eine Bewegung, um Okakura auf die Beine zu helfen, hielt aber inne. Der Mann würde wohl lieber alleine aufstehen, als Boone ein giri für die Hilfe zu schulden. Falls Boone das richtig verstand. Statt dessen sagte er: »Wir wollen mal schauen.«

Okakura stand auf, und sie gingen über den schwarzen Basalt zurück. Der Schacht war vor langer Zeit in solides Urgestein gebohrt worden und reichte jetzt mit etwa zwanzig Prozent durch die Lithosphäre. Auf dem Grund war es stickig, als ob die Anzüge überhaupt nicht isoliert wären. Aber die Luftversorgung des Anzugs brachte Boone eine willkommene Abkühlung für Gesicht und Lungen. Eingerahmt von den dunklen Wänden des Schachts war der rötliche Himmel in der Höhe sehr hell. Sonnenschein erhellte auch einen kurzen kegelförmigen Abschnitt der Wand. Im Mittsommer könnte die Sonne bis ganz herunter scheinen — aber nein, sie befanden sich südlich vom Wendekreis des Steinbocks. Hier unten herrschte immer Schatten.

Sie näherten sich dem Wrack. Es war ein Robotlastwagen für Abraum gewesen, der Gestein die Straße hinaufschaffte, die als Spirale in die Wand des Schachts geschnitten war. Stücke des Wagens waren gemischt mit rohen Felsblöcken. Manche waren hundert Meter weit von der Aufschlagstelle weggeschleudert worden. Darüber hinaus waren Trümmer selten. Der Zylinder, der an ihnen vorbeigeflogen war, musste irgendwie unter Druck abgeschossen worden sein.

Ein Haufen aus Magnesium, Aluminium und Stahl, alles schrecklich verkrümmt. Das Magnesium und Aluminium war zum Teil geschmolzen. Boone fragte: »Glaubst du, dass es die ganze Strecke von oben heruntergefallen ist?«

Okakura antwortete nicht. Boone sah ihn an. Der Mann vermied absichtlich seinen Blick. Vielleicht war er erschrocken. Boone sagte: »Es müssen etwa dreißig Sekunden verstrichen sein zwischen dem Augenblick, wo ich es erblickt habe, und dem Aufschlag.«

Bei etwa drei Metern pro Sekunde im Quadrat war das mehr als genug Zeit gewesen, um die Endgeschwindigkeit zu erreichen. Also war es mit etwa zweihundert Kilometern pro Stunde auf getroffen. Wirklich nicht so schlecht. Auf der Erde wäre es in weniger als der halben Zeit heruntergekommen und hätte sie erwischen können. Zum Teufel, wenn er nicht zufällig nach oben geschaut hätte, hätte das Ding sie treffen können. Er stellte eine kurze Berechnung an. Es war vermutlich in halber Schafthöhe gewesen, als er es erblickte. Aber an jener Stelle hätte es schon ziemlich lange im Fall gewesen sein können.

Boone ging langsam in die Lücke zwischen der Schachtwand und dem Schrotthaufen. Der Wagen war auf seiner rechten Seite gelandet. Die linke Seite war deformiert, aber noch erkennbar. Okakura kletterte einige Stufen hinauf und deutete dann auf eine schwarze Stelle hinter dem linken Vorderreifen. John folgte ihm und kratzte mit der Kralle des Zeigefingers seines rechten Handschuhs an dem Metall. Das Schwarze ging als Ruß herunter. Explosion von Ammoniumnitrat. Der Wagen war dort eingebeult wie mit einem Hammer. »Eine gut dimensionierte Ladung«, bemerkte John.

»Ja«, sagte Okakura und räusperte sich. Er war erschrocken, das stand fest. Na ja, der erste Mann auf dem Mars war beinahe getötet worden, während er für ihn verantwortlich war; und er selbst natürlich auch. Aber wer wusste, was ihm mehr Sorge machte? »Genug, um den Lastwagen von der Straße wegzustoßen.«

»Ja, wie ich sagte, es wurde von Sabotage berichtet.«

Okakura runzelte die Stirn hinter seiner Visierscheibe. »Aber wer? Und warum?«

»Ich weiß nicht. Könnte irgend jemand in deinem Team psychische Schwierigkeiten haben?«

»Nein.« Okakuras Gesicht war betont ausdruckslos. Jede Gruppe aus mehr als fünf Personen hatte ein problematisches Mitglied, und Okakuras kleine Industriestadt zählte eine Bevölkerung von fünfhundert.

»Dies ist der sechste Fall, den ich erlebt habe«, sagte John. »Obwohl keinen aus solcher Nähe.« Er lachte. Das Bild des vogelähnlichen Punktes im roten Himmel kam ihm wieder in den Sinn. »Es wäre leicht gewesen, eine Bombe an einem Lastwagen zu befestigen, ehe er nach unten ging. Um sie dann mit Hilfe einer Uhr oder eines Höhenmessers zur Explosion bringen.«

»Du denkst an Rote.« Okakura sah erleichtert aus. »Wir haben von denen gehört. Aber es ist …« Er zuckte die Achseln. »Verrückt.«

»Ja.« John kletterte unsicher vom Wrack herunter. Sie gingen quer über den Boden zum Wagen, mit dem sie heruntergekommen waren. Okakura sprach auf einer anderen Frequenz mit den Leuten in der Höhe.

John blieb bei der zentralen Grube stehen, um sich ein letztes Mal umzuschauen. Die reine Größe des Schachts war schwer zu fassen. Das gedämpfte Licht und vertikale Linien erinnerten ihn an eine Kathedrale. Aber alle jemals erbauten Kathedralen hätten wie Puppenhäuser auf dem Boden dieses großen Lochs Platz gefunden. Der surreale Maßstab ließ ihn blinzeln, und er stellte fest, dass er den Kopf zu lange nach hinten geneigt hatte.

Sie fuhren die in die Wand eingelassene Straße bis zum ersten Aufzug hoch, verließen den Wagen und stiegen in die Kabine. Sie fuhren nach oben. Sie mussten siebenmal aussteigen und auf der Schachtstraße zum unteren Ende des nächsten Aufzugs herumgehen. Das sie umgebende Licht wurde gewöhnlichem Tageslicht immer ähnlicher. Auf der gegenüberliegenden Seite konnten sie erkennen, wo die Wand von der doppelten Spirale der zwei Straßen eingekerbt war. Gewinderillen in einem enormen Schraubenloch. Der Boden des Schachts war im Dunkel verschwunden. Man konnte nicht einmal mehr den Lastwagen ausmachen.

In den letzten beiden Aufzügen bewegten sie sich durch Regolith. Erst Megaregolith, der wie zertrümmertes Urgestein aussah, und dann eigentlicher Regolith, dessen Steine, Kies und Eis alle hinter einer Betonsperre verborgen waren, einer großen gekrümmten Mauer, die wie ein Damm aussah und so weit zurückgesetzt war, dass der letzte Aufzug praktisch eine Zahnradbahn war. Sie wanden sich an der Seite dieses riesigen Trichters hoch — der Abfluss der Badewanne des Großen Mannes, hatte Okakura beim Weg nach unten gesagt — und kamen schließlich an die Oberfläche, in die Sonne.

Boone stieg aus der Zahnradbahn aus und blickte zurück nach unten. Der Regolithdamm sah aus wie die Innenwand eines sehr glatten Kraters, an der eine zweispurige Straße in Spiralen nach unten führte. Aber der Krater hatte keinen Boden. Eine Tiefenbohrung, ein Mohole. Er konnte ein kleines Stück in den Schacht hineinblicken, aber die Wand lag im Schatten, und nur die spiralige Straße nach unten fing etwas Licht auf, so dass sie wie eine freistehende Wendeltreppe aussah, die durch leeren Raum zum Kern des Planeten führte.

Drei der riesigen Abraumlastwagen arbeiteten sich langsam das letzte Stück der Straße herauf, voll mit schwarzen Felsbrocken. In diesen Tagen brauchten sie fünf Stunden, um die Fahrt vom Boden des Schachts zu bewältigen, wie Okakura sagte. Sehr wenig Aufsichtspersonal wie meistens bei diesem Projekt hinsichtlich Fertigung und Betrieb. Die Bewohner der Stadt mussten sich nur um Programmierung, Aufbau, Wartung und Fehlerbeseitigung kümmern. Und jetzt auch noch um Sicherheit.

Die Stadt hieß Senzeni Na und dehnte sich über den Boden des tiefsten Canyons von Thaumasia Fossae aus. Dem Loch am nächsten befand sich der Industriepark. Hier wurde der größte Teil der Geräte für die Ausgrabung hergestellt und das Gestein aus dem Loch verarbeitet wegen seiner Spurenmengen an wertvollen Metallen. Boone und Okakura betraten die Randstation, wechselten aus ihren Druckanzügen in mit Kupfer beschichtete Overalls und gingen dann in eine der hellen Gehröhren, die alle Gebäude der Stadt verbanden. In diesen Röhren war es kalt und sonnig; und alle Leute darin trugen Kleidung mit einer Außenschicht aus kupferfarbener Folie, die das Letzte in japanischem Strahlenschutz darstellte. Kupferne Kreaturen bewegten sich in klaren Röhren und wirkten auf Boone wie ein gigantischer Ameisenhaufen. Über ihnen gefror die thermale Wolke zu Raureif und schoss in die Höhe wie Dampf aus einem Ventil, bis sie von Höhenwinden erfasst und zu einer langen flachen Schleppe verblassen wurde.

Die eigentlichen Wohnbereiche der Stadt waren in die Südostwand des Canyons eingebaut worden. Ein großer rechteckiger Abschnitt der Klippe war durch Glas ersetzt worden. Dahinter befand sich ein hoher offener Promenadenplatz vor fünf Stockwerken terrassierter Apartments.

Sie gingen über den Platz, und Okakura führte Boone hinauf zu den Stadtbüros im fünften Stock. Eine kleine Schar besorgt aussehender Leute sammelte sich in ihrem Gefolge. Sie redeten mit Okakura und miteinander. Alle gingen durch das Büro und hinaus auf dessen Balkon. John beobachtete genau, wie Okakura auf japanisch schilderte, was passiert war. Einige seiner Zuhörer sahen nervös aus, und die meisten vermieden es, John ins Auge zu schauen. Hatte das fast geschehene Unglück genügt, um giri zu bewirken? Es war wichtig, sich zu vergewissern, dass sie sich nicht öffentlich bloßgestellt fühlten oder etwas dergleichen. Schande war für den Japaner eine schlimme Sache; und Okakura machte allmählich ein unglückliches Gesicht, als ob er zu der Ansicht käme, es wäre sein Fehler gewesen.

John sagte kühn: »Schau, es hätten ebenso gut Außenseiter gewesen sein können wie jemand von hier.« Er machte einige Vorschläge für künftige Sicherheit. »Der Rand ist eine perfekte Sperre. Richtet ein Alarmsystem ein, und ein paar Leute an der Randstation könnten ein Auge auf sowohl das System wie die Aufzüge halten. Eine Zeitvergeudung, aber ich nehme an, dass wir es tun müssen.«

Schüchtern fragte ihn Okakura, ob er jemanden wüsste, der für die Sabotage verantwortlich sein könne. Boone zuckte die Achseln. »Tut mir leid, keine Ahnung. Nehme an, Leute, die gegen die Tiefbohrungen sind.«

»Die Moholes werden aber doch gegraben«, sagte einer von ihnen.

»Ich weiß. Ich nehme an, es ist symbolisch.« Er grinste. »Aber wenn ein Lastwagen jemanden zermalmt, wäre das ein schlimmes Symbol.«

Sie nickten ernsthaft. Er wünschte sich Franks Leichtigkeit mit Fremdsprachen. Das würde helfen, sich mit diesen Leuten zu verständigen. Sie waren schwer zu durchschauen. Undurchsichtig und dergleichen.

Sie fragten, ob er sich hinlegen wolle.

Er sagte: »Ich bin in Ordnung. Das Ding hat uns verfehlt. Wir werden hineinschauen müssen: aber heute lasst uns nach dem vorgesehenen Plan weitermachen.«

Also führten Okakura und einige Männer und Frauen ihn zu einem Rundgang durch die Stadt, und er besuchte fröhlich Labors und Versammlungsräume, Salons und Speisesäle. Er nickte, schüttelte Hände und sagte Hallo!, bis er sicher war, mehr als fünfzig Prozent der Einwohner von Senzeni Na getroffen zu haben. Die meisten hatten noch nicht von dem Vorfall in dem Loch gehört, und alle waren erfreut, ihn kennen zu lernen und ihn anzusehen. Das geschah überall, wohin er kam, und erinnerte ihn unangenehm an die Jahre im Goldfischglas zwischen seiner ersten und zweiten Reise.

Aber er waltete seines Amtes. Eine Stunde Arbeit, dann vier Stunden als Der Erste Mensch auf dem Mars — das übliche Verhältnis. Und als der Nachmittag in den Abend überging und die ganze Stadt in einem Bankett zu Ehren seines Besuches versammelt war, lehnte er sich zurück und spielte geduldig seine Rolle. Das bedeutete Übergang in gute Stimmung — an diesem Abend keine leichte Aufgabe. Tatsächlich machte er eine Pause und ging ins Bad seiner Unterkunft, um eine Kapsel zu schlucken, die Vlads Mediziner in Acheron hergestellt hatten. Das war eine Droge, die sie Omegendorph genannt hatten, eine synthetische Mischung aller Endorphine und Opiate, die sie in der natürlichen Chemie des Gehirns gefunden hatten und eine bessere Droge für Wohlbefinden, als Boone für möglich gehalten hätte.

Er kehrte viel entspannter zum Bankett zurück. Sogar mit einer gewissen Glut. Schließlich war er dem Tode entronnen, noch dazu, indem er wie wild gerannt war! Noch mehr Endorphine wären nicht angebracht. Er bewegte sich lässig von Tisch zu Tisch und stellte dabei Fragen. Das war es, was die Leute mochten und ihnen das festliche Gefühl gab, welches eine Begegnung mit John Boone mit sich bringen sollte. John freute sich, dass er dazu imstande war. Es war der Teil seines Berufs, der Berühmtheit erträglich machte. Denn wenn er Fragen stellte, sprangen die Leute hoch, um zu antworten, wie Lachse im Strom. Es war wirklich drollig; als ob die Leute bemüht wären, das Ungleichgewicht zu beheben, dass sie in der Situation empfanden, wo sie so viel über ihn wussten, er dagegen so wenig über sie. So kam es, dass oft, wenn bei passender Aufmunterung auch nur einer richtig eingeschätzt wurde, die erstaunlichsten Ergüsse persönlicher Information zutage kamen. Zeugnisse, Urteile, Bekenntnisse.

So verbrachte Boone den Abend damit, über das Leben in Senzeni Na etwas zu erfahren. Und danach wurde er in seine große Gastsuite geführt. Die Räume waren dick mit lebendem Bambus verkleidet, und das Bett schien aus einem Stamm davon ausgehauen zu sein. Als er allein war, schloss er seinen Codekasten ans Telefon an und rief Sax Russell an.

Russell befand sich in Vlads neuem Hauptquartier, einem Forschungskomplex, der in eine dramatische flossenartige Felsrippe in den Acheron Fossae nördlich von Olympus Mons eingefügt war. Sax verbrachte dort jetzt seine ganze Zeit und studierte Gentechnik wie ein Anfangssemester. Er war jetzt überzeugt, dass Biotechnik der Schlüssel für Terraformung wäre; und er war entschlossen, sich so weit darin zu bilden, dass er aktiv zu diesem Teil des Unternehmens beitragen konnte, trotz des Umstands, dass seine ganze Ausbildung in Physik stattgefunden hatte. Moderne Biologie galt als typisch klebrig, und viele Physiker mochten sie nicht. Aber die Leute in Acheron sagten, Sax würde schnell lernen; und John glaubte das. Sax selbst machte über seine Fortschritte nicht viel her, aber es war klar, dass er tief eingedrungen war. Er redete die ganze Zeit darüber. Er pflegte zu sagen: »Die Crux ist, dass wir Wasser und Stickstoff aus dem Boden brauchen und Kohlendioxid aus der Luft. Aber man braucht Biomasse, um beides zu schaffen.« Und so schuftete er vor den Bildschirmen und in den Labors.

Er hörte sich Boones Bericht mit seiner gewohnten Ungeduld an. Was für eine Parodie eines Wissenschaftlers, dachte John. Er trug sogar einen Laborkittel. Als er sein charakteristisches Zwinkern sah, musste John an eine Geschichte denken, die er von einem Assistenten von Sax gehört hatte, wie er sie einer lachenden Zuhörerschaft auf einer Party erzählte: »Bei einem schiefgegangenen geheimen Experiment waren hundert Laborratten, denen ein intelligenzsteigernder Stoff injiziert wurde, zu Genies geworden. Sie revoltierten, nahmen ihren Chef-Forscher gefangen, banden ihn fest und injizierten allen ihren Verstand wieder in seinen Körper mit Hilfe einer Methode, die sie auf der Stelle erfanden. Und dieser Wissenschaftler war Saxifrage Russell in weißem Kittel, zwinkernd, zuckend, wissbegierig, ans Labor gefesselt. Sein Gehirn ist die Summe von hundert hyperintelligenten Ratten, und er ist nach einer Pflanze benannt nach Art von Laborratten. Seht ihr, das ist ihr kleiner Spaß.«

Das erklärte vieles. John lächelte, als er seinen Bericht abschloss, und Sax neigte ihm neugierig den Kopf zu. »Denkst du, dass dieser Lastwagen dich hatte töten sollen?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie wirken die Leute dort?«

»Besorgt.«

»Meinst du, dass sie mit drin stecken?«

John zuckte die Achseln. »Das bezweifle ich. Sie sind wahrscheinlich darüber besorgt, was als nächstes passiert.«

Sax streckte die Hand aus und sagte sanft: »Eine solche Sabotage würde das Projekt nicht im mindesten schädigen.«

»Ich weiß.«

»Wer macht es also, John?«

»Meinst du, es könnte Ann sein? Ist sie ein neuer Prophet geworden wie Hiroko oder Arkady, mit Jüngern und einem Programm und dergleichen?«

»Auch du hast Jünger und ein Programm«, erinnerte ihn John.

»Aber ich sage meinen Gefolgsleuten nicht, dass sie Sachen kaputt machen und versuchen sollen, Leute umzubringen.«

»Manche Leute denken, du versuchst, den Mars zu ruinieren. Und bestimmt werden beim Terraformen Menschen durch Unfälle sterben.«

»Was ist deine Meinung?«

»Ich wollte dich bloß daran erinnern und versuchen, dir verständlich zu machen, warum jemand das tun könnte.«

»Also denkst du, Ann steckt dahinter.«

»Oder Arkady oder Hiroko oder irgend jemand in den neuen Kolonien, von dem wir noch nie gehört haben. Es gibt hier eine Menge Leute. Und eine Menge Gruppierungen.«

»Ich weiß.« Sax ging an eine Anrichte und trank seinen alten, angestoßenen Kaffeebecher aus. Schließlich sagte er: »Ich würde mich freuen, wenn du herausfändest, wer es ist. Geh, wohin zu musst! Geh und sprich mit Ann! Diskutiere mit ihr!« In seiner Stimme war eine klägliche Note. »Ich kann mit ihr nicht einmal mehr reden.«

John starrte ihn an, überrascht durch diesen Ausbruch von Emotion. Sax hielt sein Schweigen für Zögern und fuhr fort: »Ich weiß, es ist nicht gerade deine Art; aber jeder wird mit dir sprechen. Du bist praktisch als einziger übrig geblieben, von dem man das sagen kann. Ich weiß, du bist mit dem Mohole-Projekt beschäftigt; aber du kannst deine Leute deinen Teil daran erledigen lassen und weiterhin die Bohrlöcher als einen Teil dieser Untersuchung visitieren. Es gibt sonst wirklich niemanden, der das machen kann. Es gibt keine richtige Polizei, an die man sich wenden könnte. Obwohl UNOMA, wenn es zu weiteren Vorfällen kommen sollte, sicher für eine sorgen wird.«

»Oder die Transnationalen.« Boone überlegte. Der Anblick dieses vom Himmel fallenden Lastwagens … »In Ordnung. Ich werde auf jeden Fall mit Ann sprechen. Danach sollten wir zusammenkommen und über Sicherheit für alle Terraformungsprojekte reden. Wenn wir verhindern können, dass noch mehr passiert, wird das die UNOMA draußen lassen.«

»Danke, John!«

Boone trat auf den Balkon seiner Suite. Der Platz war voller Hokkaido-Kiefern, die Luft von Harz geschwängert. Kupferne Gestalten gingen unten zwischen den Baumstämmen umher. Boone überdachte die neue Lage. Inzwischen arbeitete er schon seit zehn Jahren für Russell an der Terraformung, leitete die Tiefbohrungen, trieb Öffentlichkeitsarbeit und dergleichen. Und er hatte Freude an der Arbeit, war aber nicht maßgeblich an irgendeiner Forschung beteiligt und gehörte nicht zu dem die Entscheidungen treffenden Gremium. Er wusste, dass viele Leute ihn nur für eine Vorzeigefigur hielten, eine Berühmtheit für den Konsum drunten auf der Erde, einen blöden Weltraumjockey, der einmal Glück gehabt hatte und nun für immer davon lebte. Das machte John nichts aus. Es gab immer kleine Wadenbeißer, die meckerten und alle auf ihr Niveau hinabziehen wollten. Das ging schon, zumal sie in seinem Falle im Unrecht waren. Seine Macht war beträchtlich, auch wenn vielleicht nur er ihren vollen Umfang erkennen konnte, da sie aus einer endlosen Folge persönlicher Begegnungen bestand, aus dem Einfluss, den er über das hatte, was die Leute zu tun sich entschlossen. Schließlich war Macht keine Sache beruflicher Titel. Macht war ein Zusammenwirken von Überzeugungskraft, Bewegungsfreiheit, Ansehen und Einfluss. Die Galionsfigur stand schließlich ganz vorn und wies den Weg.

Trotz alledem hatte es mit dieser neuen Aufgabe eine besondere Bewandtnis. Das konnte er schon jetzt fühlen. Es wäre problematisch, schwierig, vielleicht gewagt … vor allem herausfordernd. Eine neue Herausforderung. Das gefiel ihm. Als er wieder in seine Suite und zu Bett ging (John Boone hat hier geschlafen!), fiel ihm ein, dass er jetzt nicht nur der erste Mensch auf dem Mars sein würde, sondern auch der erste Detektiv. Er grinste bei diesem Gedanken, und die letzte Wirkung von Omegendorph regte seine Nerven an.


Ann Clayborne machte eine Inspektion in den Bergen, die das Argyre-Becken umgeben. Dies bedeutete, John konnte sich einen Gleiter nehmen und von Senzeni Na zu ihr fliegen. Also stieg er am nächsten Morgen mit dem Aufzugsballon am Anlegemast zu dem ständig über der Stadt schwebenden Luftschiff auf und freute sich, als er in die sich ständig erweiternde Sicht der großen Canyons von Thaumasia emporglitt. Aus dem Luftschiff ließ er sich in das Cockpit eines der Gleiter hinab, die an der Unterseite vertäut waren. Nachdem er sich gesichert hatte, hakte er den Gleiter aus, der wie ein Stein fiel, bis er ihn über das Mohole-Terminal brachte, das ihn heftig in die Höhe stieß. Er gewann mühsam die Kontrolle und legte das große, filigranartige Vehikel mit einer Kippbewegung in eine steile Aufwärtskurve. Er brüllte laut, während er mit den heftigen Stößen kämpfte. Es war, als ob man mit einer Seifenblase über einem Freudenfeuer ritte.

In fünftausend Metern flachte sich die Blase ab und dehnte sich nach Osten hin aus. John glitt aus seiner Spirale und nahm Kurs nach Südosten. Er spielte mit dem Gleiter, als er ein Gefühl für ihn bekam. Er würde sorgfältig mit den Winden fahren müssen, um es bis Argyre zu schaffen.

Er zielte in den schmutzig gelben Glast der Sonne hinein. Wind zischte über die Flügel. Das Land unter ihm war dunkelorange, das in einen sehr hellen Orangeton am Horizont überging. Die Gebirge im Süden waren in jeder Richtung pockennarbig mit dem groben, urtümlichen mondartigen Aussehen, das eine Sättigung mit Kratern immer aufwies. John flog gern darüber hin. Er steuerte unbewußt und konzentrierte sich auf das Land unter ihm. Es war ein Hochgenuss, sich zurückzulehnen und zu fliegen, den Wind wie unter den Ellbogen zu spüren, das Land zu betrachten und an nichts zu denken. Er war in diesem Jahr 2047 (oder ›M-Jahr 10‹, wie er gewöhnlich dachte) vierundsechzig Jahre alt und war der berühmteste lebende Mensch seit fast dreißig solcher Jahre. Und jetzt war er am glücklichsten, wenn er allein war und flog.

Er dachte über sein neues Vorhaben nach. Es war wichtig, sich nicht in Phantasien von Vergrößerungsgläsern und Zigarrenasche oder Gumshoes mit Revolvern zu ergehen. Es gab Arbeit, die er sogar beim Fliegen erledigen konnte. Er rief Sax an und fragte, ob er seinen Computer in die UNOMA-Akten über Emigration und planetaren Verkehr einschalten könne, ohne die UNOMA dadurch zu alarmieren. Nach einigen Erkundigungen rief Sax zurück und sagte, er könne das hinkriegen. Und so übermittelte John ihm eine Reihe von Fragen. Eine Stunde und viele Krater später blinkte das rote Licht seiner Künstlichen Intelligenz Pauline heftig und zeigte damit den Eingang roher Daten an. John bat sie, die Daten durch verschiedene Analysen laufen zu lassen. Als das geschehen war, studierte er die Ergebnisse auf dem Schirm. Die Bewegungsmuster waren verwirrend, aber er hoffte, dass bei Vergleich mit den Sabotagefällen etwas zum Vorschein kommen könnte. Natürlich bewegten sich Personen umher ohne Registrierung, darunter die verborgene Kolonie. Und wer wusste, was Hiroko und die anderen von den Terraformungsprojekten hielten? Dennoch war es einen Blick wert.

Die Nereidum Montes tauchten voraus über dem Horizont auf. Der Mars hatte nie viel tektonische Bewegungen erlebt, darum waren Gebirgsketten selten. Die, welche es gab, pflegten groß ausgeprägte Kraterränder zu sein, Ringe von ausgeworfenen Brocken, so groß, dass der Schutt in zwei oder drei konzentrischen Reihen herunterkam, jede viele Kilometer breit und extrem zerklüftet. Hellas und Argyre als die größten Becken hatten deshalb die größten Gebirgsketten; und die einzige andere Bergkette, die Phlegra Montes auf dem Abhang von Elysium, stellte wahrscheinlich die fragmentarischen Reste eines Einsturzbeckens dar, das später von den Elysium-Vulkanen überflutet wurde oder durch einen alten Oceanus Borealis. Über diese Frage tobte noch eine Debatte, und Ann, Johns letzte Autorität in solchen Dingen, hatte nie eine Meinung dazu geäußert.

Die Nereidum Montes bildeten den nördlichen Rand um Argyre. Aber derzeit untersuchten Ann und ihr Team den Südrand, die Charitum Montes. Boone richtete seinen Kurs nach außen, und am frühen Nachmittag segelte er tief über der breiten flachen Ebene des Argyre-Beckens. Nach der wilden Kraterlandschaft der Gebirge wirkte der Boden des Beckens geradezu glatt, eine flache gelbliche Ebene, begrenzt von dem großen Bogen von Randgebirgen. Von seinem Ausguck aus konnte er etwa neunzig Grad des Randbogens überblicken, genug, um ihm ein Gefühl für die Größe des Einsturzes zu geben, der Argyre gebildet hatte. Es war ein erstaunlicher Anblick. Das Fliegen über Tausende von Marskratern hatte Boone eine Vorstellung der betreffenden Größen gegeben; aber Argyre fiel einfach aus dem Rahmen. Ein stattlicher Krater namens Galle im Rand von Argyre war nicht mehr als eine Pockennarbe! Hier musste eine ganze Welt hereingekracht sein. Oder zumindest ein verdammt großer Asteroid.

Innerhalb der Südostkurve des Randes, auf dem Boden des Beckens nach den Vorbergen von Charitum, erkannte er die feine weiße Linie einer Landebahn. Es war leicht, menschliche Konstrukte in einer solchen Einöde auszumachen. Ihre Regelmäßigkeit hob sich ab wie ein Signal. Dicht vor den durch die Sonne erwärmten Hügeln stieg Thermik auf. Er kurvte in eine solche Blase hinein, sank mit vibrierendem humm, und die Flügel des Gleiters zuckten sichtlich, als er sich neigte. Er fiel wie ein Stein, wie jener Asteroid, dachte John grinsend, und zog zur Landung hoch mit einem letzten dramatischen Schnörkel. Mit so viel Präzision, wie er aufbringen konnte, ging er herunter, sich seines Rufes als ›heißer‹ Flieger bewusst, den er natürlich bei jeder Gelegenheit neu rechtfertigen musste. Das gehörte zum Job …

Aber es stellte sich heraus, dass nur zwei Personen in den Anhängern an der Landebahn waren, und keine davon hatte ihn landen sehen. Sie saßen drinnen und sahen sich Fernsehnachrichten von der Erde an. Als er in die innere Schleusentür trat, schauten sie hoch und sprangen auf, um ihn zu begrüßen. Ann war mit einer Gruppe oben auf einem Gebirgscanyon, wie sie ihm sagten, wahrscheinlich nicht mehr als zwei Fahrstunden entfernt. John aß Lunch mit ihnen, zwei britischen Frauen mit nördlichem Akzent, sehr robust und charmant. Dann nahm er einen Rover und folgte den Spuren eine Spalte hinauf in das Chariten. Eine Stunde kurvenreichen Aufstiegs in einem Trockental mit flachem Boden führte ihn zu einem mobilen Anhänger, vor dem drei Rover parkten. Alles zusammen ergaben sie das Bild eines ausgedörrten Cafes in der Mojave-Wüste.

In dem Anhänger war niemand. Fußspuren führten vom Lager in viele Richtungen. Nachdem Boone darüber nachgedacht hatte, stieg er auf einen Buckel westlich des Lagers und setzte sich oben hin. Er lag auf dem Felsen und schlief, bis die Kälte durch seinen Schutzanzug drang. Dann richtete er sich auf, lutschte eine Kapsel Omegendorph und sah zu, wie die schwarzen Schatten der Berge nach Osten krochen. Er dachte über das in Senzeni Na Geschehene nach, ließ seine Erinnerungen vor und nach dem Vorfall ablaufen und die Blicke der Leute und was sie gesagt hatten. Das Bild des fallenden Lasters ließ seinen Puls etwas ansteigen.

Kupferne Gestalten erschienen in einer Schlucht zwischen Hügeln im Westen. Er stand auf und ging den Buckel hinunter, um sie unten beim Anhänger zu treffen.

»Was tust du hier?« fragte Ann über die Frequenz der Ersten Hundert.

»Ich möchte reden.«

Sie grunzte und schaltete ab.

Der Anhänger wäre sogar ohne ihn etwas eng gewesen. Sie saßen Knie an Knie im Hauptraum, während Simon Frazier Spaghettisauce erwärmte und Wasser für Pasta in der kleinen Küchenecke kochte. Das einzige Fenster des Anhängers ging nach Osten; und während sie aßen, sahen sie den Schatten der Berge über den Boden des großen Beckens laufen. John hatte eine Halbliterflasche von Utopia-Cognac mitgebracht und öffnete sie nach dem Essen unter beifälligem Gemurmel. Während die Areologen tranken, wusch er das Geschirr ab (»Ich bestehe darauf«) und fragte nach dem Fortgang ihrer Forschungen. Sie suchten nach Anzeichen für alte Gletscherperioden. Wenn man solche fände, würden sie für ein Modell der Frühgeschichte des Planeten sprechen, bei dem Ozeane die tief gelegenen Stellen gefüllt haben könnten.

Aber Ann, dachte John, als er ihnen zuhörte, würde sie Beweise für eine ozeanische Vergangenheit finden wollen? Das war ein Modell, das moralische Unterstützung für das Terraformungsprojekt lieferte, indem es besagte, dass sie nur einen früheren Zustand der Dinge wiederherstellten. Würde diese Abneigung Anns Arbeit subjektiv beeinflussen? Wenn nicht wissentlich, dann doch tiefer. Schließlich war Bewusstsein nur wie eine dünne Lithosphäre über einem großen heißen Kern. Detektive mussten das bedenken.

Aber alle im Anhänger schienen sich darin einig, dass sie keinerlei Anzeichen für Vereisung fänden. Und sie waren alle gute Areologen. Es gab tiefe Becken mit kreisförmiger Struktur und tiefe Täler mit der klassischen U-Form von Gletschertälern, sowie einige Gebilde mit Kuppeln und Wänden, die durch glaziale Erosion entstanden sein könnten. Alle diese Formen hatte man schon auf Satellitenfotos gesehen, neben einem oder zwei hellen Blitzen, die manche Leute für mögliche Reflexe an Gletscherpolitur gehalten hatten. Aber auf dem Boden hatte nichts davon Bestand. Sie hatten keine Gletscherpolitur gefunden, nicht einmal in den am meisten vor Wind geschützten Abschnitten der U-förmigen Täler. Keine Moränen, weder seitlich noch am Ende. Keine Zeichen von Abrieb oder Übergangslinien, wo Nanatuks selbst aus den höchsten Schichten alten Eises herausgeragt hätten. Nichts. Das war ein neuer Fall von etwas, das man Himmels-Areologie — also Marsforschung aus großer Höhe — genannt hatte. Deren Geschichte ging zurück bis auf die frühen Satellitenfotos und sogar die Teleskope. Die Kanäle waren Produkte von Himmels-Areologie gewesen, und viele schlechte Hypothesen waren auf die gleiche Weise zustande gekommen, Hypothesen, die erst jetzt mit strenger Boden-Areologie geprüft werden konnten. Die meisten fielen dem Gewicht von Oberflächendaten zum Opfer und wurden, wie man sich ausdrückte, in den Kanal gekippt.

Aber die Glazialtheorie und das ozeanische Modell, von dem sie ein Teil war, hatte sich immer als höchst widerstandsfähig erwiesen. Erstens, weil fast jedes Modell der Entstehung des Planeten darauf hinwies, das eine Menge Wasser ausgegast sein und irgendwohin verschwunden sein musste. Und zweitens, dachte John, weil es eine Menge Leute gab, die es begrüßen würden, wenn das ozeanische Modell zuträfe. Die moralische Seite des Terraformens wäre ihnen weniger unangenehm. Gegner des Terraformens würden also … Nein, er war nicht überrascht, dass Anns Gruppe nichts fand. Er spürte etwas den Cognac und war durch ihre Unfreundlichkeit gereizt. Von der Küche her sagte er: »Wenn es aber Gletscher gegeben hätte, wären die jüngsten vor einer Milliarde Jahren dagewesen. So viel Zeit würde alle oberflächlichen Merkmale beeinflussen, sollte ich meinen, Gletscherschliff oder Moränen oder Nanatuks. Es war nichts geblieben als die großen Landformen. Und das ist es, was ihr habt. Stimmt’s?«

Ann hatte geschwiegen, aber jetzt sagte sie: »Die Landformen sind nicht singulär für Vergletscherung. In Marsgebirgen sind sie allgemein verbreitet, weil sie alle durch Gestein entstanden sind, das vom Himmel fiel. Es gibt hier draußen jede erdenkliche Formationsart. Bizarre Gestalten sind nur durch den Ruhewinkel beschränkt.« Sie hatte jeden Cognac abgelehnt, was John überraschte, und starrte jetzt missmutig auf den Fußboden.

»Bestimmt keine U-förmigen Täler?« fragte John.

»Doch, auch U-förmige Täler.«

»Das Problem liegt darin, dass das Ozeanische Modell nicht leicht zu widerlegen ist«, sagte Simon ruhig. »Man kann, wie wir, ständig gutes Beweismaterial dagegen finden; aber dadurch wird es nicht falsifiziert.«

Nachdem die Küche sauber war, forderte John Ann zu einem Spaziergang bei Sonnenuntergang auf. Sie zögerte unwillig; aber das war eines ihrer Rituale, wie jedermann wusste, und mit einer schnellen Grimasse und harter Miene stimmte sie zu.

Einmal im Freien, führte John sie auf denselben Hügel, auf dem er geschlafen hatte. Der Himmel bildete einen pflaumenfarbenen Bogen über den schwarzen gezackten Bergketten um sie herum, und Sterne tauchten in Schwärmen auf, Hunderte mit einem Augenzwinkern. Er stand neben ihr. Sie schaute von ihm weg. Die gezackte Linie des Horizonts hätte es auf der Erde geben können. Ann war etwas größer als er, eine dünne eckige Silhouette. John konnte sie gut leiden; aber welche Zuneigung sie ihrerseits für ihn gehabt haben mochte — und sie hatten in vergangenen Jahren manche guten Gespräche geführt —, war verflogen, als er sich entschloss, mit Sax zusammenzuarbeiten. Er hätte alles mögliche machen können, was ihm zusagte, drückte ihre finstere Miene aus, aber er hatte sich fürs Terraformen entschieden.

Nun, so war es. Er hielt die Hand mit erhobenem Zeigefinger vor sie. Sie drückte ihre Armbandtastatur, und sogleich drang ihre Atmung in sein Ohr. »Was ist?« fragte sie, ohne ihn anzuschauen.

Er sagte: »Es geht um die Sabotageunfälle.«

»Das habe ich mir gedacht. Ich nehme an, Russell denkt, dass ich dahinter stecke.«

»Es ist nicht so, dass …«

»Hält er mich für blöde? Bildet er sich ein, ich glaube, dass ein wenig Vandalismus euch von euren knabenhaften Spielchen abhalten wird?«

»Nun, es sind keine Lappalien. Es hat jetzt schon sechs größere Vorfälle gegeben, von denen jeder Menschenleben hätte fordern können.«

»Können Menschen getötet werden, wenn man Spiegel aus dem Orbit stößt?«

»Wenn man sie nicht richtig wartet.«

Sie brummte. »Was ist sonst geschehen?«

»Ein Lastwagen ist gestern von der Straße im Mohole-Schacht heruntergestoßen worden und ist fast auf mir gelandet.« Er hörte, wie sie den Atem anhielt. »Das ist nun schon der dritte Lastwagen. Und jener Spiegel wurde in Drehung gestoßen mit einer Wartungsperson darauf; und die musste solo zur Station zurückkehren. Sie hat dafür mehr als eine Stunde gebraucht und hätte es beinahe nicht geschafft. Und dann ist ein Sprengstoffbrocken zufällig im Bohrloch von Elysium explodiert, kurz nachdem die ganze Mannschaft es verlassen hatte. Und sämtliche Flechten in Underhill wurden durch ein Virus getötet, das durch das ganze Labor gerast ist.«

Ann zuckte die Achseln. »Was erwartest du von grünäugigen Ungeheuern? Es hätte ein Zufall sein können. Ich wundere mich, dass das nicht öfter passiert.«

»Es war kein Zufall.«

»Das ist alles Kleinkram. Hält Russell mich für so blöde?«

»Du weißt, dass er das nicht tut. Aber es muss sich in Grenzen halten. In dem Projekt ist sehr viel Geld von der Erde investiert; aber es würde nicht viele schlimme Nachrichten erfordern, um davon eine Menge wegfallen zu lassen.«

»Vielleicht«, sagte Ann. »Aber du solltest auf dich selbst hören, wenn du so etwas sagst. Du und Arkady, ihr seid die größten Befürworter einer neuen Mars-Gesellschaft, vielleicht ihr beide plus Hiroko. Aber die Art, wie Russell, Frank und Phyllis Kapital von der Erde heranschaffen — das alles wird euch aus den Händen gleiten. Es wird ein Geschäft sein wie üblich, und alle eure Ideen werden beiseite gefegt werden.«

»Ich neige zu der Ansicht, dass wir alle hier ähnliche Ziele haben. Wir wollen an einer guten Stelle gute Arbeit leisten. Wir betonen nur unterschiedliche Teile des Prozesses, um dahin zu kommen. Das ist alles. Wenn wir unsere Bemühungen koordinieren und als ein Team arbeiten würden …«

»Wir wollen nicht dasselbe«, sagte Ann. »Ihr wollt den Mars verändern, und ich nicht. So einfach ist das.«

»Nun …« John kapitulierte vor ihrer Erbitterung. Sie bewegten sich langsam um den Hügel herum in einem komplizierten Tanz, der die Konversation widerspiegelte. Manchmal die Gesichter einander zugewandt, manchmal Rücken an Rücken. Und immer war ihre Stimme direkt in seinem Ohr und seine in dem ihren. Er liebte solche Gespräche im Umhergehen und benutzte sie. Diese eindringliche Stimme im Ohr konnte so überzeugend, schmeichelnd und hypnotisch sein. »So einfach ist es wirklich nicht. Ich meine, du solltest denen von uns helfen, die deinen Ansichten am nächsten stehen, und dich denen widersetzen, die am weitesten davon entfernt sind.«

»Das tue ich.«

»Das ist es, weshalb ich zu dir gekommen bin, um dich zu fragen, was du über jene Saboteure weißt. Das ergibt doch Sinn, nicht wahr?«

»Ich weiß nichts über sie. Ich wünsche ihnen Erfolg.«

»In Person?«

»Was?«

»Ich habe eure Bewegungen in den letzten Jahren verfolgt; und du bist immer in der Nähe eines jeden Vorfalls gewesen, innerhalb eines Monats oder so, ehe er eintrat. Du bist vor ein paar Wochen auf deinem Weg nach hier in Senzeni Na gewesen. Oder etwa nicht?«

Er hörte sie atmen. Sie war wütend. »Er benutzt mich als Deckung«, murmelte sie, und noch einiges mehr, das er nicht mitbekam.

»Wer?«

Sie kehrte ihm den Rücken zu. »John, du solltest den Cojoten nach diesem Zeug fragen.«

»Den Cojoten?«

Sie lachte kurz. »Hast du nicht von ihm gehört? Die Leute sagen, dass er ohne Schutzanzug auf der Oberfläche umherläuft. Taucht plötzlich hier und da auf, manchmal in einer Nacht auf beiden Seiten der Welt. Hat den Großen Mann persönlich gekannt in den guten alten Tagen. Und er ist ein guter Freund von Hiroko. Und ein großer Feind des Terraformens.«

»Bist du ihm begegnet?«

Sie antwortete nicht.

»Schau«, sagte er nach einer Minute schweigenden Atmens, »es werden Menschen getötet werden. Unschuldige Zuschauer.«

»Unschuldige Zuschauer werden getötet werden, wenn der Permafrost schmilzt und der Boden unter unseren Füßen einsinkt. Ich habe mit beidem nichts zu tun. Ich tue bloß meine Arbeit. Versuche zu katalogisieren, was hier war, ehe wir kamen.«

»Ja. Aber du bist die berühmteste Rote von allen, Ann. Diese Leute müssen deswegen vorher mit dir in Verbindung gewesen sein; und ich wünsche, du könntest sie entmutigen. Das könnte einige Leben retten.«

Sie wandte ihm das Gesicht zu. Die Visierscheibe ihres Helms reflektierte den westlichen Horizont, oben purpurn und unten schwarz, die Grenze zwischen den beiden Farben ausgezackt und roh. »Wenn ihr den Planeten in Ruhe ließet, würde das Leben retten. Das ist es, was ich will. Ich würde sogar dich töten, wenn es hilfreich wäre.«

Danach gab es nicht mehr viel zu sagen. Auf dem Rückweg zum Anhänger hinunter sprach er ein anderes Thema an. »Was, denkst du, ist mit Hiroko und den anderen ihrer Gruppe passiert?«

»Sie sind verschwunden.«

John verdrehte die Augen. »Hat sie zu dir nicht darüber gesprochen?«

»Nein. Hat sie mit dir gesprochen?«

»Nein. Ich glaube, sie hat mit niemandem außer ihrer Gruppe geredet. Weißt du, wohin sie gegangen sind?«

»Nein.«

»Hast du irgendeine Ahnung, warum sie fort sind?«

»Sie wollten wahrscheinlich von uns loskommen. Etwas Neues machen. Was du und Arkady sagtet, das ihr tun wollt, das haben sie wirklich getan.«

John schüttelte den Kopf. »Wenn sie das tun, tun sie es für zwanzig Personen. Ich will es für jeden tun.«

»Vielleicht sind sie realistischer als du.«

»Vielleicht. Wir werden es herausfinden. Es gibt mehr als einen Weg, das zu tun, Ann. Das musst du lernen.«

Sie antwortete nicht.

Die anderen starrten sie an, als sie in den Anhänger kamen; und Ann, die in die Kochecke rannte, war keine Hilfe. John setzte sich auf die Lehne der einen Couch und stellte ihnen noch mehr Fragen über ihre Arbeit und über den Grundwasserpegel in Argyre und der Südhemisphäre im allgemeinen. Die großen Becken waren tief gelegen, aber durch die Aufschläge, welche sie gebildet hatten, des Wassers beraubt. Im allgemeinen schien das Wasser des Planeten größtenteils nach Norden gesickert zu sein. Ein anderer Teil des Mysteriums: Niemand hatte jemals erklären können, weshalb die nördliche und die südliche Hemisphäre so verschieden waren. Dies war das Hauptproblem der Areologie. Seine Lösung könnte sich als Schlüssel erweisen für alle anderen Rätsel der Landschaft des Mars, wie die tektonische Plattentheorie einst so viele Fragen in der Geologie beantwortet hatte. Tatsächlich wollten manche die tektonische Lösung auch hier anwenden. Sie postulierten, dass eine alte Kruste sich auf die südliche Hälfte aufgeschoben hätte, wonach der Norden sich eine neue Haut schuf. Danach wäre alles an Ort und Stelle festgefroren, als die Abkühlung des Planeten jeder tektonischen Bewegung ein Ende setzte. Ann hielt das für lächerlich. Nach ihrer Ansicht war die nördliche Hemisphäre einfach das größte Aufprallbecken von allen, der letzte große Knall der Urzeit. Ein Treffer ähnlichen Ausmaßes hatte den Mond aus der Erde herausgeschlagen, wahrscheinlich etwa um die gleiche Zeit. Die Areologen erörterten einige Zeit verschiedene Aspekte des Problems. John hörte zu und stellte gelegentlich eine neutrale Frage.

Sie stellten den Fernseher an für Nachrichten von der Erde und sahen sich einen kurzen Beitrag über Bergbau- und Ölbohrarbeiten an, die in der Antarktis begannen.

»Weißt du, das ist unser Werk«, sagte Ann aus der Küche. »Sie haben seit fast hundert Jahren die Förderung von Erzen und Öl aus Antarctica herausgehalten, schon seit dem ersten Internationalen Geophysikalischen Jahr und dem ersten Vertrag. Jetzt aber ist alles zusammengebrochen, seit hier die Terraformung begann. Da unten wird ihnen das Öl knapp, und der Südclub ist arm, und in ihrer unmittelbaren Nähe gibt es einen ganzen Kontinent voll Öl, Gas und Mineralien, der von den reichen nördlichen Ländern als Naturschutzpark behandelt wird. Und dann hat der Süden gesehen, dass dieselben reichen nördlichen Länder ganz für sich zum Mars aufgebrochen sind. Da sagten sie: Was, zum Teufel? Ihr könnt einen ganzen Planeten in Stücke reißen, und wir sollen diesen Eisberg beschützen, der gerade vor unserer Tür liegt mit all diesen Rohstoffen, die wir verzweifelt benötigen! Schluss damit! Also haben sie den Anatarktisvertrag gebrochen, und jetzt bohren sie, ohne dass jemand etwas dagegen getan hat. Nun ist der letzte saubere Platz auf der Erde auch dahin.«

Sie kam herüber, setzte sich vor den Bildschirm und steckte das Gesicht in einen Becher heißer dampfender Schokolade. »Es ist noch mehr da, wenn du möchtest«, sagte sie schroff zu John. Simon warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, und die anderen starrten sie beide mit runden Augen an. Sie waren entsetzt, einen Streit zwischen zwei der Ersten Hundert zu erleben. Was für ein Spaß war das! John musste fast lachen; und als er aufstand, um sich auch einen Becher zu holen, beugte er sich impulsiv hinüber und küsste Ann auf den Kopf. Sie versteifte sich, und er ging in die Küche. Er sagte: »Wir alle wollen vom Mars verschiedene Dinge.« Dabei vergaß er, dass er Ann gerade eben auf dem Hügel das Gegenteil gesagt hatte. »Aber wir sind hier, und es gibt nicht viele von uns, und es ist unsere Welt. Wir machen aus ihm, was wir wollen, wie Arkady sagt. Jetzt gefällt euch nicht, was Sax oder Phyllis wollen, und die mögen nicht, was ihr wollt, und Frank gefällt nicht, was irgend jemand will. Und jedes Jahr kommen neue Leute, welche die eine oder andere Position vertreten, auch wenn sie es selbst nicht wissen. Also könnte es hässlich werden. Es hat tatsächlich schon damit angefangen mit diesen Angriffen auf Geräte. Könnt ihr euch vorstellen, dass so etwas in Underhill passiert?«

»Hirokos Gruppe hat Underhill die ganze Zeit ausgeplündert«, erwiderte Anne, »seit sie da waren. Das musste geschehen, um sich so abzusetzen.«

»Nun ja, vielleicht. Aber sie haben keine Menschenleben gefährdet.« Ihm trat wieder lebhaft das Bild des den Schacht herunterfallenden Lastwagens vor Augen. Er trank heißen Kakao und verbrannte sich den Mund. »Verdammt! Aber immer, wenn ich entmutigt werde wegen alledem, bemühe ich mich zu bedenken, dass so etwas natürlich ist. Es ist unvermeidlich, dass Leute kämpfen; aber diesmal kämpfen wir um Dinge, die den Mars betreffen. Ich meine, die Leute kämpfen nicht darum, ob sie Amerikaner oder Japaner oder Russen oder Araber sind, oder um Religion, Rasse, Sex oder was auch immer. Sie kämpfen, weil sie die eine oder die andere Realität für den Mars wollen. Das ist alles, worauf es jetzt ankommt. Also sind wir schon halb am Ziel.« Er sah Ann mürrisch an, die auf den Boden starrte. »Verstehst du, was ich meine?«

Sie schaute ihn an. »Die zweite Hälfte ist es, auf die es ankommt.«

»Na schön, vielleicht. Ihr nehmt zu viel für garantiert an. Aber so sind die Menschen nun einmal. Ihr müsst aber bedenken, dass ihr Einfluss auf uns habt, Ann. Ihr habt die Weise geändert, in der alle über das denken, was wir hier tun. Sax und viele andere haben immer darüber gesprochen, dass man alles mögliche tun müsse, um das Terraformen recht schnell durchzuführen — einen Haufen Asteroiden direkt in den Planeten jagen, Wasserstoffbomben einsetzen und Vulkane erzeugen — alles überhaupt Erdenkliche zu versuchen. Jetzt sind alle diese Pläne geplatzt durch euch und eure Hinterleute. Die ganze Vision über die Art und Weise, wie die Terraformung zu machen sei und wie weit man damit gehen könne, hat sich geändert. Ich denke aber, dass wir uns schließlich auf einen Kompromißwert einigen können, bei dem wir einigen Strahlenschutz bekommen und eine Biosphäre und vielleicht Luft, die wir atmen können oder in der wir zumindest nicht sofort sterben; wobei es aber ziemlich so bleibt, wie es war, ehe wir kamen.« Ann verdrehte die Augen, aber er drängte weiter. »Du weißt, niemand spricht davon, den Mars in einen Dschungelplaneten zu verwandeln, selbst wenn das ginge. Er wird immer kalt sein, und die Tharsis-Wölbung wird immer in den Raum hinausragen. Also wird es einen großen Teil des Planeten geben, der nie angerührt wird. Und das wird teilweise euer Werk sein.«

»Aber wer sagt, dass ihr, wenn der erste Schritt getan ist, nicht mehr wollt?«

»Vielleicht werden das einige tun. Aber ich meinerseits werde versuchen, ihnen Einhalt zu gebieten. Das will ich! Ich bin vielleicht nicht auf eurer Seite, aber ich verstehe euren Standpunkt. Und wenn man über die Hochlande fliegt, wie ich es heute getan habe, kann man gar nicht umhin, diese Welt zu lieben. Mögen Menschen versuchen, den Mars zu verändern, aber gleichzeitg wird der Mars auch sie verändern. Ein Gefühl für den Ort, eine Ästhetik der Landschaft, alle diese Dinge ändern sich mit der Zeit. Du weißt, die ersten Menschen, die den Grand Canyon erblickten, hielten ihn für hässlich wie die Hölle, weil er nicht wie die Alpen war. Es hat lange gedauert, bis sie seine Schönheit erkannten.«

»Das meiste davon haben sie jedenfalls ertränkt«, sagte Ann mürrisch.

»Ja, ja! Aber wer weiß denn, was unsere Kinder für schön halten werden? Das wird sicher auf dem basieren, was sie wissen, und dieser Platz wird der einzige sein, den sie kennen. Also terraformen wir den Mars, aber der Mars areoformt uns.«

»Areoformung«, sagte Ann, und ein seltenes kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. John fühlte sich erröten, als er das sah. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr so lächeln sehen. Und er liebte Ann. Es freute ihn, sie lächeln zu sehen.

»Das Wort gefällt mir«, sagte sie. Sie deutet mit dem Finger auf ihn. »Aber ich nehme dich beim Wort, John Boone. Ich werde mich daran erinnern, was du heute Abend gesagt hast!«

»Ich auch«, versicherte er.


Der Rest des Abends verlief in entspannterer Stimmung. Und am nächsten Tage begleitete Simon ihn zur Landebahn, zu dem Rover, mit dem er nach Norden fahren wollte. Und Simon, der ihn üblicherweise mit einem Lächeln und einem Händeschütteln verabschiedet hätte, sagte plötzlich: »Ich freue mich wirklich über das, was du gestern Abend gesagt hast. Ich glaube, es hat sie wirklich aufgemuntert. Besonders, was du über Kinder gesagt hast. Weißt du, sie ist schwanger.«

»Was?« John schüttelte den Kopf. »Das hat sie mir nicht gesagt. Bist du der Vater?«

»Allerdings.« Simon grinste.

»Wie alt ist sie jetzt? Sechzig?«

»O ja. Es treibt die Dinge sozusagen etwas auf die Spitze, ist aber schon früher geschehen. Man hat ein vor rund fünfzehn Jahren von ihr eingefrorenes Ei genommen, befruchtet und ihr eingepflanzt. Wir werden sehen, wie es geht. Man sagt, Hiroko wäre jetzt dauernd schwanger und produziere Kinder wie ein Inkubator …«

»Man redet viel über Hiroko, aber das ist alles nur Geschwätz.«

»Nun ja, aber dies haben wir von jemandem gehört, der es wissen dürfte.«

»Dem Cojoten?« fragte John scharf.

Simon zog die Brauen hoch. »Ich wundere mich, dass sie dir von ihm erzählt hat.«

John grunzte leicht verärgert. Offenbar bedeutete sein Ruhm, dass ihm viel Klatsch entging. »Es ist gut, dass sie es getan hat. Nun, jedenfalls …« Er streckte ihm die Rechte hin, und sie schüttelten sich die Hände mit dem steifen Zugriff der Finger, den sie in den alten Weltraumtagen entwickelt hatten. »Ich gratuliere. Kümmere dich um sie!«

Simon zuckte die Achseln. »Du kennst Ann. Sie tut, was sie will.«


Nun fuhr Boone also drei Tage lang nach Norden, genoss die Gegend und die Einsamkeit und verbrachte jeden Nachmittag damit, die planetaren Aufzeichnungen auf Bewegungen der Leute abzusuchen, wobei es ihm auf Korrelationen mit den Sabotagefällen ankam. Früh am vierten Morgen erreichte er die Marineris-Canyons, die etwa 1500 Kilometer nördlich von Argyre liegen. Er traf auf eine nordsüdliche Transponderstraße und folgte ihr über einen kurzen Anstieg zum Südrand von Melas Chasma. Dann stieg er aus dem Rover, um sich richtig umzuschauen.

Er war noch nie in diesen Teil des großen Canyonsystems gekommen. Vor der Fertigstellung der großen Straße quer durch Marineris war es schwer zugänglich gewesen. Ohne Zweifel war es dramatisch. Die Melas-Klippe fiel volle 3000 Meter zum Boden des Canyons ab, so dass man am Rande eine Aussicht nach Norden wie aus einem Gleiter hatte. Die andere Wand des Canyons war von dort aus gerade noch sichtbar. Ihr Rand lugte über den Horizont, und zwischen den beiden Klippen lag die Weite von Melas Chasma, das Herz des ganzen Marineris-Komplexes. Er konnte eben noch die Lücken in entfernten Klippen ausmachen, welche die Zugänge zu anderen Canyons markierten: Ius Chasma im Westen, Candor im Norden und Coprates im Osten.

John ging länger als eine Stunde über den zerklüfteten Rand. Während längerer Zeit zog er die Binokularlinsen seines Helms über die Visierscheibe, um möglichst viel von dem größten Canyon des Mars in sich aufzunehmen. Er empfand die Euphorie roten Landes. Er warf Steine über den Steilabfall und sah zu, wie sie verschwanden. Er sprach mit sich selbst und sang. Er hüpfte auf Zehenspitzen in einem unbeholfenen Tanz.

Dann stieg er wieder in seinen Rover und rühr eine kurze Strecke am Rand entlang bis zum Anfang der Klippenstraße.

Hier wurde die Querstraße zu einem schmalen Betonband, das sich in Serpentinen vom Südrand zum Boden des Canyons hinabwand. Das merkwürdige Gebilde, welches der ›Geneva-Sporn‹ hieß, zeigte fast rechtwinklig von der Klippe weg direkt auf Candor Chasma. Es war für ihre Zwecke so ideal gelegen, dass es mit der Straße darauf aussah, als wäre es eine von den Straßenbauern konstruierte Rampe.

Immerhin war es ein steiler Vorsprung, und die Straße verlief die ganze Strecke hinunter in engen Serpentinen, um das Gefälle erträglich zu halten. Von oben konnte man alle rund tausend Kehren sehen, die sich den Sporn hinunter schlängelten. Es sah aus, als hätte man einen gelben Faden über einen Buckel in einen gefleckten orangefarbenen Teppich gestickt.

Boone fuhr vorsichtig dieses Wunderwerk hinunter. Er drehte das Lenkrad des Rovers immer wieder abwechselnd nach links und rechts, bis er sogar anhalten musste, um seine Arme auszuruhen und dabei eine Gelegenheit zu bekommen, sich umzuschauen und die Südwand hoch hinter sich zu betrachten. Die war wirklich steil und geriffelt durch ein gebrochenes Muster tief erodierter Schluchten. Dann ging es eine halbe Stunde weiter durch Haarnadelkurven, bis sich die Straße endlich wieder auf der flacher werdenden Strecke gerade hinzog und sich schließlich verbreiterte und in den Boden des Canyons einmündete. Und dort unten stand eine kleine Gruppe von Fahrzeugen.

Es erwies sich als das Schweizer Team, das gerade mit dem Bau der Straße fertig geworden war, und er verbrachte mit ihnen die Nacht. Es war eine Gruppe von etwa achtzig Personen, meistens jung, meistens verheiratet, die Deutsch, Italienisch und Französisch sprachen und — für ihn günstig — Englisch mit mehreren verschiedenen Akzenten. Sie hatten Kinder dabei und Katzen und ein transportables Gewächshaus voller Kräuter und Gemüse. Bald würden sie wie Zigeuner aufbrechen in einer Karawane, die größtenteils aus ihren Vehikeln für Bodenbewegungen bestand, und zum westlichen Ende des Canyons fahren, um durch Noctis Labyrinthus und zur Ostflanke von Tharsis eine Straße zu bahnen. Danach kämen andere Straßen, vielleicht eine über die Tharsis-Erhebung zwischen Arsia Mons und Pavonis Mons, vielleicht auch eine nach Norden zum Aussichtspunkt Echus. Sie waren noch nicht sicher, und Boone gewann den Eindruck, dass es ihnen ziemlich gleichgültig war. Sie beabsichtigten, den Rest ihres Lebens damit zu verbringen, dass sie umherreisten und Straßen anlegten. Deshalb spielte es keine große Rolle, wohin sie zunächst gingen. Straßenzigeuner für immer.

Sie vergewisserten sich, dass alle Kinder John die Hand schüttelten, und nach dem Dinner hielt er eine kurze Rede, die, wie bei ihm üblich, ihr neues Leben auf dem Mars behandelte. »Wenn ich euch hier draußen sehe, macht mich das wirklich glücklich, weil es der Teil eines neuen Lebensstils ist. Wir haben die Chance erhalten, hier eine neue Gesellschaft zu gründen. Auf technischem Gebiet ändert sich alles, und der soziale Bereich könnte sehr wohl folgen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was die neue Gesellschaft sein oder wie sie aussehen sollte. Das ist schließlich der harte Teil bei der Sache. Aber ich weiß, dass es getan werden sollte. Und ich denke, dass ihr und alle die anderen kleinen Gruppen draußen auf der Oberfläche es auf empirischer Basis gestaltet. Und wenn ich euch sehe, hilft mir das, darüber nachzudenken.« Das tat es dann auch, obwohl er selbst nicht viel dazu tat. Er bewegte sich eher lässig in freien Gedankenverbindungen, je nachdem, was ihm gerade in den Sinn kam. Und ihre Augen leuchteten im Lampenlicht, während sie ihm lauschten.

Später saß er mit einigen von ihren im Kreis um eine einzige brennende Lampe herum, und sie blieben die ganze Nacht im Gespräch auf. Die jungen Schweizer stellten ihm Fragen nach seiner ersten Reise und über die ersten Jahre in Underhill, was beides für sie offenbar mythische Dimensionen waren. Und er erzählte ihnen einigermaßen die wirkliche Geschichte und brachte sie oft zum Lachen. Dann stellte er ihnen Fragen über die Schweiz, wie sie funktionierte, was sie von ihr hielten und warum sie hier wären statt dort. Eine blonde Frau lachte, als er das fragte. Sie sagte: »Kennst du den Böögen?«, und er schüttelte den Kopf. »Er ist ein Teil unserer Weihnacht. Sami Claus besucht nacheinander alle Häuser, und er hat einen Helfer, den Böögen, der Mantel und Kapuze trägt und einen großen Sack hat. Sami Claus fragt die Eltern, wie sich die Kinder in diesem Jahr aufgeführt haben; und die Eltern zeigen ihm das Hauptbuch, die Chronik. Und wenn die Kinder brav gewesen sind, gibt Sami Claus ihnen Geschenke. Wenn aber die Eltern sagen, dass die Kinder bös gewesen sind, steckt der Böögen sie in den Sack, schleppt sie weg, und sie werden nie wieder gesehen.«

»Was?« schrie John.

»So sagt man. Das ist die Schweiz. Und deshalb bin ich hier auf dem Mars.«

»Der Böögen hat dich hergebracht.«

Sie lachten, auch die Frau. »Ja, ich war immer böse.« Dann wurde sie ernster. »Aber hier werden wir keinen Böögen haben.«

Sie fragte ihn, was er über die Debatte zwischen den Roten und den Grünen hielte. Er zuckte die Achseln und fasste zusammen, was er über die Positionen von Ann und Sax wusste.

Einer von ihnen sagte: »Ich weiß nicht, ob einer von ihnen recht hat.« Er hieß Jürgen und war einer ihrer Anführer, anscheinend eine Art Kreuzung von Bürgermeister und Zigeunerkönig, mit dunklem Haar, scharfem Gesicht und ernsthaft. »Natürlich sagen beide Seiten, dass sie für die Natur sind. Das müssen sie sagen. Die Roten sagen, dass der Mars, so wie er war, Natur sei. Aber er ist nicht Natur; denn er ist tot. Er ist nur Gestein. Das sagen die Grünen, und sie wollen durch ihr Terraformen Natur zum Mars bringen. Aber auch das ist nicht Natur, sondern nur Kultur. Eine künstliche Sache. Also bekommt keiner Natur. So etwas wie Natur ist auf dem Mars nicht möglich.«

»Interessant!« sagte John. »Das muss ich Ann erzählen und sehen, was sie sagt. Aber …« Er dachte darüber nach. »Wie nennt ihr dann dies hier? Wie nennt ihr das, was ihr tut?«

Jürgen zuckte die Achseln und grinste. »Wir geben ihm gar keinen Namen. Es ist eben der Mars.«

Vielleicht war das die Schweizer Art, dachte John. Er war ihnen bei seinen Reisen immer mehr begegnet, und sie schienen alle so zu sein. Tu etwas und kümmere dich nicht zu viel um Theorie! Was auch immer richtig scheinen möge.

Noch später, als sie noch einige Flaschen Wein getrunken hatten, fragte er sie, ob sie je von dem Cojoten gehört hätten. Sie lachten, und einer sagte: »Das ist der, welcher vor dir hierher gekommen ist, nicht wahr?« Sie lachten über seine Miene. Einer erklärte: »Nur eine Story. Wie die Kanäle oder der Große Mann. Oder Sami Claus.«

Während er am nächsten Tag durch Melas Chasma nach Norden fuhr, wünschte John (wie schon früher), dass alle Leute auf dem Mars Schweizer wären oder zumindest so wie diese. Oder jedenfalls in mancher Hinsicht den Schweizern ähnlicher. Ihre Liebe für das Land schien in einer Lebensweise zum Ausdruck zu kommen: rational, gerecht, erfolgreich, wissenschaftlich. Für ein solches Leben würden sie überall arbeiten; denn für sie kam es auf das Leben an, nicht auf eine Fahne oder auf einen Glauben oder auf einen bestimmten Text, noch sogar das kleine, steinige Fleckchen Land, das sie auf der Erde besaßen. Die Schweizer Straßenbau-Crew hier war schon ein Teil des Mars geworden. Sie hatte das Leben gebracht und das Gepäck zurückgelassen.

Er seufzte und frühstückte, während sein Rover an Transpondern vorbei nach Norden rollte. Die Sache war natürlich gar nicht so einfach. Die fahrenden Straßenbauer waren reisende Schweizer, eine Art von Zigeunern, die Art von Schweizern, die den größten Teil ihres Lebens außerhalb der Schweiz verbrachte. Davon gab es eine Menge; aber sie waren durch diesen Entschluss ausgesondert und waren anders. Die Schweizer, die zu Hause blieben, waren sehr auf ihr Schweizertum bedacht. Immer noch bis an die Zähne bewaffnet, immer noch bereit, den Handelsvertreter für jeden zu spielen, der ihm Bargeld brachte, immer noch kein Mitglied der UN. Allerdings machte dieser Umstand in Anbetracht der Macht, die UNOMA über die lokale Situation hatte, die Schweiz für John als ein Modell noch interessanter. Dieses Geschick, ein Teil der Welt zu sein und sich trotzdem gleichzeitig von ihr auf Distanz zu halten; die Welt zu benutzen, aber fernzuhalten; klein zu sein an Macht, immer bis an die Zähne bewaffnet zu sein, aber nie in den Krieg zu ziehen — war das eine Art von Definition dessen, was er für den Mars erstrebte? Ihm schien, dass man hier einige Lektionen für jedweden hypothetischen Mars-Staat lernen könnte.

Er dachte einen erheblichen Teil seiner Zeit über diesen hypothetischen Staat nach. Das war eine Art fixer Idee von ihm, und er fand es sehr frustrierend, dass er anscheinend nicht mehr als vage Wünsche zustande brachte. Und so dachte er jetzt scharf über die Schweiz nach und was sie ihm sagen könnte. Um das einzuordnen, bediente er sich seines Computers: »Pauline, ruf bitte einen Enzyklopädie-Artikel über die Schweizer Regierung ab!«

Der Rover passierte einen Transponder nach dem anderen, während er den Artikel las, der auf dem Schirm erschien. Er war darüber enttäuscht, dass es nichts über das Schweizer Regierungssystem gab, das deutlich einzigartig war. Die Exekutive besaß ein Siebenerrat, der von der gesetzgebenden Körperschaft gewählt wurde. Kein charismatischer Präsident (was einem Teil von Boone nicht sehr behagte). Das Parlament hatte außer der Wahl der Bundesräte wenig zu tun. Es war gefangen zwischen der Macht der Bundesräte und der des Volkes, wie sie in direkten Initiativen und Abstimmungen zum Ausdruck kam — einer Idee, die sie im neunzehnten Jahrhundert überall von Kalifornien übernommen hatten. Und dann war da das föderalistische System. Die Kantone in all ihrer Vielfalt sollten viel Unabhängigkeit haben. Auch dadurch wurde das Bundesparlament geschwächt. Aber die Macht der Kantone war seit Generationen abgebröckelt, die Bundesregierung riss immer mehr an sich. Worauf lief dies alles hinaus? »Pauline, ruf bitte meine Rats-Akte ab!« Er fügte der kürzlich angelegten Akte einige Notizen hinzu: »Bundesrat, direkte Initiativen, Volksbefragungen, schwaches Parlament, lokale Unabhängigkeit, besonders in kulturellen Angelegenheiten.« Jedenfalls etwas, worüber man nachdenken sollte. Mehr Daten dem Eintopf seiner Ideen zufügen. Es half etwas, wenn man das aufschrieb.

Er fuhr weiter und dachte an die Ruhe der Straßenbauer, ihre seltsame Mischung von Ingenieurwesen und Mystizismus. Die Wärme ihres Willkommens, die Boone keineswegs für gewährleistet hielt. Das geschah nicht überall. Zum Beispiel begegnete man ihm in den arabischen und israelischen Siedlungen sehr steif; vielleicht, weil man ihn für einen Religionsgegner hielt, und vielleicht, weil Frank Geschichten verbreitet hatte, die gegen ihn sprachen. Er war überrascht gewesen, eine arabische Karawane anzutreffen, deren Mitglieder glaubten, er hätte den Bau einer Moschee auf Phobos verboten. Und sie hatten ihn bloß angestarrt, als er bestritt, von einem solchen Plan auch nur gehört zu haben. Er war sich ziemlich sicher, dass das Franks Werk war. Über Janet und andere erreichten ihn Gerüchte, wonach Frank darauf aus wäre, seine Stellung auf diese Weise zu untergraben. Ja, es gab also bestimmte Gruppen, die ihn kühl begrüßten. Die Araber, die Israelis, die Teams der Kernreaktoren, einige der transnationalen Beamten … Gruppen mit ihren eigenen ausgeprägten und provinzlerischen Programmen, die sich seiner größeren Perspektive widersetzten. Unglücklicherweise gab es eine ganze Menge davon.

Er erwachte aus seiner Träumerei, schaute sich um und war überrascht zu entdecken, dass es in der Mitte von Melas genau so aussah, als ob er sich irgendwo draußen auf den nördlichen Ebenen befände. Der große Canyon war an dieser Stelle zweihundert Kilometer breit, und die Krümmung des Planeten war so stark, dass die nördlichen und südlichen Wände mit all ihren drei vertikalen Kilometern gänzlich unter dem Horizont lagen. Erst am folgenden Morgen trennte sich der Nordhorizont in den Boden des Canyons und die große nördliche Wand, die durch einen kurzen nordsüdlichen Canyon zwischen Melas und Candor zerschnitten war. Erst als er in diesen weiten Spalt hineinfuhr, bekam er die Ansicht, an die die Menschen dachten, wenn sie sich einbildeten, unten in Marineris zu sein. Wahrhaft gigantische Wände flankierten ihn zu beiden Seiten, dunkelbraune Steinplatten, die von einer Vielfalt an Rinnen und Graten zerfurcht waren. Am Fuß der Wände lag der tiefe Schotter früherer Steinschläge oder das Material verfallener Strande.

In dieser Lücke war die Schweizer Straße eine Kette grüner Transponder, die sich an Mesas und Trockentälern vorbeischlängelte, so dass es aussah, als ob man das Monument Valley auf den Boden eines Canyons versetzt hätte, der doppelt so tief und fünfmal so breit war wie der Grand Canyon. Der Anblick war so ungeheuer, dass John nicht imstande war, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, und zum ersten Mal auf dieser Reise fuhr er den ganzen Tag, ohne Pauline einzuschalten.

Nördlich der Querspalte kam er in die gewaltige Senke von Candor Chasma; und jetzt war es, als befände er sich in einer gigantischen Kopie der Painted Desert mit großen Sedimentschichten überall, Bändern aus purpurnen und gelben Ablagerungen, orangefarbenen Dünen, roten erratischen Blöcken, rosa Sanden und indigofarbenen Rinnen — wirklich eine phantastische und extravagante Landschaft, die das Auge verwirrte, weil alle die wilden Farben es schwierig machten, sich vorzustellen, um was es sich jeweils handelte und wie groß es war und wie weit entfernt. Riesige Plateaus, die ihm den Weg zu versperren drohten, erwiesen sich als die rundlichen Schichten einer entfernten Klippe. Kleine Felsblöcke dicht hinter den Transpondern entpuppten sich als enorme Mesas in fast einer halben Tagesfahrt Entfernung. Und im Licht des Sonnenuntergangs flammten alle Farben auf, das ganze Spektrum des Mars enthüllte sich und strahlte, als ob Farben aus dem Felsen brächen — alles von blaßgelb bis hin zu dunkel purpurn. Candor Chasma! Er müsste einmal wiederkommen und es erforschen.

Am Tage danach fuhr er den gleichmäßigen Hang der nördlichen Ophir-Straße hinauf, welche die Schweizer Gruppe im vorigen Jahr fertig gestellt hatte. Hinauf und hinauf — und dann war er, ohne je einen ausgeprägten Rand gesehen zu haben, aus den Canyons heraus, rollte an den überkuppelten Löchern von Ganges Catena vorbei und danach über die alte vertraute Ebene, indem er einer breiten Straße folgte, über den nahen Horizont bei Tschernobyl und Underhill. Dann, noch einen Tag weiter zum Echus-Aussichtspunkt nach Westen, dem neuen Hauptquartier für Terraformung von Sax. Seine Reise hatte eine Woche gedauert; und er hatte 2500 Kilometer zurückgelegt.


Sax Russell war von Acheron zurück an seinem eigenen Ort. Er stellte jetzt eine Macht dar. Daran bestand kein Zweifel, da er vor einem Jahrzehnt von UNOMA als wissenschaftlicher Leiter des Terraformunternehmen benannt war. Und natürlich hatte diese Dekade der Macht bei ihm ihre Spuren hinterlassen. Er hatte UN- und transnationale Hilfe angefordert, um eine ganze Stadt zu bauen, die als Hauptquartier für die Terraformung dienen sollte. Und er hatte diese Stadt etwa fünfhundert Kilometer westlich von Underhill angesiedelt, auf der Kante der Klippe, die die Ostwand von Echus Chasma bildete. Echus war einer der engsten und tiefsten Canyons des Planeten, und seine Ostwand war noch höher als Süd-Melas. Der Abschnitt, den sie ausgesucht hatten, um die Stadt hineinzubauen, war eine vertikale Basaltklippe von viertausend Metern Höhe.

Oben auf der Klippe gab es wenige Anzeichen der neuen Stadt. Das Land hinter dem Rand war fast unmarkiert. Nur hie und da ein Betonbunker und im Norden die Rauchfahne des Rickover-Kernkraftwerks. Aber als John aus seinem Rover stieg und einen Bunker am Rande betrat, um einen der großen Aufzüge darin zu benutzen, begann ihm das Ausmaß der Stadt klar zu werden. Als er fünfzig Stockwerke tief war, stieg er aus und fand eine ganze Reihe weiterer Aufzüge, die ihn noch tiefer brachten, bis hinab zum Boden von Echus Chasma. Wenn man ein Stockwerk zu zehn Metern rechnete, bedeutete das Raum in der Klippe für vierhundert Stockwerke. Soviel davon wurde noch nicht benutzt, und die meisten bisher gebauten Räume drängten sich in den oberen zwanzig Etagen. Sax hatte sein Büro sehr weit oben.

Sein Konferenzraum war eine große offene Kammer mit einem durchlaufenden Fenster vom Fußboden bis zur Decke an der Westwand. Als John in den Raum trat, um sich nach Sax umzusehen, war es noch ziemlich früh am Vormittag, und das Fenster war fast klar. Weit weit drunten lag der Chasma-Boden, noch halb im Schatten, und draußen im Sonnenlicht stand die viel niedrigere Westwand von Echus und dahinter der große Abhang der Tharsis-Erhebung, die immer höher nach Süden anstieg. In mittlerer Entfernung lag der niedrige Buckel von Tharsis Tholus und links davon, eben über den Horizont schauend, lag der purpurne, oben abgeflachte Kegel von Ascraeus Mons, dem nördlichsten der großen Vulkane.

Aber Sax war nicht im Konferenzzimmer und hatte, soweit John sagen konnte, nie aus diesem Fenster geblickt. Er befand sich hinter der nächsten Tür in einem Labor, mehr Laborratte denn je, mit krummen Schultern und spitzem Schnurrbart. Er schaute sich auf dem Fußboden um und sprach mit einer Stimme, die wie die eines Computers klang. Er führte John durch eine ganze Folge von Labors, beugte sich vor, um Bildschirme oder Koordinatenblätter anzuschauen, und sprach zerstreut über die Schulter zu John. Die Räume, durch die sie gingen, waren gedrängt voller Computer, Drucker, Bildschirme, Bücher, Rollen und Papierstapel, Discs, GC-Massenspektrographen, Brutschränke, Abzugshauben, langer Labortische voller Apparate und ganzer Bibliotheken. Auf jeder wackligen Unterlage standen Topfpflanzen, die meisten davon unerkennbare Wülste, stachlige Sukkulenten und dergleichen, so dass es auf den ersten Blick aussah, als wäre ein virulenter Schimmelpilz ausgebrochen und hätte alles überwuchert. »Deine Labors werden irgendwie schmutzig«, sagte John.

»Der Planet ist das Labor«, entgegnete Sax.

John lachte, nahm einen hellgelben subarktischen Kaktus von einem Pult und setzte sich hin. Sax verließ diese Räume überhaupt nicht mehr. »Was simulierst du heute?«

»Atmosphären.«

Natürlich. Dieses Problem machte Sax ernstlich zu schaffen. Alle Wärme, die sie freisetzten oder dem Planeten zufügten, machte die Atmosphäre dichter; aber alle ihre Strategien, um CO2 zu fixieren, machte sie dünner. Und als sich die chemische Zusammensetzung der Luft langsam zu etwas verschob, das weniger giftig war, enthielt sie auch weniger Treibhausgase, so dass die Dinge sich wieder abkühlten und der Prozess verlangsamt wurde. Negatives Feedback gegen positives Feedback allenthalben. Alle diese Faktoren in ein sinnvolles extrapolatives Programm zu jonglieren, war mehr, als je einer zu Saxens Befriedigung geschafft hatte. Darum hatte er zu seiner gewohnten Methode Zuflucht genommen. Er versuchte, es selbst zu machen.

Er schritt durch die schmalen Gänge zwischen den Geräten und schob Stühle beiseite. »Es gibt einfach zu viel Kohlendioxid. In den alten Tagen haben die Modell-Leute das einfach unter den Teppich gekehrt. Ich denke, ich werde die südliche Polkappe von Robotern zu Sabatier-Fabriken umgestalten lassen müssen. Was wir verarbeiten, kann dann nicht sublimieren, und wir können den Sauerstoff freisetzen und aus dem Kohlenstoff Ziegelsteine machen, nehme ich an. Wir werden mehr Karbonblöcke haben, als wir uns ausdenken können zu verwenden. Schwarze Pyramiden neben den weißen.«

»Hübsch!«

»Hmm.« Die Crays und die zwei Schillers summten hinter ihm vor sich hin und lieferten zu seinem eintönigen Rezitativ einen profunden Bass. Diese Computer liefen die ganze Zeit mit einem Satz Bedingungen nach dem anderen, wie Sax sagte. Die Ergebnisse waren zwar nie die gleichen, jedoch nur selten ermutigend. Die Luft würde noch ziemlich lange kalt und giftig bleiben.

Sax marschierte durch die Halle, und John folgte ihm in etwas, das wie ein weiteres Labor aussah. Nur gab es dort ein Bett und einen Kühlschrank in einer Ecke. Gewaltsam in Unordnung gebrachte Bücherregale waren überladen mit Topfpflanzen, bizarren Pleistozän-Gewächsen, die ebenso tödlich aussahen wie die Luft draußen. John setzte sich in den einzigen leeren Sessel. Sax stand da und schaute auf einen Muschelbusch, während John seine Begegnung mit Ann schilderte.

»Glaubst du, dass sie darin verwickelt ist?« fragte Sax.

»Ich denke, sie weiß, wer es ist. Sie erwähnte jemanden namens Cojote.«

»Ach ja.« Sax sah John kurz an — genauer seine Füße. »Sie hetzt uns auf eine legendäre Person. Er soll mit uns auf der Ares gewesen sein, weißt du. Von Hiroko versteckt.«

John war so davon überrascht, dass Sax von dem Cojoten gehört hatte, das es eine Weile dauerte, bis ihm klar wurde, was außerdem noch beunruhigend war an dem, was Sax gesagt hatte. Aber dann fiel es ihm ein. Eines Nachts hatte Maya ihm gesagt, dass sie ein Gesicht gesehen hätte, das Gesicht eines Fremden. Die Ausreise war für Maya hart gewesen, und er hatte die Geschichte in den Wind geschlagen. Aber jetzt …

Sax ging umher, schaltete Lichter an, glotzte auf Schirme und murmelte etwas über Sicherheitsmaßnahmen. Er öffnete kurz die Tür vom Kühlschrank, und John erhaschte einen Blick auf weitere stachlige Gewächse. Entweder hielt er sich darin Experimente, oder sein Zwischenimbiß hatte einen wirklich virulenten Anfall von Schimmel erlitten. John sagte: »Du verstehst sicher, warum die meisten Angriffe auf die Moholes erfolgt sind. Sie sind das am leichtesten anzugreifende Projekt.«

Sax neigte den Kopf. »Sind sie das?«

»Denk darüber nach! Deine kleinen Windmühlen gibt es überall; da kann man nicht viel ausrichten.«

»Es gibt Leute, die sie demolieren. Wir haben Meldungen bekommen.«

»Was, ein Dutzend? Und wie viele sind da draußen, hunderttausend? Sie sind bloß Schrott, Sax. Deine schlechteste Idee.« Und für sein Projekt sogar fast tödlich wegen der Algentabletts, die Sax in einigen davon versteckt hatte. Anscheinend waren alle Algen eingegangen. Falls aber nicht, und wenn es jemandem gelungen wäre zu beweisen, dass Sax für ihre Verbreitung verantwortlich war, hätte er seinen Job verlieren können. Dies war ein weiterer Hinweis darauf, dass Saxens logische Art eine Fassade war.

Jetzt runzelte er die Stirn. »Sie liefern jährlich ein Terawatt.«

»Und wenn man ein paar davon zerstört, macht das nichts aus. Was aber die anderen physikalischen Maßnahmen angeht, so befinden sich die schwarzen Schneealgen auf der nördlichen Polkappe und können nicht beseitigt werden. Die Spiegel für die Dämmerung befinden sich im Orbit, und es ist nicht so einfach, sie aus der Bahn zu werfen.«

»Mit Pythagoras hat das jemand gemacht.«

»Gewiss, aber wir wissen, wer das war, und ein Sicherheitsteam verfolgt die Person.«

»Die wird wahrscheinlich nie zu einer anderen führen. Vielleicht können sie es sich leisten, für jede Aktion eine Person einzubüßen. Das würde mich nicht überraschen.«

»Na ja., aber einige einfache Wechsel im Kontrollpersonal würden es für jeden unmöglich machen, irgendwelche Geräte an Bord zu schmuggeln.«

»Sie könnten benutzen, was sich da draußen befindet.« Sax schüttelte den Kopf. »Die Spiegel sind verwundbar.«

»Okay. Jedenfalls mehr als einige andere Projekte.«

»Diese Spiegel liefern zusätzliche dreißig Kalorien pro Quadratzentimeter per Sol. Und die ganze Zeit werden es noch mehr.« Fast alle von der Erde kommenden Frachtschiffe waren jetzt Sonnensegler; und wenn sie im System des Mars ankamen, wurden sie an große Aggregate früher angekommener angeschlossen, die im areosynchronen Orbit geparkt sind und so programmiert, dass sie durch Schwenkungen ihr Licht auf die Terminatoren werfen und so der Morgen- und Abenddämmerung jedes Tages ein wenig zusätzliche Energie liefern. Dieses Arrangement war durch das Amt von Sax koordiniert worden, und er war darauf stolz.

John sagte: »Wir werden die Sicherheit für das Wartungspersonal verstärken.«

»So. Erhöhte Sicherheit bei den Spiegeln und den Moholes.«

»Ja. Aber das ist noch nicht alles.«

Sax schnaufte. »Was meinst du?«

»Nun, das Problem liegt darin, dass nicht bloß die Terraformprojekte als solche potentielle Ziele sind. Ich meine, die Kernreaktoren sind in ihrer Weise auch ein Teil des Projektes. Sie liefern eine Menge Energie für dich und pumpen mehr Wärme aus als die Öfen, die sie im Grunde sind. Wenn einer davon hochginge, würde er alle Arten von Fallout produzieren, mehr noch politisch als physikalisch.«

Die vertikalen Falten zwischen Saxens Augen reichten ihm fast bis zum Haaransatz. John streckte die Hände aus. »Nicht mein Fehler. So ist es nun eben einmal.«

»Computer«, befahl Sax, »mach eine Notiz: Reaktorsicherheit prüfen!«

»Notiz gemacht«, sagte einer der Schillers. Er klang genau wie Sax.

»Und das ist noch nicht das Schlimmste«, sagte John und blickte wütend zu Boden. »Die biotechnischen Labors.«

Saxens Mund wurde eine schmale Linie.

John fuhr fort: »Täglich werden neue Organismen ausgebrütet; und es könnte möglich sein, etwas zu schaffen, das alles andere auf dem Planeten tötet.«

Sax zwinkerte. »Hoffen wir, dass keiner dieser Leute so denkt wie du.«

»Ich versuche nur, wie sie zu denken.«

»Computer, eine Notiz: Biolab-Sicherheit!«

John sagte: »Natürlich haben Vlad und Ursula Selbstmordgene allem eingepflanzt, das sie gemacht haben. Aber die sollen einen übermäßigen Erfolg stoppen oder Mutationsunfälle. Falls jemand sie vorsätzlich umgehen und etwas zusammenkochen würde, das sich von übermäßigem Erfolg nährt, könnten wir in Schwierigkeiten geraten.«

»Das sehe ich.«

»Also: Die Labors, die Reaktoren, die Moholes und die Spiegel. Es könnte schlimmer sein.«

Sax verdrehte die Augen. »Ich bin froh, dass du so denkst. Ich werde mit Helmut darüber sprechen. Ich werde ihn sowieso bald treffen. Es sieht so aus, dass sie den Aufzug von Phyllis bei der nächsten UNOMA-Sit-zung genehmigen werden. Das wird die Kosten der Terraformung mächtig beschneiden.«

»Letztlich ja, aber die Ausgangsinvestition muss gewaltig sein.«

Sax zuckte die Achseln. »Man schiebe einen Amor-Satelliten in den Orbit, errichte eine Roboterfabrik und lasse sie ans Werk gehen. Das ist nicht so teuer, wie du zu denken scheinst.«

John hob die Schultern. »Sax, wer bezahlt das alles?« Sax neigte den Kopf und zwinkerte. »Die Sonne.« John stand auf. Er hatte plötzlich Hunger bekommen. »Dann zahlt die Sonne die Zeche. Bedenke das!«


Jeden Abend sendete die Mangalavid-Amateurstation sechs Stunden lang ein kunterbunt gemischtes Programm, das John sich bei jeder passenden Gelegenheit anschaute. Also ging er, nachdem er in der Küche einen großen grünen Salat zubereitet hatte, ins Fensterzimmer und schaute während des Essens hin, wobei er sich von Zeit zu Zeit auch den roten Sonnenuntergang über Ascraeus ansah. Die ersten zehn Minuten dieser Abendsendung waren von einer Sanitätsingenieurin aufgenommen, die auf einer Abfallverwertungsanlage in Chasma Borealis arbeitete. Ihre darübergelegte Stimme war begeistert, aber langweilig. »Es ist nett, dass wir alles, was wir wollen, verschmutzen können mit bestimmten Stoffen: Sauerstoff, Ozon, Stickstoff, Argon, Dampf und einigen biologischen Materialien. Dadurch haben wir eine Freiheit, die wir daheim nicht besessen haben. Wir verarbeiten einfach alles, was man uns gibt, bis wir es freilassen können.« Daheim, sagte sich John. Eine neu Hinzugekommene. Danach kam der Versuch einer Karaterunde, gleichzeitig erheiternd und hübsch. Es folgten zwanzig Minuten, in denen einige Russen in Druckanzügen Hamlet auf dem Boden des Mohole von Tyrrhena Patera aufführten. Diese Produktion fand John verrückt, bis Hamlet Claudius erblickte, wie er im Gebet kniete, und die Kamera nach oben schwenkte, um das Mohole als Wände einer Kathedrale zu zeigen, die sich über Claudius zu einem unendlich entfernten Sonnenstrahl erhoben — wie die Verzeihung, die er nie erlangen würde.

John schaltete den Fernseher aus und nahm den Aufzug zur Schlafetage hinunter. Er ging zu Bett und entspannte sich. Karate als Ballett. Die Neulinge waren noch alle Ingenieure, Bauarbeiter, Wissenschaftler jeder Richtung. Aber sie wirkten nicht so einmütig wie die Ersten Hundert, und das war wohl gut so. Sie hatten noch eine wissenschaftliche geistige Haltung und Weltanschauung; sie waren praktisch, empirisch und rational. Man konnte hoffen, dass der Ausleseprozess auf der Erde immer noch gegen Fanatismus arbeitete und Leute heraufschickte mit einer Sensibilisierung nach Art der wandernden Schweizer; praktisch, aber für neue Möglichkeiten offen und imstande, neue Loyalitäten und Glaubensrichtungen zu bilden. Man brauchte nur die Ersten Hundert anzuschauen, um zu erkennen, dass Wissenschaftler genau so fanatisch werden konnten wie jeder andere, vielleicht sogar noch mehr. Vielleicht war ihre Ausbildung zu eng konzentriert gewesen. Hirokos Team war verschwunden … Irgendwo da draußen im wilden Fels, glückliche Halunken … Er fiel in Schlaf.


John arbeitete noch ein paar Tage im Echus-Aussichtspunkt und bekam dann einen Anruf von Helmut Bronski in Burroughs, der sich mit ihm über die neuen Eingänge von der Erde beraten wollte. John beschloss, den Zug nach Burroughs zu nehmen und Helmut persönlich zu treffen.

Am Abend vor seiner Abreise suchte er Sax in seinen Labors auf. Als er eintrat, sagte Sax auf seine monotone Art: »Wir haben einen Asteroiden der Amorklasse gefunden, der zu neunzig Prozent aus Eis besteht, in einer Bahn, die ihn nach drei Jahren in Marsnähe bringen wird. Wirklich genau das, was ich gesucht habe.« Sein Plan war, ein von Robotern gesteuertes Schub-Aggregat auf dem Eis-Asteroiden anzubringen und den in eine durch Luft gebremste Bahn um den Mars zu schieben, so dass er in der Atmosphäre verglühen würde. Damit wäre den UNOMA-Protokollen Genüge getan, die eine Massenzerstörung untersagten, welche ein direkter Aufprall bewirken müsste. Es würde aber immer noch große zusätzliche Mengen an Wasser liefern und in der Atmosphäre getrennten Wasserstoff und Sauerstoff, so dass diese mit genau jenen Gasen angereichert würde, die am dringendsten benötigt wurden. »Es würde den atmosphärischen Druck um nicht weniger als fünfzig Millibar anheben.«

»Du machst Witze!« Der mittlere Druck in Normalhöhe hatte zwischen sieben und zehn Millibar betragen (gegenüber 1,013 Bar auf der Erde), und alle bisherigen Bemühungen hatten den Durchschnittswert nur auf rund fünfzig gesteigert. »Ein Eisball wird den atmosphärischen Druck verdoppeln?«

»Das besagen die Simulationen. Natürlich ist bei einem so geringen Ausgangswert eine Verdopplung nicht so eindrucksvoll, wie es klingt.«

»Dennoch ist das großartig, Sax. Und es wird schwer zu sabotieren sein.«

Aber Sax mochte nicht daran erinnert werden. Er runzelte die Stirn und machte sich davon.

John lachte über seine Launenhaftigkeit und ging zur Tür. Dann hörte er auf nachzudenken und sah sich in der Halle nach beiden Seiten um. Leer. Und keine Videomonitore in Saxens Büro. Er trat wieder ein, grinste über seinen verstohlenen Gang auf Zehenspitzen und musterte das Papierchaos auf dem Schreibtisch. Wo sollte er anfangen? Vermutlich würde sein PC alles Interessante enthalten, aber wohl nur auf die Stimme von Sax reagieren und sicher alle anderen Anfragen registrieren. John öffnete ruhig eine Schreibtischschublade. Leer. Alle Schubladen waren leer. Er hätte fast laut gelacht, unterdrückte das aber. Auf einer Laborbank lag ein Haufen Korrespondenz, und er sah ihn durch. Meist Mitteilungen von den Biologen in Acheron. Unten in dem Stapel war ein einzelnes Blatt nicht unterschriebener Post, auch ohne Rücksendeanschrift oder Herkunftscode. Saxens Drucker hatte das Blatt ausgespuckt ohne jede Identifikation, die John sehen konnte. Die Mitteilung war kurz:

1. Wir benutzen Selbstmordgene, um Vermehrung im Griff zu halten. 2. Es gibt auf der Oberfläche jetzt so viele Wärmequellen, dass wir nicht glauben, jemand könnte unseren Ausstoß vom Rest unterscheiden. 3. Wir haben uns einfach geeinigt auszubrechen und unabhängig allein zu arbeiten, ohne Einmischungen. Ich bin sicher, du verstehst jetzt.

Nachdem er eine Minute lang daraufgestarrt hatte, hob John den Kopf und sah sich um. Er war immer noch allein. Er schaute noch einmal auf die Nachricht, legte sie da hin, wo er sie gefunden hatte, und ging ruhig aus Saxens Büros zu den Gästequartieren zurück. »Sax«, sagte er anerkennend, »du raffinierter Rattenkönig!«


Der Zug nach Burroughs führte hauptsächlich Fracht in dreißig engen Waggons. Vorn waren zwei Passagierwaggons. Er glitt über eine supraleitende Magnetpiste so schnell und geschmeidig, dass man kaum den Augen trauen konnte. Nach Johns endloser Schufterei querfeldein in Rovern war es fast erschreckend. Man hatte nichts weiter zu tun, als das Lustzentrum in dem alten Gehirn mit Omegendorph zu überschwemmen, sich zurückzulehnen und es zu genießen. Wenn man hinausschaute, schien es eine Art Flug mit Überschallgeschwindigkeit auf dem Boden zu sein.

Die Piste war ungefähr parallel zu 40° Nord angelegt. Der Plan war, letztlich den ganzen Planeten mit einer Magnetschwebebahn zu umgürten; aber bisher war nur die Hemisphäre zwischen Echus und Burroughs fertig gestellt. Burroughs war die größte Stadt in der rückseitigen Hemisphäre geworden. Die ursprüngliche Siedlung war von einem in Amerika heimischen Konsortium nach einem europäischen Plan unter französischer Führung erbaut worden und lag am oberen Ende von Isidis Planitia, die praktisch ein riesiger Trog war, wo die Ebenen des Nordens einen tiefen Einschnitt in die Hochländer des Südens machten. Seiten und Kopf des Trogs wirkten der Krümmung des Planeten derart entgegen, dass die Landschaft um die Stadt herum fast irdische Horizonte hatte; und als der Zug in den großen Trog hinunterflog, konnte Boone über mit Mesas besetzte dunkle Ebenen bis zu Horizonten in mehr als sechzig Kilometern Entfernung blicken.

Die Gebäude von Burroughs waren fast alle Klippenbauten, die in die Flanken von fünf großen Mesas eingeschnitten waren, die als Gruppe auf einer Anhebung in der Krümmung eines alten gewundenen Kanals standen. Große Abschnitte der vertikalen Seiten der Mesas waren mit Rechtecken aus verspiegeltem Glas besetzt, als ob man postmoderne Wolkenkratzer auf die Seiten gelegt und in die Berge hineingeschoben hätte. Wirklich ein aufregender Anblick und viel beeindruckender als Underhill oder sogar der Echus-Aussichtspunkt, der eine großartige Aussicht bot, aber nicht gesehen werden konnte. Nein, die mit Glas verkleideten Flanken von Burroughs, die sich über einen Kanal erhoben, der nach Wasser zu flehen schien, und ein Ausblick bis zu fernen Bergen — diese Merkmale vereinten sich, um der neuen Stadt einen rasch wachsenden Ruf als die schönste Stadt auf dem Mars zu verleihen.

Ihre westliche Bahnstation befand sich im Innern einer ausgehöhlten Mesa, ein sechzig Meter hoher Raum mit gläsernen Wänden. John trat in diese großartige Halle hinaus und bahnte sich einen Weg durch die Volksmenge mit zurückgeneigtem Kopf wie ein Tölpel vom Lande in Manhattan. Das Bahnpersonal trug blaue Pullover, die Schürfungsleute hatten grüne Schutzkleidung, die UNOMA-Bürokraten Anzüge und die Bauarbeiter Arbeitsjumper in Regenbogenfarben, die an Sportsdress erinnerten. Das UNOMA-Hauptquartier war vor drei Jahren, in Burroughs untergebracht worden, was einen großen Bau-Aufschwung bewirkt hatte. Es war eine offene Frage, ob es mehr UNOMA-Bürokraten oder Bauarbeiter in der Station gab.

Am anderen Ende des großen Raums fand John einen U-Bahn-Eingang und nahm einen kleinen Wagen zum Hauptquartier der UNOMA. In dem Wagen schüttelte er einigen Leuten die Hand, die ihn erkannten und an ihn herantraten. Er fühlte, wie das alte Unbehagen des Goldfischglases zurückkehrte. Er befand sich wieder unter Fremden. In einer Stadt.

An diesem Abend speiste er mit Helmut Bronski. Sie waren sich zuvor schon oft begegnet, und John war von dem Mann beeindruckt einem deutschen Millionär, der in die Politik gegangen war. Groß, füllig, blond mit rötlichem Gesicht, makellos gepflegt und in einen teuren grauen Anzug gekleidet. Er war der Finanzminister des Europarats gewesen, als er den Posten bei der UNOMA annahm. Jetzt erzählte er John die letzten Neuigkeiten in einem sehr gepflegten britischen Englisch und aß Roastbeef mit Kartoffeln zwischen schnell geäußerten Sätzen, wobei er sein Silberbesteck auf die deutsche werkmännische Art hielt. »Wir werden einen Schürfkontrakt in Elysium dem transnationalen Konsortium Armscor übertragen. Sie werden ihre eigene Ausrüstung schicken.«

»Aber, Helmut«, sagte John, »würde das nicht den Mars-Vertrag verletzen?«

Helmut machte eine weite Bewegung mit der Hand, die die Gabel hielt. Seine Miene sagte, sie wären Männer von Welt und verstünden sich auf diese Dinge. »Der Vertrag ist mehr als veraltet, das ist jedem klar, der mit der Situation zu tun hat. Aber seine Revision ist erst nach zehn Jahren angesetzt. Inzwischen müssen wir versuchen, gewisse Aspekte der Revision vorzuziehen. Darum erteilen wir schon jetzt einige Konzessionen. Es gibt keinen Grund zur Verzögerung; und sollten wir das versuchen, gäbe es Ärger in der Generalversammlung.«

»Aber die Generalversammlung wird nicht gerade begeistert sein, dass ihr die erste Konzession einem alten südafrikanischen Waffenfabrikanten erteilt habt.«

Helmut zuckte die Achseln. »Armscor hat nur noch sehr wenig mit seinen Ursprüngen gemein. Es ist bloß ein Name. Als aus Südafrika Azania wurde, hat die Gesellschaft ihre Büros nach Australien verlegt und dann nach Singapore. Und jetzt ist sie natürlich viel mehr als eine Luft- und Raumfahrtfirma geworden. Sie ist eine echte Transnationale, einer der neuen Tiger, mit eigenen Banken und kontrolliert fünfzig der alten Fortune 500.«

»Fünfzig von ihnen?« fragte John.

»Jawohl. Und Armscor ist eine der kleinsten Transnationalen. Darum haben wir sie ausgesucht. Aber sie hat immer noch ein größeres Wirtschaftsvolumen als jedes Land außer den größten Zwanzig. Wenn die alten Multinationalen zu Transnationalen verschmelzen, siehst du, dann gewinnen sie wirklich eine ganze Menge Macht und haben Einfluss in der Generalversammlung. Wenn wir einer eine Konzession erteilen, profitieren davon etwa zwanzig oder dreißig Länder und gewinnen Zugang zum Mars. Und für den Rest der Länder dient das als Präzedenzfall. Und so wird der Druck auf uns gemindert.«

»Oha!« John dachte darüber nach. »Sag mir, wer hat diese Übereinkunft zustande gebracht?«

»Nun, weißt du, es waren ein paar von uns.«

Helmut aß weiter und ignorierte fröhlich Johns starren Blick.

John zog die Lippen zusammen und schaute weg. Ihm wurde jäh bewusst, dass er mit einem Manne sprach, der, obwohl nur ein Funktionär, sich auf dem Planeten für weitaus wichtiger hielt als Boone. Genial, mit einem glatten Gesicht (wer schnitt ihm wohl das Haar?), lehnte Bronski sich zurück und bestellte Getränke nach der Mahlzeit. Seine Assistentin, die an dem Abend aufwartete, eilte folgsam hin und her.

John bemerkte: »Ich glaube nicht, dass man mich schon einmal auf dem Mars bedient hat.«

Helmut begegnete seinem Blick ruhig, aber seine Gesichtsröte war stärker geworden. John musste fast grinsen. Der UNOMA-Beamte wollte drohend wirken, der Repräsentant von so hochgestochenen, quasi klimatischen Kräften, dass Johns kleine Mentalität eines Wetterhäuschens diese nicht einmal begreifen könnte. Aber John hatte schon früher festgestellt, dass ein paar Minuten seiner Routine als Erster-Mann-auf-dem-Mars gewöhnlich ausreichten, um einer solchen Haltung den Boden zu entziehen. Also lachte er und trank und erzählte Geschichten und spielte auf Geheimnisse an, die nur den Ersten Hundert einsichtig waren. Er machte es der Assistentin/Kellnerin klar, dass er es war, der am Tisch das Sagen hatte und so weiter. Er benahm sich allgemein auf eine nicht betroffene, wissende, arrogante Art; und als sie mit ihrem Sorbet und Brandy fertig waren, war Bronski laut und polternd, offenkundig nervös und in der Defensive.

Funktionäre — John musste lachen.

Aber er war neugierig hinsichtlich des letzten Punktes ihrer Konferenz, der ihm immer noch nicht klar war. Vielleicht hatte Bronski selbst persönlich sehen wollen, wie die Nachricht von der neuen Konzession einen der Ersten Hundert treffen würde — vielleicht, um die Reaktion der übrigen zu ermessen? Das wäre töricht; denn um ein gutes Urteil über die Ersten Hundert zu bekommen, müsste man mindestens achtzig von ihnen befragen. Aber das würde auch nicht heißen, dass es stimmte. John war es gewohnt, als Repräsentant von Dingen zu gelten, als ein Symbol. Wieder die Galionsfigur. Es wäre bestimmt eine Zeitverschwendung.

Er fragte sich, ob er aus diesem Abend etwas für sich herausholen könnte; und als sie wieder zu seiner Gastsuite gingen, sagte er: »Hast du jemals von dem Cojoten gehört?«

»Ein Tier?«

Er grinste und beließ es dabei. Er legte sich in seinem Zimmer aufs Bett, Mangalavid im Fernseher, und dachte nach. Als er sich vor dem Schlafengehen die Zähne putzte, sah er im Spiegel sein Bild und machte ein brummiges Gesicht. Er schwang die Zahnbürste in einer weit ausholenden Geste und sagte in einer unfairen Parodie von Helmuts leichtem Akzent: »Vell, dass is bisineß, bisineß aß juschel!«


Am nächsten Morgen hatte er ein paar Stunden vor der nächsten Konferenz und verbrachte deshalb die Zeit mit Pauline. Er sah durch, was er über Helmut Bronskis Unternehmungen in den letzten sechs Monaten finden konnte. Konnte Pauline der UNOMA in die Diplomatentasche greifen? War Helmut je in Senzeni Na oder einem anderen Sabotage-Ort gewesen? Während Pauline ihre Suchalgorithmen laufen ließ, schluckte John ein Omegendorph gegen seinen Kater und dachte darüber nach, was hinter seinem Einfall steckte, die Akten von Helmut durchzustöbern. In diesen Tagen stellte UNOMA die höchste Autorität auf dem Mars dar, zumindest nach dem Buchstaben des Gesetzes. In der Praxis war sie so zahnlos wie die UN gegenüber nationalen Armeen und transnationalem Geld. Wenn sie nicht nach ihrer Pfeife tanzte, war sie hilflos. Sie konnte nicht entgegen deren Wünschen Erfolg haben und würde es wohl auch nie versuchen, da sie ihr Werkzeug war. Was wollten sie also, die nationalen Regierungen und der transnationale Ausschuss von Direktoren? Wenn es genügend Sabotage gäbe, würde das ein Grund sein, mehr für ihre eigene Sicherheit zu tun? Würde es dahin tendieren, ihre Kontrolle zu verstärken?

Er knurrte angewidert. Offenbar war bisher das einzige Resultat seiner Nachforschungen, dass sich die Liste der Verdächtigen verdreifacht hatte. Pauline sagte: »Entschuldige mich, John!« und die Information erschien auf dem Schirm. Die Diplomatentasche war, wie sie herausgefunden hatte, in einem der neuen, nicht zu knackenden Schlüssel codiert. Man müsste die Lösungen haben, um hineinzukommen. Helmuts Bewegungen waren andererseits leicht zu verfolgen. Er war vor zehn Wochen in Pythagoras gewesen, der Spiegelstation, die aus dem Orbit gestoßen worden war. Und in Senzeni Na zwei Wochen vor Johns Besuch. Und dennoch hatte niemand dort sein Auftreten erwähnt.

In jüngster Zeit war er gerade von dem Bergbaukomplex zurückgekehrt, der an einer Stelle namens Bradbury Point eingerichtet wurde. Zwei Tage später reiste John ab, um ihn zu besuchen.


Bradbury Point lag etwa achthundert Kilometer nördlich von Burroughs an der östlichsten Stelle von Nilosyrtis Mensae. Die Mensae waren eine Reihe langer Mesas, die wie Inseln der südlichen Hochländer in dem Flachland der nördlichen Ebenen aufragten. Man hatte unlängst festgestellt, dass die Mesa-Inseln von Nilosyrtis ein reiches metallogenes Gebiet darstellten, mit Lagerstätten von Kupfer, Silber, Zink, Gold, Platin und anderen Metallen. Konzentrationen von Erzen wie diese hatte man an mehreren Stellen im so genannten Großen Steilhang entdeckt, wo die südlichen Hochländer zu den nördlichen Niederungen abfielen. Einige Areologen gingen so weit, das ganze Gebiet des Steilhangs zu einer metallogenen Provinz zu erklären, die den Planeten wie die Naht auf einem Baseball umgab.

Das war ein anderes Faktum, das sich zu dem großen Nord-Süd-Mysterium fügte und natürlich seine besondere Aufmerksamkeit erregte. Ausgrabungen, begleitet von intensiven areologischen Studien, wurden von Wissenschaftlern durchgeführt, die für UNOMA arbeiteten und, wie John herausfand, als er die Arbeitsakten neuer Ankömmlinge nachprüfte, für die Transnationalen, die alle nach Hinweisen suchten, die sie in die Lage versetzen würden, noch mehr lokale Lagerstätten zu finden. Aber selbst auf der Erde verstand man die Geologie der Mineralbildung noch nicht so recht; und darum enthielten solche Vermutungen immer noch große Zufallselemente. Und auf dem Mars war das noch mysteriöser. Die kürzlichen Funde auf dem Großen Steilhang waren größtenteils zufällig gewesen, und erst jetzt wurde die Gegend zu einem Brennpunkt des Schürfens.

Die Entdeckung des Bradbury-Komplexes hatte diese Jagd beschleunigt; und er erwies sich als so groß wie die größten Komplexe auf der Erde, vielleicht vergleichbar dem Bushveldt-Komplex von Azania. Also gab es einen Goldrausch in Nilosyrtis. Und Helmut Bronski hatte die Szene besucht.

Diese erwies sich als klein und rein zweckmäßig, ein bloßer Anfang. Ein Kernreaktor und einige Raffinerien, dicht bei einer ausgehöhlten, von einem Habitat erfüllten Mesa. Die Minen waren im Flachland zwischen Mesas verstreut. Boone fuhr bis zum Habitat hinauf, koppelte an der Garage an und kroch dann durch die Schleusen. Drinnen wurde er von einem Empfangskomitee begrüßt und in einen mit Fenstern versehenen Konferenzraum geführt, wo er sprechen sollte.

Sie sagten, sie wären in Bradbury etwa dreihundert Personen, alles Angestellte von UNOMA und ausgebildet von der transnationalen Shelalco. Als sie mit John einen kleinen Rundgang machten, stellte er fest, dass sie eine Mischung aus früheren Südafrikanern, Australiern und Amerikanern bildeten, alle glücklich, ihm die Hand zu schütteln. Ungefähr dreiviertel waren Männer, blass und sauber, die mehr wie Labortechniker aussahen als die geschwärzten Trolle, an die er dachte, wenn er das Wort Bergarbeiter hörte. Die meisten arbeiteten mit Zweijahreskontrakten, wie sie ihm sagten, und hielten sich auf dem laufenden über die noch verbliebene Zeit — nach Wochen oder sogar Tagen. Sie betrieben die Minen hauptsächlich durch Fernsteuerung und machten ein entsetztes Gesicht, als Boone darum bat, in eine Mine einzufahren, um sich umzuschauen. Einer sagte: »Es ist bloß ein Loch.« Boone starrte sie arglos an, und nach kurzem Zögern brachten sie eine Begleitmannschaft für ihn zusammen.

Sie brauchten zwei Stunden, in die Schutzanzüge zu steigen und aus einer Schleuse hinauszukommen. Sie fuhren an den Rand einer Mine und dann auf einer Rampenstraße in eine terrassierte ovale Grube von etwa zwei Kilometern Länge. Dort stiegen sie aus und folgten John, als er herumging. Umgeben von großen robotischen Bulldozern, Abraumlastern und Bodenräumern waren die Gesichtsscheiben seiner vier Begleiter ganz Auge — auf der Hut wegen eines wildgewordenen Behemoths, wie John meinte. Er war über ihre Furchtsamkeit erstaunt. Plötzlich erkannte er, dass der Mars auch nur eine andere Version einer harten Arbeit sein konnte, eine höllische Kombination von Sibirien, dem Innern von Saudi Arabien, dem Südpol im Winter und Nouy Mir.

Oder vielleicht hielten sie es einfach für gefährlich, wenn sich da ein Mensch aufhielt. Das schreckte ihn auf. Ohne Zweifel hatten sie alle von dem von der Straße gesprengten Abraumlaster gehört. Vielleicht war es bloß das. Aber könnte es noch mehr sein? Waren diese Leute auf etwas gefasst, das er nicht wusste? Als er darüber eine Weile nachdachte, fand John, dass er seine Augen an die Glasscheibe presste. Er hatte sich den fallenden Lastwagen als einen Unfall vorgestellt oder höchstens etwas, das nur einmal passieren konnte. Aber seine Bewegungen waren leicht zu verfolgen. Jedermann wusste, wo er war. Und jedes Mal, wenn man ins Freie ging, war nur ein Schutzanzug dazwischen, wie man zu sagen pflegte. Und in einer Grube gab es massenhaft Behemoths …

Aber sie kamen ohne einen Unfall zurück. Und an diesem Abend hatten sie das übliche Bankett zu seinen Ehren, eine Party, bei der viel getrunken wurde, mit erheblichem Konsum von Omegendorph und mit lauten rauen Reden. Eine Schar junger, zäher Ingenieure, die sich freuten, dass John Boone wirklich ein prächtiger Kumpel auf einer Party war. Eine recht verbreitete Reaktion unter Neuankömmlingen, besonders jüngeren Männern. John plauderte munter mit ihnen und ließ es sich Wohlergehen. Seine Erkundigungen streute er — ziemlich unmerklich, wie er meinte — in den Gesprächsstrom ein. Sie hatten nicht von dem Cojoten gehört, was interessant war, da sie von dem Großen Mann und der verborgenen Kolonie wussten. Offenbar gehörte der Cojote nicht zu solcher Art von Themen. Er war ein König für Insider, den nur einige der Ersten Hundert kannten, soweit John beurteilen konnte.

Die Bergleute hatten aber kürzlich einen ungewöhnlichen Besuch gehabt. Eine arabische Karawane war vorbeigekommen, die sich auf dem Rand von Vastitas Borealis bewegte. Und sie sagten, die Araber hätten behauptet, von einigen der verlorenen Kolonisten besucht worden zu sein, wie sie die nannten.

»Interessant«, sagte John. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass Hiroko oder jemand ihrer Gruppe sich selbst offenbaren würde, aber wer konnte das sagen?

Er könnte sich ebenso daran machen, es herauszufinden. Er hatte ohnehin in Bradbury Point einiges zu tun. Sehr wenig Detektivarbeit konnte, wie er sich sagte, geleistet werden, ehe ein Verbrechen vorkam. Also verbrachte er noch einige weitere Tage damit, dass er die Bergbauarbeiten beobachtete. Aber das erhöhte nur seinen Schock über das Ausmaß des Vorhabens, wie viel robotische Bodenräumer wegschaffen konnten. »Was werdet ihr mit all dem Metall machen?« fragte er, nachdem er einen Blick in einen anderen großen Tagebau geworfen hatte, der fünfundzwanzig Kilometer von dem Habitat entfernt lag. »Es zur Erde schaffen, würde mehr kosten, als es wert ist, nicht wahr?«

Der Leiter der Arbeiten, ein schwarzhaariger Mann mit einem Adlergesicht, grinste. »Wir werden es behalten, bis es mehr wert ist. Oder bis sie diesen Weltraumlift bauen.«

»Glaubt ihr daran?«

»O ja. Das Material ist hier — Graphitfäden, verstärkt mit Diamantspiralen. Auf der Erde so etwas zu bauen, ist schwierig. Hier wäre es erheblich leichter.«

John schüttelte den Kopf. An diesem Nachmittag fuhren sie eine Stunde lang ins Habitat zurück, vorbei an neuen Gruben und Schlackenhalden in Richtung auf die entfernte Rauchfahne der Raffinerien auf der anderen Seite der bewohnten Mesa. Er war es gewohnt, Land zu sehen, das von Bautätigkeit zerwühlt war — aber dies hier … Es war erstaunlich, was ein paar hundert Leute ausrichten konnten. Natürlich war es die gleiche Technik, die es Sax ermöglichte, eine vertikale Stadt von der vollen Höhe des Echus-Aus-gucks zu bauen, und die es ermöglichte, alle die neuen Städte so rasch zu errichten. Aber dennoch — eine solche Verwüstung anzurichten, nur um Metalle herauszureißen, bestimmt für den unersättlichen Bedarf der Erde …


Am nächsten Tag erteilte er dem Leiter der Arbeiten teuflisch strenge Sicherheitsanweisungen, die zwei Monate lang eingehalten werden sollten. Dann fuhr er los auf den vom Wind verwehten Spuren der arabischen Karawane und folgte ihnen nach Norden und Osten.


Es stellte sich heraus, dass Frank Chalmers mit dieser arabischen Karawane reiste. Aber der hatte noch von keinem Besuch durch Hirokos Leute etwas gehört oder gesehen; und keiner von den Arabern wollte zugeben, dass er es gewesen war, der diese Story in Bradbury Point erzählt hätte. Also eine falsche Spur. Oder aber eine, die zu verwischen Frank den Arabern behilflich war. Und wie würde John das in diesem Falle herausfinden? Obwohl die Araber erst unlängst auf dem Mars angekommen waren, waren sie ohne Zweifel schon Franks Verbündete. Er lebte mit ihnen, er sprach ihre Sprache und war jetzt natürlich der ständige Vermittler zwischen ihnen und John. Keine Chance für eine unabhängige Nachforschung außer dem, was Pauline in den Archiven ausrichten konnte. Aber dazu brauchte sie nicht mit der Karawane zu reisen. Nichtsdestoweniger reiste John eine Weile mit ihr, während sie durch das große Dünenmeer zog, und beschäftigte sich mit Areologie und etwas Mutung. Frank war selbst erst seit kurzer Zeit da, um mit einem ägyptischen Freund zu sprechen. Er war zu beschäftigt, um sich irgendwo länger aufzuhalten. Sein Amt als US-Minister machte ihn ebenso zu einem Globetrotter wie John; und ihre Wege kreuzten sich recht oft. Frank hatte es geschafft, seine Position als Chef des amerikanischen Ministeriums inzwischen durch drei Amtsperioden zu behaupten, obwohl es ein Kabinettsposten war. Eine beachtliche Leistung, selbst ohne Berücksichtigung seiner Entfernung von Washington. Und so beaufsichtigte er jetzt die eingehenden Investitionen der in Amerika angesiedelten Transnationalen — eine Verantwortung, die ihm wahnsinnige Überstunden und eine Macht einbrachte, dass er John so etwas wie die geschäftliche Version von Sax erschien, immer unterwegs, immer mit den Händen gestikulierend, als ob er die Musik zu seinen Reden dirigierte, die sich im Laufe der Jahre zu einer rasenden kommerziellen Rhapsodie entwickelt hatte. Sein ständiger Refrain lautete: »Ich muss einen Besitz auf der großen Böschung abstecken, ehe die Transnats und die Deutschen alles wegschnappen. Eine Menge Arbeit!« Das sagte er oft und zeigte zur Illustration auf den kleinen Globus, den er mit sich führte. »Schaut auf eure Moholes, in die ich in der letzten Woche gerade eingestiegen bin. Eins nahe dem Nordpol, drei in den sechziger Breiten im Norden und Süden, vier längs des Äquators und vier in Nähe des Südpols, alle hübsch westlich von vulkanischen Erhebungen platziert, um ihre Aufwinde einzufangen. Das ist schön.« Er ließ den Globus rotieren, und die blauen Punkte, welche die Gruben bezeichneten, verschwammen kurz zu blauen Linien. »Es ist gut zu sehen, dass ihr endlich etwas Nützliches macht.«

»Endlich.«

»Seht, hier ist die neue Wohnanlagenfabrik in Hellas. Die stellen größere Einheiten her und in so einem Tempo, dass sie dreitausend Emigranten in Ls = 90 aufnehmen können. Und angesichts der neuen Flotte von Shuttles für Hin- und Rückreise ist das knapp genug.« Er sah Johns Miene und sagte rasch: »Letztlich alles Wärme, John, darum hilft es der Terraformung mit mehr als bloß Geld und Arbeitskraft. Darüber sollte man nachdenken.«

»Überlegst du dir überhaupt, was aus all dem werden wird?« fragte John.

»Was meinst du damit?«

»Das weißt du genau: Diese Überschwemmung an Menschen und Gerät, während auf der Erde die Dinge verkommen.«

»Auf der Erde verkommen immer Dinge. Daran solltest du dich inzwischen gewöhnt haben.«

»Na ja, aber wem wird das hier oben gehören? Wer wird das alles bezahlen?«

Frank zog ein Gesicht über Johns Naivität. Ein Blick auf seine Grimasse sagte John alles, den ganzen Komplex von Widerwillen, Ungeduld und Belustigung. Ein Teil von John war über diese rasche Erkenntnis erfreut. Er kannte seinen alten Freund besser, als er je ein Mitglied seiner Familie gekannt hatte, so dass das dunkle Gesicht mit den blassen Augen, das ihn ansah, wie das eines Bruders war, eines Zwillings, den er seit je gekannt zu haben schien. Andererseits war er über Frank wegen seiner Herablassung verärgert. »Die Leute fragen danach. Nicht nur ich und nicht bloß Arkady. Du kannst es nicht einfach ignorieren und so tun, als wäre es eine blöde Frage, als ob nichts entschieden werden müsste.«

Frank sagte brüsk: »Die UN entscheiden. Das sind zehn Milliarden gegenüber zehntausend von uns. Das ist ein Verhältnis von einer Million zu eins. Wenn du darauf Einfluss nehmen wolltest, hättest du der UNOMA-Manager werden sollen, wie ich dir gesagt habe, als sie diese Position geschaffen haben. Aber du hast nicht auf mich gehört. Du hast einfach nur die Achseln gezuckt. Du hättest wirklich etwas tun können, aber was bist du jetzt? Der Assistent von Sax für Öffentlichkeitsarbeit.«

»Und Entwicklung und Sicherheit und Angelegenheiten der Erde und der Moholes.«

»Wie ein Strauß!« erwiderte Frank bissig. »Mit dem Kopf in einem Loch! Los, gehen wir essen!«

John stimmte zu, und sie begaben sich zum größten Rover der Araber, der als Kantine eingerichtet war. Es gab Lammbraten und Joghurt mit Dill, delikat und exotisch. Aber John war immer noch durch Franks Ärger irritiert, der ständig an ihm zehrte. Die alte Rivalität war so stark wie eh und je. Und keine Routine als Erster Mann würde Franks hochnäsiger Arroganz Abbruch tun.

Als daher Maya Toitovna am nächsten Tag auf ihrem Weg nach Acheron aufkreuzte, drückte John sie länger an sich, als er es sonst getan hätte. Und als das Abendessen vorbei war, vergewisserte er sich, dass sie die Nacht in seinem Rover verbringen würde — eine Sache besonderer Höflichkeit, eines gewissen Lachens, eines gewissen Blicks, des fast zufälligen Aneinanderstreifens der Arme, als sie da standen und ihre Sorbets löffelten und mit den frohen Menschen der Karawane sprachen, die Maya faszinierend fanden … Ihr ganzer alter Code von Versöhnung und Verführung, wie er im Laufe der Jahre entstanden war. Und Frank konnte bloß zusehen mit einem Schafsgesicht, während er mit seinen ägyptischen Freunden sprach.

Und in dieser Nacht, als John und Maya sich in Johns Roverbett liebten, richtete John sich kurz von ihr auf, sah auf ihren weißen Körper hinab und dachte: Das hatte nun der Kumpel Frank von seiner politischen Macht! Diese ausdruckslose Miene hatte alles gesagt. Das wilde Verlangen nach Maya gab es immer noch und brannte noch immer. Frank wäre, wie die meisten Männer in der Karawane, in diesem Moment gern an Johns Stelle gewesen. Ein paar Mal war ihm das zweifellos gelungen. Aber nicht, wenn John da war. Nein, heute Nacht würde Frank gewahr werden, woraus wahre Macht bestand.

Abgelenkt durch solche Bosheit brauchte John einige Zeit, um Maya echte Aufmerksamkeit zu widmen. Es war fast fünf Jahre her, seit er und sie miteinander geschlafen hatten; und in der Zwischenzeit hatte er verschiedene andere Partnerinnen gehabt, und er wusste, dass sie einige Zeit mit einem Ingenieur in Hellas zusammengelebt hatte. Es war eigenartig, wieder anzufangen, da sie einander intim kannten und dennoch nicht so recht. Ihr sich drehendes Gesicht schimmerte unter ihm in dem schwachen Licht, Schwester und Fremde, Schwester und Fremde … Dann geschah etwas und veränderte sich in ihm. Alle äußeren Angelegenheiten fielen ab, alle jene Spiele. Etwas in ihrem Gesicht, in der Art, wie sie ganz da war und wie sie ihm ihr ganzes Selbst hingeben konnte, wenn sie sich liebten. Er kannte keine andere, die ganz so war.

Und so entbrannte die alte Flamme wieder, zunächst unsicher, als ob es sie bei ihrem ersten Liebesspiel überhaupt nicht gegeben hätte. Aber dann, nach einer Stunde ruhigen Gesprächs, hatten sie angefangen, sich zu küssen, rollten sich zusammen, und plötzlich brannte es, und sie waren mitten drin. Wie üblich durch Maya entflammt, musste er zugeben. Sie zwang ihn zur Aufmerksamkeit. Sex war für sie (wie es für John zu sein neigte) nicht irgendeine reizvolle sportliche Betätigung; es war für sie eine große Leidenschaft, ein transzendenter Seinszustand, und sie war wie eine Tigerin, wenn sie in Schwung kam, dass sie ihn stets überraschte, aufweckte, auf ihr Niveau hob und daran erinnerte, was Sex sein konnte. Und es war wundervoll, wieder daran erinnert zu werden und das wieder zu erfahren — wirklich wundervoll. Omegendorph war nichts dagegen. Wie konnte er vergessen haben, warum wanderte er ständig von ihr fort, als ob sie nicht irgendwie unersetzlich wäre? Er presste sie an sich, und sie verschlangen sich ineinander, bissen einander, keuchten und stöhnten. Sie kamen zusammen wie früher schon so oft. Maya zog ihn mit sich über die Grenze. Ihr Ritual.

Und selbst danach, als sie noch ein wenig plauderten, fühlte er sich viel mehr zu ihr hingezogen. Er hatte damit angefangen, bloß um Frank zu ärgern, das stimmte. Sie war ihm völlig gleichgültig gewesen. Aber jetzt, als er an ihrer Seite lag, fühlte er, wie sehr er ihre Anwesenheit in den vergangenen fünf Jahren vermisst hatte, und wie leer sein Leben gewesen war. Neue Gefühle — die überraschten ihn immer. Er hatte geglaubt, zu alt dafür zu sein, und dass er mehr oder weniger aufgehört hatte, sich zu verändern. Und dann pflegte plötzlich etwas zu passieren, und oft, wenn man über die Jahre zurück dachte, war dieses Etwas eine Begegnung mit Maya gewesen …

Sie war aber immer noch dieselbe Maya Toitovna: quecksilbrig, voller eigener Gedanken und Pläne, voll von sich selbst. Sie hatte keine Ahnung, was John hier draußen auf den Dünen machte und wäre nie auf den Gedanken gekommen zu fragen. Und sie würde ihn in Stücke reißen, wenn er sich zufällig ihrer Laune widersetzte. Das konnte er an der hitzigen Haltung ihrer Schultern erkennen, als sie zur Toilette tapste. Aber das wusste er schon alles, das war ein alter Hut seit den ersten Jahren in Underhill; und die reine Vertrautheit damit war schon angenehm. Sogar ihre Reizbarkeit machte Spaß. Wie Frank und sein Zorn. Nun ja, er wurde alt, und sie waren eine Familie. Er musste fast lachen. Er sagte beinahe etwas, um sie explodieren zu lassen, überlegte es sich dann aber anders. Es genügte, das nur zu wissen, und bedurfte keiner weiteren Demonstration. Um Gottes willen! Bei diesem Gedanken lachte er, und sie lächelte, als sie es hörte, und kam wieder ins Bett und stieß ihn vor die Brust. »Du lachst wieder über mich, wie ich sehe! Das ist wegen meines Hintern, nicht wahr?«

»Du weißt, dass dein Po perfekt ist.« Sie stupste ihn wieder, durch das gekränkt, was sie für eine grobe Lüge hielt; und ihr Gerangel zog sie wieder zurück in die Realität von Haut und Salz, in die Welt des Sex. Irgendwann in dem langen, lässigen Techtelmechtel ertappte er sich bei dem Gedanken: Ich liebe dich, du wilde Maya, ich liebe dich wirklich1. Das war ein beunruhigender und gefährlicher Gedanke. Nicht, dass er sich getrauen würde, ihn auszusprechen, aber er fühlte sich wahr an.

Als sie dann einige Tage später fortging, um die Acherongruppe zu besuchen, und ihn bat, sich dort mit ihr zu treffen, war er erfreut. »Vielleicht in ein paar Monaten.«

»Nein, nein.« Ihr Gesicht war ernst. »Komm früher, ich möchte dich dort eher bei mir haben.«

Als er dann in einer Laune zusagte, grinste sie wie ein Mädchen, das ein Geheimnis hütet. »Du wirst es nicht bereuen.« Mit einem Kuss war sie verschwunden und fuhr nach Süden, um in Burroughs den Zug nach Westen zu nehmen.

Danach war die Aussicht geringer denn je, von den Arabern etwas zu erfahren. Er hatte Frank gekränkt, und die Araber schlossen die Reihen um ihren Freund dichter, was nur richtig war. Sie sagten: »Eine verborgene Kolonie? Was ist das?« Er seufzte, gab es auf und beschloss aufzubrechen. Er belud seinen Rover am Abend vor der Abreise (die Araber waren pedantisch, seine Behälter mit Vorräten aufzufüllen) und überlegte, was er bislang hinsichtlich seiner Untersuchung der Sabotagen erreicht hatte. Sherlock Holmes war bis jetzt gewiss nicht gefährdet. Aber noch schlimmer: Es gab jetzt eine ganze Gesellschaft auf dem Mars, die für ihn von Grund auf undurchdringlich war. Muslime — was waren die genau? Er befragte Pauline an jenem Abend, nachdem er mit Beladen fertig war. Dann ging er wieder zu seinen Gastgebern und beobachtete sie so genau, wie er vermochte, und stellte die ganze Nacht Fragen … Er wusste, dass Fragen zu stellen der Schlüssel zu den Herzen der Menschen war, unendlich viel nützlicher als Schlauheit. Aber in diesem Fall schien es überhaupt keinen Unterschied zu machen. Cojote? War das eine Art wilder Hund?

Enttäuscht verließ er am nächsten Morgen die Karawane und fuhr nach Westen an den südlichen Rand des Dünenmeers. Es würde eine lange Reise werden, um Maya zu treffen, fünftausend Kilometer eine Düne nach der andern. Aber er zog es vor zu fahren, anstatt sich nach Burroughs zu begeben und die Magnet-Schwebebahn zu benutzen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Und es war jetzt eine richtige Angewohnheit, quer durchs Land zu fahren oder Gleiter zu fliegen — wegzukommen und sich langsam über das Land zu bewegen. Er war jetzt schon seit Jahren unterwegs, reiste kreuz und quer durch die nördliche Hemisphäre und machte lange Abstecher in den Süden. Er inspizierte Moholes oder erwies Sax oder Helmut oder Frank Gefälligkeiten, sah sich für Arkady irgendwo um oder zerschnitt Bänder bei irgendeiner Eröffnung — einer Stadt, einer Zisterne, einer Wetterstation, einer Mine, eines Moholes; und dabei musste er immer reden, öffentlich oder privat, zu Fremden, alten Freunden, neuen Bekannten, fast so, wie Frank es tat, und das alles im Bemühen, die Leute auf dem Planeten dafür zu inspirieren, einen Weg zu finden, um die Geschichte zu vergessen und eine neue funktionierende Gesellschaft aufzubauen. Ein wissenschaftliches System zu schaffen, das für den Mars und seine Besonderheiten entworfen wäre, fair, gerecht und rational und lauter solche guten Dinge. Den Weg zu einem neuen Mars zu weisen!

Aber bei jedem Jahr, das verging, sah es weniger so aus, als ob das passieren würde, wie er es vorausgeschaut hatte. Ein Ort wie Bradbury Point zeigte, wie schnell sich die Dinge änderten, und Leute wie die Araber bestätigten diesen Eindruck. Die Ereignisse gerieten ihm außer Kontrolle und noch mehr — außer Kontrolle von irgend jemandem. Es gab keinen Plan. Er rollte mit Autopilot nach Westen, auf und ab über eine Düne nach der anderen, ohne etwas zu sehen, tief versunken in einem Versuch herauszufinden, was Geschichte eigentlich war und wie sie funktionierte. Und als er so Tag für Tag dahinfuhr, schien es ihm, als ob die Geschichte ein riesiges Ding wäre, das immer jenseits des engen Horizonts läge, unsichtbar — außer durch seine Wirkungen. Wenn man nicht hinschaute, geschah es — eine unergründliche Vielfalt von Ereignissen, die, obwohl außer Kontrolle, alles bestimmte. Schließlich war er doch schon ganz seit dem Anfang hier! Er selbst war der Anfang gewesen, die erste Person, die auf diese Welt den Fuß gesetzt hatte. Und dann war er gegen alle Wahrscheinlichkeit zurückgekehrt und hatte geholfen, sie vom ersten Federstrich an zu bauen! Aber jetzt wirbelte sie allem zum Trotz von ihm weg. Wenn er über diese Tatsache nachdachte, wurde er von Zweifeln und manchmal einer jähen wilden Frustration ergriffen. Zu denken, dass das ganze Ding sich beschleunigte, nicht nur jenseits seiner Kontrolle, sondern auch jenseits seiner Fähigkeit, es zu begreifen! Das war nicht richtig. Er musste dagegen kämpfen.

Aber wie wohl? Eine Art sozialer Planung … Gewiss müssten sie die bekommen. Dieses planlose Herumstolpern unter Missachtung selbst des dürftigen Plans, den man zu Beginn mit dem Mars-Abkommen aufgestellt hatte … Nun gut, Gesellschaften ohne einen Plan, das war bislang Geschichte. Aber Geschichte war bislang ein Alptraum gewesen, ein riesiges Kompendium von Beispielen, die man vermeiden sollte. Nein, sie brauchten einen Plan. Sie hatten hier die Chance für einen Neubeginn. Sie brauchten eine Vision. Helmut, der aalglatte Funktionär, Frank mit seiner zynischen Akzeptanz des Status quo, als ob sie in einer Art Goldrausch lebten — Frank war im Unrecht. Unrecht wie gewöhnlich!

Aber sein eigenes Umhersausen war wohl auch falsch. Er hatte nach der unausgesprochenen Theorie gearbeitet, dass er, wenn er nur mehr von dem Planeten sehen und zu mehr als einer Person sprechen würde, es irgendwie (ohne allzu scharf nachzudenken) hinkriegen würde, dass seine holistische Sicht dann von ihm zu allen anderen überströmen, sich unter allen neuen Siedlern verbreiten und die Dinge ändern könnte. Jetzt war er sich ziemlich sicher, dass dieses Gefühl naiv gewesen war. Es gab jetzt so viele Leute auf dem Planeten, dass er nie hoffen konnte, mit ihnen in Verbindung zu kommen und der Künder aller ihrer Hoffnungen und Wünsche zu werden. Und nicht nur das. Nur wenige der Neuankömmlinge schienen den Ersten Hundert hinsichtlich ihrer Gründe für das Kommen besonders ähnlich zu sein. Nun, das stimmte nicht ganz. Es kamen immer noch Wissenschaftler her und Leute wie die Straßen bauenden Schweizer Zigeuner. Aber er kannte sie nicht so wie die Ersten Hundert und würde sie auch nie so kennen. Diese kleine Schar hatte ihn wirklich geformt. Sie hatten seine Ansichten und Ideen gebildet. Sie waren seine Familie, und er vertraute ihnen. Und er brauchte ihre Hilfe jetzt mehr denn je. Vielleicht war es das, was die plötzlich neue Intensität seiner Gefühle für Maya erklärte. Und vielleicht war es auch das, was ihm so an Hiroko gefiel. Er wollte mit ihr sprechen, er brauchte ihre Hilfe! Und sie hatte sie alle verschmäht.


Vlad und Ursula hatten ihren biotechnischen Komplex auf eine flossenartige Felsleiste in den Acheron Fossae verlegt, einen schmalen Grat, der wie der Turm eines großen halb getauchten U-Boots aussah. Sie hatten den Oberteil davon wie mit Waben ausgehöhlt, die von der einen Kante zur anderen reichten. Manche Räume waren ein Kilometer weit und hatten auf beiden Seiten gläserne Wände. Auf der Südseite blickten die Fenster auf Olympus Mons, der etwa sechshundert Kilometer entfernt war. Nach Norden schauten sie hinunter auf die blaßbraunen Sandflächen von Arcadia Planitia.

John fuhr ein breites Band zum unteren Rand des Grats hinauf und schleuste sich in der Garage ein. Dabei merkte er, dass der Boden südlich der Siedlung klumpig war mit Haufen von etwas, das wie geschmolzener brauner Zucker aussah. »Eine neue Art kryptogamer Kruste«, sagte Vlad, als John ihn danach fragte. »Eine Symbiose von Cyanobakterien und Floridaplattformbakterien. Diese Plattformbakterien gehen sehr tief und verwandeln die Sulfate im Gestein zu Sulfiden, die dann eine Variante von Microcolens ernähren. Die obersten Schichten davon wachsen in Filamenten, die sich in großen dendritischen Gebilden an Sand und Ton heften. Sie sind wie kleine Wald-Sylvanole mit wirklich langen bakteriellen Wurzelsystemen. Es sieht so aus, als ob diese Wurzelsysteme durch den Regolith allmählich bis zum Urgestein hinunterdringen und dabei den Permafrost schmelzen.«

»Und ihr habt dieses Zeug freigelassen?« fragte John.

»Sicher. Wir brauchen doch etwas, um den Permafrost kaputtzumachen.«

»Gibt es etwas, das es verhindert, sich über den ganzen Planeten auszubreiten?«

»Nun, es hat das übliche Set von Selbstmordgenen für den Fall, dass es anfangen sollte, den Rest der Biomasse zu überwältigen; aber es hält sich an seine Nische …«

»Oha!«

»Wir denken, es ist nicht unähnlich den ersten Lebensformen, die die Kontinente der Erde bedeckt haben. Wir haben nur seine Wachstumsgeschwindigkeit erhöht und seine Wurzelsysteme verstärkt. Ich habe den komischen Gedanken, dass es zunächst die Atmosphäre abkühlen wird, auch wenn es unter der Oberfläche Wärme bildet. Denn es wird die chemische Verwitterung des Gesteins tatsächlich beschleunigen; und alle diese Reaktionen absorbieren CO2 aus der Luft, so dass der Luftdruck sinken wird.«

Maya war heraufgekommen und drückte zur Begrüßung John fest an sich. Dann sagte sie: »Werden die Reaktionen aber nicht ebenso schnell Sauerstoff freisetzen, wie sie Kohlendioxid binden, und dadurch den Druck hoch halten?«

Vlad zuckte die Achseln. »Vielleicht. Wir werden sehen.«

John lachte. »Sax pflegt langfristig zu denken. Vielleicht wird es ihn freuen.«

»O ja. Er hat die Freigabe genehmigt. Und er wird im Frühling wieder herkommen, um es zu studieren.«

Sie speisten in einem Saal hoch auf dem Grat, dicht unter dem Kamm. Oberlichter gingen auf das Gewächshaus ganz oben, und Fenster liefen die Nord- und Südwände entlang. Bambusbüsche füllten die Wände in Ost und West. Alle Bewohner von Acheron waren hier zum Dinner versammelt. Sie hielten wie auch in vieler anderer Hinsicht an einer Gewohnheit aus Underhill fest. Die Unterhaltung an Johns und Mayas Tisch war weitläufig, kam aber immer wieder auf die laufenden Arbeiten zurück. Dazu gehörte die Lösung von Problemen, die durch die Notwendigkeit entstanden waren, Sicherheitsmaßnahmen bei allen Genprodukten einzubauen, die sie freiließen. Doppelte Selbstmordgene in jedem solchem grünäugigen Ungeheuer war eine Praxis, die die Acherongruppe von sich aus schon initiiert hatte; und das sollte jetzt als UN-Gesetz codifiziert werden. »Das ist alles ganz schön und gut für legale Erzeugnisse«, sagte Vlad. »Wenn aber einige Narren selbst eigenmächtig etwas probieren und loslassen, könnten wir in arge Schwierigkeiten geraten.«

Nach dem Essen sagte Ursula zu John und Maya: »Da ihr nun einmal hier seid, solltet ihr euren Gesundheitstest absolvieren. Das ist bei euch beiden schon ziemlich lange her.«

John, der solche Untersuchungen und überhaupt jegliche medizinische Betreuung hasste, zögerte. Aber Ursula bedrängte ihn, und schließlich gab er nach und suchte einige Tage später ihre Klinik auf. Dort wurde er einer Serie diagnostischer Tests unterzogen, die noch intensiver schienen als üblich. Die meisten wurden von Bildgeräten und Computern mit allzu sehr besänftigenden Stimmen ausgeführt, die ihm sagten, sich so und dann so zu bewegen, was John in völliger Unwissenheit auch tat. Moderne Medizin! Aber danach wurde er von Ursula selbst in durch die Zeit geheiligter Weise gepiekt und gepufft und geklopft. Und als das vorbei war, lag er auf dem Rücken unter einem weißen Laken, während sie neben ihm stand, Datenausgaben studierte und zerstreut vor sich hin summte.

Nach einigen Minuten sagte sie dann: »Du siehst gut aus. Ein paar der üblichen, mit der niedrigen Schwerkraft zusammenhängenden Probleme, aber nichts, mit dem wir nicht zurechtkommen können.«

»Großartig!« sagte John und fühlte sich erleichtert. So war es eben mit solchen Untersuchungen. Jede Auskunft war eine schlechte Nachricht. Man wollte überhaupt keine Neuigkeiten hören. Das war dann eine Art Sieg, und jedes Mal mehr so. Aber doch eine negative Leistung. Ihm war nichts zugestoßen — prima!

»Willst du also die Behandlung haben?« fragte Ursula ihn beiläufig, wobei sie ihm den Rücken zukehrte.

»Behandlung?«

»Das ist eine Art gerontologischer Therapie. Eine experimentelle Prozedur. So etwas wie eine Impfung, aber mit einem DNA-Verstärker. Repariert gebrochene Gewebestränge und stellt die Genauigkeit der Zellteilung in wesentlichem Grade wieder her.«

John stöhnte. »Und was bedeutet das?«

»Nun, du weißt, gewöhnliches Altern wird meistens durch Fehler der Zellteilung bewirkt. Nach einer Anzahl von Generationen, die von Hunderten bis zu Zehntausenden reichen kann, je nachdem, um welche Art von Zellen es sich handelt, werden Reproduktionsfehler häufiger, und alles wird schwächer. Das Immunsystem wird mit als erstes geschwächt, danach andere Gewebe, und schließlich geht etwas schief, oder das Immunsystem wird von einer Krankheit überwältigt. Und das ist es dann.«

»Und du sagst, man kann diese Fehler anhalten?«

»Sie jedenfalls verlangsamen und das reparieren, was schon kaputt ist. Die Zellteilungsfehler entstehen durch Brüche in DNA-Strängen. Also wollen wir DNA-Stränge stärken. Um das zu tun, müssten wir dein Genom lesen und dann eine genomische Bibliothek aus kleinen Segmenten bauen, welche die gebrochenen Stränge ersetzen.«

»Selbstreparatur?«

Sie seufzte. »Alle Amerikaner halten das für spaßig. Jedenfalls führen wir diese Selbstreparaturbibliothek in die Zellen ein, wo sie sich an die ursprüngliche DNA bindet und Brüche verhindert.« Während sie sprach, fing sie an, doppelte und vierfache Spiralen zu zeichnen und glitt unvermeidlich in biotechnisches Fachchinesisch, bis John nur noch die allgemeine Richtung des Argumentes mitbekam, das offensichtlich aus dem Genomprojekt stammte und dem Gebiet genetischer Korrektur von Abnormitäten, mit Anwendungsmethoden aus Krebstherapie und Zellbiologie. Aspekte dieser und vieler anderer verschiedener Verfahren waren von der Acherongruppe kombiniert worden, wie Ursula erläuterte. Und das Resultat sah so aus, dass sie ihn mit Stücken seines eigenen Genoms infizieren könnten, welches in jede Zelle seines Körpers eindringen würde mit Ausnahme von Zähnen, Haut und Haaren. Danach würde er nahezu makellose DNA-Stränge haben, reparierte und verstärkte Stränge, was die Zellteilung in der Folge genauer machen würde.

»Um wie viel genauer?« fragte er und versuchte zu begreifen, was das alles bedeutete.

»Nun, ungefähr so, als wärest du zehn Jahre alt.«

»Du scherzst.«

»Nein, nein. Wir haben es alle mit uns selbst gemacht, etwa um Ls = 10 in diesem Jahr: und so viel wir sagen können, funktioniert es.«

»Hält es für immer an?«

»John, nichts währt für immer.«

»Wie lange dann?«

»Das wissen wir nicht. Wir selbst sind das Experiment. Wir denken, wir werden es herausfinden, wenn wir weitermachen. Es scheint möglich, dass wir die Therapie wiederholen können, wenn die Zellteilungsfehler wieder häufiger auftreten. Falls das erfolgreich ist, könnte es bedeuten, dass man eine beträchtliche Zeit überdauern kann.«

»Wie lange dann etwa?« fragte er hartnäckig.

»Nun, das wissen wir wirklich nicht. Länger, als wir jetzt leben. Das scheint ziemlich sicher. Möglicherweise erheblich länger.«

John starrte sie an. Sie lächelte über seinen Gesichtsausdruck, und er merkte, dass er vor Erstaunen das Kinn hängen ließ. Ohne Zweifel machte er keinen brillanten Eindruck, aber was erwartete sie auch? Es war … es war …

Er suchte mühsam seine herumirrenden Gedanken einzufangen. Er fragte: »Wem habt ihr davon erzählt?«

»Nun, wir haben jeden der Ersten Hundert gefragt, wenn sie uns zu einem Test aufsuchten. Und jeder hier in Acheron hat es versucht. Die Sache ist die: Wir haben nur Methoden kombiniert, die ein jeder hat. Daher wird es nicht lange dauern, bis auch andere sich alles zusammenreimen. Darum schreiben wir es auf für eine Publikation, werden die Artikel aber erst von der Weltgesundheitsorganisation besprechen lassen. Politischer Niederschlag, weißt du.«

»Hm«, sagte John und dachte darüber nach. Die Nachricht von einer auf dem Mars freigesetzten Langlebigkeitsdroge … losgelassen auf die anschwellenden Milliarden auf der Erde — O mein Gott! dachte er. »Ist es kostspielig?«

»Nicht extrem. Das Lesen der Genome ist der teuerste Teil und erfordert Zeit. Aber weißt du, es ist bloß eine Prozedur, die Computerzeit erfordert. Es ist durchaus möglich, dass man einen jeden auf der Erde impfen könnte. Aber das Bevölkerungsproblem ist dort schon jetzt so kritisch. Man müsste eine recht strenge Impfkontrolle einführen, sonst hätte man wirklich schnell die von Malthus heraufbeschworene Realität am Halse. Wir meinten, wir sollten die Entscheidungen lieber den Autoritäten da unten überlassen.«

»Aber es wird sicher etwas nach außen dringen.«

»Ist das wahr? Sie könnten versuchen, das zu unterdrücken. Vielleicht mit einem sehr wirksamen Knebel. Ich weiß nicht.«

»Oha! Aber ihr hier … Ihr habt einfach weitergemacht und es getan?«

»Allerdings.« Sie zuckte die Achseln. »Was sagst du also? Sollen wir es bei dir machen?« »Lass mich das überdenken!«


Er machte einen Spaziergang auf der Kuppe des Grates, auf und ab in dem langen Gewächshaus, das voller Bambus- und Nährpflanzen war. Wenn er nach Westen ging, musste er seine Augen vor der Blendung der nachmittäglichen Sonne schützen, die selbst durch das Glasfilter grell hereinschien. Beim Rückweg nach Osten konnte er auf die zerklüfteten Lavahänge blicken, die sich den Olympus Mons emporzogen. Es war ein kühner Gedanke. Er war 1982 geboren, und was schrieb man jetzt auf der Erde — 2048 oder M-ll, elf lange Marsjahre unter harter Strahlung. Und er hatte fünfunddreißig Monate im Weltraum verbracht, einschließlich dreimal der Strecke zwischen Erde und Mars, was immer noch der Rekord war. Er hatte allein auf diesen Reisen 195 Rem aufgenommen, und sein Blutdruck war niedrig bei ungünstiger Differenz zwischen systolischem und diastolischem Wert; und wenn er schwamm, schmerzten ihn die Schultern, und er fühlte sich sehr erschöpft. Er wurde alt. Ihm waren nicht mehr allzu viele Jahre verblieben, obwohl das ein unangenehmer Gedanke war. Und er hatte viel Vertrauen in die Acherongruppe, die, wie ihm jetzt bewusst wurde, bei ihrer Arbeit locker herumliefen, aßen, Fußball spielten, schwammen und so weiter mit leichtem konzentrierten Lächeln und fröhlich vor sich hin summend. Gewiss nicht so, als wären sie zehn Jahre alt, aber sie strahlten voller Glück, von Gesundheit und noch mehr. Er lachte laut heraus, ging nach Acheron zurück und suchte Ursula. Als sie ihn sah, musste sie auch lachen. »Es ist doch wirklich kein so schwerer Entschluss.«

»Nein.« Er lachte mit ihr zusammen. »Ich meine, was habe ich zu verlieren?«

Also stimmte er zu. Sie hatten sein Genom in ihren Archiven, aber es würde einige Tage dauern, die Sammlung von Repatursträngen zu synthetisieren, sie an Plasmide zu koppeln und Millionen mehr zu klonen. Ursula sagte ihm, er möge in drei Tagen wiederkommen.

Als er wieder in die Gästezimmer ging, war Maya schon da und sah so schockiert aus, wie er sich fühlte. Sie ging nervös von der Anrichte zur Spüle und zum Fenster, rührte Dinge an und schaute sich um, als hätte sie noch nie einen solchen Raum gesehen. Vlad hatte ihr davon erzählt nach ihrer Untersuchung, so wie Ursula es mit John gemacht hatte. »Unsterblichkeitsseuche!« rief sie und lachte eigenartig. »Kannst du dir das vorstellen?«

»Langlebigkeitsseuche«, berichtigte er sie. »Und nein, ich kann es nicht. Nicht wirklich.« Er fühlte sich etwas benommen und stellte fest, dass sie ihm nicht zugehört hatte. Ihre Aufgeregtheit machte ihn nervös. Sie erwärmten Suppe und aßen verstört. Vlad hatte Maya aufgefordert, nach Acheron zu kommen und angedeutet, um was es da ginge. Darum hatte sie darauf bestanden, dass John sie dahin begleiten sollte. Als sie ihm das erzählte, überrieselte ihn ein Hauch von Zuneigung für sie. Als er dicht bei ihr stand, wie sie die Teller wusch und sah, wie ihre Hände beim Sprechen zitterten, fühlte er sich ihr ganz besonders nahe. Es war, als ob sie gegenseitig ihre Gedanken kennen würden, und als ob nach all diesen Jahren angesichts dieser bizarren Entwicklung kein Bedürfnis nach Worten bestünde, sondern nur nach der Anwesenheit des anderen. In dieser Nacht im warmen Dunkel ihres Bettes flüsterte sie heiser: »Wir sollten es heute Abend lieber zweimal machen. Solange wir noch wir selbst sind.«


Drei Tage später erhielten sie beide die Behandlung. John lag auf einer medizinischen Couch in einem kleinen Zimmer auf dem Rücken und starrte auf einen intravenösen Stöpsel in seinem Handrücken. Eine Einspritzung von Nährlösung, wie schon so oft. Nur diesmal fühlte er, wie eine merkwürdige Wärme in seinem Ann aufstieg, seine Brust überflutete und sich in die Beine hinab ergoss. War das real? Bildete er es sich ein? Eine Sekunde lang fühlte er sich im ganzen höchst eigenartig, als ob sein Geist durch ihn geschritten wäre. Danach war ihm bloß sehr heiß. »Könnte ich so heiß sein?« fragte er Ursula besorgt.

Sie sagte: »Zuerst ist es wie ein Fieber. Dann jagen wir einen kleinen Schock durch dich, um die Plasmide in deine Zellen zu stoßen. Danach ist es mehr Frösteln als Fieber, wenn die neuen Stränge sich an die alten binden. Manchmal fühlen sich die Leute richtig kalt.«

Eine Stunde später war ihm ein großer intravenöser Beutel eingeflößt worden. Ihm war immer noch warm, und seine Blase war voll. Sie ließen ihn aufstehen und auf die Toilette gehen. Als er dann zurückkam, wurde er auf etwas festgebunden, das wie eine Kreuzung von Couch und elektrischem Stuhl aussah. Das machte ihm nichts aus. Astronautentraining hatte ihn an alle Apparate gewöhnt. Als der Schock kam, währte er rund zehn Sekunden und fühlte sich an, als ob es in ihm überall juckte. Ursula und die anderen befreiten ihn von dem Apparat. Ursula gab ihm augenzwinkernd einen Kuss voll auf den Mund. Sie warnte ihn noch einmal, dass ihn nach einiger Zeit ein Frösteln überkommen und dass das ein paar Tage anhalten würde. Es war in Ordnung, in Saunas oder Sprudelbädern zu sitzen. Sie empfahl das sogar.


So saßen er und Maya in der Ecke einer Sauna beisammen, eingekuschelt in die durchdringende Wärme, und betrachteten die Körper der anderen Besucher, die weiß herein- und rosa wieder herauskamen. John erschien es wie ein Abbild von dem, was ihnen beiden passierte — mit fündundsechzig rein und mit zehn raus. Er konnte es gar nicht glauben. Es war für ihn immer noch ein sehr schwieriger Gedanke. Er fand seine Gedanken einfach ausgelöscht und seinen Geist betäubt. Falls auch die Gehirnzellen verstärkt wurden, waren seine etwa unerwartet verstopft worden? Er war immer ein holprig langsamer Denker gewesen. Vielleicht war dies in Wirklichkeit bloß seine gewohnte Beschränktheit, die ihm jetzt auffiel, weil er stark bemüht war, mit der Sache klarzukommen und zu verstehen, was sie bedeutete. Konnte es wirklich wahr sein? Konnten sie dem Tod wirklich für einige Jahre, vielleicht sogar einige Jahrzehnte ausweichen?

Sie verließen die Sauna, um zu essen, und danach machten sie kurze Spaziergänge im Gewächshaus auf dem Grat und betrachteten die Dünen im Norden und die chaotische Lava im Süden. Die Aussicht nach Norden erinnerte Maya an das frühe Underhill, wobei das Chaos aus Steinen auf Lunae ersetzt war durch das vom Wind getriebene Fleckenmuster der Dünen Arcadias, als ob ihr Gedächtnis ihre Erinnerungen an jene Zeit aufgearbeitet und besser geordnet hätte, indem sie verblasste Farben von Ocker und Rot zu reichem Zitronengelb gewandelt hatte. Patina der Vergangenheit. John starrte sie neugierig an. Es waren M-ll Jahre her seit jenen ersten Tagen im Anhängerpark; und in den meisten Jahren danach waren sie ein Liebespaar gewesen, mit einer Anzahl (glücklicher) Unterbrechungen und Trennungen natürlich, die durch die Verhältnisse oder noch häufiger ihre Unfähigkeit, miteinander auszukommen, verursacht waren. Aber sie hatten immer wieder von neuem begonnen, wenn die Gelegenheit kam. Und das Ergebnis war, dass sie einander jetzt ziemlich so gut kannten wie ein altes Ehepaar mit weniger unterbrochener Geschichte. Vielleicht sogar noch besser, weil jedes völlig beständige Paar wohl irgendwann hätte aufhören können, einander Aufmerksamkeit zu widmen, während sie zwei bei all ihren Trennungen und Wiedervereinigungen, Kämpfen und Aussöhnungen, einander unzählige Male hatten neu kennen lernen müssen. John hatte etwas in dieser Art zu ihr gesagt; und sie sprachen darüber — das war ein Vergnügen —, und Maya sagte nachdrücklich: »Wir mussten einander ständig Aufmerksamkeit schenken.« Dabei nickte sie mit einer Miene feierlicher Genugtuung in der Gewissheit, dass dies hauptsächlich ihr Werk war. O ja, sie hatten aufgepasst und waren nie in geistlose Routine verfallen. Gewiss, sie stimmten überein, wenn sie in den Bädern saßen oder auf dem Grat spazierten. Dies war eine Kompensation für die Zeit, die sie getrennt verbracht hatten — und mehr als das. O ja, ohne Zweifel kannten sie einander sogar noch besser als jedes alte Ehepaar.

So sprachen sie nun miteinander und versuchten, ihre Vergangenheiten mit dieser fremdartigen neuen Zukunft zu verbinden in der bangen Hoffnung, dass es sich nicht als ein unüberbrückbarer Bruch erweisen würde. Und spät am nächsten Abend, zwei Tage nach der Impfung, als sie nackt allein in der Sauna saßen, ihre Haut noch kühl und ihr Fleisch von Schweiß ganz gerötet, schaute John auf den Körper von Maya, die da neben ihm saß, so real wie ein Fels; und er fühlte, dass eine Glut wie die intravenöse Injektion ihn ganz durchströmte. Er hatte seit der Behandlung nicht viel gegessen, und die braunen und gelben Fliesen, auf denen sie saßen, hatten angefangen zu pulsieren, als ob sie von innen her erleuchtet wären. Licht schimmerte auf jedem Wassertröpfchen, das die Fliesen bedeckte, wie kleine, allenthalben verteilte Lichtpunkte; und Mayas Körper, der über diese funkelnden Fliesen ausgestreckt war, pulsierte vor ihm wie eine rosa Kerze. Sein intensives Dortsein — Präsenz hatte Sax es einmal genannt. Als John ihn etwas über seine religiösen Ansichten gefragt hatte, hatte Sax gesagt: »Ich glaube an Präsenz, an das Hier und Jetzt, an die besondere Individualität eines jeden Augenblicks. Darum will ich wissen, was dies ist.« Jetzt, als er sich an Saxens merkwürdige Worte und seine merkwürdige Religion erinnerte, verstand John ihn endlich. Denn er empfand die Präsenz des Augenblicks wie einen Stein in seiner Hand; und er hatte das Gefühl, als habe er sein ganzes Leben nur gelebt, um diesen Moment zu erreichen. Die Fliesen und die dicke, heiße Luft pulsierten um ihn, als ob er stürbe und wiedergeboren würde. Und das war gewiss der Fall, wenn das, was Ursula und Vlad sagten, wahr wäre. Und da neben ihm, im Prozess der Wiedergeburt, war der rosige Körper von Maya Toitovna, Mayas Körper, den er besser kannte als seinen eigenen. Und nicht nur in diesem Moment, sondern im Laufe der Zeit. Er konnte sich lebhaft daran erinnern, wie er sie zum ersten Mal nackt gesehen hatte, als sie in der Blasenkammer der Ares auf ihn zuschwebte, umgeben von einem Nimbus aus Sternen und dem schwarzen Samt des Raums. Und jede Veränderung in ihr seither war für ihn deutlich zu sehen. Der Übergang von dem Bild in seiner Erinnerung zu dem Körper neben ihm war ein halluzinatorischer Zeitsprung. Ihr Fleisch und ihre Haut verschoben sich, verfielen — und alterten. Sie waren beide älter, gebrechlicher, gewichtiger. So war der Gang der Dinge. Aber wirklich erstaunlich war, wie viel geblieben war, wie sehr sie noch sie selbst waren. Ihm kamen Zeilen eines Gedichts in den Sinn, die Grabinschrift der Scott-Expedition nahe Ross-Station in der Antarktis. Sie waren alle den Hügel emporgestiegen, um gemeinsam das große hölzerne Kreuz zu betrachten. Und darauf waren Zeilen eingeschnitzt gewesen: Vieles ist dahin, aber vieles bleibt … Etwas in dieser Art.

Er konnte sich nicht genau erinnern, zuviel war dahin; es war schließlich schon lange her. Aber sie hatten schwer gearbeitet und gut gegessen; und vielleicht war die Schwere des Mars freundlicher gewesen als die Erdschwere, weil ganz offenkundig war, dass Maya Toitovna noch immer eine sehr schöne Frau war, stark und muskulös. Ihr graues Haar forderte immer noch seinen Blick heraus, ihre Brüste waren immer noch Magnete für sein Auge, völlig verschieden erscheinend, wenn sie auch nur einen Ellbogen verschob, und dennoch in jeder Stellung ihm so völlig vertraut … Es waren seine Brüste, Arme, Rippen und Flanken. Sie war wohl oder übel diejenige Person, die ihm am nächsten stand, ein schönes rosiges Tier und auch für ihn eine Inkarnation von Sex oder Leben selbst — auf dieser kahlen steinigen Welt. Das waren sie nun mit fünfundsechzig, und wenn die Behandlung nicht mehr bewirkte, als sie auf diesem Punkt zu halten sogar für einige zusätzliche Jahre oder (es war immer noch ein Schock) für Dekaden. Für Jahrzehnte? Nun, es war erstaunlich. Absolut zu viel, um es zu fassen. Er musste aufhören, das zu versuchen, oder er würde alle Windungen seines Gehirns ruinieren. Aber konnte es sein? Konnte es wirklich sein? Das schmerzhafte Verlangen aller Liebenden zu allen Zeiten, etwas mehr Zeit beisammen zu sein, imstande zu sein, die Hand auszustrecken, sich zu berühren und die Liebe voll auszukosten …

Ähnliche Gefühle schienen Maya zu bewegen. Sie war in prächtiger Stimmung. Sie beobachtete ihn aus leicht verschleierten Augen mit jenem halben anlockenden Lächeln, das er so gut kannte. Ein Knie hochgezogen und in die Armgrube geschmiegt, nicht ihr Geschlecht zur Schau stellend, aber bequem und entspannt, als ob sie allein wäre … Ja, es ging nichts über Maya, wenn sie gut gelaunt war. Niemand konnte andere Leute damit so sehr und so sicher beeinflussen. Er fühlte einen Schwall von Hingabe für diesen ihren Charakterzug, eine Injektion von Gefühl. Und er legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte. Eros als eine Würze von Agape. Sinnliche und geistige Liebe vereint. Und plötzlich schossen die Worte aus ihm heraus, und er sagte Dinge, die er nie zuvor ausgesprochen hatte: »Lass uns heiraten!« Als sie lachte, tat er das auch und sagte: »Nein, nein, ich meine es ernst. Lass uns heiraten!« Heiraten und wirklich — aber auch wirklich — zusammen alt werden, alles nehmen, was ihnen geschenkte Jahre brachten, und sie zu einem gemeinsamen Abenteuer machen. Kinder haben, zusehen, wie die Kinder Kinder hatten, sehen, wie die Enkelkinder Kinder hatten und die Urenkel … mein Gott, wer wusste, wie lange das dauern wurde? Sie könnten erleben, wie eine ganze Nation von Nachkommen gedieh, Patriarch und Matriarchin werden, eine Art von Adam und Eva des Mars im kleinen. Und Maya lachte bei jeder Äußerung. Ihre Augen waren lebhaft und funkelten vor Zuneigung, Fenster zu einer Seele in sehr, sehr guter Stimmung. Sie sah ihn an und sog ihn auf und sagte: »Etwas dieser Art, ja, so etwas.« Und dann drückte sie ihn fest an sich. »O John, du verstehst es, mich glücklich zu machen. Du bist der beste Mann, den ich je gehabt habe.« Sie küsste ihn, und er fand, dass es trotz der Hitze der Sauna leicht war, den Nachdruck von agape auf eros zu verlegen. Aber jetzt waren sie beide eins, ununterscheidbar, ein großer vereinter Strom von Liebe. »Willst du mich also heiraten und alles?« fragte er, als er die Sauna-Tür verriegelte und sie sich vereinten. Sie sagte mit leuchtenden Augen: »So etwas wie dieses!«, und ihr Gesicht in einem absolut hinreißenden Lächeln erstrahlte, während er sich tiefer und tiefer in sie vergrub, und hätte weinen können vor Glück.


Wenn man erwartet, noch weitere zweihundert Jahre zu leben, benimmt man sich anders, als wenn man nur noch mit zwanzig rechnet.

Dies bewiesen sie sofort. John verbrachte den Winter dort in Acheron am Rande der Nebelkappe aus Kohlendioxid, die jeden Winter über den Nordpol herunterkam. Er studierte mit Marina Tokaeva und ihrer Laborgruppe Areobotanik. Das tat er auf Anweisung von Sax, und weil er es nicht eilig hatte fortzugehen. Sax schien die Suche nach den Saboteuren vergessen zu haben, was John etwas misstrauisch machte. In seiner Freizeit machte er immer noch Versuche mit Pauline und konzentrierte sich auf die Gebiete, über die er vor Acheron gearbeitet hatte, meistens Reiseberichte, sowie Aufzeichnungen über die Arbeiten aller Leute, die in die Gebiete gereist waren, in denen die Sabotageakte stattgefunden hatten. Vermutlich waren eine Menge Leute beteiligt, so dass individuelle Reisen ihm nicht viel sagen konnten. Aber jeder auf dem Mars war von irgendeiner Organisation hergeschickt worden; und durch Nachprüfen, welche Organisationen Leute zu den relevanten Plätzen geschickt hatten, hoffte er auf einige Hinweise zu stoßen. Das war ein mieses Geschäft; und er musste sich auf Pauline verlassen, nicht nur für Statistik, sondern auch für Beratung, was beunruhigend war.

Den Rest der Zeit studierte er einen Zweig der Areobotanik, in dem alle nutzbringenden Ergebnisse mindestens noch Jahrzehnte in der Zukunft lagen. Warum nicht? Er hatte die Zeit und könnte sehr wohl noch die Früchte der Arbeit erleben. Also sah er zu, wie Marinas Gruppe einen neuen Baum entwarf. Er studierte mit ihnen und verrichtete ihre Laborarbeit, wusch Glasgerät ab und dergleichen. Der Baum sollte als Schutzdach für einen vielschichtigen Wald dienen, den sie auf den Dünen von Vastitas Borealis zu züchten hofften. Er beruhte auf dem Genom einer Sequoia; aber sie wollten Bäume haben, die dreimal so groß wären wie die Sequoias, vielleicht zweihundert Meter hoch, mit einem Stamm von fünfzig Metern Durchmesser an der Basis. Die Borke würde die meiste Zeit gefroren sein, und die breiten Blätter, die wahrscheinlich aussahen, als litten sie an der Tabakmosaikkrankheit, sollten imstande sein, die Normalbasis von UV-Strahlung zu absorbieren ohne Schaden für ihre purpurnen Unterseiten. John hielt die Größe der Bäume erst für übertrieben, aber Marina erklärte, dass sie große Mengen von Kohlendioxid aufnehmen könnten, dann den Kohlenstoff binden und den Sauerstoff wieder an die Luft zurückgeben würden. Und sie würden ein eindrucksvolles Bild ergeben, wie sie annahmen. Die zur Wahl stehenden Prototypen an Schösslingen waren erst zehn Meter hoch, und es würde zwanzig Jahre dauern, bis die Gewinner des Wettbewerbs ihre reifen Höhen erreichten. Und vorerst starben noch alle Prototypen in Kübeln. Die atmosphärischen Verhältnisse würden sich noch beträchtlich verändern müssen, ehe sie im Freien überleben könnten. Marinas Labor war der Zeit voraus.

Aber das galt für alle. Dies schien eine Folge der Behandlung zu sein. Dann ergab es Sinn. Längere Experimente und längere (John stöhnte) Untersuchungen. Längere Überlegungen.

Aber in vieler Hinsicht änderte sich nichts. John fühlte sich ziemlich so wie zuvor, nur dass er kein Omegendorph brauchte, um sich gelegentlich aufzuputschen, als ob er eine Anzahl von Kilometern geschwommen oder an einem Nachmittag auf Skiern über Land gefahren wäre oder auch eine Dosis Omegendorph eingenommen hätte. Das hätte jetzt bedeutet, Eulen nach Athen zu tragen. Denn alles glühte.


Wenn er auf dem Grat ging, leuchtete die ganze sichtbare Welt. Stillgelegte Bulldozer, ein Kran wie ein Galgen — er konnte alles endlos lange anschauen. Maya war nach Hellas abgereist, und das spielte keine Rolle. Ihre Beziehungen verliefen wieder wie auf einer Berg- und Talbahn: Eine Menge Zank und Temperamentsausbrüche ihrerseits; aber das erschien alles unwichtig. Er schwebte noch in der Glut und hatte die gleichen Gefühle für sie. Auch Maya schenkte ihm immer noch ab und zu jenen Blick. Er würde sie in ein paar Monaten treffen und sprach mit ihr auf dem Bildschirm. Inzwischen war er über diese Trennung nicht ausgesprochen unglücklich.

Es war ein guter Winter. Er lernte eine Menge über Areobotanik und Biotechnik, und an vielen Abenden nach dem Essen fragte er die Acheronleute einzeln und ernsthaft, wie sie sich eine künftige Marsgesellschaft vorstellten und wie sie betrieben werden sollte. In Acheron führte das gewöhnlich zu ökologischen Erwägungen und möglichen Entartungen der Ökologie. Diese waren für sie kritischer als Politik oder das, was Marina als den › erwarteten, die Entscheidungen treffenden Apparat‹ bezeichnete. Marina und Vlad waren besonders an diesem Thema interessiert, da sie ein System von Gleichungen ausgearbeitet hatten für das, was sie als ›Öko-Ökonomie‹ bezeichneten. Für John klang das immer wie ›Echo-Ökonomie‹ Er hörte gern zu, wenn sie die Gleichungen erläuterten, und stellte ihnen eine Menge Fragen und lernte etwas über Tragkapazität, Koexistenz, Gegenadaptation, Legitimitätsmechanismen und ökologische Effizienz. Vlad sagte immer: »Das ist das einzige reale Maß unseres Beitrags zu dem System. Wenn du unsere Körper in einem Mikrobombenkalorimeter verbrennst, findest du, dass wir ungefähr sechs bis sieben Kilokalorien pro Gramm Gewicht enthalten. Und natürlich nehmen wir eine Menge Kalorien auf, um das unser Leben lang aufrechtzuerhalten. Unser Output ist schwieriger zu messen; denn es kommt nicht auf Raubtiere an, die sich von uns ernähren, wie in den klassischen Gleichungen des Wirkungsgrades. Sondern es ist mehr eine Frage, wie viel Kalorien wir durch unsere Anstrengungen erschaffen oder an künftige Generationen weitergeben. Irgend etwas dieser Art. Und das meiste davon ist naturgemäß sehr indirekt und enthält viel Spekulation und persönliches Urteil. Wenn man sich nicht endlich entschließt, auch nichtphysikalischen Dingen Zahlen zuzuordnen, dann werden Elektriker und Klempner und Reaktorbauer und andere Arbeiter an der Infrastruktur immer als die produktivsten Mitglieder der Gesellschaft gewertet werden, während Künstler und dergleichen als völlig unproduktiv gelten müssten.«

»Könnte vielleicht stimmen«, ulkte John, aber Vlad und Marina ignorierten ihn.

»Für mich besteht jedenfalls ein großer Teil von dem, was Ökonomie ist, darin, dass Menschen willkürlich oder nach Geschmackspunkten nichtnumerischen Dingen numerische Werte zuordnen. Und dann tun sie so, als hätten sie diese Zahlen nicht einfach erfunden. Ökonomie ist in diesem Sinne wie Astrologie; nur dient Ökonomie zur Rechtfertigung der herrschenden Machtstruktur und hat daher unter den Mächtigen viele eifrige Anhänger.«

»Besser konzentrieren wir uns einfach auf das, was wir hier machen«, warf Marina ein. »Die Grundgleichung ist einfach. Leistung ist bloß gleich den freigesetzten Kalorien geteilt durch die eingenommenen Kalorien mal einhundert, um es als Prozent auszudrücken. Im klassischen Sinne der einem Raubtier zuteil werdenden Kalorien waren zehn Prozent der Durchschnitt und zwanzig Prozent hervorragend. Die meisten Raubtiere an der Spitze der Nahrungskette haben mehr als fünf Prozent erreicht.«

»Das ist der Grund, weshalb Tiger Reviere von Hunderten von Quadratkilometern haben«, sagte Vlad. »Räuberhauptleute sind wirklich nicht sehr tüchtig.«

»Also haben Tiger nicht deshalb keine räuberischen Feinde« sagte John, »weil sie so tüchtig sind, sondern weil es die Mühe nicht lohnt.«

»Genau!«

»Das Problem liegt in der Berechnung der Werte«, erklärte Marina. »Wir hatten einfach allen Arten von Aktivitäten bestimmte den Kalorien äquivalente Zahlenwerte zuordnen müssen, um dann von da auszugehen.«

»Aber wir haben doch über Ökonomie gesprochen?« sagte John.

»Aber siehst du nicht, dies ist Ökonomie, ist unsere Öko-Ökonomie! Jedermann sollte seinen Lebensunterhalt gewissermaßen auf eine Berechnung seines realen Beitrags zur menschlichen Ökologie gründen. Alle können ihre ökologische Effizienz steigern durch Bemühungen, die Menge der von ihnen verbrauchten Kilokalorien herabzusetzen. Dies ist das alte Argument des Südens gegen den Energieverbrauch der Industrienationen des Nordens. Dieser Vorwurf hatte eine reale ökologische Basis; denn ganz gleich, wie viel die Industrienationen produzierten, konnten sie in der größeren Gleichung nicht ebenso effizient sein wie der Süden.«

»Sie waren Raubtiere gegenüber dem Süden«, sagte John.

»Ja, und sie werden auch für uns Raubtiere sein, wenn wir sie lassen. Und wie bei allen Raubtieren ist ihr Wirkungsgrad niedrig. Aber hier, siehst du, in diesem theoretischen Zustand von Unabhängigkeit, von dem du sprichst …« — sie grinste über Johns betroffene Miene —, »musst du zugeben, dass dies es letztlich ist, worüber du die ganze Zeit redest, John. Dass laut Gesetz alle Leute im Verhältnis zu ihrem Beitrag zum System entlohnt werden sollten.«

Dmitri kam ins Labor und sagte: »Von jedem nach seinen Fähigkeiten, an jeden nach seinen Bedürfnissen!«

»Nein, das ist nicht dasselbe«, sagte Vlad. »Was es bedeutet, ist: Du bekommst das, wofür du bezahlst.«

»Aber das gibt es doch schon«, sagte John. »Wie unterscheidet es sich von der Ökonomie, die bereits existiert?«

Sie waren sofort alle aufgebracht, und Marina am heftigsten. »Es gibt alle Arten von Scheinarbeit! Unreale Werte werden den meisten Jobs auf der Erde zugeordnet. Die ganze Klasse der transnationalen Exekutive tut nicht, was nicht auch ein Computer tun könnte; und es gibt ganze Kategorien parasitärer Jobs, die dem System ökologisch gerechnet nichts erbringen. Werbung, Effektenbörse, der ganze Apparat, um Geld nur aus der Manipulation von Geld zu machen — das ist nicht nur verschwenderisch, sondern auch korrumpierend, da alles sinnvolle Geld bei einer solchen Manipulation verzerrt wird.« Sie machte eine angewiderte Geste.

»Nun gut«, sagte Vlad, »wir können sagen, dass der Wirkungsgrad dort sehr gering ist und dass sie aus dem System Nutzen ziehen ohne eigene Raubtiere, so dass sie entweder auf der Spitze der Kette stehen oder Schmarotzer sind, je nachdem, wie man es definiert. Werbung, Banking, manche Arten von Manipulation des Rechts, manche Politik …«

»Aber das sind doch alles subjektive Urteile!« rief John. »Wie habt ihr Kalorienwerte einer solcher Mannigfaltigkeit von Aktivitäten praktisch zugeordnet?«

»Nun, wir haben unser Bestes getan, um zu berechnen, was sie dem System zurückgeben in Form von physikalisch gemessenen Wohltaten. Was kommt der Aktivität gleich in Formen von Nahrung oder Wasser oder Obdach oder medizinischer Hilfe oder Bildung oder Freizeit? Wir haben das durchgesprochen, und gewöhnlich hat ein jeder in Acheron eine Zahl angegeben, und wir haben das Mittel gebildet. Hier, lass mich dir zeigen …«

Und sie redeten dann den ganzen Abend darüber vor dem Computerschirm, und John stellte Fragen und stöpselte Pauline ein, um die Schirmbilder und Debatten aufzuzeichnen. Dann gingen sie die Gleichungen durch und zeigten mit den Fingern auf die Flussdiagramme. Dann machten sie eine Kaffeepause und nahmen es vielleicht mit auf den Grat empor, um durch das ganze Gewächshaus zu spazieren und heftig über den menschlichen Wert in Kilokalorien zu diskutieren für Installationsarbeit, Opernaufführungen, Simulationsprogramme und dergleichen. Sie befanden sich eines Abends vor Sonnenuntergang tatsächlich auf dem Grat, als John von der Gleichung auf seinem Armbandgerät aufschaute und den langen Hang nach Olympus Mons emporblickte.

Der Himmel war dunkel geworden. Es kam ihm so vor, als gäbe es wieder eine doppelte Sonnenfinsternis. Phobos war so nahe über den Köpfen, dass er ein Drittel der Sonne verdeckte, als er vor ihr durchging, und Deimos etwa ein Neuntel. Und ein paar Mal im Monat gingen sie zur gleichen Zeit durch und ließen einen Schatten über das Land fallen, als ob einem etwas ins Auge geraten wäre oder man einen schlechten Gedanken gehabt hätte.

Aber dies war keine Sonnenfinsternis. Olympus Mons war außer Sicht, und der Südhorizont war eine unscharfe bronzefarbene Schranke. »Seht euch das an!« sagte er zu den anderen und zeigte hin. »Ein Staubsturm.« Sie hatten seit mehr als zehn Jahren keinen globalen Staubsturm mehr erlebt. John rief die Fotos der Wettersatelliten auf seinem Armbandgerät ab. Der Ursprung des Sturms war nahe dem Thaumasia-Mohole gewesen in Senzeni Na. Er rief Sax an und sah, dass er philosophisch blinzelnd seine Überraschung in sanften Tönen ausdrückte.

»Die Winde an der Kante des Sturms erreichten bis zu sechshundertsechzig Kilometern pro Stunde«, berichtete Sax. »Ein neuer planetarer Rekord. Dies scheint ein großer zu werden. Ich dachte, dass die kryptogamen Böden in den Entstehungszonen des Sturms ihn gemildert oder sogar angehalten hätten. Offenbar stimmt an diesem Modell etwas nicht.«

»Okay, Sax, das ist sehr schlimm; aber das geht schon in Ordnung. Ich muss herausfinden, warum er jetzt direkt auf uns zuläuft, und ich möchte zuschauen.«

»Viel Spaß!« sagte Sax mit unbewegter Miene, als John ihn ausschaltete. Vlad und Ursula machten sich über Saxens Modell lustig. Temperaturgradienten würden zwischen biotisch aufgetautem Boden und den restlichen gefrorenen Gebieten größer sein denn je und die Winde dazwischen entsprechend heftiger, so dass sie, wenn sie schließlich auf lockeren Grus träfen, losbrechen würden. Völlig einleuchtend.

»Jetzt ist das also passiert«, sagte John. Er lachte und ging durch das Gewächshaus, um das Herannahen des Sturms selbst zu beobachten. Wissenschaftler konnten so hartnäckig sein.

Die Staubwand rollte die langen Lavahänge der nördlichen Umgebung vom Olympus Mons herunter. Sie hatte schon das sichtbare Land halbiert, seit John sie zum ersten Mal erblickt hatte, und jetzt erschien sie wie ein gigantischer Brecher, eine wulstige, zehntausend Meter hohe Welle in der Farbe von Milchschokolade, auf der bronzefarbener Gischt auf und ab schäumte und große gebogene Streifen in dem rosa Himmel darüber erzeugte. »Oha!« schrie John. »Hier kommt es!« Plötzlich schien sich der Grat des Acheronsporns hoch über den langen engen Canyons der Fossae darunter zu befinden; und tiefer gelegene Felskanten ragten wie Drachenrücken aus der zerklüfteten Lava. Eine wilde Stelle, um von da aus den Ansturm eines solchen Orkans zu beobachten. Zu hoch, zu exponiert. John lachte wieder und presste sich gegen die südlichen Fenster des Gewächshauses, blickte nach unten, außen und um sich und brüllte: »Oha! Schaut, wie er läuft!«

Und dann wurden sie plötzlich überwältigt. Staub flog über sie weg, es trat Finsternis ein, und es ertönte ein hohes zischendes Kreischen. Der erste Ansturm gegen den Acherongrat erzeugte wilde Turbulenz und schnelle zyklonische Wirbel, die auftauchten und verschwanden, horizontal, vertikal, schräg zu den wenigen steilen Rinnen im Grat. Das allgemeine Gekreisch wurde betont durch Getöse, als diese Störungen auf das Gestein prallten und zusammenbrachen. Dann beruhigte sich der Wind mit traumhafter Schnelligkeit zu einer sanften stehenden Welle, und der Staub raste an Johns Gesicht vorbei. Seine Magengrube hob sich, als ob das Gewächshaus plötzlich mit heftiger Geschwindigkeit fiele. Offenbar hatte die Klippe einen wilden Aufwind erzeugt. Als John aber zurücktrat, sah er den Staub über sich fort und dann nach Norden strömen. Auf dieser Seite des Gewächshauses konnte er ein paar Kilometer weit sehen, ehe der Wind wieder in den Boden prallte und die Sicht durch ständige Staubexplosionen abschnitt. »Oha!«

Seine Augen waren trocken, und sein Mund fühlte sich etwas verklebt an. Viele Teile vom Grus waren kleiner als ein Mikron. War das da auf den Bambusblättern ein schwacher Schimmer davon? Nein. Nur das eigenartige Licht des Sturms. Aber schließlich würde auf allem Staub liegen. Keine Dichtung konnte ihn abhalten.

Vlad und Ursula trauten nicht völlig der Widerstandsfähigkeit des Gewächshauses gegenüber dem Wind und rieten allen, sich nach unten zu begeben. Auf dem Weg dahin stellte John wieder Verbindung mit Sax her. Der hatte den Mund noch stärker zusammengepresst als sonst. Sie würden mit diesem Sturm sehr viel Sonneneinstrahlung verlieren, sagte er ruhig. Die Oberflächentemperaturen am Äquator hatten durchschnittlich um achtzehn Grad höher gelegen als die Grundwerte; aber die Temperaturen bei Thaumasia waren schon um sechs Grad gesunken, und sie würden während der Dauer des Sturms weiter fallen. Und, wie er mit fast masochistischer Gründlichkeit hinzufügte, wie es John schien, die thermischen Aufwinde der Moholes würden den Staub höher tragen als je zuvor, so dass es durchaus möglich schien, der Sturm könnte lange andauern.

»Kopf hoch, Sax!« riet John. »Ich denke, er wird kürzer sein als je zuvor. Sei nicht so pessimistisch!«

Später, als der Sturm in sein zweites M-Jahr kam, würde Sax John schief grinsend an seine Vorhersage erinnern.


Das Reisen während des Sturms war offiziell auf die Züge beschränkt und auf bestimmte, stark benutzte Straßen mit doppelten Transpondern. Als aber deutlich wurde, dass er in diesem Sommer nicht aufhören würde, ignorierte John die Beschränkungen und nahm seine Wanderungen wieder auf. Er vergewisserte sich, dass sein Rover gut bevorratet war, ließ einen Reserverover hinterher fahren und hatte einen extra starken Funksender einbauen lassen. Dies und Pauline im Fahrersitz würden genügen, ihn um den größten Teil der nördlichen Hemisphäre herumzubringen, wie er dachte. Roverpannen waren selten wegen der wirklich umfassenden inneren Überwachungssysteme, die in ihre Computer integriert waren. Dass zwei Pannen gleichzeitig aufgetreten wären, hatte man noch nie gehört. Es hatte nur einen dokumentierten schweren Unfall gegeben. Also sagte John der Acherongruppe Lebewohl und machte sich wieder auf den Weg.

Im Sturm zu fahren war wie Fahren bei Nacht, aber interessanter. Der Staub raste in Böen vorbei und ließ kleine Lücken für Sicht, die kurze sepiafarbene Anblicke der vorbeirollenden Landschaft freigaben. Alles schien sich nach Süden zu bewegen. Dann brausten wieder massive Staubstürme gegen die Fenster. Bei den schlimmsten Windstößen schaukelte der Rover heftig auf seinen Stoßdämpfern, und der Staub drang wirklich überall ein.

Am vierten Tag seiner Fahrt wandte er sich direkt nach Süden und begann den Nordwesthang der Tharsis-Erhöhung in Angriff zu nehmen. Das war wieder die Große Böschung; aber hier bildete sie keine Klippe, sondern einen Hang, der in der mehr als einen Tag währenden Dunkelheit des Sturms nicht zu bemerken war, bis er sich hoch auf der Seite von Tharsis befand, fünf vertikale Kilometer höher, als er in Acheron gewesen war.

Bei einer anderen Mine, die sich in der Nähe von Krater Pt im oberen Ende der Tantalus Fossae befand, machte er halt. Offenbar hatte die Tharsis-Erhebung die große Lavaflut ausgelöst, die Alba Patera bedeckte. Spätere Aufwölbung hatte dann den Lavaschild zerbrochen und die Tantalus-Canyons gebildet. Einige davon waren über einer an Platinoid reichen Feuerintrusion aufgebrochen, die die Bergwerksleute als Merensky-Reeflets bezeichnet hatten. Die Bergleute waren diesmal echte Azanier, die sich Afrikaaner nannten und unter sich Afrikaans sprachen. Weiße Männer, die John mit kräftigen Portionen von god, volk und trek begrüßten. Sie hatten die Canyons, in denen sie arbeiteten, Neuw-Orange- und Neuw-Pretoria-Freistaat genannt. Und sie arbeiteten wie ihre Kollegen in Bradbury Point für Armscor. »Jawohl«, sagte der Chef der Arbeiten zufrieden, mit einem neuseeländischen Akzent. Er hatte ein dickes Doppelkinn, eine Skispringernase und ein breites schiefes Lächeln. Seine Art war sehr intensiv. »Wir haben Eisen, Kupfer, Silber, Mangan, Aluminium, Gold, Platin, Titan und Chrom gefunden. Stell dir das vor! Ferner Sulfide, Oxide, Silikate — sozusagen einheimische Erze. Die Große Böschung bietet das alles.« Die Mine wurde seit ungefähr einem M-Jahr betrieben Sie bestand aus Tagebaubetrieben auf den Böden der Canyons mit einem Habitat, das halb in der Mesa eingelassen war zwischen den beiden größten Canyons und wie eine durchsichtige Eierschale aussah voller grüner Bäume und orangefarbener Ziegeldächer.

John verbrachte mit ihnen mehrere Tage. Er war umgänglich und stellte Fragen. Mehr als einmal fragte er sie in Erinnerung an die Öko-Ökonomie der Acherongruppe, wie sie ihr wertvolles, aber schweres Produkt zur Erde schaffen wollten. Würden die Energiekosten für den Transport nicht den möglichen Nutzen bei weitem übersteigen?

»Natürlich«, sagten sie, genau wie die Leute von Bradbury Point. »Es wird den Raumlift erfordern, um es lohnend zu machen.«

»Mit dem Raumlift sind wir auf dem terranischen Markt«, erklärte ihr Chef. »Ohne ihn werden wir nie vom Mars loskommen.«

»Das ist nicht notwendigerweise schlecht«, sagte John, aber sie verstanden ihn nicht, und als er es zu erklären versuchte, machten sie ein unbeeindrucktes Gesicht und nickten höflich, eifrig bestrebt, nicht über Politik nachzudenken. Darin waren die Afrikaaner gut. Als John erkannte, was los war, fand er, er könnte das Thema Politik zur Sprache bringen, um etwas Zeit für sich selbst zu gewinnen. Das war, wie er Maya eines Nachts erzählte, so, als ob man einen Kanister mit Tränengas in den Raum würfe. Das gab ihm auch die Möglichkeit, den größten Teil eines Nachmittags allein im Operationszentrum der Bergwerke umherzugehen. Dabei schaltete er Pauline auf die Datenaufzeichnungen und hielt alles fest, das sie schaffen konnte. Pauline stellte keine ungewöhnlichen Züge in dem Betrieb fest. Aber sie meldete einen Kommunikationsaustausch mit dem Heimatbüro von Armscor. Die lokale Gruppe wollte eine Sicherheitseinheit von hundert Personen, und Singapore hatte zugestimmt.

John stieß einen Pfiff aus. »Was ist mit UNOMA?« Sicherheitsfragen galten völlig als ihr Ressort, und sie erteilten Genehmigungen für private Sicherheitsmaßnahmen recht routinemäßig. Aber hundert Personen? John gab Pauline Anweisung nachzusehen, was die UNOMA hierzu verlautbart hätte; und ging weg, um mit den Afrikaanern zu speisen.

Wiederum wurde der Raurnlift als Notwendigkeit erklärt. »Sie werden uns einfach übergehen, wenn wir den nicht haben, direkt zu den Asteroiden hinausgehen und dann keine Mühe mit einer Gravitationssenke haben, nicht wahr?«

Trotz den fünfhundert Mikrogramm Omegendorph in seinem Körper war John in keiner fröhlichen Stimmung. Er fragte beiläufig: »Sagt mir, arbeiten hier auch Frauen?«

Sie starrten ihn an wie Fische. Sie waren wirklich noch schlimmer als Muslims.

Er brach am nächsten Tage auf und fuhr nach Pavonis, wobei er sich besonders um die Angelegenheit des Raumlifts kümmern wollte.


Er fuhr den langen Hang von Tharsis empor. Den steilen blutfarbenen Kegel von Ascraeus Mons bekam er nie zu sehen. Er war mit allem anderen im Staub verloren. Reisen bedeutete jetzt, in einigen kleinen Räumen zu leben, die mächtig rumpelten. Er umging Ascraeus auf seiner Westflanke und fuhr dann auf die Kuppe von Tharsis, zwischen Ascraeus und Pavonis. Hier wurde die Doppeltransponderstraße zu einem richtigen Betonband unter den Rädern. Beton unter einem Anflug von Staub. Schließlich stieg die Fahrbahn steil empor und führte ihn direkt auf den nördlichen Hang von Pavonis Mons. Das ging so lange weiter, bis es ihm wie ein langsamer Blindstart in den Weltraum vorkam.

Der Krater von Pavonis war, wie die Afrikaaner ihm bestätigt hatten, erstaunlich genau auf dem Äquator platziert. Das runde O seiner Caldera saß wie ein Ball genau auf der Linie des Äquators. Dadurch wurde der Südrand von Pavonis zu einem perfekten Ankerpunkt für einen Raumlift, da er zugleich genau auf dem Äquator lag und siebenundzwanzig Kilometer über dem Bezugsniveau. Phyllis hatte schon für die Konstruktion eines einfachen Habitats auf dem Südrand vorgesorgt. Sie hatte sich selbst auf die Arbeit am Aufzug gestürzt und war eine seiner Hauptorganisatoren.

Ihr Habitat war in die Wand des Calderarandes eingelassen im Stile von Echus-Aussichtspunkt, so dass Fenster in verschiedenen Stockwerken über die Caldera blickten, sofern der Staub nachließ. Vergrößerte und an die Wände geheftete Fotos zeigten, dass die Caldera sich schließlich als eine einfache kreisrunde Senke erwies mit fünftausend Meter tiefen Wänden, die nahe dem Boden leicht terrassiert waren. Die Caldera war in früheren Tagen oft eingesunken, aber immer an derselben Stelle. Sie war der einzige unter den großen Vulkanen, der so regelmäßig war. Die anderen drei hatten Calderas wie Gruppen sich überlappender Kreise, wobei jeder Kreis in anderer Tiefe lag.

Das neue Habitat, derzeit noch namenlos, war von der UNOMA erbaut worden, aber Ausstattung und Personal waren von der transnationalen Gesellschaft Praxis geliefert, die zu den allergrößten gehörte. Gegenwärtig waren die fertig gestellten Räume mit Beamten dieser Gesellschaft besetzt oder denen anderer Transnationaler, die Subkontrakte für das Liftprojekt hatten. Dazu gehörten Vertreter von Amex, Oroco, Subarashi und Mitsubishi. Und alle ihre Bemühungen wurden koordiniert von Phyllis, die jetzt offenbar Helmut Bronskis Assistentin und Leiterin der Operation war.

Auch Helmut war da; und nachdem John ihn und Phyllis begrüßt hatte und einigen der zu Besuch weilenden Beratern vorgestellt worden war, wurde er in einen großen, hohen Raum mit einer Fensterwand geführt. Vor dem Fenster wirbelten Wolken aus dunkelorangefarbenem Staub in die Caldera hinunter, so dass es schien, als stiege der Raum undeutlich in die Höhe in einem matten fluktuierenden Licht.

Die einzige Ausstattung des Raums bestand aus einem Marsglobus von einem Meter Durchmesser, der brusthoch auf einem blauen Plastikständer ruhte. Von diesem Globus, speziell von der Erhöhung, die Pavonis Mons darstellte, lief ein etwa fünf Meter langer Silberdraht aus. An dessen Ende war ein kleiner schwarzer Punkt. Der Globus rotierte auf seinem Ständer mit ungefähr einer Umdrehung pro Minute, und der schwarze Punkt am Ende rotierte mit ihm und blieb immer über Pavonis.

Eine Gruppe von etwa acht Personen umgab diese Darstellung. »Alles ist maßstabsgetreu« ,sagte Phyllis. »Der areosynchrone Satellit ist 20435 Kilometer vom Massenzentrum entfernt, und der Äquatorradius des Mars beträgt 3386 Kilometer. Daher beträgt die Distanz von der Oberfläche zum areosynchronen Punkt 17049 Kilometer. Wenn man das verdoppelt und den Radius hinzuaddiert, bekommt man 37484 Kilometer. Wir werden am entfernten Ende einen Ballastfelsen haben, so dass das Kabel nicht so lang sein muss, wie es ohne diesen wäre. Der Durchmesser des Kabels wird etwa zehn Meter betragen, und es wird ungefähr sechs Milliarden Tonnen wiegen. Das Material dafür wird von seinem Ballastpunkt am Ende gewonnen werden, der ein Asteroid sein wird, welcher mit rund dreizehn und einer halben Milliarde Tonnen anfängt und, wenn das Kabel fertig ist, mit dem richtigen Ballastgewicht von siebeneinhalb Milliarden Tonnen endet. Das ist kein sehr großer Asteroid, von nur ungefähr zwei Kilometern Radius zu Anfang. Es gibt sechs Amor-Asteroiden, die die Bahn des Mars kreuzen und als Kandidaten für den Job identifiziert wurden. Das Kabel wird von Robotern hergestellt werden, die den Kohlenstoff in den Chondriten des Asteroiden gewinnen und verarbeiten. Dann, in den letzten Stufen der Konstruktion, wird das Kabel zu seinem Befestigungspunkt gebracht werden, hier.« Sie zeigte pompös auf den Fußboden des Raums. »An dieser Stelle wird das Kabel sich selbst in areosynchroner Umlaufbahn befinden und hier unten kaum Kontakt haben. Sein Gewicht wird zwischen dem Zug der Schwerkraft des Planeten und der Zentrifugalkraft des oberen Teils des Kabels und des Ballastfelsens an seinem Ende ausgeglichen sein.«

»Was ist mit Phobos?« fragte John.

»Phobos ist natürlich auch da unten. Das Kabel wird vibrieren, um ihn zu vermeiden in einer so genannten Clarke-Oszillation. Das wird kein Problem sein. Auch Deimos wird man durch Oszillation aus dem Wege gehen; aber weil seine Bahnebene stärker geneigt ist, wird dieses Problem nicht so oft auftreten.«

»Und wenn es in Position ist?« fragte Helmut mit vor Vergnügen strahlendem Gesicht.

»An dem Kabel werden mindestens einige hundert Aufzüge befestigt werden, und Lasten werden mittels eines Gegengewichtsystems in den Orbit gehoben werden. Es wird wie üblich Mengen an Material von der Erde herunterzuschaffen geben, so dass die für Hochbringung erforderliche Energie minimal ist. Es wird auch möglich sein, die Rotation des Kabels für einen Schleudereffekt zu benutzen. Von dem Ballastasteroiden zur Erde entsandte Objekte können die Energie der Marsrotation als Anschub benutzen und werden einen energiefreien Start mit hoher Geschwindigkeit haben. Das ist eine saubere, wirksame und außerordentlich billige Methode, sowohl, um Fracht in den Raum zu heben, als auch, um sie zur Erde hin zu beschleunigen. Und angesichts der jüngsten Entdeckungen strategischer Metalle, die auf der Erde immer knapper werden, ist ein derart billiges Hochheben und Anschieben buchstäblich wertvoll. Es schafft die Möglichkeit eines Austauschs, der früher ökonomisch nicht machbar war. Es wird eine kritische Komponente der Wirtschaft des Mars sein, der Eckstein seiner Industrie. Und es wird nicht allzu teuer sein, das zu bauen. Wenn erst einmal ein kohlenstoffhaltiger Asteroid in den richtigen Orbit geschoben ist und darauf eine mit Kernenergie arbeitende robotische Kabelfabrik den Betrieb aufgenommen hat, wird die Fabrik Kabel ausstoßen wie eine Spinne ihren Faden. Man wird wenig mehr zu tun haben als abzuwarten. Die Kabelfabrik wird wie geplant jährlich mehr als dreitausend Kilometer Kabel ausstoßen können. Das heißt, wir müssen so bald wie möglich anfangen; aber nach Produktionsbeginn wird es nur noch zehn oder elf Jahre erfordern. Und das Warten wird sich schon lohnen.«

John starrte Phyllis an, wie immer beeindruckt durch ihren Eifer. Sie war wie ein Konvertit, der Zeugnis ablegt, wie ein Prediger auf der Kanzel, ruhig und vertrauensvoll triumphierend. Das Wunder des Himmelshakens. Münchhausen und die Bohnenstange, die Himmelfahrt. Das hatte wirklich einen Hauch des Wunderbaren. »Wir haben wirklich keine große Wahl«, sagte Phyllis. »Dies holt uns aus der Senke unserer Gravitation und eliminiert sie als physikalisches und ökonomisches Problem. Das ist entscheidend. Ohne das wird man uns links liegen lassen, wir würden wie Australien im neunzehnten Jahrhundert sein, zu weit entfernt, um eine bedeutende Rolle in der Weltwirtschaft zu spielen. Die Leute würden uns übergehen und die Asteroiden direkt ohne gravitative Beschränkungen ausbeuten. Ohne den Aufzug würden wir in Stagnation enden.«

Shikata ga nai, dachte John zynisch. Phyllis sah ihn ganz kurz an, als ob er laut gesprochen hätte. Sie sagte: »Wir wollen nicht, dass das geschieht. Und was das Beste ist: Unser Aufzug wird als experimenteller Prototyp für einen auf der Erde dienen. Die Transnationalen, die beim Bau dieses Aufzugs Erfahrungen sammeln, werden in beherrschender Position sein, wenn es dazu kommt, Kontrakte für das viel größere terrestrische Projekt abzuschließen, das bestimmt folgen wird.«

Sie redete immer noch weiter, schilderte jeden Aspekt des Plans und beantwortete dann Fragen der Manager mit ihrer üblichen glatten Eleganz. Sie erntete eine Menge Lacher. Sie war lebendig, mit strahlenden Augen. John konnte beinahe die Feuerzungen von der Masse ihres kastanienbraunen Haars lodern sehen, das in dem Sturmlicht wie eine Kappe aus Juwelen wirkte. Die Manager und Projektwissenschaftler erglühten unter ihrem Blick. Sie hatten es mit einer großen Sache zu tun und wussten das. Die Erde war ernsthaft vieler Metalle entblößt, die man auf dem Mars fand. Es waren Vermögen zu gewinnen, enorme Vermögen. Und jeder, der ein Stück der Brücke besaß, über die jede Unze Metall gehen müsste, würde auch ein riesiges Vermögen machen, wahrscheinlich das größte Vermögen von allen. Kein Wunder, dass Phyllis und alle anderen ein Gesicht machten, als wären sie in der Kirche.

An diesem Abend stand John vor dem Dinner im Bad und nahm, ohne sich im Spiegel anzuschauen, zwei Tabletten Omegendorph ein. Phyllis hatte ihm Übelkeit bereitet. Aber nach der Droge fühlte er sich besser. Phyllis war ja schließlich auch nur eine weitere Rolle im Spiel. Und als er sich zum Essen hinsetzte, war er in freundlich mitteilsamer Stimmung. Okay, dachte er, die haben ihre Goldmine in Form einer Bohnenstange. Aber es war nicht klar, ob sie diese für sich würden behalten können, sogar höchst unwahrscheinlich. So sehr, dass ihre Selbstzufriedenheit wie die einer fetten Katze etwas komisch, aber auch peinlich war. Und er lachte inmitten eines ihrer enthusiastischen Gespräche und sagte: »Haltet ihr es nicht für unwahrscheinlich, dass ein solcher Aufzug in Privatbesitz verbleiben wird?«

Phyllis sagte mit ihrem strahlenden Lächeln: »Wir haben nicht vor, ihn in Privatbesitz zu lassen.«

»Aber ihr erwartet Bezahlung für seine Konstruktion. Und dann erwartet ihr, dass Konzessionen eingeräumt werden. Ihr wollt Profit aus dem Unternehmen schlagen. Ist das nicht Unternehmenskapitalismus?«

»Nun ja, natürlich«, sagte Phyllis und sah gekränkt aus, weil er von solchen Dingen so unverblümt gesprochen hatte. »Jeder auf dem Mars wird davon profitieren, das liegt im Wesen der Sache.«

»Und ihr werdet von jedem Prozentsatz noch Prozente abschöpfen.« Raubtiere am oberen Ende der Kette. Oder vielmehr Parasiten, die an ihrer vollen Länge auf und ab kletterten. »Was denkst du, wie reich die Erbauer der Golden Gate Bridge geworden sind? Sind große transnationale Dynastien aus dem Profit der Golden Gate Bridge gebildet worden? Nein. Sie war doch ein öffentliches Vorhaben. Die Erbauer waren öffentliche Beamte, die für ihre Arbeit ein Standardgehalt bezogen. Würdest du wetten, dass der Marsvertrag hier für infrastrukturellen Bau nicht eine ähnliche Übereinkunft ausbedingen würde? Ich bin mir dessen recht sicher.«

»Aber der Vertrag steht erst in neun Jahren zur Revision an«, sagte sie mit funkelnden Augen.

John lachte. »So ist es! Aber du würdest nicht glauben, welche Stimmung ich rund um diesen Planeten für einen revidierten Vertrag sehe, der noch engere Grenzen für Investitionen und Profit seitens der Erde setzt. Du hast einfach nicht aufgepasst. Du musst bedenken, dass dies hier ein vom ersten Federstrich an aufgebautes ökonomisches System ist — auf Grund von Prinzipien, die wissenschaftlich sinnvoll sind. Es gibt hier nur eine beschränkte tragende Kapazität, und um eine lebenstüchtige Gesellschaft zu schaffen, müssen wir das beachten. Ihr könnt nicht einfach Rohstoffe von hier zur Erde schaffen. Die Kolonialära ist vorbei. Das müsst ihr bedenken.« Er lachte wieder über die glitzernden Augen, die auf ihn gerichtet waren. Es war, als hätte man Gewehrvisiere in ihre Hornhäute eingepflanzt.

Und erst später, als er wieder in seinem Zimmer war und sich an diese Blicke erinnerte, kam er auf den Gedanken, dass es wahrscheinlich keine sehr gute Idee gewesen war, ihre Nasen so hart auf die Lage zu stoßen. Der Amex-Mann hatte sogar sein Handgelenk an den Mund gehoben, um eine Notiz zu machen, in einer Geste, die offenkundig gesehen werden sollte. Dieser John Boom ist eine Katastrophe hatte er geflüstert und dabei die ganze Zeit John angeblickt. Er hatte gewollt, dass er gesehen würde. Nun, ein neuer Verdächtiger. In dieser Nacht schlief John erst spät ein.


Er verließ Pavonis am nächsten Tag und wandte sich nach Osten, Tharsis hinunter in der Absicht, volle siebentausend Kilometer bis Hellas zu fahren, um Maya zu besuchen. Durch den großen Sturm verlief die Reise recht einsam. Die südlichen Gebirge zeigten sich nur kurzzeitig trübe durch aufgeblähte Sandvorhänge mit dem ständig wechselnden Pfeifen des Windes als Begleitung. Maya freute sich, dass er zu Besuch kam. Er war noch nie in Hellas gewesen, und eine Menge Leute warteten dort darauf, ihn kennen zu lernen. Sie hatten nördlich von Low Point ein erhebliches Wasserlager entdeckt und planten jetzt, Wasser von da an die Oberfläche zu pumpen und in Low Point einen See zu schaffen, der ständig durch Sublimation Wasser an die Atmosphäre abgeben würde, das man durch Nachschub aus der Tiefe ergänzen könnte. Auf diese Weise erhalten, würde der See sowohl die Atmosphäre bereichern, als auch als Reservoir und Wärmesenke für Ackerbau dienen in einem Ring überkuppelter Farmen rund um das Ufer des Sees. Maya war von diesen Plänen sehr begeistert.

John verbrachte die lange Reise zu ihr in einem fast hypnotisierten Zustand, wenn er einen Krater nach dem anderen aus den Staubwolken aufragen sah. An einem Abend hielt er bei einer chinesischen Siedlung, wo man kaum ein Wort Englisch konnte und in Kästen wie dem Anhängerpark lebte. Er und die Siedler mussten ein Computerübersetzungsprogramm benutzen, das beide Seiten den größten Teil des Abends zum Lachen brachte. Zwei Tage später hielt er sich für einen Tag bei einer riesigen japanischen Luftverarbeitungsanlage in einem hohen Pass zwischen Kratern auf. Hier sprachen alle hervorragend Englisch. Sie waren aber frustriert, weil ihre Arbeiten durch den Sturm zum Stillstand gekommen waren. Die Techniker lächelten schmerzlich und führten ihn durch einen alptraumartigen Komplex von Filtersystemen, den sie aufgestellt hatten, um die Pumpen in Gang zu halten — aber alles umsonst.

Drei Tage östlich von den Japanern traf er auf eine Sufi-Karawane auf einer runden Mesa mit steilen Wänden. Diese spezielle Mesa war früher der Boden eines Kraters gewesen, war aber so verhärtet, dass sie der Erosion widerstanden hatte, welche das umgebende weiche Material in den nachfolgenden Äonen weggeschnitten hatte. Und jetzt stand sie allein über der Ebene wie ein dickes rundes Piedestal, dessen zerfurchte Seiten ein Kilometer hoch waren. John fuhr auf einer Rampe in Serpentinen zu der Karawanserei auf dem Gipfel.

Da oben fand er, dass die Mesa sich inmitten des Staubsturms in einer permanenten stehenden Welle befand, so dass hier mehr Sonnenlicht durch die dunklen Wolken sickerte, als anderswo, wo er gewesen war, selbst auf dem Rande von Pavonis. Die Sicht war fast ebenso behindert wie überall sonst, aber alles hatte hellere Farben, die Dämmerungen purpurn und schokoladefarben, die Tage ein lebhaftes wolkiges Strömen von Umbra und Gelb, Orange und Rost, gelegentlich von. einem bronzefarbenen Sonnenstrahl durchbrochen.

Es war ein prächtiger Platz; und die Sufis erwiesen sich als gastfreundlicher als alle anderen Arabergruppen, die er bisher getroffen hatte. Sie waren, wie sie ihm erzählten, in einer der jüngsten arabischen Gruppen gekommen, als eine Konzession gegenüber religiösen Gruppierungen daheim. Und da es viele Sufis unter islamischen Gelehrten gab, hatte es wenig Einwände dagegen gegeben, sie als eine selbständige zusammenhängende Gruppe auszusenden. Einer von ihnen, ein kleiner schwarzer Mann namens Dhu el-Nun, sagte ihm: »Es ist wundervoll in dieser Zeit der siebzigtausend Schleier, dass du, der große talib, seiner tariqat hierher gefolgt ist, um uns zu besuchen.«

John fragte: »Talib? Tariqat?«

»Ein talib ist ein Sucher. Und die tariqat des Suchers ist sein Weg, sein spezieller Weg, auf der Straße zur Realität.«

»Ich sehe«, sagte John, immer noch überrascht über die Freundlichkeit ihres Grußes.

Dhu führte ihn von der Garage zu einem niedrigen schwarzen Gebäude, das im Zentrum eines Ringes von Rovern stand und nach konzentrierter Energie aussah. Ein breites rundes Ding wie ein Modell der Mesa selbst mit Fenstern aus rohen klaren Kristallen. Dhu bezeichnete das schwarze Gestein des Gebäudes als Stischovit, ein Mineral hoher Dichte, das durch Meteoritenaufprall gebildet worden war, als Drücke von mehr als einer Million Kilogramm für einen Moment geherrscht hatten. Die Fenster waren aus Lechatelierit, einer Art komprimierten Glases, das auch durch den Aufprall entstanden war.

Im Innern des Gebäudes begrüßte ihn eine Gesellschaft von etwa zwanzig Personen, Männer und Frauen gleichermaßen. Die Frauen waren barhäuptig und verhielten sich genau wie Männer, was John wiederum überraschte und ihm bewusst machte, dass die Dinge bei den Sufis anders waren als bei Arabern allgemein. Er setzte sich hin und trank mit ihnen Kaffee. Dann fing er wieder an, Fragen zu stellen. Sie waren Qadariten-Sufis, wie sie ihm sagten, Pantheisten, die durch altgriechische Philosophie und modernen Existentialismus beeinflusst waren. Sie versuchten, moderne Wissenschaft und die ru’yal al-qalb, die Sicht des Herzens, mit der letzten Realität zu vereinen, die Gott war. »Es gibt vier mystische Reisen«, sagte ihm Dhu. »Die erste beginnt mit Gnosis und endet mit fana, oder dem Entschwinden aller Phänomene. Die zweite beginnt, wenn demfana baqa folgt, die Beständigkeit. An dieser Stelle reist du ins Reale, durch das Reale und zu dem Realen, und bist selbst eine Realität, ein haqq. Und danach bewegst du dich weiter zum Zentrum des spirituellen Universums und wirst eins mit allen andern, die es ebenso gemacht haben.«

»Ich schätze, ich habe noch nicht die erste Reise angetreten«, sagte John. »Ich weiß nichts.«

Sie waren, wie er feststellte, über diese seine Antwort erfreut. Sie sagten zu ihm: »Du kannst starten«, und gossen ihm mehr Kaffee ein. »Du kannst immer den Anfang machen.« Sie waren so ermutigend und freundlich im Vergleich mit allen Arabern, die John früher getroffen hatte, dass er sich ihnen öffnete und von seiner Reise nach Pavonis und den Plänen für das große Liftkabel erzählte. Dhu sagte: »Keine Phantasie in der Welt ist völlig unwahr.« Und als John seine letzte Begegnung mit Arabern erwähnte auf Vastitas Borealis, und wie Frank sie begleitet hatte, sagte Dhu geheimnisvoll: »Die Liebe zum Rechten verlockt Menschen zum Falschen.«

Eine der Frauen lachte und sagte: »Chalmers ist dein nafs.«

»Was ist das?« fragte John.

Sie lachten alle. Dhu sagte kopfschüttelnd: »Er ist nicht dein nafs. Nafs ist das böse Selbst eines Menschen, von dem manche glauben, dass es in der Brust lebe.«

»Wie ein Organ oder so etwas?«

»Wie eine wirkliche Kreatur. Muhammad ibn Ulyan berichtete zum Beispiel, dass aus seiner Kehle etwas wie ein junger Fuchs gesprungen sei, der nur größer wurde, als er ihn trat. Das war sein nafs.«

»Es ist ein anderer Name für deinen Schatten«, erklärte die Frau, die damit angefangen hatte.

»Na schön«, sagte John. »Vielleicht ist er es also. Oder vielleicht ist es nur, dass Franks nafs einen kräftigen Tritt bekommen hat.« Und sie lachten mit ihm über diese Idee.

Später an diesem Nachmittag drang die Sonne stärker durch den Dunst als gewöhnlich und erhellte die ziehenden Wolken so, dass die Karawanserei in der Kammer eines gigantischen Herzens zu ruhen schien, wobei die Windstöße rhythmisch den Takt angaben. Die Sufis riefen sich etwas zu, als sie durch die Lechatelieritfenster blickten, und legten rasch Schutzanzüge an, um in diese karmesinrote Welt hinauszugehen. Sie forderten Boone auf, sie zu begleiten. Er zog sich grinsend an und verschluckte heimlich dabei eine Omeg-Tablette.

Draußen gingen sie rund um den zerklüfteten Rand der Mesa, blickten in die Wolken und auf die im Schatten liegende Ebene in der Tiefe und wiesen John auf alle Merkmale hin, die gerade sichtbar wurden. Danach sammelten sie sich bei der Karawanserei, und John hörte ihnen zu, wie sie feierlich sangen, wobei verschiedene Stimmen englische Übersetzungen für Arabisch und Farsi lieferten. »Besitze nichts und sei von nichts besessen. Entferne das, was du im Kopf hast, und gib, was du in deinem Herzen hast. Hier eine Welt und dort eine Welt. Wir sitzen auf der Schwelle.«

Eine andere Stimme: »Liebe hat die Saite an der Laute meiner Seele angeschlagen und mich verändert, auf dass ich von Kopf bis Fuß liebe.«

Und sie fingen an zu tanzen. John, der zusah, erkannte, dass sie tanzende Derwische waren. Sie hüpften in die Luft zum Schlag von Trommeln, die die allgemeine Musik übertönten. Sie sprangen und wirbelten in langsamen unirdischen Drehungen mit ausgestreckten Armen. Und wenn sie den Boden berührten, stießen sie sich ab und wiederholten es, eine Drehung nach der anderen. Tanzende Derwische in dem großen Sturm auf einer hohen runden Mesa, die in grauer Vorzeit der Boden eines Kraters gewesen war. In dem blutroten pulsierenden Licht sah das so wundervoll aus, dass John aufstand und anfing, sich mit ihnen zu drehen. Er störte ihre Symmetrien und stieß manchmal mit anderen Tänzern zusammen, aber das schien niemanden zu stören. Er fand, dass es hilfreich war, leicht gegen den Wind zu springen, um nicht außer Balance geblasen zu werden. Eine starke Bö würde einen glatt umstoßen. Er lachte. Einige Tänzer psalmodierten laut zur Musik in den üblichen Vierteltontremoli, akzentuiert durch Rufe und scharfes rhythmisches Atmen und die Phrase »Ana el-Haqq, ana el-Haqq« — Ich bin Gott, ich bin Gott. Eine sufische Blasphemie. Der Tanz sollte hypnotisierend wirken. John wusste, dass es andere Muslimkulte gab, die es mit Selbstgeißelung taten. Sich drehen war besser. Er tanzte und stimmte in den gemeinsamen Gesang ein, indem er ihn mit seinem scharfen Atem und mit Grunzen und Plappern akzentuierte.

Dann fing er an, ohne sich darüber Gedanken zu machen, in den Strom der Klänge die Namen für Mars einzufügen: »Al-Qahira, Ares, Auqakuh. Bahram, Harmakhis, Hrad, Huo Hsing, Kasei, Ma’adim, Maja, Mamers, Mangala, Nirgal, Shalbatanu, Simud und Tiu.« Er hatte diese Liste vor einigen Jahren auswendig gelernt als eine Art Partytrick. Jetzt war er ganz überrascht, was für eine hervorragende Rezitation sie abgab, wie sie aus seinem Mund strömte und ihm half, seine Drehungen zu stabilisieren. Die anderen Tänzer lachten ihn freundlich an. Es schien ihnen zu gefallen. Er fühlte sich berauscht. Sein ganzer Körper summte. Er wiederholte die Litanei noch oft und ging dann dazu über, den arabischen Namen ständig zu wiederholen: »Al-Qahira, Al-Qahira, Al-Qahira.« Und dann, eingedenk dessen, was ihm eine der übersetzenden Stimmen gesagt hatte: »Ana el-Haqq, ana Al-Qahira. Ana el-Haqq, ana Al-Qahira.« Ich bin Gott, ich bin Mars … Die anderen stimmten rasch in diesen Gesang ein und machten daraus ein wildes Lied. Im Aufblitzen rotierender Visierscheiben nahm er ihre grinsenden Gesichter wahr. Sie waren wirklich tüchtig in ihren Drehungen. Während sie herumwirbelten, schnitten ihre ausgestreckten Finger den Staubstrom zu Arabesken. Und dabei stießen sie ihn mit den Fingerspitzen an und führten ihn oder schoben sogar seine ungeschickten Drehungen in das Geflecht ihrer Rotationen. Er schrie die Namen des Planeten, und sie wiederholten sie danach wie bei einer Antiphone. Sie rezitierten die Namen -Arabisch, Sanskrit, Inka —, alle Namen des Mars, verquirlt in einen Brei aus Silben, so dass sie eine polyphone Musik erschufen, die schön und ergreifend zugleich war; denn die Namen für den Mars kamen aus Zeiten, als Wörter unheimlich klangen und Namen Macht besaßen. Er konnte das hören, wenn er sie sang. Ich werde tausend Jahre lang leben, dachte er.

Als er endlich zu tanzen aufhörte und sich hinsetzte, um zuzuschauen, fing er an, sich unwohl zu fühlen. Die Welt verschwamm, in seinem Mittelohr drehte etwas sich offenbar immer noch wie eine Roulettekugel. Die Szene pulsierte vor ihm. Es war unmöglich zu sagen, ob das der wirbelnde Staub war oder etwas Inneres; aber jedenfalls starrte er auf das, was er sah: tanzende Derwische — auf dem Mars? Nun, in der muslimischen Welt waren sie irgendwie Abweichler und hatten einen ökumenischen Zug, der im Islam selten ist. Und sie waren auch Wissenschaftler. So stellten sie vielleicht seinen Weg zum Islam dar, seine tariqat. Und ihre Derwischzeremonien würden vielleicht in die Areophanie, die Erscheinung des Mars, übergehen wie während seiner Rezitation. Er stand taumelnd auf und verstand plötzlich, dass man nicht alles vom ersten Federstrich an erfinden musste, sondern dass es darauf ankäme, etwas Neues zu schaffen durch eine Synthese von allem, was gut war, in das, was vorher gekommen war. »Liebe hat die Saite an der Laute meiner Seele angeschlagen …« Er war allzu benommen. Die anderen lachten und stützten ihn. Er sprach zu ihnen in seiner üblichen Weise in der Hoffnung, dass sie verstehen würden. »Ich fühle mich schlecht. Ich denke, ich werde mich übergeben. Aber ihr müsst mir sagen, warum wir nicht all das traurige Gepäck der Erde zurücklassen können. Warum können wir nicht zusammen eine neue Religion erfinden? Die Verehrung von Al-Qahira, Mangala, Kasei!«

Sie lachten und trugen ihn auf den Schultern zurück zum Schutzbau. »Ich meine es ernst«, sagte er, während sich die Welt drehte. »Ich möchte, dass ihr es tut, ich möchte, dass euer Tanzen mit drin ist. Es ist klar, dass ihr diejenigen seid, um diese Religion zu schaffen. Ihr tut das bereits.« Aber es war gefährlich, sich in einem Helm zu übergeben; und so lachten sie nur und schafften ihn, so schnell sie konnten, in das Habitat aus Trümmergestein. Als ihm dort schlecht wurde, hielt ihm eine Frau den Kopf und sagte in musikalischem, orientalisch gefärbtem Englisch: »Der König hat seine weisen Männer nach etwas gefragt, das ihn glücklich machen würde, wenn er traurig wäre, aber traurig im Falle des Frohsinns. Sie berieten sich und kamen zurück mit einem Ring, auf dem eingraviert war: »›Auch dies wird vorübergehen.‹«

»Direkt in die Wiederverwertung«, sagte Boone. Er lag auf dem Rücken, und alles drehte sich. Das war ein schreckliches Gefühl, wenn er versuchte, still zu liegen. »Aber was willst du hier? Warum bist du auf dem Mars? Du musst mir sagen, was du hier willst.« Sie brachten ihn in den Gemeinschaftsraum und teilten Tassen aus. Dann brachten sie einen Topf mit aromatischem Tee. Er hatte immer noch das Gefühl, sich zu drehen, und der an den Kristallfenstern vorbeibrausende Staub war keine Hilfe.

Eine alte Frau bei ihm nahm den Topf und goss Johns Tasse voll. Dann stellte sie den Topf hin und gab ihm zu verstehen: »Jetzt schenkst du mir ein.« John tat es unsicher, und dann machte der Topf im Raum die Runde. Jeder füllte die Tasse eines anderen.

Die alte Frau sagte: »Wir beginnen jedes Mahl so. Es ist ein kleines Zeichen dafür, wie wir zueinander sind. Wir haben die alten Kulturen studiert, ehe euer globaler Markt alles einfing; und in jenen Zeiten gab es viele verschiedene Formen des Tausches. Einige beruhten auf dem Geben von Geschenken. Jeder von uns hat eine Gabe, siehst du, die uns unentgeltlich vom Universum zuteil wurde. Und jeder von uns gibt mit jedem Atemzug etwas zurück.«

»Das ist wie die Gleichung für ökologische Leistung«, sagte John.

»Vielleicht. In jedem Fall wurden ganze Kulturen auf der Idee des Geschenkes aufgebaut. In Malaysia, im amerikanischen Nordwesten, in vielen primitiven Kulturen. In Arabien gaben wir Wasser oder Kaffee, Nahrung und Unterkunft. Und was immer man erhielt, es wurde erwartet, dass man es nicht behielt, sondern seinerseits zurückgab, im günstigen Falle mit Zinsen. Man arbeitete, um mehr geben zu können, als man empfing. Jetzt denken wir, dass dies die Grundlage für eine ehrerbietige und rücksichtsvolle Ökonomie sein kann.«

»Dies ist genau das, was Vlad und Ursula gesagt haben!«

»Vielleicht ja.«

Der Tee half. Nach einer Weile kehrte sein Gleichgewicht zurück. Sie sprachen über andere Dinge, den großen Sturm, den großen harten Sockel, auf dem sie lebten. Spät am Abend fragte er, ob sie von dem Cojoten gehört hätten. Aber das war nicht der Fall. Sie kannten aber Geschichten über eine Kreatur, die sie den ›Verborgenen‹ nannten, den letzten Überlebenden einer alten Rasse von Marsbewohnern, ein runzliges Wesen, das über den Planeten zog und Wanderern, Rovern und Siedlungen Hilfe angedeihen ließ. Man hatte es im letzten Jahr bei der Wasserstation in Chasma Borealis gesehen, als ein Eisfall aufgetreten war und anschließend die Energie ausfiel.

»Ist das nicht der sagenhafte Große Mann?« fragte John. »Nein, nein. Der Große Mann ist ein Riese. Der Verborgene ist wie wir. Seine Leute waren Untertanen des Großen Mannes.«

»Ich verstehe.«

Aber er verstand nicht, nicht richtig. Wenn der Große Mann für den Mars selbst stand, dann war die Geschichte von dem Verborgenen vielleicht von Hiroko inspiriert worden. Unmöglich zu sagen. Er brauchte einen Volkskundler oder Fachgelehrten für Sagen, jemanden, der ihm sagen konnte, wie Stories entstehen. Aber er hatte nur die Sufis, lächelnd und sonderbar, selbst Sagengestalten. Seine Mitbürger in diesem neuen Lande. Er musste lachen. Sie lachten mit ihm und brachten ihn zu Bett. Die alte Frau sagte: »Wir sprechen ein Gutnachtgebet des persischen Dichters Jalaluddin Rumi.« Sie rezitierte:

Ich starb als Stein und wurde eine Pflanze.

Ich starb als Pflanze und erhob mich als Tier.

Ich starb als Tier und wurde Mensch.

Um aufzusteigen mit gesegneten Engeln in der

Höhe. Und wenn ich meine Engelsseele opfere,

Werde ich werden, was noch kein Verstand je erfasste.

»Schlaf gut!« sagte sie in seinen einschlummernden Geist. »Dies ist all unser Weg.«

Am nächsten Morgen kletterte er steif in seinen Rover, kniff die Augen zusammen aus schmerzlichem Unbehagen und beschloss, etwas Omeg einzunehmen, sobald er unterwegs wäre. Die alte Frau war da, um ihn zu verabschieden, und er drückte herzlich seine Gesichtsscheibe gegen die ihre.

Sie sagte: »Ob von dieser oder jener Welt, deine Liebe wird dich am Ende hinüberführen.«


Die Transponderstraße führte ihn durch die braunen, vom Wind gepeitschten Tage. Er durchquerte das zerklüftete Land südlich vom Margaritifer Sinus. Er würde noch einmal zu anderer Zeit hindurchfahren müssen, um etwas davon zu sehen; denn in dem Sturm war es nichts als fliegender Kakao von momentanen goldenen Lichtspeeren. Nahe dem Bakhuysen-Krater hielt er bei einer neuen Siedlung namens Turner Wells an. Hier war man auf einen Wasservorrat gestoßen, der unter solchem hydrostatischem Druck stand, dass sie dabei waren, Energie zu gewinnen, indem sie den artesischen Strom durch eine Reihe von Turbinen leiteten. Das freigesetzte Wasser würde in Wannen geführt, eingefroren und dann mit Robotern hochgehievt und zu trockenen Siedlungen in der ganzen südlichen Hemisphäre gebracht werden. Mary Dunkel arbeitete dort und zeigte ihm die Brunnen, das Kraftwerk und die Eisreservoire. »Die Versuchsbohrung war schrecklich wie die Hölle. Als der Bohrer den flüssigen Teil der wasserhaltigen Schicht anstach, wurde er explosionsartig aus dem Loch getrieben; und es hing an Messers Schneide, ob es uns gelingen würde, die Springquelle zu kontrollieren oder nicht.«

»Was wäre geschehen, wenn das nicht gelungen wäre?«

»Nun, ich weiß nicht. Da unten gibt es eine Menge Wasser. Wenn es den Fels um das Loch gesprengt hätte, hätte es wie zu den großen Ausflußkanälen in Chryse kommen können.«

»So groß?«

»Wer weiß? Möglich ist es.«

»Oha!«

»Das habe ich auch gesagt. Jetzt hat Ann eine Studie gestartet über Methoden zur Bestimmung von Wasserdrücken durch die Echos, die sie bei seismischen Tests geben. Aber es gibt Leute, die gern einen oder zwei Wasservorräte freilassen würden. Sie äußern sich durch Mitteilungen im Bulletin des Netzes. Es würde mich nicht überraschen, wenn Sax dazu gehörte. Große Fluten von Wasser und Eis, sehr viel Sublimation in die Luft — warum sollte er da nicht jubeln?«

»Aber Überschwemmungen wie jene in alter Zeit würden für die Landschaft ebenso zerstörerisch sein, wie wenn man Asteroiden darauf fallen ließe.«

»Oh, noch verheerender! Jene aus dem Wirrwarr herunterkommenden Kanäle waren unglaubliche Ausbrüche. Die beste Analogie auf der Erde sind die Scablands, eine Lava- und Plateaulandschaft im östlichen Washington. Hast du davon gehört? Vor etwa achtzehntausend Jahren gab es einen See, der den größten Teil von Montana bedeckte. Man nennt ihn Lake Missoula. Er bestand aus Schmelzwasser der Eiszeit und wurde durch einen Eisdamm zurückgehalten. Irgendwann brach dieser Damm, und der See entleerte sich katastrophal. Etwa zwei Billionen Kubikmeter Wasser strömten in wenigen Tagen das Columbia-Plateau hinunter und hinaus in den Pazifik.«

»Donnerwetter!«

»Während es floss, führte es ungefähr dreimal soviel Wasser, wie dem Amazonas entströmt. Es grub in das basaltische Urgestein Kanäle, die immerhin zweihundert Meter tief sind.«

»Zweihundert Meter!«

»Stimmt. Und das war noch nichts im Vergleich mit den Wassermassen, die die Chrysekanäle gegraben haben. Die Verästelungen dort bedecken Gebiete …«

»Zweihundert Meter Urgestein?«

»Nun ja, es ist keine normale Erosion. In derart großen Fluten schwanken die Drücke so stark, dass es zur Freisetzung gelöster Gase kommt; und wenn diese Blasen zusammenbrechen, erzeugen sie unglaubliche Drücke. Sie hämmern wie etwas, das alles zerbrechen kann.«

»Es wäre also schlimmer als ein Meteoritenaufschlag?«

»Sicher. Falls man nicht einen wirklich großen Asteroiden fallen ließe. Wenn man beispielsweise einen in Hellas einstürzen ließe, hätte man ein Meer. Und man könnte es schneller wieder anfüllen, als das Oberflächen-Eis sublimieren würde.«

»Eine solche Flut steuern?« rief John.

»Nun, das wäre unmöglich. Aber wenn man einen Asteroiden an der richtigen Stelle fände, müsste man ihn nicht lenken. Du solltest nachprüfen, wohin Sax kürzlich seine Wünschelrutengänger geschickt hat. Sieh nach, wie es dir vorkommt!«

»Aber das würde doch bestimmt von der UNOMA verboten werden.«

»Seit wann hat das für Sax etwas ausgemacht?«

John lachte. »Oh, jetzt spielt es schon eine Rolle. Sie haben ihm zu viel gegeben, als dass er sie ignorieren könnte. Sie haben ihn mit Geld und Macht gebunden.«

»Vielleicht.«


In dieser Nacht ereignete sich morgens um halb vier eine kleine Explosion in einer Quelle. Alarmglocken rissen sie aus dem Schlaf. Halb nackt taumelten sie durch die Tunnels zu einem Sprudelausbruch, der in den fliegenden Staub der Nacht emporschoss, eine Säule aus weißem Wasser, die vom schwankenden Licht hastig installierter Scheinwerfer in Stücke gerissen wurde. Aus den Staubwolken fiel das Wasser herunter in Form von Eisbrocken und Hagelkörnern bis zur Größe von Bowlingkugeln. Im Windschatten gelegene Quellen wurden von diesen Geschossen getroffen, und die Eisstücke lagen schon knietief.

Nach der Diskussion in der vorangegangenen Nacht wurde John durch den Anblick ziemlich alarmiert, und er rannte umher, bis er Mary fand. Durch den Lärm der Eruption und des stets tobenden Sturms brüllte Mary John ins Ohr: »Räume das Feld! Ich werde hinter der Quelle eine Sprengladung anbringen und versuchen, dem Ding einen Denkzettel zu geben.« Sie lief in ihrem weißen Nachthemd fort, und John trieb die Zuschauer zusammen und brachte sie durch die Tunnels zum Habitat der Station zurück. Mary traf japsend in der Schleuse zu ihnen. Sie fummelte an ihrem Handgerät, und es gab einen dumpfen Knall aus Richtung der Quelle. »Kommt, wir wollen es uns anschauen!« sagte sie. Sie gingen durch die Schleuse und liefen wieder durch die Tunnels zurück zu dem Fenster oberhalb der Quelle. Dort lag in einem Haufen weißer Eiskugeln das Wrack des Bohrers still auf der Seite. Mary rief: »Jawohl! Zugedeckt.«

Sie applaudierten schwach. Einige gingen hinunter in den Bereich der Quelle, um zu sehen, ob sie etwas tun könnten, die Situation zu sichern. »Gute Arbeit!« sagte John zu Mary.

Mary sagte, immer noch außer Atem: »Ich habe seit jenem ersten Vorfall viel über das Zudecken von Sprudelquellen gelesen. Und wir hatten alles einsatzfähig vorbereitet. Aber wir hatten nie die Chance, es zu versuchen. Natürlich. Darum kann man nie wissen.«

»Haben eure Schleusen Recorder?« fragte John.

»Allerdings!«

»Prima!«

John ging los, um die Aufzeichnungen durchzusehen. Er stöpselte Pauline in das System der Station ein und stellte Fragen. Die Antworten las er auf seinem Handgerät ab. Niemand hatte seit dem Zeitrutsch dieser Nacht die Schleusen benutzt. Er rief den Wettersatelliten oben ab und schaltete sich in die Radar- und Infrarotsysteme ein, für die Sax ihm die Codes gegeben hatte, und überprüfte das Gebiet um Bakhuysen. Kein Anzeichen von irgendeiner Maschine in der Nähe, außer einigen alten Windmühlenheizern. Und die Transponder zeigten, dass seit seiner Ankunft am Vortag niemand in dieser Gegend gewesen war.

John saß niedergeschlagen vor Pauline. Er fühlte sich schlapp und ratlos. Er konnte sich keine anderen Überprüfungen ausdenken, die er anstellen könnte; und nach denen, die er hatte, schien niemand in der Nacht draußen gewesen zu sein, um den Schaden anzurichten. Die Explosion hätte schon vor Tagen vorbereitet sein können, obwohl es schwierig wäre, das Gerät zu verstecken, da täglich an den Quellen gearbeitet wurde. Er stand langsam auf, suchte Mary und sprach mit ihrer Hilfe zu den Leuten, die am Tag zuvor als letzte an dieser Quelle zu tun gehabt hatten. Kein Hinweis auf ein Herumpfuschen bis hin um acht Uhr abends. Und danach waren alle Stationsmitglieder auf der John-Boone-Party gewesen und die Schleusen nicht mehr benutzt worden. Also hatte es wirklich keine Chance gegeben.

Er ging wieder zu Bett und dachte darüber nach. »Oh, übrigens, Pauline, prüf bitte die Akten von Sax und gib mir eine Liste aller Wünschelrutenexpeditionen im letzten Jahr!«


John traf auf seiner blinden Fahrt nach Hellas Nadia, die den Bau einer neuartigen Kuppel über dem Rabe-Krater beaufsichtigte. Es war die größte je errichtete Kuppel — unter Ausnutzung der dichteren Atmosphäre und der leichteren Baustoffe, die eine Situation schufen, wo Schwere durch Druck ausgeglichen werden konnte, so dass die unter Überdruck stehende Kuppel praktisch gewichtslos wurde. Der Rahmen sollte aus verstärkten Areogel-Trägern bestehen, dem jüngsten Erzeugnis der Alchemisten. Areogel war so leicht und stark, dass Nadia in leichte Verzückung geriet, als sie seine Einsatzmöglichkeiten schilderte. Nach ihrer Ansicht waren Kraterkuppeln eine Sache der Vergangenheit. Es wäre ebenso einfach, Areogelpfeiler um die Peripherie einer Stadt zu errichten, die Felsengelasse zu vermeiden und die ganze Bevölkerung in einem großen hellen Zelt unterzubringen.

Sie erzählte John alles darüber, während sie um das Innere von Rabe herumgingen, das bislang nichts als ein großer Bauplatz war. Der ganze Kraterrand sollte wabenartig mit Räumen unter Tageslicht ausgehöhlt werden, und das überkuppelte Innere würde eine Farm enthalten, die dreißigtausend Menschen ernähren sollte. Roboter für Bodenbewegungen in der Größe von Häusern brummten aus der Dunkelheit des Staubes heraus und waren schon aus fünfzig Metern Entfernung nicht mehr zu sehen. Diese Behemothe arbeiten selbständig oder durch Fernlenkung. Das Bedienungspersonal hatte wahrscheinlich zu wenig Sicht auf die Umgebung, als dass Fußgängerverkehr in der Nähe ganz sicher wäre. John folgte Nadia nervös, als sie umherschlenderte. Er erinnerte sich, wie unruhig die Bergleute von Bradbury Point gewesen waren — und dort hatten sie immerhin sehen können, was geschah. Er musste über Nadias Arglosigkeit lachen. Wenn der Boden unter den Füßen zitterte, blieben sie einfach stehen und schauten sich um, bereit, allen herankommenden haushohen Vehikeln aus dem Weg zu springen. Es war wirklich anstrengend. Nadia schimpfte über den Staub, der viele Maschinen unbrauchbar machte. Der große Sturm war jetzt vier Monate alt, der längste seit Jahren, und ein Ende zeichnete sich noch nicht ab. Die Temperaturen waren scharf gesunken, die Menschen aßen Konserven und Trockennahrung und gelegentlich etwas Salat oder Gemüse, die bei künstlicher Beleuchtung gewachsen waren. Und Staub war überall drin. Selbst während sie darüber sprachen, fühlte John, wie er seine Lippen verklebte, und die Augen waren trocken in ihren Höhlen. Kopfschmerzen waren sehr häufig geworden, ebenso Nebenhöhlenentzündungen, wunde Kehlen, Bronchitis, Asthma und Lungenbeschwerden allgemein. Dazu allerhand Frostschäden. Und Computer wurden gefährlich unzuverlässig, viele Geräte versagten. Es gab Neurosen und Verzögerungen bei intelligenter Elektronik. Die Mittage im Innern von Rabe waren wie das Leben in einem Backstein sagte Nadia, und die Sonnenuntergänge sahen aus wie glimmende Kohleflöze. Sie hasste das.

John wechselte das Thema. »Was hältst du von diesem Raumaufzug?«

»Eine große Sache.«

»Aber der Effekt, Nadia. Was kommt dabei heraus?«

»Wer weiß? Bei einem solchen Ding kann das ja niemand sagen.«

»Er wird einen strategischen Engpass bilden, so wie der, von dem Phyllis sprach, als wir darüber diskutierten, wer die Phobos-Station bauen würde. Sie wird jetzt ihren eigenen Engpass bekommen. Das ist eine Menge Macht.«

»So redet Arkady; aber ich verstehe nicht, warum man ihn nicht wie eine gemeinsame Hilfsquelle behandeln kann, wie eine Naturerscheinung.«

»Du bist eine Optimistin.«

Sie zuckte die Achseln. »Arkady sagt das auch. Ich versuche nur, sensibel zu sein.«

»Ich auch.«

»Ich weiß. Manchmal denke ich, wir zwei wären die letzten.«

»Und Arkady?«

Sie lachte.

»Aber ihr zwei seid doch ein Paar!«

»Ja, ja. Wie du und Maya.«

»Touche.«

Nadia lächelte kurz. »Ich bemühe mich, Arkady dazu zu bringen, dass er über Dinge nachdenkt. Das ist das beste, was ich tun kann. Wir treffen uns in einem Monat in Acheron, um die Behandlung zu bekommen.

Maya hält es für gut, wenn man das gemeinsam macht.«

»Ich kann es nur empfehlen«, sagte John grinsend.

»Und die Behandlung?«

»Übertrifft die Alternative, nicht wahr?«

Sie kicherte. Dann grummelte der Boden unter ihren Füßen. Sie reckten sich und drehten den Kopf, um nach Schatten in dem Dunkel Ausschau zu halten. Rechts von ihnen erschien ein großes schwarzes Gebilde wie ein wandernder Berg. Sie rannten zur Seite, stolperten und sprangen über Klumpen und Schutt. John fragte sich, ob dies eine neue Attacke wäre. Nadia stieß rasche Befehle auf der allgemeinen Frequenz aus und fluchte auf die RC-Piloten, die sie im Infrarot nicht verfolgt hätten. »Achtet auf eure Schirme, ihr krummen Hunde!«

Der Boden hörte auf zu vibrieren. Der schwarze Leviathan bewegte sich nicht mehr. Sie gingen unsicher darauf zu. Ein Abraumtransporter wie aus dem legendären Riesenland Brobdingnag, auf Schienen. Hier erbaut von Utopia Planitia Machines. Ein von Robotern erbauter Roboter, so groß wie ein Bürohaus.

John starrte an ihm in die Höhe und fühlte, wie ihm der Schweiß die Stirn herunterrann. Sie waren in Sicherheit. Sein Puls beruhigte sich. »Monster wie dieses gibt es überall auf dem Planeten«, sagte er erstaunt zu Nadia. »Sie schneiden, kratzen, graben, beladen und bauen. Hübsch bald werden sich einige von ihnen an einen jener zwei Kilometer großen Asteroiden heften und ein Kraftwerk bauen, das den Asteroiden selbst als Treibstoff benutzen wird, um ihn in einen Marsorbit zu schieben. Dann werden andere Maschinen darauf landen und anfangen, das Gestein in ein Kabel von siebenunddreißigtausend Kilometern Länge zu verwandeln. Stell dir die Größe davon vor, Nadia! Die Größe!«

»Na ja, ganz schön groß.«

»Es ist wirklich unvorstellbar. Etwas, das gänzlich außerhalb menschlicher Fähigkeiten liegt, wie wir sie zu verstehen gelernt haben. Teleoperation in kolossalem Maßstab. Eine Art spiritueller Waldo. Alles, das man sich ausdenken kann, lässt sich machen!« Sie gingen langsam um das gigantische schwarze Objekt vor ihnen herum. Nichts weiter als ein Abraumlaster, nichts im Vergleich mit dem, was der Raumlift sein würde. Aber selbst schon dieser Lastwagen, dachte er, war ein erstaunliches Ding. »Muskeln und Gehirn sind durch eine robotische Armatur verlängert worden, die so groß und stark ist, dass man es kaum fassen kann. Vielleicht unmöglich. Wahrscheinlich ist es ein Teil deines Talents — und auch dessen von Sax —, die Muskeln in bisher unerhörter Weise einzusetzen. Ich meine Löcher, die direkt durch die Lithosphäre gebohrt werden, der Terminator beleuchtet durch gespiegeltes Sonnenlicht, alle die Städte, die Mesas füllen und in den Flanken von Klippen stecken — und jetzt ein Kabel bis weit über Phobos und Deimos hinaus, so lang, dass es aus dem Orbit heraus bis nach unten reicht. So etwas kann man sich nicht vorstellen!«

»Es ist nicht unmöglich«, bemerkte Nadia.

»Nein. Und jetzt sehen wir natürlich Zeugnisse unserer Macht ringsumher. Wir werden davon fast überrannt, wenn es funktioniert. Und Sehen heißt Glauben. Selbst ohne Phantasie kannst du sehen, welche Macht wir haben. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb die Dinge jetzt so seltsam laufen. Jedermann spricht über Souveränität, Kämpfe und Gebietsansprüche. Die Leute quatschen wie jene alten Götter auf dem Olymp, weil wir fast so mächtig sind wie sie.«

»Oder noch mehr«, sagte Nadia.


Er fuhr weiter zu den Hellespontus Montes, der gebogenen Bergkette, die das Hellas-Becken umgibt. Irgendwie geriet eines Nachts, als er schlief, sein Rover von der Transponderstraße ab. Er erwachte und sah bei Lücken im Staub, dass er sich in einem engen Tal befand mit Wänden aus kleinen Klippen, eingeschnitten, wie sie typisch für Überflutungen waren. Es erschien wahrscheinlich, dass er, wenn er auf dem Talboden bliebe, die Straße wieder kreuzen würde. Also fuhr er querfeldein los. Dann war der Talboden durch flache Quergräben unterbrochen wie leere Kanäle; und Pauline musste wiederholt anhalten, wenden und eine andere Abzweigung in ihrem Straßen findenden Algorithmus suchen, abgeschlagen durch eine Schlucht nach der anderen, wie sie aus der Finsternis auftauchten. Als John ungeduldig wurde und versuchte zu übernehmen, wurde es nur noch schlimmer. Im Lande der Blinden ist der Autopilot König.

Aber langsam näherte er sich der Talmündung, wo die Karte anzeigte, dass die Transponderstraße in ein weiteres Tal unten abstieg. Also machte er in dieser Nacht unbekümmert halt, saß vor dem Fernseher und nahm eine Mahlzeit ein. Mangalavid zeigte die Erstaufführung einer Aeolia, die von einer Gruppe in Noctis Labyrinthus erbaut war. Die Aeolia erwies sich als ein kleines Gebäude mit Öffnungen, durch die es pfiff oder tönte oder quietschte, je nach dem Winkel und der Stärke des Windes, der darauf traf. Für die Premiere war der tägliche ins Tal führende Wind von Noctis verstärkt durch einige wilde Fallböen des Sturms; und die Musik fluktuierte wie eine Komposition — klagend, ärgerlich, dissonant oder plötzlich harmonisch. Sie schien das Werk eines Geistes zu sein, vielleicht eines fremden Geistes, war aber sicherlich mehr als ein Zufallsprodukt. Die fast aleatorische Aeolia, wie ein Kommentator sagte.

Danach kamen Nachrichten von der Erde. Die Existenz gerontologischer Behandlungen war durch einen Beamten in Genf durchgesickert und in einem Tage um die Welt gerast. Jetzt lief eine heftige Debatte in der Generalversammlung darüber. Viele Delegierte verlangten, dass die Behandlungen zu einem menschlichen Grundrecht erklärt werden sollten, durch die UN für alle garantiert, finanziert durch die entwickelten Nationen, die sofort einen Pool bilden müssten, um zu gewährleisten, dass die Bezahlung der Behandlungen gleichermaßen allen zugänglich wäre. Inzwischen trafen andere Meldungen ein. Einige religiöse Führer, unter ihnen der Papst, traten gegen eine derartige Behandlung auf. Es gab weithin Krawalle und einige Schadensfälle in gewissen medizinischen Zentren. Regierungen waren in Unruhe. Alle Gesichter auf dem Bildschirm zeigten Erregung oder Wut und verlangten Änderungen. Und alles an Ungleichheit, Hass und Elend, das die Gesichter zeigten, ließ John zurückzucken. Er konnte das nicht ansehen. Er fiel in einen kümmerlichen Schlaf.

Er träumte von Frank, als ihn ein Geräusch weckte. Ein Klopfen an seiner Windschutzscheibe. Es war mitten in der Nacht. Benommen drückte er auf die Schleuse. Er setzte sich auf und wunderte sich über eine solche Reflexhandlung. Wann hatte er die wohl gelernt? Er rieb sich das Kinn und schaltete auf die allgemeine Frequenz. »Hallo? Jemand da draußen?«

»Die Marsmenschen.«

Es war eine männliche Stimme. Ihr Englisch hatte einen Akzent, aber John konnte ihn nicht identifizieren.

»Wir wollen reden«, sagte die Stimme.

John stand auf und blickte durch die Scheibe. Bei Nacht und in diesem Sturm war wenig zu sehen. Aber er glaubte Gestalten in der Dunkelheit ausmachen zu können, die um sein Fahrzeug standen.

»Wir wollen bloß reden«, sagte die Stimme.

Falls sie ihn hätten töten wollen, hätten sie bloß die Scheibe des Rovers aufzusprengen brauchen, während er schlief. Außerdem konnte er sich kaum vorstellen, dass jemand ihm Übles wollte. Dafür gab es keinen Grund!

Also ließ er sie ein.

Es waren ihrer fünf, lauter Männer. Ihre Schutzanzüge waren abgewetzt, schmutzig und mit Material geflickt, das nicht dafür vorgesehen war. Ihre Helme trugen keine Identitätskennzeichen und waren ohne jede Farbe. Als sie die Helme abnahmen, sah er, dass ein Mann Asiate war und jung. Er schien etwa sechzehn Jahre alt zu sein. Dieser trat vor, setzte sich in den Fahrersitz und beugte sich vor, um die Instrumentenanordnung näher zu betrachten. Ein anderer nahm den Helm ab. Ein kleiner Mann von brauner Hautfarbe mit schmalem Gesicht und langer Zottelfrisur. Er setzte sich auf die gepolsterte Bank gegenüber von Johns Bett und wartete, bis auch die anderen drei ihren Helm abgenommen hatten. Dabei hockten sie sich auf die Fersen und sahen John scharf an. Er hatte noch nie einen von ihnen gesehen.

Der Mann mit dem schmalen Gesicht sagte: »Wir wollen, dass ihr die Einwanderungsrate verlangsamt.« Er war es auch, der von draußen gesprochen hatte. Jetzt klang sein Akzent nach der Karibik. Er sprach leise, fast flüsternd, und John fand es schwer, ihm das nicht nachzumachen.

»Oder ganz stoppt«, sagte der Mann im Fahrersitz.

»Halt den Mund, Kasei!« Der mit dem schmalen Gesicht schaute unentwegt weiter John an. »Es kommen zu viele Leute her. Das weißt du. Sie sind keine Marsmenschen, und es ist ihnen gleichgültig, was hier geschieht. Sie werden uns überwältigen. Ich weiß, du versuchst, sie zu Marsmenschen zu machen; aber sie kommen viel schneller herein, als du das schaffen kannst. Das einzige, was funktionieren wird, ist eine Verlangsamung des Zustroms.«

»Oder ihn einzustellen.«

Der Mann verdrehte die Augen und bat mit einer Grimasse John um Verständnis. Der Junge war eben noch jung, sagte sein Blick.

»Ich habe keinen Einfluss …« fing John an, aber der Mann fiel ihm ins Wort: »Du kannst dich dafür einsetzen, und du bist auf unserer Seite.«

»Kommt ihr von Hiroko?«

Der Junge schnalzte mit der Zunge am Gaumen. Der mit dem schmalen Gesicht sagte nichts. Vier Gesichter starrten John an. Der andere schaute resolut aus dem Fenster.

John fragte: »Habt ihr die Moholes sabotiert?«

»Wir wollen, dass ihr die Immigration anhaltet.«

»Ich will, dass ihr mit der Sabotage Schluss macht. Die bringt nur mehr Leute hierher. Polizei.«

Der Mann sah ihn scharf an. »Wie kommst du auf den Gedanken, dass wir die Saboteure kontaktieren können?«

»Findet Sie! Macht euch an sie heran. Bei Nacht.«

Der Mann lächelte. »Aus den Augen, aus dem Sinn.«

»Nicht unbedingt.«

Sie mussten bei Hiroko sein. Ockhams Skalpell. Eniia non sunt multiplicanda praeter necessitatem. Es konnte nicht mehr als eine verborgene Gruppe geben. Oder vielleicht doch? John fühlte sich schwindelig und überlegte, ob sie etwa die Luft manipulierten. Aerosoldrogen freisetzten. Er fühlte sich entschieden seltsam. Alles war surreal traumhaft. Der Wind schüttelte den Rover und schickte einen Stoß aeolischer Musik vorbei, einen unheimlich lang gezogenen Ton. Seine Gedanken waren langsam und drückend, und er hätte fast gegähnt. Das ist es, dachte er. Ich versuche immer noch, aus einem Traum zu erwachen.

»Warum versteckt ihr euch?« hörte er sich sagen.

»Wir erbauen den Mars. Genau wie du. Wir sind auf deiner Seite.«

»Also solltet ihr auch helfen.« Er versuchte nachzudenken. »Was ist mit dem Raumlift?«

»Darum kümmern wir uns nicht.« Der Junge kicherte. »Darauf kommt es nicht an. Auf Menschen kommt es an.«

»Der Aufzug wird noch viel mehr Leute herbeischaffen.«

Der Mann dachte darüber nach »Verlangsamt die Einwanderung, dann kann er überhaupt nicht gebaut werden.«

Wieder langes Schweigen, unterstrichen durch den unheimlichen Kommentar des Windes. Kann nicht einmal gebaut werden? Dachten sie, dass Menschen ihn bauen würden? Oder vielleicht meinten sie das Geld.

John sagte: »Ich werde mich darum kümmern.« Der Junge wandte sich um und starrte ihn an. John hob die Hand, um ihm zuvorzukommen. »Ich werde tun, was ich kann.« Seine Hand stand vor ihm, ein großes rosiges Ding. »Das ist alles, was ich sagen kann. Falls ich Ergebnisse verspräche, wäre das gelogen. Ich weiß, was ihr wollt. Ich werde tun, was ich kann.« Er dachte mühsam weiter nach. »Ihr solltet euch draußen im Freien aufhalten. Wir brauchen mehr Hilfe.«

»Jeder auf seine Weise«, sagte der Mann ruhig. »Wir werden jetzt gehen. Wir werden weiter verfolgen, was du tust.«

»Sagt Hiroko, dass ich mit ihr sprechen will!«

Die fünf Männer sahen ihn an, der Junge scharf und ärgerlich. Der mit dem schmalen Gesicht lächelte kurz. »Wenn ich sie sehe, werde ich es ihr sagen.«

Einer der hockenden Männer hielt eine durchscheinende blaue Masse hin — ein Aerogelschwamm, kaum sichtbar unter der Nachtbeleuchtung. Die Hand, die ihn hielt, bildete eine Faust. Ja, eine Droge. Er stieß zu und erwischte den Jungen überraschend, umklammerte seinen nackten Hals und fiel dann gelähmt um.

Als er wieder zu sich kam, waren sie fort. Er hatte Kopfschmerzen und fiel zu einem unerquicklichen Schlaf aufs Bett. Der Traum von Frank kehrte erstaunlicherweise zurück, und John erzählte ihm von dem Besuch. Frank sagte: »Du bist ein Narr. Du verstehst nicht.«

Als er wieder aufwachte, war es Morgen. Vor der Windschutzscheibe wirbelte es rotbraun dahin. Die Winde schienen im letzten Monat schwächer geworden zu sein, aber man konnte nicht recht sicher sein. In den Staubwolken erschienen für kurze Zeit Gestalten und fielen dann wieder ins Chaos zurück, in kleine unsinnige Halluzinationen. Er war wirklich die Sinne raubend, dieser Sturm, und er erzeugte Klaustrophobie. John nahm etwas Omeg zu sich, zog sich an und ging umher. Er versuchte die Spuren seiner Besucher zu verfolgen. Die führten über Urgestein und verschwanden. Eine schwierige Begegnung, sollte er meinen. Ein in der Nacht verirrter Rover — wie hatten sie ihn gefunden?

Aber wenn sie ihm auf der Spur geblieben waren …

Wieder im Innern rief er die Satelliten an. Radar und Infrarot fanden nichts außer seinem Rover. Sogar Schutzanzüge wären im IR aufgetaucht. Also hatten sie vermutlich in der Nähe eine Unterkunft. Es war leicht, sich in Bergen wie diesen zu verstecken. Er rief seine Hiroko-Karte auf und zog einen rohen Kreis um seinen Standort mit Erweiterungen nach Norden und Süden ins Gebirge. Er hatte inzwischen etliche Kreise auf der Hiroko-Karte; aber keiner von ihnen war von Bodenmannschaften gründlich durchsucht worden. Wahrscheinlich würden sie das auch nicht werden, da sie meist in chaotischem Gelände lagen, in unwirtlichem Land von der Größe von Wyoming oder Texas. »Es ist eine große Welt«, murmelte er.

Er ging im Innern des Wagens umher und schaute auf den Fußboden. Dann fiel ihm ein, was er zuletzt getan hatte. Er blickte unter seine Fingernägel. Jawohl, dort klebte ein kleiner Hautfetzen. Er holte eine Laborschale aus dem Autoklaven und schabte vorsichtig das, was da war, hinein. Identifikation von Genomen lag gänzlich außerhalb der Möglichkeiten des Rovers, aber jedes große Laboratorium sollte imstande sein, den Jungen zu identifizieren, falls sein Genom aufgezeichnet wäre. Falls nicht, wäre auch das eine nützliche Information. Und vielleicht könnten Ursula und Vlad seine Eltern ermitteln.


An diesem Nachmittag fand er die Transponderstrecke wieder und gelangte am nächsten Tag spät ins Hellas-Becken. Dort traf er Sax, der an einer Konferenz über den neuen See teilnahm, obwohl es eher schien, dass es zu einer Konferenz über Ackerbau unter künstlicher Beleuchtung wurde. Am nächsten Morgen nahm John Sax zu einem Spaziergang in den klaren Tunneln zwischen den Gebäuden mit, und sie schritten in einem wechselnden gelben Dämmerlicht dahin. Die Sonne war ein safranfarbener Schimmer in den Wolken im Osten. John sagte: »Ich glaube, ich bin dem Cojoten begegnet.«

»Wirklich? Hat er dir gesagt, wo Hiroko ist?«

»Nein.«

Sax zuckte die Achseln. Er schien durch die Rede abgelenkt zu sein, die er am Abend halten musste. Also beschloss John zu warten und hörte sich am Abend zusammen mit den Bewohnern der See-Station die Rede an. Sax versicherte der Menge, dass Mikrobakterien in Atmosphäre, Oberfläche und Permafrost in einem Tempo wüchsen, das ein wesentlicher Bruchteil ihres theoretischen Maximums wäre — etwa zwei Prozent, um genau zu sein — und dass man binnen weniger Jahrzehnte die Probleme von Kultivierung im Freien würde erwägen müssen. Einen Applaus gab es bei dieser Ankündigung nicht, weil alle durch die schrecklichen Probleme absorbiert waren, die der Große Sturm heraufgeführt hatte, dessen Ausbruch sie auf eine Fehlkalkulation von Sax zurückzuführen schienen. Die Sonnenbestrahlung der Oberfläche war immer noch zu 25 Prozent normal, wie einer von ihnen angriffslustig ausführte, und der Sturm ließ kein Ende erkennen. Die Temperaturen waren gefallen, und die Gemüter erhitzten sich. Keine neu Angekommenen hatten jemals mehr als ein paar Meter um sich gesehen, und psychologische Probleme von Langeweile bis Katatonie waren pandemisch.

Sax tat das alles mit einem milden Achselzucken ab. Er sagte: »Es ist der letzte globale Sturm. Er wird in die Geschichte eingehen als eine Art heroisches Zeitalter. Genießt ihn, solange er währt!«

Das fand nur schwachen Anklang. Aber Sax schien es nicht zu bemerken.

Ein paar Tage später fuhren Ann und Simon in die Siedlung mit ihrem Sohn Peter, der inzwischen drei Jahre alt war. Er war, soweit man sagen konnte, das dreiunddreißigste auf dem Mars geborene Kind. Die nach den Ersten Hundert eingerichteten Kolonien hatten sich als sehr fruchtbar erwiesen. John spielte mit dem Jungen im Flur, während er, Ann und Simon Neuigkeiten austauschten und sich einige der Tausendundein Geschichten über den Großen Sturm erzählten. John hatte den Eindruck, dass Ann den Sturm genoss und den gewaltigen Stoß, den er dem Prozess des Terraformens versetzte, als eine Art planetarer allergischer Reaktion interpretierte. Die Temperaturen sanken unter den Grundwert, die rücksichtslosen Experimentierer kämpften mit ihren schwachen blockierten Maschinen … Aber sie war nicht erfreut, sondern sogar wie üblich gereizt. »Eine Wünschelrutengruppe hat einen Vulkanschlot in Daedalia angebohrt und dabei eine Probe mit einzelligen Mikroorganismen erhalten, die sich wesentlich von den Cyanobakterien unterscheiden, die ihr im Norden freigesetzt habt. Und der Schlot war fast völlig in Urgestein eingeschlossen und sehr weit von allen biotischen Freilassungsstellen entfernt. Sie schickten Proben von dem Zeug zur Analyse nach Acheron, und Vlad hat sie untersucht. Er erklärte, dass es nach einem mutierten Stamm aussähe von denen, die sie freigesetzt hätten, vielleicht durch kontaminiertes Bohrgerät dem Probegestein injiziert.« Ann stieß John auf die Brust. »›Wahrscheinlich terrestrisch‹« hat Vlad gesagt. Wahrscheinlich terrestrisch!

»Warscheinlich teilisch« ,sagte der kleine Junge. Er traf Anns Tonfall perfekt.

»Nun, wahrscheinlich ist er das«, sagte John.

»Aber wir werden das nie erfahren! Sie werden noch jahrhundertelang darüber debattieren, es wird eine Zeitschrift eigens für dies Thema geben, aber wir werden niemals wirklich wissen.«

»Wenn es zu schwierig zu sagen ist, ist es wahrscheinlich terrestrisch«, sagte John und grinste den Jungen an. »Alles, was sich getrennt vom irdischen Leben entwickelt hat, würde sich sofort verraten.«

»Wahrscheinlich«, sagte Ann. »Es sei denn, es gäbe eine gemeinsame Quelle, zum Beispiel die Theorie der Sporen im Weltraum oder planetare Auswürfe von in Gestein eingebetteten Mikroorganismen.«

»Das ist aber nicht allzu wahrscheinlich.«

»Wir wissen es nicht. Wir werden es jetzt nie erfahren.«

John hatte Mühe, ihre Besorgnis zu teilen. »Sie könnten von den Viking-Landesonden gekommen sein. Man hat sich nie allzu sehr bemüht, unsere Forschungen hier steril zu machen. So ist es nun einmal. Inzwischen haben wir dringendere Probleme.« So wie ein globaler Staubsturm, der länger dauert, als man je verzeichnet hat; oder ein Zustrom von Immigranten, deren Interesse am Mars so minimal war wie ihre Behausung; oder eine bevorstehende Revision des Vertrags, der niemand zustimmen kann; oder ein Terraformungsunternehmen, das vielen verhaßt ist. Oder ein Heimatplanet, der kritisch wird. Oder ein (oder zwei) Versuche, einem gewissen John Boone Schaden zuzufügen.

»Ja, ja«, sagte Ann. »Ich weiß. Aber das ist alles Politik. Davon werden wir nie loskommen. Dies hier war Wissenschaft, eine Frage, die ich beantwortet haben will. Und jetzt kann ich das nicht. Niemand kann es.«

John zuckte die Achseln. »Diese Frage werden wir nie beantworten können, Ann. Das war eine jener Fragen, auf die das Schicksal nie eine Antwort geben wird. Wusstest du das nicht?«

»Warscheinlich teilisch.«


Ein paar Tage danach landete eine Rakete auf dem kleinen Raumhafen der Seestation, und eine kleine Gruppe Terraner tauchte aus dem Staub auf. Sie hüpften noch herum beim Gehen. Untersuchungsagenten, wie sie sagten, auf Geheiß der UNOMA hier, um nach Sabotage und verwandten Vorfällen zu schauen. Es waren im ganzen zehn Personen, acht adrette junge Männer wie aus dem Fernsehen und zwei attraktive junge Frauen. Die meisten waren vom amerikanischen FBI abgeordnet worden. Ihr Anführer, ein großer braunhaariger Mann namens Sam Houston, ersuchte um ein Interview mit Boone, dem dieser höflich zustimmte.

Als sie sich am nächsten Morgen trafen — es waren sechs Agenten da, einschließlich der beiden Frauen —, beantwortete John jede Frage ohne Zögern, obwohl er ihnen instinktiv nur das erzählte, was sie seiner Meinung nach schon wussten, dazu ein bisschen mehr, um aufrichtig und hilfsbereit zu erscheinen. Die Leute waren höflich und rücksichtsvoll, gründlich in ihren Fragen und extrem zurückhaltend, wenn er sie seinerseits etwas fragte. Sie schienen über viele Details der Lage auf dem Mars in Unwissenheit zu sein und fragten ihn nach Dingen, die während der ersten Jahre in Underhill geschehen waren oder während der Zeit von Hirokos Verschwinden. Offenbar kannten sie die Ereignisse jener Zeit und die Grundtatsachen der mannigfachen Beziehungen unter den Medienstars der Ersten Hundert. Sie stellten ihm eine Menge Fragen über Maya, Phyllis, Arkady, Nadia, die Acherongruppe, Sax … Diese alle waren diesen jungen Terranern wohlbekannt, ständige Festpunkte auf ihren Fernsehern. Aber es schien, dass sie wenig über das hinaus wussten, was auf Band aufgenommen und zur Erde gesendet worden war. John ließ seine Gedanken schweifen und fragte sich, ob das für alle Terraner zuträfe. Und was für Informationsquellen hatten sie wohl noch?

Am Ende des Interviews fragte ihn einer namens Chang, ob er noch etwas anderes sagen wolle. John, der neben vielen anderen Dingen einen Bericht über den mitternächtlichen Besuch des Cojoten ausgelassen hatte, sagte: »Ich wüsste nicht, was.«

Chang nickte, und dann sagte Sam Houston: »Wir würden es schätzen, wenn Sie uns Zugang zu Ihrem PC über diese Dinge gestatten würden.«

»Tut mir leid«, sagte John und machte ein um Entschuldigung bittendes Gesicht. »Ich gestatte keinen Zugang zu meinem PC.«

»Haben Sie eine Zerstörungssperre dran?« sagte Houston, sichtlich überrascht.

»Nein. Ich tue es einfach nicht. Das sind meine privaten Aufzeichnungen.« John sah dem Mann fest ins Auge und beobachtete, wie er sich unter dem Blick seiner Gefährten wand.

»Wir … hm … wir können eine Vollmacht von UNOMA bekommen, wenn Sie das wünschen.«

»Ich zweifle wirklich daran, dass Sie das können. Aber selbst dann werde ich Sie nicht hineinlassen.«

John lächelte den Mann an und musste fast lachen. Es war wieder einmal nützlich, der Erste Mann auf dem Mars zu sein. Sie konnten ihm weiter nichts antun, ohne viel mehr Unruhe zu stiften, als es wert war. Er stand auf und betrachtete die kleine Schar mit so viel lässiger Arroganz, wie er aufbringen konnte. Und das war ziemlich viel. »Lassen Sie es mich wissen, wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann.«

Er verließ den Raum. »Pauline, schalte dich in das Kommunikationszentrum ein und kopiere von dem, was gesendet wird, alles, was du kriegen kannst!« Dann rief er Helmut an. Er war sich darüber im klaren, dass auch seine eigenen Rufe erfasst werden konnten, und hielt seine Fragen kurz, als ob er bloß Empfehlungsschreiben nachprüfen würde. Jawohl, die UNOMA hatte ein Team ausgeschickt. Es war Teil einer Eingreiftruppe, die in den letzten sechs Monaten zusammengestellt worden war, um Schwierigkeiten zu beheben.

Also auf dem Mars sowohl Polizei wie auch Detektive. Nun, das war zu erwarten gewesen. Aber es war trotzdem lästig. Er konnte nicht viel tun, wenn die herumhingen und ihn beobachteten, misstrauisch, weil er ihnen keinen Zugang zu Pauline gewährt hatte. Und in Hellas gab es ohnehin nicht viel zu tun. Es hatte hier keine Fälle von Sabotage gegeben und erschien unwahrscheinlich, dass jetzt welche vorkommen würden. Maya war teilnahmslos. Sie wollte nicht mit seinen Problemen behelligt werden und hatte genug eigene Probleme mit den technischen Aspekten des Wasserlagerprojekts. Sie sagte ärgerlich: »Diese Dinge passieren dir, ein Lastwagen in Thaumasia, eine Quelle in Bakhuysen; und jetzt willst du sie nicht an deine Aufzeichnungen heranlassen. Warum tust du das nicht einfach?«

»Weil ich sie nicht leiden kann«, sagte John und sah sie an. Es war mit Maya wieder normal. Nun, nicht ganz. Sie erledigten ihre Routine in gehobener Stimmung, als ob sie eine gute Rolle im Theater spielen würden. Sie wussten, dass sie Zeit hatten für alles. Sie wussten jetzt, was real war und was ihrer Beziehung zugrunde lag. In diesem Sinne war es also viel besser. Oberflächlich erschien es allerdings wie dasselbe alte Melodram. Maya weigerte sich zu verstehen, und John gab schließlich auf. Er dachte einige Tage darüber nach. Er ging zu den Labors der Station und ließ die Hautproben, die er unter seinen Fingernägeln genommen hatte, kultivieren, klonen und lesen. In den Akten des Planeten gab es keine einzige Person mit diesem Genom. Also schickte er die Information nach Acheron mit der Bitte um Analyse und jede mögliche Information. Ursula schickte ihre Resultate codiert zurück mit einem einzigen Wort am Schluss: Gratuliere.

Er las die Nachricht noch einmal und fluchte laut. Er ging spazieren, abwechselnd lachend und schimpfend. »Verdammt sollst du sein, Hiroko! Geh zum Teufel! Komm aus deinem Loch heraus und hilf uns! Ah, ha ha ha! Du Biest! Mir ist von diesem Persephone-Mist ganz übel.«

Selbst die Gehröhren bedrückten ihn in diesem Moment. Er ging zurück zur Garage, zog sich an und ging zu einem Spaziergang im Freien aus der Schleuse, dem ersten seit vielen Tagen. Er befand sich draußen am Ende des nördlichen Zweiges der Stadt auf glattem Wüstenboden. Er wanderte umher und blieb in der fluktuierenden Säule staubfreier Luft stehen, die jede Stadt erzeugte, und dachte über die Lage nach, während er die Stadt überblickte. Hellas wurde viel weniger eindrucksvoll als Burroughs oder Acheron oder Echus oder sogar Senzeni Na. Am tiefsten Punkt des Beckens gelegen, besaß es keine Höhen, auf denen man bauen konnte, und keine Aussicht. Obwohl der peitschende Staub die Beurteilung gerade erschwerte. Die Stadt war in Form einer Sichel erbaut worden, die schließlich die Küstenlinie des neuen Sees bilden sollte. Das könnte hübsch aussehen, wenn es so weit war — eine Strandpromenade. Aber vorerst war es so uninteressant wie Underhill. Mit allen neuesten Errungenschaften an Kraftwerk und Dienstleistungsapparat, Einsaugventilen, Kabeln, Tunneln wie gigantische abgestreifte Schlangenhäute. Es war das Aussehen einer alten Forschungsstation ohne jede Ästhetik. Nun, das war fein. Sie konnten nicht jede Station auf einen Berggipfel setzen.

Ihm begegneten zwei Personen, deren Gesichtsscheiben polarisiert waren. Er fand das seltsam, da es in dem Sturm so trübe war. Dann sprangen sie ihn an und stießen ihn um. Er schob den Sand mit einem wilden John-Carter-Sprung weg und streckte die Fäuste aus, aber zu seiner Überraschung rannten sie weg in die Wolken aus vorbeirasendem Staub. Er torkelte und starrte ihnen nach. Sie verschwanden hinter den Staubschleiern. Sein Puls raste. Dann fühlte er seine Schultern brennen. Er griff nach oben und hinten. Sie hatten seinen Schutzanzug aufgerissen. Er presste die Hand auf den Riss und fing an rasch zu laufen. Er konnte seine Schultern überhaupt nicht mehr fühlen. Es war unbequem zu laufen mit dem Arm oben auf dem Rücken. Sein Luftvorrat schien zu stimmen. Nein, ein Riss im Rohr am Halse. Er nahm seine Hand so lange von der Schulter, dass er maximalen Fluss auf seinem Handgerät eintippen konnte. Die Kälte strömte ihm den Rücken hinunter wie gespenstisches Eiswasser. Hundert Grad unter Null. Er hielt den Atem an und konnte Staub auf den Lippen fühlen, der ihm den Mund verklebte. Unmöglich zu sagen, wie viel Kohlendioxid in seine Sauerstoffzufuhr geriet; aber viel war nicht nötig, um einen zu töten.

Die Garage tauchte aus der Finsternis auf. Er war gerade darauf zugerannt und fühlte sich sehr mit sich zufrieden, bis er an die Schleusentür kam, den Knopf für Öffnen drückte und nichts geschah. Es war leicht, die Außentür einer Schleuse zu sperren, indem man bloß die innere offen ließ. Seine Lunge brannte, er musste Luft holen. Er rannte um die Garage herum zu der Gehröhre, die sie mit dem eigentlichen Habitat verband, erreichte diese und starrte durch die Plastikschichten hinein. Niemand in Sicht. Er nahm die Hand von dem Riss auf seiner Schulter weg, öffnete, so schnell er konnte, den Kasten auf seinem linken Unterarm und holte den kleinen Bohrer heraus. Er stellte ihn an und stieß ihn in die Plastik, die nachgab, ohne zu brechen, und sich um die Spitze des Bohrers wickelte, bis dieser fast seinen Ellbogen zerbrach. Er stocherte wild damit herum und schaffte es schließlich, dass die Plastik riss. Dann schlitzte er sie nach unten hin auf und erweiterte das Loch, bis er seinen Helm hindurchquetschen konnte. Als er bis zur Hüfte drin war, hielt er still und benutzte seinen Körper als groben Pflock für das Loch. Er klammerte den Helm los, riss ihn sich vom Kopf und japste nach Luft wie nach einem langen Tauchgang — aus ein, aus ein. Er musste das CO2 aus dem Blut entfernen. Schultern und Hals waren taub. Unten an der Garage läutete eine Alarmglocke.

Nach zwanzig Sekunden intensiven Nachdenkens zwängte er die Beine durch das Loch und rannte durch die schnell Druck verlierende Röhre zum Habitat, weg von der Garage. Glücklicherweise öffnete sich die Tür dort auf Befehl. Einmal im Innern, sprang er in einen Aufzug und fuhr bis zum dritten unterirdischen Stockwerk, wo er in einer Gästesuite wohnte. Er ließ die Lifttür offen und schaute hinaus. Niemand zu sehen. Er eilte in sein Zimmer. Drinnen zog er den Schutzanzug aus und stopfte ihn und den Helm in seinen Schrank. Im Bad zuckte er zusammen beim Anblick von Schulter und oberem Rücken, die weiß geworden waren. Ein wirklich schlimmer Fall von Erfrierung. Er nahm schmerzsstillende Mittel ein und eine dreifache Dosis Omegendorph, zog ein Hemd mit Kragen an, Hosen und Schuhe. Er kämmte das Haar und brachte sich in Ordnung. Das Gesicht im Spiegel zeigte glasige Augen und wirkte fast betäubt. Er zwang sich zu stärksten Grimassen, schlug sich ins Gesicht, bemühte sich um eine normale Miene und begann tief zu atmen. Die Drogen fingen an zu wirken, und sein Spiegelbild sah etwas besser aus.

Er ging hinaus in die Halle und zu der großen Promenade an der Grabenwand, die weitere drei Stockwerke in die Tiefe führte. Während er am Geländer entlangschritt, schaute er auf die Leute unten und empfand eine eigenartige Mischung von gehobener Stimmung und Wut. Dann kamen Sam Houston und eine seiner Kolleginnen auf ihn zu.

»Entschuldigen Sie, Mr. Boone, aber würden Sie bitte mit uns kommen?«

»Was ist los?«

»Es hat wieder einen Zwischenfall gegeben. Jemand hat eine Gehröhre aufgeschnitten.«

»Eine Gehröhre aufgeschnitten? Das nennen sie einen Zwischenfall? Wir haben Satelliten, die aus der Bahn fliegen und Lastwagen, die in Bohrlöcher stürzen, und Sie nennen so einen Streich einen Zwischenfall?«

Houston starrte ihn an, und Boone hätte ihn fast ausgelacht. »Wie denken Sie, dass ich helfen kann?« fragte er.

»Wir wissen, dass Sie für Dr. Russell daran arbeiten. Wir dachten, dass sie gern informiert sein würden.«

»Oh, ich verstehe. Na schön, gehen wir also, es uns anzuschauen.«

Und dann hieß es, fast zwei Stunden lang Schritt zu halten, wobei ihm die Schultern die ganze Zeit wie Feuer brannten. Houston und Chang und die anderen Untersuchungsbeamten sprachen mit ihm, als ob sie ihm vertrauten und an seinen Bemerkungen interessiert wären. Aber ihre Blicke waren kühl abschätzend. John erwiderte sie mit einem leichten Lächeln.

»Warum gerade jetzt, möchte ich wissen«, sagte Houston.

John antwortete: »Vielleicht gefallt es jemandem nicht, dass Sie hier sind.« -Erst als die ganze Scharade zu Ende war, hatte er Zeit, darüber nachzudenken, weshalb er verhindern wollte, dass sie die Attacke aufklären würden. Ohne Zweifel hätte das noch mehr Detektive herbeigezogen, und das wäre schlimm. Und sicher wäre es die Spitzenmeldung auf Mars und Erde geworden, was ihn wieder in ein riesiges Goldfischglas geworfen hätte. Und er hatte das Goldfischglas satt.

Aber es war noch mehr daran, das er nicht genau festlegen konnte. Der Detektiv des Unterbewusstseins. Er knurrte missmutig. Um sich von dem Schmerz abzulenken, marschierte er von einem Speisesaal in den anderen in der Hoffnung, eine Miene schlecht verhohlener Überraschung zu finden, wenn er in den Raum kam. Zurück von den Toten! Wer von euch hat mich ermordet? Und ein- oder zweimal sah er jemanden vor seinem flüchtigen Blick zurückzucken. Aber es war so, wie er mürrisch meinte, dass viele Leute vor seinem Blick zurückzuckten. Als ob sie den Blick eines Monstrums oder Verdammten vermeiden wollten. Er hatte seinen Ruhm noch nie so empfunden, und das machte ihn wütend.

Die schmerzstillenden Mittel ließen nach, und er kehrte zeitig in seine Suite zurück. Die Tür war offen. Als er hineinstürmte, fand er drinnen zwei UNOMA-Detektive. »Was tun Sie hier?« rief er ärgerlich.

»Wir warteten bloß auf Sie«, sagte der eine ölig. Sie sahen einander an. »Wir wollten nicht, dass jemand versuchen würde, etwas anzustellen.«

»Wie Einbrechen und Eintreten?« fragte Boone. Er stand im Türrahmen und lehnte sich dagegen.

»Das gehört zu unserem Job, Sir. Tut uns leid, Sie in Erregung versetzt zu haben.«

»Wer hat sie hierzu ermächtigt?« fragte Boone und kreuzte die Arme über der Brust.

Sie sahen sich wieder an. »Nun, Mr. Houston ist unser vorgesetzter Offizier …«

»Rufen Sie ihn und schaffen Sie ihn her!«

Einer flüsterte in sein Armbandgerät. In verdächtig kurzer Zeit erschien Sam Houston im Gang; und als er vor Eile rot wurde, musste John lachen. »Was haben Sie gemacht, da um die Ecke versteckt?«

Houston trat dicht an ihn heran, beugte sich vor und sagte mit leiser Stimme: »Sehen Sie, Mr. Boone, wir sind hier mitten in einer überaus wichtigen Untersuchung, und Sie behindern diese. Obwohl Sie das zu glauben scheinen, Sie stehen nicht über dem Gesetz …«

Boone ruckte so rasch nach vorn, dass Houston nicht vermeiden konnte, dass ihre Nasen zusammenstießen. »Sie sind nicht das Gesetz«, sagte er. Er streckte die Arme, stieß Houston vor die Brust und trieb ihn weiter den Gang hinunter. Jetzt verlor Houston die Beherrschung, und John lachte ihn aus. »Was werden Sie mit mir machen, Officer? Mich verhaften? Bedrohen? Mir etwas Gutes erweisen, das ich in meinem nächsten Bericht für Eurovid erwähne? Wünschen Sie sich das? Möchten Sie, dass ich der Welt zeige, wie John Boone von einem Lamettahengst von Beamten behelligt wurde, der zum Mars gekommen ist in der Meinung, er wäre ein Sheriff im Wilden Westen?« Er dachte daran, dass jemand, der von sich in der dritten Person sprach, sich selbst zum Narren machte. Er lachte und sagte: »John Boone hat so etwas nicht gern. Ganz und gar nicht!«

Die anderen zwei hatten die Gelegenheit ergriffen, sich aus dem Zimmer zu schleichen, und sahen nun gespannt zu Houstons Gesicht hatte die Farbe von Ascraeus Mons angenommen, und seine Zähne waren entblößt. Er krächzte: »Niemand steht über dem Gesetz. Hier ereignen sich kriminelle Delikte, sehr gefährliche, und nicht wenige davon geschehen, wenn Sie in der Nähe sind.«

»Wie zum Beispiel Einbrechen und Eintreten.«

»Wenn wir entscheiden, dass wir Ihre Räume durchsuchen müssen oder Ihre Aufzeichnungen, um unsere Untersuchungen durchzuführen, werden wir das tun. Wir haben die Autorität dazu.«

»Ich sage, Sie haben sie nicht«, sagte John arrogant und schnippte mit den Fingern dem Mann ins Gesicht.

»Wir werden Ihre Zimmer durchsuchen«, sagte Houston und betonte jedes Wort sorgfältig.

»Haut ab!« sagte John verächtlich, sprang auf die anderen zwei los und scheuchte sie zurück. Er lachte mit wütend geschürzten Lippen. »So ist es recht. Haut ab! Raus hier! Ihr seid hier zu nichts befugt! Haut ab und lest die Vorschriften über Durchsuchen und Festnahme!«

Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich zu.

Er machte eine Pause. Es klang so, als würden sie gehen; aber er musste so oder so tun, als ob es ihn nicht kümmern würde. Er lachte, ging ins Bad und nahm noch einige Schmerzstiller ein.

Sie waren noch nicht bis zum Schrank vorgedrungen. Das war ein Glück. Es wäre schwierig gewesen, den zerrissenen Anzug zu erklären, ohne die Wahrheit zu sagen, und das wäre peinlich gewesen. Seltsam, wie verzwickt es wurde, wenn man die Tatsache verheimlichte, dass jemand versucht hatte, einen umzubringen. Das ließ ihn innehalten. Der Versuch war schließlich doch sehr ungeschickt gewesen. Es müsste hundert wirksamere Wege geben, um jemanden auf dem Mars im Freien in einem Schutzanzug zu töten. Wenn sie also bloß versuchten, ihn zu ärgern oder vielleicht hofften, dass er versuchen würde, den Angriff zu verheimlichen, so dass sie ihn der Lüge überführen könnten und dann etwas gegen ihn in der Hand hätten …

Er schüttelte verwirrt den Kopf. Ockhams Skalpell. Das wichtigste Instrument des Detektivs. Wenn einen jemand angreift, will er einem Böses. Das war die fundmentale Tatsache. Es war wichtig herauszufinden, wer die Angreifer waren. Und so weiter. Die schmerzstillenden Mittel waren stark, und das Omegendorph lass nach. Das Denken fiel schwerer. Es würde ein Problem sein, den Schutzanzug loszuwerden. Besonders der Helm war ein großes sperriges Ding. Aber jetzt steckte er in der Sache drin, und es gab keinen eleganten Ausweg. Er lachte. Er wusste, dass ihm schon etwas einfallen würde.


Er wollte mit Arkady sprechen. Ein Anruf erklärte aber, dass Arkady die gerontologische Behandlung mit Nadia in Acheron beendet hatte und sich nach oben zu Phobos begeben hatte. John hatte den schnellen kleinen Mond noch nie besucht. »Warum kommst du nicht herauf und siehst ihn dir an?« fragte Arkady am Telefon. »Besser, sich persönlich zu unterhalten, nicht wahr?«

»Okay.«

Er war seit der Landung der Ares vor fünfundzwanzig Jahren nicht mehr im Weltraum gewesen, und die gewohnten Eindrücke von Beschleunigung und Gewichtslosigkeit riefen einen unerwarteten Anfall von Übelkeit hervor. Er erzählte Arkady davon, als sie bei Phobos andockten, und Arkady sagte: »Mir ist es immer so ergangen, bis ich anfing, kurz vor dem Start Wodka zu trinken.« Er hatte dafür eine lange physiologische Erklärung, aber die Details machten John nervös, und er bat ihn aufzuhören. Arkady lachte. Die gerontologische Behandlung hatte ihm den üblichen postoperativen Schwung gegeben, und er war schon vorher ein glücklicher Mensch gewesen. Er sah so aus, als würde ihm tausend Jahre lang nicht wieder schlecht werden.

Stickney erwies sich als eine kleine aufblühende Stadt. Die Betonkuppel des Kraters war mit dem neuesten Strahlenschutz verkleidet, und der Boden des Kraters verlief in konzentrischen Ringen terrassenförmig bis zu einer Plaza ganz unten. Die Ringe wechselten zwischen Parks und zweistöckigen Gebäuden mit Dachgärten. In der Luft gab es Netze für Leute, die bei ihren Sprüngen über die Stadt die Orientierung verloren oder durch einen Unfall in die Höhe sprangen. Die Entweichgeschwindigkeit betrug nur fünfzig Kilometer in der Stunde, so dass es fast möglich war, von dem Mond direkt wegzulaufen. Genau unter dem Fundament der Kuppel erspähte John eine kleine Version des außen herumlaufenden Zuges, die gegenüber den Bauten der Stadt horizontal verlief und sich mit einer Geschwindigkeit bewegte, die ihren Passagieren das Gefühl von Marsschwere vermittelte. Die Bahn hielt viermal am Tage, um Leute aufzunehmen. Aber wenn John sich dort hineinflüchten würde, hätte das nur seine Akklimatisation verzögert. Darum ging er zu dem ihm zugewiesenen Gästezimmer und wartete in jämmerlichem Zustand ab, bis die Übelkeit abklang. Anscheinend war er jetzt ein Planetenbewohner, endgültig ein Marsmensch, so dass es schmerzhaft war, den Mars zu verlassen. Lächerlich, aber wahr.

Am nächsten Tag fühlte er sich besser, und Arkady machte mit ihm eine Besichtigungstour von Phobos. Das Innere war von Tunneln, Gängen, Stollen und mehreren riesigen offenen Kammern ausgehöhlt, von denen in vielen noch Wasser und Treibstoff gewonnen wurde. Die meisten Tunnels im Innern des Mondes waren glatte zweckmäßige Röhren, aber die Innenräume und einige der großen Gänge waren nach Arkadys sozioarchitekturellen Theorien gestaltet; und er führte John durch einige dieser runden Korridore, gemischte Gebiete für Arbeit und Erholung und geätzte Metallwände — alles Merkmale, die zum Standard geworden waren während der nach Kratern orientierten Phase des Bauens auf dem Mars, auf die Arkady aber immer noch stolz war.

Drei der kleinen Krater gegenüber von Stickney waren mit Glas abgedeckt und voller Dörfer, die eine Aussicht auf den unter ihnen dahinrasenden Planeten boten, wie sie niemals von Stickney aus möglich waren, da die Hauptachse von Phobos ständig auf den Mars gerichtet war, wobei der große Krater immer in die entgegengesetzte Richtung zeigte. Arkady und John standen in Semenov und schauten durch die Kuppel zum Mars auf, der den halben Himmel ausfüllte und von Staubwolken verhüllt war, so dass keine Merkmale zu erkennen waren. »Der Große Sturm«, sagte Arkady. »Sax muss allmählich durchdrehen.«

»Nein«, sagte John. »Er hält es für eine momentane Erscheinung.«

Arkady johlte. Die beiden waren schon wieder in ihre alte Kameraderie verfallen, in das Gefühl, seit langer Zeit wie gleichgestellte Brüder zu sein. Arkady war immer noch derselbe, lachend, scherzend, ein großer Witzbold, aus dem Ideen und Gedanken strömten, die auf eine Weise zuversichtlich waren, die John mächtig freute, selbst jetzt, da er sicher war, dass viele Ideen Arkadys falsch und sogar gefährlich waren.

Arkady sagte: »Sax hat wahrscheinlich wirklich recht. Wenn diese Altersbehandlungen funktionieren und wir alle um Jahrzehnte länger leben als zuvor, dann wird das sicher eine soziale Revolution bewirken. Die Kürze des Lebens war eine wesentliche Kraft für die Dauer von Institutionen, so seltsam das scheinen mag. Aber es ist viel leichter, sich an irgendeinen kurzlebigen Überlebensplan zu halten, den man hat, als alles mit einem neuen Plan zu riskieren, der nicht funktionieren könnte — ganz gleich, wie zerstörerisch der kurzfristige Plan für die folgenden Generationen sein mag. Sollen die doch damit zurechtkommen. Und man muss auch einräumen, bis die Leute das System gelernt hatten, waren sie alt und starben; und für die nächste Generation war es genau so kompakt und schwer zugänglich und musste wieder von Anfang an erlernt werden. Aber schau, wenn du es lernst und dann fünfzig weitere Jahre anstarrst, wirst du am Ende sagen: Warum soll man es nicht rationaler machen? Warum es nicht näher dem Verlangen unseres Herzens anpassen? Was hält uns auf?«

»Vielleicht werden deshalb die Dinge da unten so seltsam«, sagte John. »Aber irgendwie denke ich, dass diese Leute nicht auf lange Sicht rechnen.« Er gab Arkady einen kurzen Bericht über die Sabotagesituation und erklärte zum Schluss kühn: »Du weißt, wer es macht, Arkady? Steckst du mit drin?«

»Was, ich? Nein, John, du kennst mich besser. Diese Zerstörungen sind dumm. Wie es aussieht, das Werk von Roten. Und ich bin nicht rot. Ich weiß nicht genau, wer es tut. Wahrscheinlich Ann. Hast du sie gefragt?«

»Sie sagt, sie weiß es nicht.«

Arkady kicherte. »Immer der gleiche John Boone! Das gefällt mir. Sieh her, mein Freund, ich werde dir sagen, warum diese Dinge passieren, und dann kannst du es systematisch ausarbeiten und vielleicht mehr sehen. Ah, hier ist die U-Bahn nach Stickney. Los, ich will dir das Gewölbe der Unendlichkeit zeigen. Das ist wirklich ein schönes Stück Arbeit.« Er führte John zu dem kleinen U-Bahn-Wagen, und sie schwebten in einem Tunnel auf das Zentrum von Phobos zu. Dort hielt der Wagen, und sie stiegen aus. Sie stießen sich durch den engen Raum und zogen sich zu einer Halle hinunter. John stellte fest, dass sein Körper sich auf die Gewichtslosigkeit eingestellt hatte, dass er schweben und wieder das Gleichgewicht bewahren konnte. Arkady führte ihn in eine weite offene Galerie, die auf den ersten Blick zu groß erschien, um sich im Innern von Phobos zu befinden. Boden, Wand und Decke waren mit facettierten Spiegeln getäfelt, und jede runde Platte aus poliertem Magnesium befand sich in einem solchen Winkel, dass in diesem Raum von Mikroschwere alles tausendfach hintereinander gespiegelt wurde.

Sie landeten auf dem Fußboden und hakten die Zehen durch Ringe, die wie Pflanzen auf dem Meeresgrund in einer sich bewegenden Vielheit von Arkadys und Johns schwebten. »John, du siehst, die ökonomische Basis des Lebens auf dem Mars verändert sich jetzt«, sagte Arkady. »Nein, spotte ja nicht! Bis jetzt leben wir noch nicht in einer Geldwirtschaft. So sind nun einmal die wissenschaftlichen Stationen. Es ist, als gewönne man einen Preis, der einen von der ökonomischen Tretmühle befreit. Wir haben diesen Preis gewonnen und auch eine Menge anderer; und wir alle sind hier seit Jahren und leben so. Aber jetzt strömen Menschen zu Tausenden auf den Mars! Und viele von ihnen wollen hier arbeiten, einiges Geld verdienen und zur Erde zurückkehren. Sie arbeiten für die Transnationalen, die UNOMA-Konzessionen bekommen haben. Die Buchstaben des Marsvertrages werden eingehalten, weil man annimmt, dass UNOMA allem vorgesetzt ist, aber der Geist des Vertrages wird durch die UN selbst links und rechts verletzt.«

John nickte. »Ja, das habe ich gesehen. Helmut hat es mir direkt ins Gesicht gesagt.«

»Helmut ist eine Schnecke. Aber höre, wenn die Erneuerung des Vertrages ansteht, werden sie den Buchstaben des Gesetzes ändern, um es dem neuen Geist anzupassen. Oder sich sogar die Lizenz geben, noch mehr zu tun. Es geht um die Entdeckung strategisch wichtiger Metalle und den ganzen freien Weltraum. Dies bedeutet Rettung für eine Menge von Ländern da unten und neues Territorium für die Transnationalen.«

»Und du denkst, sie werden genügend Unterstützung finden, um den Vertrag zu ändern?«

Millionen von Arkadys starrten Millionen von Johns an. »Sei nicht so naiv! Natürlich haben sie genug Unterstützung. Schau, der Marsvertrag gründet sich auf den Vertrag über den freien Weltraum. Das war der erste Fehler; dieser Vertrag war in Wirklichkeit ein sehr schwaches Arrangement, und der Marsvertrag ist das auch. Nach den eigenen Bestimmungen des Vertrages können Länder stimmberechtigte Mitglieder des Vertrages werden, indem sie hier ein Interesse konstituieren. Deshalb sehen wir alle die neuen wissenschaftlichen Stationen — die Arabische Liga, Nigeria, Indonesien, Azania, Brasilien, Indien und China und der ganze Rest. Und eine ziemliche Anzahl dieser neuen Länder werden Mitglieder des Vertrages ausdrücklich mit dem Ziel, den Vertrag zur Zeit seiner Erneuerung zu brechen. Sie wollen den Mars für individuelle Regierungen öffnen, außer UN-Kontrolle. Und die Transnationalen benutzen Länder mit Gefälligkeitsflaggen wie Singapore, die Seychellen und Moldavia zum Versuch, den Mars für private Besiedlung zu öffnen, beherrscht von Korporationen.«

»Bis zur Erneuerung sind es einige Jahre«, gab John zu bedenken.

Eine Million Arkadys verdrehte die Augen. »Sie geschieht bereits jetzt. Nicht nur in Worten, sondern in dem, was heute da unten Tag für Tag passiert. Als wir ankamen und zwanzig Jahre danach war der Mars wie die Antarktis, aber noch reiner. Wir befanden uns außerhalb der Welt, wir besaßen fast nichts — etwas Kleidung, ein Lesegerät, und das war’s dann schon! Jetzt weißt du, was ich denke, John. Dieses Arrangement ähnelt der prähistorischen Lebensweise und kommt uns deshalb richtig vor, denn unsere Gehirne erkennen sie wieder nach den drei Millionen Jahren der Praxis. Im wesentlichen sind unsere Gehirne zu ihrer gegenwärtigen Konfiguration gewachsen in Reaktion auf die Realitäten jenes Lebens damals. Im Resultat werden die Menschen dieser Lebensweise mächtig verbunden, wenn sie die Chance erhalten, sie auszuüben. Sie erlaubt dir, deine Aufmerksamkeit auf die reale Arbeit zu konzentrieren, das heißt auf alles, was man tut, um am Leben zu bleiben oder Dinge herzustellen oder die Neugier zu befriedigen oder zu spielen. Das ist eine Utopie, John, speziell für Primitive und Wissenschaftler, das heißt für jedermann. So eine Forschungsstation ist tatsächlich ein kleines Modell einer prähistorischen Utopie, aus der transnationalen Geldwirtschaft geschnitzt von geschickten Primaten, die gut leben wollen.«

»Und du meinst, dass da jeder mitmachen würde?« fragte John.

»Ja, und das könnten sie wohl; aber es wird ihnen nicht angeboten. Und das heißt, es war keine wahre Utopie. Wir schlauen Primatenwissenschaftler waren gewillt, Inseln für uns selbst zu gestalten, aber nicht solche Bedingungen für jedermann zu schaffen. Und so sind diese Inseln in Wirklichkeit ein Teil der transnationalen Ordnung. Die Leute werden dafür bezahlt, sie sind nie wirklich frei, es gibt nie einen Fall wirklich reiner Forschung. Denn diejenigen, welche für die Wissenschaftsinseln bezahlen, werden schließlich einen Ertrag für ihre Investitionen verlangen. Und jetzt treten wir in diese Zeit ein. Man fordert einen Ertrag für unsere Insel. Du siehst, wir betreiben nicht reine, sondern angewandte Forschung. Und mit der Entdeckung strategisch wichtiger Metalle ist die Anwendung deutlich geworden. Und so strömt alles zurück, und wir haben einen Ertrag an Besitztiteln, Preisen und Löhnen. Das ganze Profitsystem. Und die Wissenschaftler werden gefragt: Was tut ihr, wie viel ist es wert? Man verlangt, dass sie ihre Arbeit für Bezahlung tun, und der Profit ihrer Arbeit wird den Eignern der Geschäfte übertragen, für die sie plötzlich arbeiten.«

»Ich arbeite für niemanden«, sagte John.

»Nun gut, aber du arbeitest an dem Terraformungsprojekt, und wer bezahlt dafür?«

John versuchte es mit der Antwort von Sax: »Die Sonne.«

Arkady grölte: »Falsch! Es sind nicht einfach die Sonne und einige Roboter, es ist menschliche Zeit, eine Menge davon. Und diese Menschen müssen essen und so weiter. Also sorgt jemand für sie, für uns, weil wir uns nicht bemüht haben, ein Leben aufzubauen, in dem wir selbst für uns sorgen können.«

John runzelte die Stirn. »Nun ja, im Anfang mussten wir die Hilfe haben. Das waren Milliarden an Dollars für Gerät, das hierher geflogen wurde. Eine Menge Arbeitszeit, würdest du sagen.«

»Ja, das ist wahr. Aber einmal angekommen, hätten wir alle unsere Anstrengungen darauf konzentrieren sollen, uns autark und unabhängig zu machen, und danach es ihnen zurückzahlen und Schluss damit. Aber das haben wir nicht getan, und jetzt sind die Zinswucherer da. Schau, damals am Anfang, wenn uns jemand gefragt hätte, wer mehr Geld verdiente, du oder ich, hätte man das unmöglich sagen können, nicht wahr?«

»Stimmt.«

»Eine sinnlose Frage. Aber jetzt fragst du, und wir müssen uns beraten. Bist du für irgend jemanden als Konsultant tätig?«

»Nein, für niemanden.«

»Ich auch nicht. Aber Phyllis berät Amex, Subarashii und Armscor. Und Frank berät Honeywell-Messerschmitt und GE, Boeing und Subarashii. Und so weiter. Die sind reicher als wir. Und in diesem System bedeutet mehr Reichtum mehr Macht.«

Darum werden wir uns schon kümmern, dachte John. Aber er wollte Arkady nicht wieder zum Lachen reizen und sagte es nicht.

»Und das geschieht überall auf dem Mars«, sagte Arkady. Um sie herum schwenkten Wolken von Arkadys die Arme. Sie sahen aus wie ein tibetisches Mandala rothaariger Dämonen. »Und natürlich gibt es Leute, die merken, was vor sich geht. Oder ich werde es ihnen sagen. Und das ist es, was du verstehen musst, John: Es gibt Leute, die dafür zu kämpfen bereit sind, dass die Dinge so bleiben, wie sie waren. Es gibt Leute, die sich als wissenschaftliche Primitive so wohl gefühlt haben, dass sie sich weigern werden, das kampflos aufzugeben.«

»Also die Sabotagen …«

»Jawohl! Vielleicht werden einige davon von diesen Leuten begangen. Ich halte es für kontraproduktiv, aber sie sind anderer Meinung. Zum größten Teil wird die Sabotage von jenen begangen, die dagegen kämpfen wollen, dass der Mars eine Freizone für transnationale Montanvorhaben wird. Die verhindern wollen, dass wir alle glückliche Sklaven für eine Klasse von Managern werden, die hinter den Mauern ihrer Wohnfestung sitzen.« Er sah John an, und der erkannte in seinem Augenwinkel eine Unendlichkeit von Konfrontationen. »Hast du nicht das gleiche Empfinden?«

»Doch, wirklich.« Er grinste. »Ich denke, wenn wir verschiedener Meinung sind, geht es meistens um Methoden.«

»Welche Methoden schlägst du vor?«

»Nun — eigentlich möchte ich, dass der Vertrag so erneuert wird, wie er ist, und dann eingehalten wird. Wenn das geschieht, werden wir haben, was wir wollen, oder wir werden zumindest die Basis haben, um volle Unabhängigkeit zu erlangen.«

»Der Vertrag wird nicht erneuert werden«, erwiderte Arcady klanglos. »Es wird etwas viel Radikaleres nötig sein, um diese Leute aufzuhalten, John. Direkte Aktion — ja, schau nicht so ungläubig! Besetzung irgendeines Eigentums oder des Kommunikationssystems — die Einführung unserer eigenen Gesetzessammlung, hinter der jedermann steht, draußen in den Straßen — ja, John, ja! Es wird dazu kommen, weil unter dem Tisch Waffen sind. Massendemonstrationen und Aufstände sind das einzige, was sie schlagen wird. Dies lehrt die Geschichte.«

Eine Million Arkadys scharten sich um John und machten ein finstereres Gesicht als jeder Arkady, an den er sich erinnern konnte. So finster, dass die blühenden Züge von Johns Gesicht eine zurückweichende Besorgnis ausdrückten. Er schloss den Mund und sagte dann: »Ich möchte es zuerst auf meine Weise versuchen.«

Das veranlasste alle Arkadys zum Lachen. John schubste ihn scherzhaft am Arm, und Arkady ging zu Boden. Dann stieß er sich ab und griff ihn an. Sie rangen miteinander, solange sie Kontakt halten konnten. Dann flogen sie in entgegengesetzte Seiten des Raums auseinander. In den Spiegeln flohen sie zu Millionen in die Unendlichkeit.

Danach gingen sie wieder zur U-Bahn und zum Dinner in Semenov. Während des Essens sahen sie zur Oberfläche des Mars empor, der wie ein Gasriese wirbelte. Plötzlich kam er John vor wie eine große Orange oder ein Embryo oder ein Ei. Eine neue Kreatur wartete darauf, geboren zu werden, sicher genetisch manipuliert. Und sie waren die Ingenieure, die noch daran arbeiteten, was für eine Kreatur es sein würde. Sie versuchten, alle gewünschten Gene (ihre eigenen) auf Plasmide zu fixieren und in die DNA-Spiralen des Planeten einzufügen, um die Ausdrücke der neuen Chimäre zu bekommen, die sie haben wollten. Ja. Und John gefiel vieles von dem, was Arkady hineintun wollte. Aber er hatte auch seine eigenen Ideen. Sie würden sehen, wer es schaffte, am Ende mehr von dem Genom zu erzeugen.

Er blickte Arkady an, der auch zu dem den Himmel ausfüllenden Planeten aufschaute — mit der gleichen ernsten Miene, die er in der Spiegelhalle gezeigt hatte. Es war ein Ausdruck, der sich John sehr genau und kräftig eingeprägt hatte, wie er fand, aber in der unwirklichen Form der Sicht eines Fliegenauges.


John begab sich wieder in die Dunkelheit des Großen Sturms hinab. Und in den trüben und von Sand durchwehten Tagen sah er Dinge, die er nie zuvor gesehen hatte. Das war der Lohn für die Gespräche mit Arkady. Er betrachtete die Dinge auf eine neue Weise. Er reiste zum Beispiel von Burroughs nach Süden zum Sabishii (›Einsamen‹) Mohole und besuchte die dort lebenden Japaner. Sie waren Oldtimer, das japanische Äquivalent für die Ersten Hundert, schon sieben Jahre nach diesen angekommen. Und anders als diese waren sie eine sehr eng verbundene Einheit geworden und ausgesprochen zu ›Eingeborenen‹ geworden. Sabishii war klein geblieben, auch nachdem das Loch dort gegraben war. Es lag draußen in einem Gebiet roher Steinblöcke in der Nähe des Kraters Jarry-Desloges; und als John das letzte Stück der Transponderstraße zur Siedlung hinunterfuhr, erhaschte er kurze Blicke auf Steine, die zu übergroßen Gesichtern oder Gestalten behauen oder mit eleganten Piktogrammen bedeckt oder zu kleinen Shinto- oder Zen-Schreinen ausgehöhlt waren. Nach diesen Anblicken starrte er in die Staubwolken, aber sie waren immer wie Halluzinationen verschwunden, halb gesehen und dahingegangen. Als er in die brüchige Zone klarer Luft direkt auf der Leeseite des Moholes kam, sah er, dass die Sabishiianer den aus dem großen Schacht gehobenen Fels bis zu dieser Stelle brachten und zu geschwungenen Hügeln anordneten. Aus dem Raum würde das wie ein Drache aussehen?

Und dann erreichte er die Garage und wurde von einer Schar von ihnen begrüßt — barfuss und langhaarig, in abgewetzten braunen Pullovern oder Sportbinden von Sumoringern. Es waren runzlige alte weise Marsjapaner, die über die Kami-Zentren in der Region sprachen und darüber, wie ihr tiefstes on-Gefühl sich längst vom Kaiser auf den Planeten verlagert hatte. Sie zeigten ihm ihre Labors, wo sie an Areobotanik und strahlungssicheren Kleiderstoffen arbeiteten. Sie hatten auch viel über die Ortung von Wasserstätten und Klimatologie im Äquatorgürtel gearbeitet. Wenn John ihnen lauschte, kam es ihm vor, als ob sie gerade mit Hiroko in Berührung gewesen wären. Es gäbe keinen Sinn, wenn das nicht so wäre. Aber sie zuckten die Achseln, wenn er nach ihr fragte. John machte sich daran, sie zu fragen und ihnen zuzuhören und die Atmosphäre von Vertrauen zu schaffen, die er so oft bei Oldtimern herbeiführen konnte, das Gefühl, als wären sie zusammen weit zurückgegangen in ihre eigene Vorzeit. Nachdem er einige Tage lang Fragen gestellt, die Stadt kennen gelernt und ihnen gezeigt hatte, dass er ein Mann war, der giri kannte, begannen sie langsam, sich zu öffnen und in einer ruhigen, aber unverblümten Art zu sagen, dass ihnen das plötzliche Wachstum von Burroughs nicht gefiele, noch das Mohole in ihrer Nähe, noch die Bevölkerungszunahme im allgemeinen noch die neuen, von der japanischen Regierung auf sie ausgeübten Pressionen, die Große Böschung zu erkunden und ›Gold zu finden‹. »Wir lehnen das ab«, sagte Nanao Nakayama, ein runzliger alter Mann mit schütterem weißem Backenbart und Türkisohrringen und langem weißem Haar als Pferdeschwanz. »Sie können uns nicht dazu zwingen.«

»Und wenn sie es versuchen?« fragte John.

»Sie werden scheitern.« Seine lässige Zuversicht erregte Johns Aufmerksamkeit, und er erinnerte sich an das Gespräch mit Arkady zwischen den Spiegeln.

So waren manche Dinge, die er jetzt sah, das Ergebnis einer neuen Art von Aufmerksamkeit und Fragestellungen. Aber andere waren das Ergebnis davon, dass Arkady durch sein Netz von Freunden und Bekannten Anweisungen zukommen ließ, sich John erkennen zu geben und ihn herumzuführen. Als John auf dem Weg von Sanbishii nach Senzeni Na bei Siedlungen anhielt, näherten sich ihm oft kleine Gruppen von zwei, drei oder fünf Personen, die sich vorstellten und sagten: Arkady dachte, du könntest interessiert sein, dies zu sehen … Und sie führten ihn zur Besichtigung einer unterirdischen Farm mit unabhängigem Kraftwerk oder einem Versteck von Werkzeug und Gerät oder einer verborgenen Garage voller grosser oder vollständigen kleinen Mesa-Habitaten, leer, aber bezugsbereit. John folgte ihnen mit vorquellenden Augen und hängendem Kinn, stellte Fragen und schüttelte erstaunt den Kopf. Ja, Arkady zeigte ihm allerhand Sachen. Es gab hier unten eine ganze Bewegung, eine kleine Gruppe in jeder Stadt!

Schließlich kam er nach Senzeni Na. Er kehrte dorthin zurück, weil Pauline zwei Arbeiter identifiziert hatte, die unentschuldigt an jenem Tage auf ihrem Arbeitsplatz gefehlt hatten, als der Lastwagen auf ihn gefallen war. Er sprach mit ihnen am Tage nach seiner Ankunft; aber sie brachten plausible Gründe für ihre Abwesenheit vom Netz vor. Sie waren zum Klettern draußen gewesen. Aber nachdem er sich dafür entschuldigt hatte, ihre Zeit in Anspruch genommen zu haben, und wieder zu seinem Zimmer unterwegs war, stellten sich drei andere Mohole-Techniker als Freunde von Arkady vor. John begrüßte sie enthusiastisch, erfreut, dass die Reise etwas erbringen würde. Und am Ende brachte ihn eine Gruppe von acht Leuten in einem Rover zu einem Canyon, der parallel zum Canyon des Moholes verlief. Sie fuhren durch den verdunkelnden Staub zu einem Habitat, das in eine überhängende Canyonwand eingegraben war. Es war für Satelliten unsichtbar, und seine Wärme wurde durch eine Anzahl kleiner Kanäle abgeleitet, die aus dem Weltraum wie alte Windmühlenheizer von Sax aussehen würden. »Wir denken, dass Hirokos Gruppe es so gemacht hat«, sagte ihm eine Führerin. Sie hieß Marian und hatte eine lange spitze Nase und dicht beisammen stehende Augen, so dass ihr Blick sehr intensiv wirkte.

»Weißt du, wo Hiroko ist?« fragte John. »Nein, aber wir denken, sie im Chaos.« Die allgemeine Antwort. Er fragte sie nach der Klippenwohnung. Marian sagte ihm, dass sie mit Gerät von Senzeni Na erbaut wäre.

Sie war derzeit unbewohnt, aber bereit, wenn es nötig wäre.

»Nötig wofür!« fragte John, als er durch die kleinen dunklen Räume ging.

Marian starrte ihn an. »Natürlich für die Revolution.«

»Die Revolution!«

John hatte auf der Rückfahrt sehr wenig zu sagen. Marian und ihre Gefährten spürten seinen Schock, und das war auch ihnen unangenehm. Vielleicht kamen sie auf den Gedanken, Arkady hätte einen Fehler gemacht, als er sie bat, John ihr Habitat zu zeigen. »Es werden viele solche vorbereitet«, sagte Marian zur Verteidigung. Hiroko hatte ihnen die Idee gegeben, und Arkady dachte, sie könnten nützlich werden. Marian und ihre Gefährten zählten sie an den Fingern auf: ein ganzes Vorratslager an Gerät für Luft- und Eisgewinnung, verborgen in einem trockenen Eistunnel in einer der Verarbeitungsstationen an der südlichen Polkappe; ein Quellenschacht, der das große Wasserlager unter Kasei Vallis anzapfte; um Acheron verstreute Gewächshauslabors, die pharmazeutisch nützliche Pflanzen zogen; ein Kommunikationszentrum im Untergeschoß von Nadias Promenadeplatz in Underhill. »Und das ist nur das, wovon wir wissen. Im Netz erscheinen Untergrundnotizen für einmalige Kenntnisnahme, mit denen wir nichts zu tun haben; und Arkady ist sicher, dass es da draußen weitere Gruppen gibt, die dasselbe tun wie wir. Denn wenn es zum Äußersten kommt, werden wir alle Plätze brauchen, um uns zu verstecken und von da aus zu kämpfen.«

»Nicht so wild!« sagte John. »Ihr müsst es euch nur durch den Kopf gehen lassen, dass dieses ganze Revolutionsszenario nichts anderes ist als eine Phantasie über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wisst ihr, die Große Grenze, die rauen Pionierkolonisten, die von der imperialen Macht ausgebeutet wurden, die Revolte von Kolonie zum souveränen Staat … Das ist alles eine falsche Analogie!«

»Warum sagst du das?« fragte Marian. »Was ist der Unterschied?«

»Nun, erstens leben wir nicht auf einem Land, das uns ernähren kann. Und zweitens haben wir nicht die Mittel, um erfolgreich zu revoltieren.«

»Ich bin in beiden Punkten anderer Meinung. Du solltest dich mehr mit Arkady darüber unterhalten.«

»Ich werde es versuchen. Jedenfalls halte ich einen direkteren Weg für besser als all dieses heimliche Stehlen von Gerät. Wir sagen UNOMA einfach, wie der neue Marsvertrag aussehen muss.«

Seine Kameraden schüttelten ärgerlich den Kopf.

»Wir können sagen, was wir wollen«, erklärte Marian, »aber das wird nichts ändern an dem, was sie tun.«

»Warum nicht? Denkt ihr, sie können die Menschen, die hier wohnen, einfach ignorieren? Sie mögen jetzt Fähren im Dauereinsatz haben, aber wir sind immer noch achtzig Millionen Kilometer von ihnen entfernt, und wir sind hier und sie nicht. Vielleicht ist es nicht gerade Nordamerika in den 1760er Jahren, aber wir genießen einige der gleichen Vorteile: Wir sind weit entfernt und wir haben den Besitz. Wichtig ist, nicht in ihre Denkweise zu verfallen, in alle die gleichen alten Fehler.«

Und so argumentierte er gegen Revolution, Nationalismus, Religion, Ökonomie — gegen jede Art terrestrischen Denkens, die ihm einfiel, alles zusammengemanscht in seinem üblichen Stil. »Revolution hat auf der Erde nie wirklich funktioniert. Und hier ist sie völlig überholt. Wir sollten ein neues Programm erfinden, genau wie Arkady sagt, einschließlich der Wege, die Kontrolle über unser Schicksal zu übernehmen. Wenn ihr alle in einer Phantasie der Vergangenheit lebt, führt ihr uns direkt in die Repression, über die ihr euch beklagt! Wir brauchen einen neuen Mars-Weg, eine neue Mars-Philosophie, Wirtschaft und Religion!«

Sie fragten ihn danach, wie denn diese neuen Denkweisen des Mars sein würden, und er hob die Hände. »Wie kann ich das sagen? Wenn sie nie existiert haben, ist es schwer, darüber zu sprechen und sie sich vorzustellen, weil wir nicht über vorgefertigte Bilder verfügen. Das ist immer das Problem, wenn man etwas Neues zu machen versucht. Und glaubt mir, ich weiß das, weil ich es versucht habe. Aber ich denke, ich kann euch sagen, wie es sich anfühlen wird. Es wird ein Gefühl sein wie in den ersten Jahren hier, als wir eine Gruppe waren und alle zusammengearbeitet haben. Als es im Leben kein Ziel gab, außer sich sesshaft zu machen und diese Welt zu entdecken, und wir alle entschieden haben, was zu tun war. So ein Gefühl sollte es sein!«

»Aber jene Tage sind vergangen«, sagte Marian, und die anderen nickten. »Das ist nur deine eigene Phantasie der Vergangenheit. Nichts als Worte. Es ist so, als hielte man in einer riesigen Goldmine eine philosophische Vorlesung, während auf beiden Seiten Armeen auf einen zukommen.«

»Nein, nein«, sagte John. »Ich spreche über Methoden für Widerstand, Methoden, die unserer realen Situation angepasst sind, und keine revolutionäre Phantasie aus den Geschichtsbüchern.«

Und so ging es immer und immer weiter dahin, bis sie wieder in Senzeni Na waren und sich auf die Räume der Arbeiter in der tiefsten Wohnetage zurückgezogen hatten. Dort diskutierten sie leidenschaftlich über den Zeitrutsch hinaus und bis weit in die Nacht. Und während dieser Diskussionen wurde John von einer gewissen Hochstimmung erfüllt, weil er sah, dass sie anfingen, darüber nachzudenken. Es war deutlich, dass sie ihm zuhörten, und dass das, was er sagte und was er von ihnen hielt, ihnen etwas bedeutete. Das war der bisher beste Lohn für das Goldfischglas des Ersten Menschen. Kombiniert mit Arkadys erklärter Zustimmung gab es ihm einen Einfluss über sie, der greifbar war. Er konnte ihre Zuversicht erschüttern, er konnte sie zum Nachdenken bringen, er konnte sie zwingen, neu zu bewerten, er konnte ihre Gedanken ändern!

Und so marschierten sie in dem trüben Großen Sturm durch die Korridore zur Küche und redeten weiter. Sie schauten aus den Fenstern und stürzten Kaffee hinunter. Sie glühten mit einer Art von Inspiration, mit der uralten Erregung einer anständigen Debatte. Und als sie schließlich gingen, um etwas Schlaf zu bekommen, ehe der Tag in Gang kam, war sogar Marian deutlich erschüttert, und alle waren tief in Gedanken, halb überzeugt, dass John recht hatte.

John ging wieder in seine Gästesuite. Er fühlte sich erschöpft, aber glücklich. Arkady hatte, ob er es wollte oder nicht, John zu einem Anführer in seiner Bewegung gemacht. Vielleicht würde er das bedauern müssen, aber es gab jetzt kein Zurück mehr. Und John war sich sicher, dass es zum Besten sein würde. Er konnte eine Art Brücke zwischen diesem Untergrund und den übrigen Leuten auf dem Mars sein, indem er in beiden Welten operierte, die beiden versöhnte und in eine einzige Macht zusammenzwang, die wirksamer sein würde als jede einzeln für sich. Eine Macht mit den Ressourcen des Hauptstroms und dem Enthusiasmus des Untergrunds — vielleicht. Arkady hielt das für eine unmögliche Synthese, aber John hatte Kräfte, die Arkady fehlten. So dass er — nun ja — nicht Arkadys Führerschaft usurpieren, aber einfach sie alle verändern könnte.

Die Tür zu seinem Zimmer in den Gästequartieren war offen. Er stürmte hinein, und da saßen in den zwei Sesseln des Raumes Sam Houston und Michael Chang. »So«, sagte Houston, »wo sind Sie gewesen?«

»Oho!« sagte John. Sein Temperament flammte auf, und seine gute Stimmung war blitzartig dahin. »Habe ich aus Versehen die falsche Tür erwischt?« Er beugte sich zurück, um zu schauen. »Nein, das ist nicht der Fall. Dies sind meine Räume.« Er hob die Arme und stellte seinen Armbandrecorder an. »Was tun Sie hier drin?«

»Wir wollen wissen, wo Sie gewesen sind«, sagte Houston ruhig. »Wir haben die Vollmacht, alle Räume hier zu betreten und auf alle unsere Fragen Antworten zu bekommen. Also können Sie recht gut den Anfang machen.«

»Na na!« spottete John. »Werden Sie nie müde, den hässlichen Bullen zu spielen? Könnt ihr Burschen nie genug kriegen?«

»Wir wollen nur Antworten auf unsere Fragen«, sagte Chang ruhig.

»O bitte, Mister Braver Bulle«, sagte John, »wir alle wollen doch Antworten auf unsere Fragen, oder nicht?«

Houston stand auf. Er war schon dabei, die Beherrschung zu verlieren, und John trat direkt auf ihn zu und blieb stehen, als ihre Körper etwa zehn Zentimeter voneinander entfernt waren. Er sagte: »Verlassen Sie meine Räume! Hauen Sie sofort ab, oder ich werde sie hinauswerfen; und dann werden wir sehen, wer das Recht hatte, sich hier drin aufzuhalten.«

Houston starrte ihn bloß an, und John stieß ihn ohne Vorwarnung heftig vor die Brust. Houston flog in seinen Sessel und setzte sich unfreiwillig hin. Dann stürzte er sich auf John, aber Chang sprang dazwischen und sagte: »Warte eine Sekunde, Sam, eine Sekunde!« während John aus Leibeskräften immer wieder brüllte: »Raus aus meinen Räumen!« Er stieß gegen Changs Rücken und starrte über dessen Schulter in Houstons rotes Gesicht. John brach bei dem Anblick fast in Gelächter aus. Seine gute Laune war mit dem Erfolg seines Stoßes zurückgekehrt, und er schritt zur Tür und kläffte: »Raus! Raus!« so dass Houston nicht das Grinsen auf seinem Gesicht erkennen konnte. Chang zog seinen wütenden Kollegen in die Halle hinaus, und John folgte. Da standen nun die drei, wobei Chang sich vorsichtig zwischen seinem Partner und John befand. Er war größer als die beiden anderen und fixierte John jetzt mit einer bekümmerten und verwirrten Miene.

»Was wollen Sie jetzt also?« fragte John harmlos. Chang sagte hartnäckig: »Wir wollen wissen, wo Sie gewesen sind. Wir haben Grund zu dem Verdacht, dass Ihre vorgebliche Inspektion der Sabotagevorfälle für Sie ein sehr willkommener Deckmantel gewesen ist.«

»Das gleiche argwöhne ich von Ihnen!« versetzte John.

Chang ignorierte ihn. »Kurz nach Ihren Besuchen passieren Dinge, sehen Sie …«

»Sie passieren genau während Ihrer Besuche.«

»… Staubbehälter sind in jedes Mohole gefallen, das Sie während des Großen Sturms besucht haben. Computerviren haben die Software im Büro von Sax Russell angegriffen unmittelbar nach Ihrer Konsultation mit ihm im Jahre 2047. Biologische Viren haben die schnellen Flechten in Acheron überfallen unmittelbar, nachdem sie gegangen sind. Und so weiter.«

John zuckte die Achseln. »So? Sie sind seit zwei Monaten hier, und das ist alles, was Sie vorzuweisen haben?«

»Wenn wir recht haben, genügt das völlig. Wo waren Sie in der letzten Nacht?«

»Tut mir leid«, sagte John. »Ich beantworte keine Fragen von Leuten, die in meine Räume einbrechen.«

»Das müssen Sie aber«, sagte Chang. »Es ist das Gesetz.«

»Was für ein Gesetz? Was wollen Sie mit mir machen?« Er wandte sich der offenen Zimmertür zu, und Chang machte eine Bewegung, ihn zu hindern. Da verlor John wieder die Beherrschung und sprang auf Chang los, der zuckte, aber unbeweglich in der Tür stehen blieb. John drehte sich um und ging fort, zurück zum Speisesaal.


Er verließ Senzeni Na noch am selben Nachmittag in einem Rover und nahm die Transponderstraße längs der Ostflanke von Tharsis. Die Straße war gut, und drei Tage später war er 1300 Kilometer weiter nördlich, genau nordwestlich von Noctis Labyrinthus. Als er zu einer großen Transponderkreuzung mit einer neuen Tankstelle kam, wandte er sich nach rechts und nahm die Straße östlich nach Underhill. Jeden Tag, während der Rover blind durch den Staub rollte, arbeitete er mit Pauline. »Pauline, würdest du bitte alle planetaren Akten auf Diebstahl von zahnärztlichem Gerät durchsehen?« Sie war so langsam wie ein Mensch bei der Bearbeitung einer außergewöhnlichen Anfrage, aber schließlich waren die Daten da. Dann ließ er sie die Aufzeichnungen der Bewegungen einer jeden verdächtigen Person, an die er denken konnte, durchsehen. Als er sicher war, wo ein jeder gewesen war, rief er Helmut Bronski an, um gegen die Aktionen von Houston und Chang zu protestieren. »Sie sagen, dass sie mit deiner Autorisierung arbeiten, Helmut; darum dachte ich, du solltest wissen, was sie tun.«

»Sie tun ihr Bestes«, erwiderte Helmut. »Ich wünsche, du würdest aufhören, sie zu quälen, und kooperieren, John. Das könnte hilfreich sein. Ich weiß, du hast nichts zu verbergen; also warum nicht hilfsbereiter sein?«

»Mach schon, Helmut, sie bitten nicht um Hilfe. Es ist schiere Einschüchterung. Sage ihnen, sie sollen damit aufhören!«

»Sie versuchen nur, ihre Arbeit zu tun«, erklärte Helmut rundheraus. »Ich habe nicht von etwas Illegitimem gehört.«

John brach die Verbindung ab. Später rief er Frank an, der sich in Burroughs befand. »Was ist mit Helmut? Warum überlässt er den Planeten diesen Polizisten?«

»Du Idiot!« sagte Frank. Er tippte wild auf einem Computerschirm, während er redete, so dass er sich nur schwach dessen bewusst zu sein schien, was er sprach. »Achtest du denn überhaupt nicht darauf, was hier vor sich geht?«

»Ich dachte, das täte ich«, sagte John.

»Wir stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten. Und diese gottverdammten Altersbehandlungen haben uns gerade noch gefehlt. Aber du hast nie begriffen, weshalb wir in erster Linie hier hergeschickt wurden, warum solltest du es jetzt verstehen?« Er tippte weiter und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf seinen Schirm.

John studierte das kleine Bild von Frank auf seinem Handgelenk. Schließlich sagte er: »Warum sind wir denn in erster Linie hier hergeschickt worden, Frank?«

»Weil Russland und unsere Vereinigten Staaten von Amerika verzweifelt waren. Darum! Gebrechliche altmodische industrielle Dinosaurier, das waren wir, kurz davor, von Japan und Europa und allen den kleinen Tigern gefressen zu werden, die in Asien auftauchten. Und wir hatten alle diese Weltraumerfahrung, die zu Schrott wurde, und eine Menge großer und unnötiger Luft- und Raumfahrtindustrien. Also haben wir sie zusammengetan und sind hier hergekommen wegen der Chance, etwas zu finden, das der Mühe wert wäre. Und das hat sich gelohnt! Wir sind gewissermaßen auf Gold gestoßen. Das hat aber nur noch mehr Öl ins Feuer geschüttet, weil Goldrausch zeigt, wer Macht hat und wer nicht. Und obwohl wir jetzt hier einen guten Anfang gemacht haben, gibt es da unten eine Menge neuer Tiger, die in manchem besser sind als wir. Und sie alle wollen ein Stück von der Unternehmung. Es gibt da unten viele Länder ohne Raum und Ressourcen. Zehn Milliarden Menschen stehen in ihrer eigenen Scheiße.«

»Ich dachte, du hättest mir gesagt, dass die Erde immer zerfallen würde.«

»Das ist kein Zerfall. Denk darüber nach! Wenn diese verdammte Behandlung nur zu den Reichen kommt, werden die Armen revoltieren, und alles wird explodieren. Aber wenn die Behandlung jedermann zugute kommt, dann werden die Bevölkerungszahlen in die Höhe rasen, und alles wird explodieren. Es ist in beide Richtungen gelaufen und läuft noch! Und natürlich gefällt das den Transnationalen nicht. Es ist sehr schlecht fürs Geschäft, wenn die Welt explodiert. Also sind sie besorgt und entschlossen, die Dinge mit roher Gewalt zusammenzuhalten. Helmut und diese Polizisten sind nur die kleinste Spitze des Eisbergs. Eine Menge von Politikastern halten einen Weltpolizeistaat für einige Dekaden oder so für unsere einzige Chance, zu einer gewissen Stabilisierung der Bevölkerungszahl ohne eine Katastrophe zu kommen. Kontrolle von oben, diese blöden Hunde.«

Frank schüttelte angewidert den Kopf und beugte sich dann zu seinem Schirm und wurde von seinem Inhalt absorbiert. John fragte: »Frank, hast du die Behandlung bekommen?«

»Natürlich. Lass mich jetzt in Ruhe, John! Ich muss arbeiten.«


Der südliche Sommer war wärmer als der vorangegangene, der von dem Großen Sturm verdeckt worden war, aber immer noch kälter als jeder verzeichnete. Der Sturm dauerte jetzt fast zwei M-Jahre, mehr als drei Erdenjahre, aber Sax nahm das als Philosoph. John rief ihn bei Echus Aussichtspunkt an; und als er von den kalten Nächten sprach, die er durchmachte, sagte Sax bloß: »Wir werden sehr wahrscheinlich für den größeren Teil der Terraformungsperiode niedrige Temperaturen haben. Aber wir sind auch nicht auf Wärme an sich aus. Venus ist warm. Was wir wollen, ist Überlebensmöglichkeit. Wenn wir die Luft atmen können, macht es mir nichts aus, ob sie kalt ist.«

Inzwischen war es kalt, überall kalt, bis zu minus hundert Grad jede Nacht, selbst am Äquator. Als John Underhill erreichte, eine Woche nachdem er Senzeni Na verlassen hatte, stellte er fest, dass dort eine Art rosa Eis die Gehwege bedeckte. Das war in dem trüben Licht des Sturms kaum zu sehen, und es war gefährlich zu betreten. Die Leute in Underhill verbrachten den größten Teil ihrer Zeit im Innern. John half ein paar Wochen lang den dortigen Bioingenieuren beim Testen einer neuen Art von Schneealgen. Underhill war voller Fremder. Die meisten waren junge Japaner oder Europäer, die zum Glück noch Englisch benutzten, um sich untereinander zu verständigen. John wohnte in einem der alten Tonnengewölbe nahe der Nordostecke des Quadranten. Der alte Quadrant war weniger beliebt als Nadias Promenadeplatz, kleiner und dunkler, und viele seiner Gewölbe dienten jetzt als Lagerräume. Es war eigenartig, durch das quadratische Netz der Korridore zu gehen und sich an das Schwimmbecken, Mayas Zimmer und den Speisesaal zu erinnern — alles jetzt dunkel und mit Kisten voll gepackt. An jene Jahre, da die Ersten Hundert die einzigen Hundert gewesen waren. Es war schwer, sich daran zu erinnern, wie das gewesen war.

Er blieb mittels Pauline den Bewegungen etlicher Leute auf der Spur, darunter auch die Untersuchungstruppe der UNOMA. Diese Überwachung war nicht allzu streng, da es nicht immer leicht war, den Detektiven zu folgen, besonders Houston, Chang und ihrer Crew, die sich, wie er vermutete, absichtlich aus dem Netz entfernten. Inzwischen gaben die Ankunftslisten der Raumhäfen jeden Monat mehr Beweise dafür, dass Frank recht gehabt hatte, als er sie nur als Spitze des Eisbergs bezeichnet hatte. Eine Menge Leute, besonders solche, die in Burroughs landeten, arbeiteten für UNOMA ohne spezielle Angabe ihres Jobs; und dann verbreiteten sie sich über die Minen und Moholes und andere Siedlungen und begannen, für die örtlichen Sicherheitschefs zu arbeiten. Und die Akten ihrer Tätigkeit auf der Erde waren wirklich sehr interessant.

Oft verließ John am Ende einer Sitzung mit Pauline den Quadranten und ging zu einem Spaziergang nach draußen. Er fühlte sich verwirrt und dachte scharf nach. Die Sicht war viel besser als zuvor. Auf der Oberfläche wurde es etwas klarer, obwohl das rosa Eis immer noch das Gehen erschwerte. Der Große Sturm schien nachzulassen. Die Windgeschwindigkeiten an der Oberfläche lagen nur noch zwei- oder dreimal über dem Durchschnitt von dreißig Stundenkilometern vor dem Sturm, und der Staub in der Luft war manchmal kaum mehr als ein dichter Nebel, der die Sonnenuntergänge zu flammenden pastellfarbenen Wirbeln von Rosa, Gelb, Orange, Rot und Purpur machte, mit gelegentlichen Streifen von Grün oder Türkis, die auftauchten und verschwanden zusammen mit Eisbögen und Nebensonnen und ab und zu leuchtenden Pfeilern aus rein gelbem Licht. Vergängliche und eindrucksvolle Naturerscheinungen. Und wenn John alle die unscharfen Farben und Bewegungen beobachtete, wurde er von seinen Gedanken abgelenkt und stieg auf die große weiße Pyramide, um einen Rundblick zu bekommen. Dann ging er wieder hinein, um den Kampf wieder aufzunehmen.

Eines Abends stieg er nach einer solchen extravaganten Sonnenvorstellung von der Spitze der großen Pyramide herunter und ging langsam nach Underhill zurück. Da erspähte er zwei Gestalten, die aus der Seitentür einer Garage herauskamen und durch eine klare Kriechröhre in einen Rover stiegen. In ihren Bewegungen lag etwas Eiliges und Verstohlenes. Er blieb stehen, um näher hinzuschauen. Sie trugen keine Helme, und er erkannte Houston und Chang an ihren Hinterköpfen und ihrer Körpergröße. Sie kletterten mit trippelnder terrestrischer Unbeholfenheit in den Rover und fuhren auf ihn zu.

John polarisierte seine Gesichtsscheibe und ging weiter. Er bemühte sich, wie jemand auszusehen, der von der Arbeit kommt. Dabei schwenkte er etwas zur Seite, um die Distanz zwischen sich und ihnen zu vergrößern. Der Rover tauchte in eine dichte Staubwolke und verschwand abrupt.

Bis er zu den Schleusentüren gelangte, war er rief in Gedanken und fast in Angst. Er stand bewegungslos an der Tür und dachte darüber nach. Als er sich dann bewegte, war es nicht zur Tür, sondern zu der Interkomkonsole in der Wand dicht bei der Tür. Da waren unter den Lautsprechern diverse Steckdosen, und er zog vorsichtig den Schutzstecker in einer davon heraus und entfernte den Staub an den Rändern — diese Steckdosen wurden nicht mehr gebraucht — und stöpselte dann sein Armbandgerät ein. Er tastete den Code für Pauline ein und wartete, bis die Verschlüsselung und Entschlüsselung durchkamen. »Ja, John?« sagte Paulines Stimme in seinem Helm.

»Pauline, stelle bitte deine Kamera ein und schwenke durch mein Zimmer!«

Pauline befand sich auf dem Seitentisch am Bett und war in die Wand gestöpselt. Ihre Kamera war ein kleines, selten benutztes Gerät mit Faseroptik, das Bild auf dem Armband war klein, und im Zimmer war es dunkel mit nur einem Nachtlicht. Sein gebogenes Visier war noch eine Behinderung, so dass er die Bilder nicht ganz deutlich erkennen konnte. Graue, sich bewegende Gestalten. Da war das Bett und etwas darauf und dann die Wand. »Zehn Grad zurück!« sagte John und blinzelte, um das Bild von zwei Zentimetern im Quadrat zu verstehen. Sein Bett. Auf seinem Bett lag ein Mann. War es wirklich so? Eine Schuhsohle, Rumpf, Haar. Schwer zu sagen. Es bewegte sich nicht. »Pauline, hörst du irgend etwas in dem Zimmer?«

»Die Lüftung, den Strom.«

»Sende mir, was du mit deinem Mikrofon empfängst mit voller Lautstärke!« Er drückte den Kopf nach links mit dem Ohr gegen den Helmlautsprecher. Ein Zischen, statisches Rauschen. Bei diesem Prozess gab es zu viel Übertragungsfehler, besonders wenn man die korrodierten Steckdosen benutzte. Aber bestimmt hörte er kein Atmen. »Pauline, kannst du in das Monitorsystem von Underhill hineingehen, die Kamera für die Tür unseres Gewölbes bekommen und ihr Bild auf mein Handgelenk legen, bitte?«

Er hatte erst vor ein paar Jahren selbst die Installation des Sicherheitssystems von Underhill geleitet. Pauline hatte noch alle Pläne und Codes, und sie brauchte nicht lange, um auf seinem Handgelenk das Bild der Außenseite seines Zimmers von oben gesehen erscheinen zu lassen. Das Licht in der Suite war an, und in den Kameraschwenks konnte er sehen, dass seine Tür geschlossen war. Das war alles.

Er ließ die Hand zur Seite fallen und dachte nach. Es vergingen fünf Minuten, bis er sie wieder hob und anfing, über Pauline dem Sicherheitssystem von Underhill Anweisungen zu geben. Der Besitz des Codes erlaubte ihm, das ganze Kamerasystem anzuweisen, seine Überwachungsbänder zu löschen und dann auf eine einstündige Schleife anstelle der üblichen acht Stunden zu schalten. Danach wies er zwei Reinigungsroboter an, zu seinem Zimmer zu kommen und die Tür zu öffnen. Während sie das taten, stand er zitternd da und wartete, dass sie langsam durch die Gewölbe rollen würden. Als sie seine Tür öffneten, erblickte er sie durch das kleine Auge von Pauline. Licht ergoss sich in den Raum, flammte auf und wurde dann angepasst, so dass er viel deutlicher sehen konnte. Ja, es lag ein Mann auf seinem Bett. Johns Atem wurde flach. Er bediente die Roboter mit den winzigen Knöpfen auf seinem Handapparat. Das war eine heikle Prozedur, aber wenn der Mann beim Hochgehobenwerden aufwachte, um so besser.

Er tat es nicht. Der Mann rollte auf beide Seiten der ihn umfangenden Arme der Roboter herunter, die ihn mit ihrer algorithmischen Zartheit emporhoben. Ein herunterhängender Körper. Der Mann war tot.

John holte tief Luft, hielt den Atem an und fuhr mit der Fernmanipulation fort. Er ließ den ersten Roboter die Leiche in den großen Müllbehälter des zweiten legen. Die Roboter dann wieder in ihr Magazingewölbe zu schicken, war einfach.

Während sie dahinrollten, kamen mehrere Leute an ihnen vorbei, aber das ließ sich nicht ändern. Der Leichnam war nur von oben sichtbar, und er hoffte, dass sich niemand später an die Roboter erinnern würde.

Als er sie in ihrem Magazinraum antraf, zögerte er. Sollte er die Leiche zu den Einäscherungsöfen im Alchemistenviertel bringen? Aber nein. Jetzt, da sie sich nicht mehr in seinem Zimmer befand, brauchte er sich ihrer nicht zu entledigen. Das würde erst später nötig werden. Zunächst fragte er sich, wer es war. Er steuerte den ersten Roboter so, dass er sein ausfahrbares Auge auf das rechte Handgelenk der Leiche richtete und es mit seinem magnetischen Bildgerät ablesen sollte. Es dauerte lange, bis das Auge die richtige Stelle fand. Das winzige Schild, das ein jeder auf einem Handknochen implantiert trug, enthielt Information in der Standard-Punktsprache; und Pauline brauchte nur eine Minute, um eine Identifikation zu bekommen. Hashika Mui, UNOMA-Revisor, angekommen 2050.

Eine wirkliche Person. Ein Mann, der tausend Jahre hätte leben können.

John begann zu zittern. Er lehnte sich gegen die glasierte blaue Backsteinwand von Underhill. Es würde eine Stunde dauern, bis er hineingehen könnte, oder etwas weniger. Ungeduldig stieß er sich ab und ging um das Quadrat herum. Das erforderte gewöhnlich fünfzehn Minuten, aber jetzt Schafte er es in zehn. Nach der zweiten Runde ging er zum Anhängerpark hinüber.

Dort waren nur noch zwei der alten Trailer da, und die waren offenbar aufgegeben oder nur für Lagerzwecke benutzt worden. Aus dem nächtlichen Staub zwischen ihnen tauchten Gestalten auf, und eine Sekunde lang war er erschrocken, aber sie gingen vorbei.

Er kehrte zu dem Quadrat zurück und machte wieder einen Rundgang. Dann ging er im Freien zum Alchemistenquartier. Er stand da, betrachtete den antiquierten Komplex aus Rohren und Anlagen und flachen weißen Gebäuden, die alle mit ihren schwarzen kalligraphischen Gleichungen beschriftet waren. Er dachte an ihre ersten Jahre. Und jetzt war es wie mit einem Wimpernschlag so weit gekommen. In der Düsternis des Großen Sturms. Zivilisation, Korruption, Krise. Er knirschte mit den Zähnen.

Eine Stunde war vergangen, es war neun Uhr abends. Er ging zur Schleuse zurück und hinein, entledigte sich im Umkleideraum von Helm, Schutzanzug und Stiefeln, zog sich aus, ging in die Dusche. Nach dem Duschen trocknete er sich ab, zog einen Pullover an und kämmte sich. Er holte tief Luft und ging um die Südseite des Quadrats und nach oben durch die Gewölbe zu dem mit seinem Zimmer. Als er die Tür öffnete, war er nicht überrascht, wie er vier UNOMA-Detektive auftauchen sah. Aber er versuchte, erstaunt zu tun, als sie ihn aufforderten, stehen zu bleiben. Er sagte: »Was ist los?«

Es war weder Houston noch Chang, sondern drei Männer und eine der Frauen, die bei der ersten Gruppe in Low Point gewesen waren. Die Männer drängten sich an seine Seiten, ohne zu antworten, zogen die Tür ganz auf, und zwei von ihnen gingen hinein. John beherrschte den Drang, sie anzustoßen oder anzubrüllen oder über ihre Mienen zu lachen, als sie sahen, dass sein Zimmer leer war. Er starrte sie nur neugierig an und versuchte, sich darauf zu beschränken, wie ärgerlich er sich gezeigt haben würde, wenn er nicht gewusst hätte, was los war. Dieser Ärger wäre natürlich erheblich gewesen; und als die Tür geöffnet wurde, musste er sich wirklich sehr zusammennehmen, um seine Wut auf dem Niveau eines Arglosen zu halten. Sie mussten angefahren werden, als ob sie übereifrige Polizisten wären, und sollten nicht als mörderische Funktionäre attackiert werden.

Bei ihrer Verwirrung über die unerwartete Situation gelang es ihm, sie mit ein paar bissigen Sätzen zu verscheuchen. Und als er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, trat er mitten ins Zimmer. »Pauline, nimm bitte auf, was sich im Sicherheitssystem abspielt, und zeichne es auf! Zeig mir, welche Kameras auch immer sie haben.«

Also verfolgte Pauline sie. Sie brauchten nur ein paar Minuten, um in den Sicherheitskontrollraum zu gelangen, wo sie auf Chang und andere trafen. Sie holten die Kamerakassetten. John saß vor Paulines Bildschirm und sah mit ihnen zu, wie sie die Spulen zurücklaufen ließen und merkten, dass sie nur eine Stunde lang waren und die Ereignisse des Nachmittags gelöscht waren. Das würde ihnen einiges zu denken geben. Er lächelte grimmig und sagte Pauline, sie solle sich aus dem System zurückziehen.

Eine Welle von Erschöpfung überkam ihn. Es war erst elf Uhr, aber alles Adrenalin und die morgendliche Dosis Omegendorph waren verflogen, und er war müde. Er setzte sich auf sein Bett, erinnerte sich dann aber daran, was zuletzt dort gewesen war, und stand auf. Schließlich schlief er auf dem Fußboden.

Während des Zeitrutsches wurde er von Spencer Jackson geweckt mit der Nachricht, dass man in einem Roboterbehälter eine Leiche gefunden hätte. Er ging hin, stand schlapp neben Spencer in der Klinik und starrte auf den Leichnam von Yashika Mui, während einige Detektive ihn müde beäugten. Die diagnostische Maschine war bei einer Autopsie so gut wie jede andere, vielleicht sogar besser. Musterproben zeigten ein Blutgerinnungsmittel an. John ordnete finster eine volle Kriminal-Autopsie an. Körper und Kleider von Mui mussten untersucht und alle mikroskopischen Partikel gegenüber seinem Genom und alle Fremdpartikel überprüft werden im Vergleich mit der Liste von Leuten, die derzeit in Underhill waren. John sah die UNOMA-Detektive scharf an, als er diese Anweisung gab; aber sie zuckten nicht mit der Wimper. Wahrscheinlich hatten sie Handschuhe und Schutzanzüge getragen, oder das ganze Ding mit Fernbedienung erledigt wie er selbst. Er musste sich abwenden, um seine Enttäuschung zu verbergen. Er konnte nicht ausplaudern, dass er Bescheid wusste.

Aber dann wussten sie natürlich, dass er die Leiche dorthin geschafft hatte. Also mussten sie argwöhnen, dass er es war, der sie entfernt und die Kamerabänder gelöscht hatte. Aber sie konnten nicht sicher sein, und es gab keinen Grund, etwas aufzugeben.

Eine Stunde später ging er wieder in sein Zimmer und legte sich wieder auf den Boden. Obwohl er noch erschöpft war, konnte er nicht mehr schlafen. Er starrte an die Decke und dachte nach. Über alles, was er erfahren hatte.


Kurz vor der Morgendämmerung hatte er den Eindruck, klargekommen zu sein. Er gab es auf zu schlafen und stand auf, um wieder spazieren zu gehen. Er musste im Freien sein, weg von der Welt der Menschen und all ihrer widerlichen Korruption, hinaus in den großen Windesrausch, der durch den fliegenden Staub des Sturms so dramatisch zum Ausdruck kam.

Aber als er aus der Tür der Schleuse trat, waren über seinem Kopf Sterne. Ihre ganze Fülle, alle Tausende brannten wie einst, ohne das leichteste Flimmern oder Zittern. Die schwachen waren so dicht, dass sogar der schwarze Himmel einen weißen Schimmer hatte, als ob der ganze Himmel die Milchstraße wäre.

Als er sich von seiner Verwunderung und dem fast vergessenen Wunder der Sterne erholt hatte, stellte er in seinem Interkom die Nachrichten ein.

Sie lösten ein Pandämonium aus. Leute hörten sie, weckten ihre Freunde und rasten in den Umkleideraum, um einen Schutzanzug zu erwischen, ehe der Vorrat erschöpft war. Und die Schleusentüren spieen unentwegt Volksmengen aus.

Der Himmel im Osten wurde dunkelrot und dann rasch heller. Der ganze Himmel nahm eine dunkelrosa Tönung an und fing dann an zu glühen. Die Sterne verschwanden zu Hunderten, bis nur noch Venus und Erde im Osten schwebten vor einer ständig zunehmenden Helligkeit. Der Himmel im Osten leuchtete noch stärker, als man am Tage glaubte erwarten zu können. Sogar hinter den Gesichtsscheiben tränten die Augen, und manche Leute schrien über die allgemeine Frequenz laut bei dem Anblick. Gestalten torkelten herum, das Interkom plapperte, und der Himmel wurde unmöglicherweise immer noch heller, bis er bersten zu wollen schien. Er pulsierte in leuchtend rosigem Licht. Die Punkte, welche Venus und Erde darstellten, gingen darin unter. Und dann brach die Sonne über den Horizont und schoss über die Ebene wie eine thermonukleare Bombe. Die Menschen brüllten, sprangen auf und ab und rannten zwischen die schwarzen Schatten der Felsen und Gebäude. Alle nach Osten gerichteten Wände wurden große Flächen von fahlgelber Farbe, deren glasierte Mosaiken kaum direkt anzusehen waren. Die Luft war klar wie Glas und schien eine feste Substanz zu sein, die die in ihr befindlichen Dinge messerscharf deutlich erscheinen ließ.

John ging von den Volksmengen fort ostwärts in Richtung Tschernobyl. Er stellte sein Interkom ab. Der Himmel war dunkler rot, als er sich erinnerte, mit einem Hauch von Purpur im Zenith. Alle Leute in Underhill wurden verrückt. Viele dort hatten noch nie den Sonnenschein auf dem Mars gesehen, und ohne Zweifel hatten sie den Eindruck, ihr ganzes Leben im Großen Sturm verbracht zu haben. Jetzt war er vorbei, und sie spazierten draußen im Sonnenschein, trunken davon. Sie rutschten auf rosa Eis nach links und rechts, veranstalteten Schlachten mit gelben Schneebällen und erstiegen die überfrorenen Pyramiden. Als John das sah, machte er kehrt und ging die Stufen der letzten Pyramide selbst hinauf, um einen Blick auf die Hügel und Täler um Underhill zu werfen. Die waren etwas von Reif und Treibsand bedeckt, aber sonst unverändert. Er schaltete die allgemeine Frequenz ein, schaltete sie aber wieder aus. Die Menschen darin schrien immer noch nach Schutzanzügen, und niemand draußen beachtete sie. Seit Sonnenaufgang war eine Stunde vergangen, schrie jemand, obwohl das John schwer glaublich erschien. Er schüttelte den Kopf. Die krächzenden Stimmen und die Erinnerung an die Leiche auf seinem Bett machten es ihm schwer, viel Freude am Ende des Sturms zu haben.

Schließlich ging er wieder hinein. Er gab seinen Schutzanzug einem Paar Frauen von seiner Größe, die darüber stritten, wer ihn als erste bekommen sollte, ging dann ins Kommunikationszentrum und rief Sax in Echus an. Als er ihn bekam, gratulierte er ihm zum Ende des Sturms.

Sax wehrte das brüsk ab, als wäre es schon vor Jahren passiert. Er sagte: »Sie sind auf Amor 2051 B gelandet.« Das war der Eis-Asteroid, den sie für die Einbringung ins Marsorbit gefunden harten. Sie waren dabei, Raketen auf ihm zu installieren, die ihn auf einen Kurs schieben würden, der dem der Ares ähnlich wäre. Ohne Hitzeschild würde die Luftbremsung ihn verglühen lassen. Alles sah gut aus für Eintritt in die Marsumlaufbahn in etwa sechs Monaten. Das war die große Nachricht, wie Sax auf seine zwinkernde ruhige Art zu verstehen gab. Der Große Sturm war schon Geschichte.

John musste lachen. Aber dann dachte er an Yashika Mui und erzählte Sax davon, weil er auch einem anderen die Stimmung vermiesen wollte. Sax zwinkerte nur und sagte schließlich: »Sie machen jetzt ernst.« John verabschiedete sich und schaltete ab.

Er ging wieder zurück durch die Gewölbe, verwirrt durch eine krass widersprüchliche Mischung von guten und schlechten Emotionen. Er kam in sein Zimmer und nahm ein Omegendorph und eines der neuen Pandorphs, die Spencer ihm gegeben hatte. Dann ging er hinaus ins zentrale Atrium des Quadrats und spazierte zwischen den Pflanzen umher, die im Sturm alle dürr aufgeschossen waren und sich den Leuchtröhren in der Höhe zuwandten. Der Himmel war immer klar, rosa und sehr hell. Viele Leute, die zuerst ins Freie gegangen waren, waren jetzt wieder zurück und hielten eine Party im Atrium zwischen den Beeten ab. Er traf auf einige neue Freunde, manche Bekannte und hauptsächlich Fremde. Er ging wieder in die Gewölbe durch Räume voller Unbekannter, die ihn manchmal fröhlich anriefen, wenn er hineinkam. Wenn sie lange genug schrieen: »Reden!«, stellte er sich wohl auf einen Stuhl und ratterte etwas herunter. Er fühlte die Endorphine, deren Wirkung durch den Gedanken an den toten Mann heute aufgehoben wurde. Manchmal war er recht heftig und wusste nie, was er sagen würde, bis es aus ihm herauskam. Die Leute würden sagen, sie hätten John Boone an dem Tage, wo der Große Sturm aufhörte, sternhagelvoll betrunken gesehen. Fein, dachte er, mochten sie sagen, was sie wollten. Ihm machte das schon nichts mehr aus, soweit es seine Legende betraf.

In einem Raum war eine Schar von Ägyptern, nicht wie Sufis, sondern orthodoxe Muslime, die wie der Wind sprachen und Kaffee tranken, berauscht von Coffein und Sonnenlicht. Weißes Lächeln blitzte unter ihren Schnurrbärten, diesmal äußerst herzlich, wirklich erfreut, ihn zu sehen. Ihm wurde dabei warm, und im Schwung des Tages sagte er: »Schaut, wir sind Teil einer neuen Welt. Wenn ihr eure Handlungen nicht auf die Realität des Mars gründet, werdet ihr schizophren, mit eurem Körper auf einem Planeten und euren Geist auf einem anderen. Keine so gespaltene Gesellschaft kann lange funktionieren.«

»Sehr wohl«, sagte einer von ihnen lächelnd. »Du musst verstehen, dass wir schon früher gewandert sind. Wir sind ein wanderndes Volk. Aber wo immer wir sind, Mekka ist unsere Heimat. Wir könnten zur anderen Seite des Universums fliegen, und das würde immer noch gelten.«

Darauf gab es nichts zu sagen, und solche direkte Ehrlichkeit war wirklich viel sauberer als das, womit er während der Nacht zu tun gehabt hatte. Darum sagte er: »Ich verstehe.« Man vergleiche das letztlich mit der Heuchelei des Westens, wo die Leute bei Morgenandachten über Profit sprachen, Leute, die keinen einzigen Glauben artikulieren konnten, den sie hatten. Leute, die ihre Werte für physikalische Konstanten hielten und zu sagen pflegten: »So sind die Dinge nun einmal.« Wie es Frank so oft tat.

Also blieb John da und unterhielt sich einige Zeit mit den Ägyptern; und als er sie verließ, fühlte er sich besser. Er ging wieder zu seinem Gewölbe und horchte auf die wüsten Stimmen, die aus jedem Raum in den Korridor erklangen. Rufe, Schreie, Gerede fröhlicher Wissenschaftler: »Diese Dinger sind solche Halophyten, dass sie keine Lauge mögen, weil zu viel Salz darin ist.« Lachsalven.

Ihm kam eine Idee. Spencer Jackson wohnte in dem Gewölbe Tür an Tür mit John und kam vorbei, als John hereinlief. Also teilte er ihm seine Idee mit. »Wir sollten alle Leute, die wir auftreiben können, zu einer großen Feier für das Ende des Sturms versammeln. Von allen irgendwie auf dem Mars ansässig gewordenen Gruppen, weißt du, oder wenigstens jeden, der es vielleicht schaffen kann. Jeden, der hier sein möchte.«

»Wo denn?«

»Oben auf Olympus Mons«, sagte er, ohne nachzudenken. »Vielleicht könnten wir Sax dazu bringen, die Ankunft des Eis-Asteroiden zeitlich so abzustimmen, dass wir sie von dort aus beobachten können.«

»Eine gute Idee!« sagte Spencer.


Olympus Mons ist ein Schildvulkan und deshalb ein Kegel, der an den meisten Stellen nicht steil ist. Seine große Höhe ergibt sich aus seiner noch größeren Breite. Er ist zwanzig Kilometer höher als die umgebende Ebene; daher beträgt die Steigung durchschnittlich etwa sechs Grad. Aber um die Peripherie seiner großen Masse gibt es eine runde Böschung von etwa sieben Kilometern Höhe. Und diese eindrucksvolle Klippe, doppelt so hoch wie Echus Ausblick, ist an vielen Stellen fast vertikal. Abschnitte davon hatten schon die wenigen Alpinisten des Planeten gereizt, aber noch niemandem war es gelungen, sie zu erklimmen; und für die meisten Bewohner des Mars blieb sie bloß ein ansehnliches Hindernis auf dem Weg zur Gipfelcaldera. Reisende auf dem Boden schafften den Weg auf die Böschung durch eine breite Rampe auf der Nordseite, wo einer der letzten Lavaströme über die Klippe gelaufen war. Areologen erzählten Geschichten, wie das gewesen sein müsste — ein Strom aus geschmolzenem Fels von hundert Kilometern Breite, zu hell, um ihn anzuschauen, der siebentausend Meter auf die schwarze von Lava verkrustete Ebene stürzte und sich immer höher und höher auftürmte. Dieser Lavaerguß hatte eine Rampe hinterlassen mit nur einer leichten Kerbe an der Stelle, wo die Böschung überflutet wurde. Der Anstieg war leicht, und danach brachte einen eine Fahrt von etwa zweihundert Kilometern auf den Rand der Caldera.

Die Gipfelkante von Olympus Mons ist so breit und flach, dass man, obwohl sie einen hervorragenden Blick auf die Caldera mit ihren vielen Ringen bietet, den Rest des Planeten von ihr aus nicht sehen kann. Wenn man nach außen blickt, sieht man nur den äußeren Rand der Kante und dann den Himmel. Aber auf der Südseite der Kante gibt es einen kleinen Meteoritenkrater, der keinen Namen hat, aber auf der Karte als THA-Zp bezeichnet wird. Das Innere dieses kleinen Kraters ist etwas geschützt vor dem dünnen Strahlstrom, der über den Olympus Mons braust; und wenn ein Beobachter auf seinem südlichen Bogen steht, hat er endlich einen Blick den Hang des Vulkans hinab und dann über die weite aufsteigende Ebene von West-Tharsis. Es sieht aus, als schaute man von einer Plattform im nahen Weltraum auf den Planeten hinunter.


Es dauerte fast neun Monate, bis der Asteroid zu einem Rendezvous mit dem Mars gebracht war, und die Nachricht von Johns Feier hatte Zeit, die Runde zu machen. Also kamen sie in einzelnen Roverkarawanen, zu zweit, fünft und zehnt, die Nordrampe hoch und herum zum äußeren Südhang von Zp. Dort stellten sie eine Anzahl großer sichelförmiger Zelte mit durchsichtigen festen Böden auf, die zwei Meter über dem Grund standen und auf klaren Eingangspfeilern ruhten. Sie waren tatsächlich das Neueste an zeitweiligen Schutzräumen und waren alle mit der Innenseite ihrer Bögen bergauf orientiert, so dass sie eine Reihe von Sicheln bildeten, die wie eine Treppe gestapelt waren, wie Gewächshäuser auf einem Berghang, die die immense Weite einer bronzefarbenen Welt überblickten. Eine Woche lang trafen jeden Tag Karawanen ein, und Luftschiffe quälten sich den langen Abhang herauf und wurden im Innern von Zp vertäut. Sie füllten den Krater so, dass sein Inneres wie eine Schüssel voller Geburtstagsballons aussah.

Die Größe der Menge überraschte John, da er erwartet hatte, dass nur ein paar Freunde zu einem so entlegenen Platz reisen würden. Das war ein neuer Beweis seines Unvermögens, die laufende Bevölkerung des Planeten zu verstehen. Dort waren um die tausend Personen versammelt. Es war erstaunlich. Obwohl er viele Gesichter schon früher gesehen hatte und einige mit Namen kannte. Es war also in gewisser Weise eine Versammlung von Freunden. Es war, als ob eine Heimatstadt, die er vorher nicht gekannt hatte, plötzlich um ihn herum entstanden wäre. Und es waren auch viele der Ersten Hundert gekommen, im ganzen vierzig Personen, einschließlich Maya und Sax, Ann und Simon, Nadia und Arkady, Vlad und Ursula und dem Rest der Phobosgruppe, und Arnie und Sasha und Yeli und einigen mehr, von denen er manche seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte — jeder, der ihm nahe stand, außer Frank, der gesagt hatte, er hätte zu viel zu tun, und Phyllis, die auf die Einladung überhaupt nicht geantwortet hatte.

Und es waren nicht bloß die Ersten Hundert. Viele der anderen waren auch gute Freunde — eine Menge Schweizer, einschließlich der Straßen bauenden Zigeuner; Japaner von überall her; die meisten Russen auf dem Planeten; seine Sufi-Freunde. Und sie alle waren auf und ab in den terrassierten Zelten verstreut, in Gruppen von Karawanen und Luftschiffbesatzungen, die von Zeit zu Zeit an die Schleusen eilten, um die letzten Ankömmlinge zu begrüßen.

Im Laufe der Tage wanderten viele draußen um die Zelte und sammelten loses Gestein von dem großen gekrümmten Abhang. Der Aufprall des Zp-Meteoriten hatte Stücke von Brekzienlava überall hin verstreut, einschließlich Splitterkegeln aus Stishovit wie Tonscherben, manche mattschwarz, andere hell blutrot oder gefleckt mit Aufschlagdiamanten. Eine areologische Gruppe aus Griechenland begann, diese unter dem erhöhten Boden eines Zeltes in einem Muster anzuordnen, und sie hatten einen kleinen Brennofen mitgebracht, so dass sie einige Scherben gelb, grün oder blau glasieren konnten, um ihre Muster hervorzuheben. Diese Idee fand sofort Anklang, als andere Leute das sahen; und binnen zwei Tagen stand jeder Zeltboden über einem Fliesenparkett mit Mosaikmuster. Karten der Umgebung, Bilder von Vögeln und Fischen, fraktale Abstrakte, Escher-Bilder, Om mani padme hum in tibetischer Kalligraphie, Karten des Planeten und kleinerer Gebiete, Gleichungen, Gesichter von Menschen, Landschaften und so weiter.

John verbrachte seine Zeit damit, dass er von Zelt zu Zelt wanderte, mit Leuten sprach und die Karnevals-Atmosphäre genoss, eine Atmosphäre, die Diskussionen nicht ausschloss, es gab eine Menge davon; aber die meisten Leute verbrachten die Zeit mit Parties, Plaudern, Trinken, Ausflügen auf die wellige Fläche der alten Lavaströme, Anfertigen von Mosaikböden und Tanzen zur Musik verschiedener Amateurbands. Deren beste war eine Band mit Magnesiumtrommeln. Die Instrumente waren von hier, die Spieler aus Trinidad Tobago, einer bekannten transnationalen Gefälligkeitsflagge mit starker lokaler Widerstandsbewegung, von der die Musiker Repräsentanten waren. Es gab auch eine Country-and-Western-Gruppe mit einem guten Spieler der Hawaiigitarre und eine irische Band mit selbstgebauten Instrumenten und einer großen wechselnden Besetzung, was ihr gestattete, mehr oder weniger pausenlos zu spielen. Diese drei Kapellen waren alle umringt von zahlreichen Tänzern, und die Zelte, in denen sie sich befanden, hatten deren Bewegungen ganz in eine Art von pulsierendem Tanz verwandelt, da die Möglichkeit, von hier nach da zu kommen, jäh durch die Schönheit und Üppigkeit der Musik behindert wurde, durch die Schwere und die Aussicht.

Es war also eine große Festlichkeit, und John freute sich und feierte kräftig mit in jedem wachen Moment. Er brauchte weder Omegendorph noch Pandorph; und einmal, als Marian und die Leute von Senzeni Na ihn in eine Ecke drängten und anfingen, Tabletten zu verteilen, konnte er bloß lachen. Er sagte zu den jungen Hitzköpfen mit einer schwachen Handbewegung: »Mir ist jetzt nicht danach. Das hieße jetzt Eulen nach Athen tragen, wirklich!«

»Eulen nach Athen?«

»Er meint, als ob man Permafrost nach Borealis brächte.«

»Oder mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre pumpte.«

»Mehr Salz in den verdammten Boden täte.«

»Mehr Eisenoxid über den ganzen verdammten Planeten verteilte.«

»Genau«, lachte John. »Ich bin schon ganz rot.«

»Nicht so rot wie diese Leute«, sagte einer von ihnen und zeigte hinunter nach Westen. Eine Kette von drei sandfarbenen Luftschiffen schwebte den Vulkanhang herauf. Sie waren klein und veraltet und beantworteten keine Funkanfragen. Als sie über den Rand von Zp gerutscht waren und zwischen den größeren und bunteren Schiffen im Krater verankert waren, warteten alle darauf, von den Beobachtern in der Schleuse zu erfahren, wer sie sein könnten. Als ihre Gondeln aufgingen und zwanzig oder dreißig Personen in Schutzanzügen herauskamen, trat Stille ein. »Das ist Hiroko«, sagte Nadia plötzlich über die allgemeine Frequenz. Die Ersten Hundert begaben sich rasch zum oberen Zelt und blickten nach oben zu dem Gehrohr, das über den Rand verlief. Und als die neuen Besucher das Rohr hinab zur Zeltschleuse gingen und dann hindurch und drin waren — ja, es waren Hiroko, Michel, Evgenia, Iwao, Gene, Ellen, Rya, Raul und eine ganze Schar Jugendlicher.

Schreie und Rufe drangen durch die Luft, Menschen fielen sich in die Arme, einige weinten; und es gab eine Menge ärgerlicher Vorwürfe. John konnte nicht umhin, Hiroko an sich zu drücken, als er eine Gelegenheit bekam nach allen diesen Stunden im Rover, wo er sich Sorgen machte und wünschte, mit ihr sprechen zu können. Jetzt packte er sie bei den Schultern und schüttelte sie fast. Heiße Worte wollten ihm aus der Kehle strömen; aber ihr grinsendes Gesicht glich so sehr dem, das er in Erinnerung hatte, und dennoch nicht. Ihr Gesicht war schmaler und faltiger, nicht sie und doch deutlich sie. Ihr Gesicht verschwamm ihm vor den Augen zwischen dem, was er zu sehen erwartet hatte, und dem, was er jetzt sah. Er war durch diese halluzinatorische Undeutlichkeit (auch in seinen Gefühlen) so verwirrt, dass er nur sagte: »Oh, ich habe mir so gewünscht, mit dir zu reden!«

»Und ich mit dir«, sagte sie, obwohl es bei dem allgemeinen Lärm kaum zu hören war. Nadia vermittelte zwischen Maya und Michael, denn Maya brüllte immer wieder: »Warum hast du es mir nicht gesagt?«, ehe sie in Tränen ausbrach. John wurde dadurch abgelenkt und sah dann Arkadys Gesicht über Hirokos Schulter mit einer Miene, die sagte: Fragen werden später beantwortet werden; und er verlor seinen Gedankenfaden. Es würden manche harte Sachen gesagt werden müssen — aber jedenfalls waren sie hier! Unten in den Zelten war der Geräuschpegel um zwanzig Dezibel gestiegen. Die Leute feierten ihre Wiedervereinigung.

Spät am Nachmittag versammelte John die Ersten Hundert, die jetzt knapp sechzig zählten. Sie kamen von selbst in dem höchsten Zelt zusammen und schauten über die weiter unten und das Land dahinter hinab.

Es war alles so viel größer als Underhill und die enge steinige Ebene darum herum. Alles hatte sich verändert, wie es schien. Die Welt und ihre Zivilisation waren viel größer und komplizierter geworden. Und dennoch standen sie jetzt hier. Die ach so vertrauten Gesichter verändert, gealtert, wie menschliche Gesichter altern. Die Zeit formte sie mit Erosion, als ob sie seit geologischen Zeiträumen gelebt hätten, und gab ihnen einen wissenden Ausdruck, als ob man die Wasserreservoire hinter ihren Augen erkennen könnte. Die meisten von ihnen waren jetzt in ihren siebziger Jahren. Und die Welt war in der Tat größer auf vielfache Weise. Schließlich war es jetzt durchaus möglich, dass es ihnen beschieden wäre, einander noch viel mehr altern zu sehen, wenn sie Glück hatten. Das war ein eigenartiges Gefühl.

So drängten sie sich durcheinander, schauten auf die Leute in den Zelten weiter unten und dahinter auf den bunt orangefarbenen Teppich des Planeten. Und die Konversation ging in raschen chaotischen Wellen hierhin und dorthin und erzeugte Überlagerungseffekte, so dass manchmal alle zugleich still waren und beisammen standen, verwundert, betäubt oder wie Delphine grinsend. In den Zelten unten schauten die Leute gelegentlich durch die Plastikbögen zu ihnen herauf, um einen Blick auf ein so historisches Treffen zu erhaschen.

Schließlich setzten sie sich in unordentlich herumstehende Stühle und reichten Käse, Kekse und Flaschen mit Rotwein herum. John lehnte sich zurück und schaute sich um. Arkady hatte einen Arm über Mayas Schultern gelegt, den anderen über die Nadias, und alle drei lachten über etwas, das Maya gesagt hatte. Sax zwinkerte vergnügt wie eine Eule, und Hiroko strahlte. John hatte in den früheren Jahren nie diesen Gesichtsausdruck bei ihr gesehen. Es war ein Jammer, eine solche Stimmung zu stören, aber es würde nie wieder eine gute Gelegenheit geben, und die Stimmung würde zurückkehren. Also sagte er in einem stillem Moment laut und deutlich zu Sax: »Ich kann dir sagen, wer hinter der Sabotage steckt.«

Sax zwinkerte: »Kannst du das?«

»Ja.« Er sah Hiroko ins Auge. »Hiroko, es sind deine Leute.«

Das ernüchterte sie, obwohl sie immer noch lächelte. Aber es war das zurückhaltende private Lächeln von einst. »Nein, nein«, sagte sie sanft und schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich das nicht tun würde.«

»Das habe ich auch nicht gemeint. Aber deine Leute tun es ohne dein Wissen. Praktisch deine Kinder. Arbeiten mit dem Cojoten zusammen.«

Ihre Augen verengten sich, und sie warf einen raschen Blick auf die Zelte unter ihnen.

Als sie John wieder anblickte, fuhr er fort: »Du hast sie erzeugt, nicht wahr? Einen Haufen deiner Eier befruchtet und sie in vitro wachsen lassen?«

Nach einer Pause nickte sie.

»Hiroko!« sagte Ann. »Du hast keine Ahnung, wie gut dieses ektogene Verfahren funktioniert!«

»Wir haben es ausprobiert«, sagte Hiroko. »Die Kleinen sind sehr gut geraten.«

Jetzt schwieg die ganze Gruppe und beobachtete Hiroko und John. Der sagte: »Mag sein, aber manche von ihnen teilen nicht deine Gedanken. Sie handeln eigenmächtig, wie Kinder nun einmal sind. Sie haben Eckzähne aus Stein, oder stimmt das nicht?«

Hiroko rümpfte die Nase. »Es sind Kronen. Eher eine Mischung als echter Stein. Eine alberne Mode.«

»Und eine Art Abzeichen. Und draußen auf der Oberfläche gibt es Leute, die das aufgegriffen haben, Leute, die mit deinen Kindern in Kontakt stehen und ihnen bei den Sabotagen helfen. Ich bin von einigen fast getötet worden in Senzeni Na. Mein Führer dort hatte einen steinernen Eckzahn, obwohl es lange dauerte, bis ich mich daran erinnerte, wo ich das gesehen hatte. Ich nehme an, es war ein Zufall, dass wir beide gleichzeitig da unten waren, als der Wagen herunterfiel. Ich hatte ihnen nicht angekündigt, dass ich zu Besuch kommen würde, und so nehme ich an, die ganze Sache war geplant, ehe ich hinkam, und sie wussten nicht, wie man sie aufhalten konnte. Okakura ist wahrscheinlich in das Loch hinabgestiegen in dem Glauben, dass er wie ein Käfer zerquetscht würde um der Sache willen.«

Eine neue Pause. Hiroko sagte: »Bist du sicher?« »Ich bin mir recht sicher. Es war lange verwirrend, weil es ihnen nicht ganz ähnlich sieht. Es läuft mehr als ein Ding. Aber als ich den ersten steinernen Zahn gesehen hatte, wurde es mir klar; und ich stellte fest, dass eine ganze Schiffsladung mit zahnärztlichem Gerät damals 2044 von der Erde leer angekommen war. Ein ganzer Frachter ausgeraubt. Das brachte mich auf den Gedanken, einer Sache auf der Spur zu sein. Und dann geschahen die Sabotagen an Orten und zu Zeiten, wo niemand, der im Netz war, es hätte tun können. Wie damals, als ich Mary bei dem Wasserlager von Margaritifer besuchte, und das Quellengebäude explodierte. Es war klar, dass es niemand gewesen sein konnte, der dort stationiert war. Das war einfach unmöglich. Aber es ist eine sehr isolierte Station, und zu jener Zeit war sonst niemand in der Nähe. Also musste es jemand außerhalb des Netzes gewesen sein. Und so habe ich an dich gedacht.«

Er zuckte entschuldigend die Achseln. »Wenn du es nachprüfst, wirst du feststellen, dass ungefähr die Hälfte der Sabotagen einfach nicht von jemandem im Netz ausgeführt sein konnte. Und bei der anderen Hälfte wurde gewöhnlich jemand mit einem Steinzahn in der Gegend bemerkt. Das ist inzwischen eine recht weit verbreitete Mode, aber ich dachte immer noch, dass du es warst. Und ich hatte meine KI eine Analyse machen lassen, die zeigte, dass etwa zwei Drittel der Fälle in der unteren südlichen Hemisphäre passiert sind, dies oder innerhalb eines Kreises von dreitausend Kilometern mit dem chaotischen Terrain am Ostende von Marineris als Zentrum. Das ist ein Kreis, der eine Menge Siedlungen enthält; aber selbst in diesem Fall schien mir, dass das Chaos ein logischer Platz wäre, wo sich die Saboteure verstecken könnten. Und wir haben alle seit Jahren herausgefunden, dass es dort war, wohin ihr gegangen seid, als ihr Underhill verließet.«

Hirokos Gesicht ließ nichts erkennen. Endlich sagte sie: »Ich werde dem nachgehen.«

»Gut.«

Sax sagte: »John, du sagtest, dass mehr als ein Ding im Gange wäre?«

John nickte. »Siehst du, es ist nicht bloß Sabotage gewesen. Jemand hat versucht, mich zu töten.«

Sax zwinkerte, und die anderen machten ein schockiertes Gesicht. John sagte: »Zuerst dachte ich, es wären die Saboteure, die versuchten, meine Nachforschungen zu verhindern. Das ergab Sinn, und der erste Vorfall war wirklich ein Sabotageakt, so dass man leicht verwirrt werden konnte. Aber jetzt bin ich recht sicher, dass es damals ein Irrtum gewesen war. Die Saboteure waren nicht daran interessiert, mich zu töten. Das hätten sie tun können, machten es aber nicht.

Eines Nachts hat mich eine Gruppe von ihnen aufgehalten, einschließlich deines Sohnes Kasei, Hiroko, und des Cojoten, von dem ich annehme, dass er derselbe blinde Passagier ist, den du auf der Ares versteckt hattest …«

Das verursachte einen Aufruhr. Offenbar hatte eine Anzahl von ihnen Verdacht hinsichtlich eines blinden Passagiers gehabt. Und Maya sprang auf, deutete mit einer dramatischen Geste auf Hiroko und schrie laut. John brüllte sie alle nieder und drängte weiter. »Ihr Besuch war der beste Beweis meiner Theorie über die Sabotagen, weil es mir gelang, einige Hautzellen von einem von ihnen zu bekommen. Und ich konnte seine DNA lesen und mit anderen Proben vergleichen lassen, die an einigen Sabotagestellen gefunden wurden. Und diese Person war dort gewesen. Also waren sie die Saboteure, versuchten aber offenbar nicht, mich zu töten. Aber in einer Nacht in Hellas Low Point wurde ich umgeworfen und mein Schutzanzug aufgeschnitten.«

Er nickte zu den Ausrufen seiner Freunde. »Das war die erste geplante Attacke auf mich; und sie kam ziemlich bald, nachdem ich zu Pavonis gegangen war und mit Phyllis und einer Gruppe transnationaler Typen über Internationalisierung des Aufzugs und so weiter gesprochen hatte.«

Arkady lachte ihn an, aber John ignorierte ihn und fuhr fort: »Danach wurde ich mehrfach durch UNOMA-Detektive belästigt, denen Helmut gestattet hatte herzukommen. Das geschah auf Druck seitens einiger Transnationaler. Und ich fand tatsächlich heraus, dass die meisten dieser Leute für Armscor oder Subarashii auf der Erde gearbeitet hatten und nicht für das FBI, wie sie mir erzählten. Das sind die Transnationalen, die am meisten mit dem Aufzugsprojekt und der Ausbeutung der Großen Böschung zu tun haben. Und jetzt haben sie ihre eigenen Sicherheitsleute überall eingesetzt und dieses mobile Team von so genannten Detektiven. Und dann, kurz vor dem Ende des Großen Sturms, haben einige dieser Detektive versucht, mich des Mordes anklagen zu lassen, der in Underhill passiert ist. Jawohl, das haben sie versucht! Das hat nicht geklappt, und ich kann absolut beweisen, dass sie es waren, und ich habe zwei von ihnen an dem Plan arbeiten sehen. Und ich denke, dass sie auch diesen Mann getötet haben, nur um mich in Schwierigkeiten zu bringen. Um mich aus dem Wege zu schaffen.«

»Das solltest du Helmut erzählen«, sagte Nadia. »Wenn wir eine einheitliche Front bilden und darauf bestehen, dass diese Leute zur Erde zurückgeschickt werden, könnte er uns das kaum verweigern.«

»Ich weiß nicht, wie viel Macht Helmut überhaupt noch hat«, erwiderte John. »Aber es wäre einen Versuch wert. Ich möchte, dass diese Leute vom Planeten verjagt werden. Und besonders jene zwei, die ich von dem Sicherheitssystem in Senzeni Na habe aufzeichnen lassen, als sie beide in die Roboterklinik gingen und an den Reinigungsrobotern herumgefummelt haben, ehe ich es tat. Also ist der Indizienbeweis gegen sie wohl so stark wie nötig.«

Die anderen wussten nicht recht, was sie damit anfangen sollten, aber es stellte sich heraus, dass einige von ihnen auch von anderen UNOMA-Teams belästigt worden waren — Arkady, Alex, Spencer, Vlad und Ursula —, und sie stimmten rasch zu, dass es eine gute Idee wäre, die Detektive deportieren zu lassen. »Zumindest diese zwei Kerle sollten ausgewiesen werden«, sagte Maya energisch.

Sax drückte einfach auf sein Armband und rief Helmut gleich auf der Stelle an. Er legte ihm die Situation dar, und die aufgebrachte Gruppe mischte sich ab und zu laut ein. Vlad erklärte: »Wir werden das der Presse der Erde unterbreiten, wenn du nichts dagegen tust.«

Helmut runzelte die Stirn und sagte nach einer Pause: »Ich werde mich darum kümmern. Jene Agenten, über die ihr euch besonders beschwert, werden sicher abgelöst und nach Hause geschickt werden.«

»Lass ihre DNA nachprüfen, ehe du sie ziehen lässt!« sagte John. »Der Mörder jenes Mannes ist sicher dabei, dessen bin ich sicher.«

»Wir werden das nachprüfen«, sagte Helmut nachdrücklich.

Sax trennte die Verbindung, und John sah wieder seine Freunde an. Er sagte: »Okay. Aber es wird mehr nötig sein als ein Anruf bei Helmut, um alle Veränderungen zu bewirken, die wir brauchen. Die Zeit ist gekommen, wieder gemeinsam zu handeln in einem weiten Bereich von Angelegenheiten, wenn wir überleben wollen. Das ist ein Minimum, müsst ihr wissen. Ein Beginn für das übrige. Wir müssen eine kohärente politische Einheit bilden, ungeachtet aller möglichen Meinungsverschiedenheiten.«

»Es wird nichts bewirken, was wir tun«, sagte Sax sanft. Er wurde aber sofort mit einem unverständlichen Gebrabbel wetteifernder Proteste angegriffen.

John schrie: »Es wird sehr wohl etwas bewirken! Wir haben eine ebenso gute Chance wie jedermann zu bestimmen, was hier geschieht.«

Sax schüttelte den Kopf, aber die anderen hörten auf John und schienen ihm meistens zuzustimmen: Arkady, Ann, Maya, Vlad — jeder aus seiner anderen Perspektive … Es konnte getan werden; das sah John in ihren Gesichtern. Nur Hiroko konnte er nicht deuten. Ihr Gesicht war ausdruckslos, in einer Weise verschlossen, die ihm einen jähen Stich der Erinnerung versetzte. Sie war immer so zu John gewesen, und plötzlich verursachte es ihm Schmerzen von Frustration und früherer Pein. Er war beunruhigt.

Er stand da und deutete nach draußen. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und die riesige gekrümmte Fläche des Planeten war ein endloses Muster von Schatten. »Hiroko, kann ich mit dir privat ein Wort sprechen? Wir können in das Zelt hier unten gehen. Ich habe bloß ein paar Fragen; und dann können wir wieder zurückkommen.«

Die anderen starrten sie neugierig an. Unter diesem Blick verbeugte sich Hiroko schließlich und ging John voraus zu der Röhre, die in das nächste Zelt führte.


Sie standen am spitzen Ende der Sichel dieses Zeltes, unter den Blicken der Freunde oben und der zufälligen Beobachter unten. Das Zelt war größtenteils leer. Man achtete die Privatsphäre der Ersten Hundert, indem man eine Lücke ließ.

Hiroko fragte: »Hast du Vorschläge, wie ich die Saboteure identifizieren kann?«

»Du könntest mit dem Jungen namens Kasei anfangen«, sagte John. »Dem, der eine Mischung von dir und mir ist.«

Sie vermied seinen Blick.

John beugte sich zu ihr. Er wurde ärgerlich. »Ich nehme an, es gibt Kinder von jedem Mann unter den Ersten Hundert?«

Hiroko wandte ihm den Kopf zu und zuckte ganz leicht die Achseln. »Wir haben uns von den Proben bedient, die ein jeder gegeben hat. Die Mütter sind alle Frauen in der Gruppe und die Väter alle Männer.«

»Was hat dir das Recht gegeben, all dies ohne unsere Erlaubnis zu tun?« fragte John. »Unsere Kinder zu machen, ohne uns zu fragen, wegzulaufen und sich gleich zu verstecken? Warum? Warum?«

Hiroko erwiderte seinen Blick ruhig. »Wir haben eine Vision davon, was Leben auf dem Mars sein kann. Wir konnten sehen, dass es nicht so verlief. Wir haben recht bekommen durch das, was inzwischen geschehen ist. Also gedachten wir, unser eigenes Leben einzurichten …«

»Aber siehst du nicht ein, wie selbstsüchtig das ist? Wir alle hatten eine Vision, und wir haben dafür so hart gearbeitet, wie wir konnten; und während dieser ganzen Zeit bist du verschwunden gewesen, um eine kleine Taschenwelt für deine kleine Gruppe zu schaffen! Ich meine, wir hätten eure Hilfe brauchen können. Ich wollte so oft mit dir sprechen. Jetzt haben wir ein Kind zwischen uns, eine Mischung von dir und mir, und du hast seit zwanzig Jahren nicht mit mir gesprochen!«

Hiroko sagte ruhig: »Wir hatten nicht vor, selbstsüchtig zu sein. Wir wollten den Versuch machen, um durch ein Experiment zu zeigen, wie wir hier leben können. Wenn man über ein unterschiedliches Leben spricht, muss jemand zeigen, was man meint, John Boone. Es muss einer dieses Leben führen.«

»Aber wenn ihr das im geheimen tut, kann es keiner sehen!«

»Wir hatten nie vor, für immer geheim zu bleiben. Die Lage hat sich verschlechtert, und so sind wir ferngeblieben. Aber hier sind wir nun schließlich. Und wenn man uns braucht, wenn wir helfen können, werden wir wieder erscheinen.«

»Ihr werdet jeden Tag gebraucht«, sagte John leise. »So funktioniert nun einmal das soziale Leben. Du hast einen Fehler gemacht, Hiroko. Denn während ihr euch versteckt hattet, haben sich die Chancen dafür, dass der Mars unabhängig bleibt, vermindert; und viele Leute haben an diesem Niedergang mitgewirkt, darunter auch einige der Ersten Hundert. Und was hast du getan, ihnen Einhalt zu gebieten?«

Hiroko sagte nichts. John fuhr fort: »Ich nehme an, dass du heimlich Sax etwas geholfen hast. Ich habe eine deiner Mitteilungen an ihn gesehen. Aber das ist auch etwas, mit dem ich ganz und gar nicht einverstanden bin: einigen von uns helfen, anderen aber nicht.«

»Wir alle tun das«, sagte Hiroko. Sie sah aber verlegen aus.

»Habt ihr in eurer Kolonie die gerontologischen Behandlungen erhalten?«

»Ja.«

»Und ihr habt die Prozedur von Sax bekommen?«

»Ja.«

»Kennen diese eure Kinder ihre Elternschaft?«

»Ja.«

John schüttelte den Kopf. Er war mehr als wütend. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du zu so etwas imstande warst.«

»Uns interessiert nicht, was du glaubst, John.«

»Offensichtlich nicht. Aber machte es dir wirklich gar nichts aus, unsere Gene zu stehlen und durch uns Kinder zu machen ohne unser Wissen oder Einverständnis? Sie aufzuziehen, ohne uns dabei zu beteiligen, ohne uns ihre Kindheit miterleben zu lassen?«

Sie zuckte die Achseln. »Ihr könnt eure Kinder haben, wenn ihr wollt. Was dies angeht, na gut. War irgendwer von euch vor zwanzig Jahren interessiert, Kinder zu haben? Nein. Davon ist nie die Rede gewesen.«

»Wir waren zu alt!«

»Wir waren nicht zu alt. Wir wollten nicht daran denken. Weißt du, die meiste Ignoranz ist gewollt, und so kündet Ignoranz davon, woran dem Volk wirklich gelegen ist. Ihr wolltet keine Kinder, und so wusstet ihr nichts über späte Geburten. Aber wir wollten und erlernten so die Techniken. Und wenn ihr die Resultate seht, werdet ihr wohl erkennen, dass das eine gute Idee war. Ich denke, ihr werdet uns danken. Was habt ihr schließlich verloren? Diese Kinder sind unsere. Aber sie haben eine genetische Verbindung mit euch, und von jetzt an werden sie sozusagen als ein unerwartetes Geschenk für euch existieren. Als ein ganz außergewöhnliches Geschenk.« Ihr Mona-Lisa-Lächeln erschien und verschwand.

Wieder die Vorstellung des Geschenkes. John machte eine Pause, um nachzudenken. Endlich sagte er: »Gut. Ich denke, wir werden darüber noch lange reden müssen.«

Dämmerung hatte die Atmosphäre unter ihnen zu einem schwarz-purpurnen Band gemacht, das wie eine samtene Kante um die schwarze, von Sternen getüpfelte Schüssel lief, die über ihren Köpfen erschienen war. In den Zelten unten sangen sie, angeführt von den Sufis: »Harmakhis, Mangala, Nirgal, Auqakuh; Harmakhis, Mangala, Nirgal, Auqakuh«, immer wieder, und von Zeit zu Zeit fügten sie Ziernoten hinzu, die andere Namen für Mars waren. Sie ermutigten die dort schon anwesenden Bands, Instrumentalbegleitungen aller Art hinzuzufügen, bis jedes Zelt von diesem Gesang erfüllt war und alle zusammen sangen. Dann begannen die Sufis ihren Drehtanz, und kleine Gruppen von Tänzern wirbelten durch die Mengen.

»Wirst du wenigstens mit mir in Kontakt bleiben?« sagte John eindringlich zu Hiroko. »Wirst du mir das zusichern?«

»Ja.«


Sie begaben sich wieder in das obere Zelt, und die Gruppe ging gemeinsam nach unten zu der allgemeinen Party. John näherte sich langsam den Sufis und versuchte die Drehungen, die er von ihnen auf ihrer Mesa gelernt hatte. Das Volk jubelte und erwischte ihn, wenn er außer Kontrolle in die Zuschauer wirbelte. Nach einem Fall half ihm der schmalgesichtige Mann mit Haarborsten, der den mitternächtlichen Besuch seines Rovers angeführt hatte. »Cojote!« rief John.

»Das bin ich«, sagte der Mann, und seine Stimme ließ John einen Schauer von Elektrizität den Rücken hinunterrieseln. »Aber kein Grund zur Besorgnis.«

Er bot John eine Flasche an. Nach kurzem Zögern nahm John sie und trank. Das Glück ist mit dem Kühnen, dachte er. Anscheinend Tequila. »Du bist der Cojote!« brüllte er über die Musik der Magnesiumtrommelband.

Der Mann grinste breit und nickte einmal, nahm die Flasche zurück und trank.

»Ist Kasei bei euch?«

»Nein. Er mag diesen Meteoriten nicht.« Und dann entfernte sich der Mann mit einem freundlichen Klaps auf den Arm in die wirbelnde Menge. Er blickte noch über die Schulter zurück und rief: »Viel Vergnügen!«

John sah ihn unter den Gesichtern in der Menge verschwinden und fühlte die Tequila in seinem Magen brennen. Die Sufis, Hiroko, jetzt Cojote. Das war ein gesegnetes Zusammentreffen. Er erblickte Maya, lief zu ihr hinüber und legte einen Arm um ihre Schulter.

Dann gingen sie durch die Zelte und die Verbindungstunnels, und die Leute toasteten ihnen zu, wenn sie vorbeikamen. Die halbstarren Fußböden der Zelte hüpften leicht auf und ab.

Der Countdown erreichte zwei Minuten, und viele Leute stiegen zu den oberen Zelten empor und drückten sich dann gegen die klaren Wände der nach Süden gerichteten Bögen. Der Eis-Asteroid würde wahrscheinlich in einem einzigen Umlauf verglühen, weil seine Injektionsbahn so steil war. Ein Objekt, ein Viertel so groß wie Phobos, verbrannte zu Dampf und dann, wenn es heißer wurde, zu Molekülen von Sauerstoff und Wasserstoff. Und all das in Minuten. Niemand konnte sicher sein, wie es aussehen würde.

So standen sie nun da. Manche sangen noch die Melodie der Namen. Immer mehr stimmten in das Ende des Countdowns ein. Als sie bei den letzten zehn Sekunden waren, brüllten sie die rückläufige Zahlenfolge aus Leibeskräften. Dann kam »Null!« und während dreier atemloser Sekunden geschah nichts. Dann schoss eine weiße Kugel mit einer Schleppe aus weißem Feuer über dem Südwesthonzont empor, so groß wie der Komet im Teppich von Bayeux und heller als alle Monde, Spiegel und Sterne zusammengenommen. Brennendes Eis blutete über den Himmel, weiß auf schwarz, schnell und niedrig vorbeirasend, so niedrig, dass es nicht viel höher war, als sie sich auf Olympus befanden, so niedrig, dass sie sehen konnten, wie weiße Brocken durch den Schweif zurückbrachen und wie riesige Funken abfielen. Dann brach das Ding halbwegs über dem Himmel in Stücke, und die ganze Sammlung glühender Blitze taumelte nach Osten und zerstreute sich wie Schrot. Mit einemmal erzitterten alle Sterne. Das war der erste akustische Knall, der die Zelte traf und schüttelte. Ein zweiter Knall folgte, und die Phosphorstücke hüpften wild für einen Moment, als sie vom Himmel heruntertorkelten und über dem Südosthorizont verschwanden. Ihre Feuerdrachenschwänze folgten ihnen in den Mars hinein und verschwanden auch. Plötzlich war es wieder dunkel, und der gewöhnliche Nachthimmel stand über ihnen, als wäre nichts geschehen. Nur dass die Sterne flimmerten.


Nach all dieser Erwartung hatte die Passage nicht länger als drei oder vier Minuten gedauert. Die Festgäste waren bei dem Anblick zumeist still geworden, aber viele hatten unwillkürlich beim Anblick des Auseinanderbrechens geschrien wie bei einem Feuerwerk. Und dann wieder beim Eintreffen der beiden großen Knalle. Jetzt in der alten Dunkelheit war die Stille vollständig, und die Leute standen ruhig da. Was konnte man nach so etwas auch tun?

Aber da war Hiroko, die sich ihren Weg durch die Zelte bahnte bis zu dem, wo John und Maya und Nadia und Arkady beisammenstanden. Unterwegs rezitierte sie in einem Ton, der ruhig war, aber durch jedes Zelt hallte, das sie passierte: »Al-Qahira, Ares, Auqakuh, Bahram. Harmakhis, Hrad, Huo Hsing, Kasei. Ma’adim, Maja, Mamers, Mangala, Mawrth, Nirgal, Shalbatanu, Simud und Tiu.« Sie ging durch die Menge direkt zu John, und vor ihm ergriff sie seine Rechte, zog sie hoch und rief plötzlich: »John Boone! John Boone!«

Und dann jubelten alle und schrien: »Boone! Boone! Boone!« Und andere riefen: »Mars! Mars! Mars!«

Johns Gesicht erglühte wie vorhin der Meteorit, und er fühlte sich benommen, als ob ihm ein Stück davon auf den Kopf gefallen wäre. Seine alten Freunde lachten ihn an, und Arkady schrie: »Reden!« mit dem, was er für einen amerikanischen Akzent hielt: »Spiitsch, spiitsch!«

Andere nahmen das auf, und nach einiger Zeit ebbte der Lärm ab, und sie sahen ihn erwartungsvoll an. Beim Anblick seiner erstaunten Miene wurden sie von Lachen erfasst. Hiroko ließ seine Hand los, und er hob auch die andere Hand hilflos hoch und streckte beide offenen Handflächen über den Kopf.

Er rief: »Freunde, was kann ich sagen? Das ist das Ding an sich. Dafür gibt es keine Worte. Worte dafür müssen erst noch gefunden werden.«

Aber sein Blut war von Adrenalin aufgeputscht, von Tequila, Omegendorph und Glück; und ohne es zu wollen, strömten aus ihm die Worte wie schon so oft. Er sagte; »Schaut, hier sind wir auf dem Mars!« (Gelächter.) »Das ist unsere Gabe, und es ist eine große Gabe, der Grund, weshalb wir alle unser Leben dafür geben müssen, dass der Zyklus weitergeht. Es ist wie bei der Öko-Ökonomie, wo das, was man von dem System nimmt, ausgeglichen werden muss durch das, was man ihm gibt. Balanciert oder übertroffen, um jenen anti-entropischen Aufschwung zu geben, der alles kreative Leben kennzeichnet und besonders diesen Schritt auf eine neue Welt, diesen Ort, der weder Natur noch Kultur ist, die Umwandlung eines Planeten in eine Welt und dann in eine Heimat. Wir wissen jetzt alle, dass unterschiedliche Leute unterschiedliche Gründe dafür haben, dass sie hier sind; und ebenso wichtig ist, dass die Leute, die uns geschickt haben, unterschiedliche Gründe dafür hatten; und jetzt beginnen wir, die durch solche Differenzen verursachten Konflikte zu sehen. Am Horizont brauen sich Stürme zusammen, gefährliche Meteore fliegen heran, und manche von ihnen werden uns voll treffen, anstatt uns über die Köpfe zu streifen, wie diese weiße Glut es eben gerade getan hat.« (Beifall.) »Es kann schlimm kommen, bisweilen wird es fast sicher schlimm ausgehen. Darum müssen wir bedenken, dass so, wie diese Meteortreffer die Atmosphäre bereichern, sie verdichten und Sauerstoff als Elixier in die Giftbrühe außerhalb unserer Zelte tun, die herabkommenden menschlichen Konflikte ebenso wirken könnten, indem sie den Permafrost an unserer sozialen Basis schmelzen, alle diese erstarrten Institutionen wegtauen und uns der Notwendigkeit der Kreativität aussetzt, dem Imperativ, eine neue soziale Ordnung zu erfinden, die rein marsianisch ist, so marsianisch wie Hiroko Ai, unsere Persephone, die jetzt aus dem Regolith zurückgekehrt ist, um den Beginn dieses neuen Frühlings zu verkünden!« (Hochrufe.)

»Nun, ich pflegte zu sagen, dass wir alles von Grund auf neu erfinden müssten; aber in diesen letzten Jahren, in denen ich umhergereist bin und euch alle kennen gelernt habe, ist mir klar geworden, dass das falsch war. Es ist nicht so, als hätten wir überhaupt nichts und seien gezwungen, wie Götter Formen aus dem Vakuum zu gestalten. Ihr könntet sagen, wir haben die Gene, dieselben, von denen Vlad spricht, wenn er von unseren kulturellen Genen spricht. Also ist es eine Art genetischer Technik, was wir hier tun. Wir besitzen die DNA-Stücke der Kultur, die alle von der Geschichte gebildet, zerbrochen und gemischt wurden; und wir können auswählen und alles zusammenknüpfen und schneiden, so wie die Schweizer ihre Verfassung gemacht haben oder die Sufis ihren Ritus oder die Methode, nach der die Acherongruppe ihre jüngsten schnellen Flechten — ein Stück von hier und von da, was immer passend ist, wobei man die Regel der sieben Generationen beachtet, indem man sieben Generationen zurück und sieben Generationen voraus denkt, und siebenmal sieben, wenn ihr mich fragt; denn jetzt reden wir davon, unser Leben weit in die kommenden Jahre auszudehnen. Wir wissen noch nicht, wie uns das beeinflusst, aber es ist sicher, dass Altruismus und Eigeninteresse enger zusammengestoßen sind denn jemals zuvor. Aber wir müssen immer noch an das Leben unserer Kinder, Kindeskinder und so fort für immer denken. Wir müssen so handeln, dass sie ebenso viele und hoffentlich noch mehr Chancen erhalten, um die Sonnenenergie auf immer genialere Weise so zu lenken, dass der Strom der Entropie in diesem kleinen Bereich des universellen Stroms umgekehrt wird. Und ich weiß, dass es eine schrecklich allgemeine Formulierung ist, wenn dieser Vertrag, der unser Leben hier regelt, so bald schon zur Erneuerung ansteht; aber wir müssen stets bedenken, dass das, was kommt, nicht bloß ein Vertrag ist, sondern eher ein Verfassungskongreß, weil wir es hier mit dem Genom unserer sozialen Organisation zu tun haben — du kannst dies tun, du kannst das nicht tun; du musst das machen, essen oder geben. Und wir haben nach einem Katalog von Regeln gelebt, die für ein leeres Land eingeführt wurden, dem so zerbrechlichen und idealistischen Antarktisvertrag, der den kalten Kontinent so lange von Besitzstörung freigehalten hat, praktisch bis zum letzten Jahrzehnt, wo er zerstückelt wurde. Und dies ist ein Anzeichen dafür, was jetzt auch hier anzufangen beginnt. Die Verletzung dieses Regelwerks hat überall eingesetzt. Sie nährt sich wie ein Parasit von den Grenzbereichen ihres Wirtsorganismus. Denn das steckt in den Änderungen der Regeln — die alte parasitische Gier der Könige und ihrer Gefolgsleute. Dieses System, das wir die transnationale Weltordnung nennen, ist wieder reiner Feudalismus, ein Regelwerk, das anti-ökologisch ist, das eine fluktuierende internationale Elite bereichert, aber alles andere ärmer macht. Und so ist die so genannte Elite in Wirklichkeit auch arm. Sie ist bar jeder echten humanen Tätigkeit und daher auch bar jeder echt humanen Leistung und Bildung, parasitisch im ganz eigentlichen Sinne und doch auch so mächtig, wie Parasiten, die die Kontrolle übernommen haben, nur sein können, indem sie die Gaben menschlicher Tätigkeit den rechtmäßigen Empfängern entziehen, welche die sieben Generationen sind, und während sie sich so ernähren, die repressiven Kräfte stärken, die sie in ihrer Position halten.« (Beifall.)

»Also, Freunde, geht es hier um Demokratie gegen Kapitalismus; und wir hier draußen auf dem Grenzposten der menschlichen Welt haben vielleicht eine bessere Stellung als jeder andere, um dies zu sehen und diese globale Schlacht zu kämpfen. Hier gibt es leeres Land, hier gibt es seltene und nicht nachwachsende Ressourcen, und wir werden in den Kampf hineingezogen und können uns ihm nicht entziehen. Wir gehören zu den Opfern, und unser Schicksal wird dadurch entschieden werden, was der ganzen Menschenwelt passiert. Und da dem so ist, sollten wir uns lieber für das gemeinsame Gute zusammentun, für den Mars und für uns und für alle Völker auf der Erde und für die sieben Generationen. Das wird hart sein und Jahre erfordern, und je stärker wir sind, desto besser sind unsere Chancen. Und darum bin ich so glücklich zu sehen, wie dieser brennende Meteorit die Matrix des Lebens in unsere Welt pumpt, und darum bin ich so glücklich, euch alle hier beisammen zu sehen, um das zu feiern, ein repräsentativer Kongress von allem, das ich in dieser Welt liebe. Aber ich denke, dass die Stahltrommelband bereit ist zu spielen, nicht wahr?« (Zustimmende Rufe) »Warum fangt ihr also nicht an, und wir werden bis zur Morgendämmerung tanzen und uns morgen in die Winde zerstreuen und die Seiten dieses großen Berges hinabbegeben, um die Gabe überallhin zu tragen.«

Wilder Applaus. Die Magnesiumtrommelband nahm ihn in ihre Staccato-Rhythmen auf, und die Menge geriet wieder in Bewegung.

Die Party dauerte die ganze Nacht. John verbrachte die Zeit damit, von Zelt zu Zelt zu wandern, Hände zu schütteln und Leute zu umarmen. »Danke, danke, danke! Ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht an das, was ich gesagt habe. Aber das hier habe ich die ganze Zeit gemeint, genau hier.«

Seine alten Freunde lachten ihm zu. Sax, Kaffee trinkend und höchst entspannt, sagte zu ihm: »Ist das nicht Synkretismus? Sehr interessant, sehr gut formuliert«, mit einem ganz feinen Lächeln. Maya gab ihm einen Kuss, Vlad und Ursula und Nadia desgleichen. Arkady hob ihn hoch und wirbelte ihn mit großem Gebrüll in der Luft herum, gab ihm einen haarigen Kuss auf beide Wangen und rief: »He, John, könntest du das bitte noch einmal machen?« Er johlte: »Du setzt mich immer wieder in Erstaunen!« Und Hiroko lächelte intim, während Michel und Iwao neben ihr John zugrinsten …

Michel sagte: »Ich denke, das ist es, was Maslow mit dem Ausdruck Spitzenerfahrung gemeint hat.« Iwao stieß ihn in den Ellbogen. Hiroko berührte John mit dem Zeigefinger am Arm, als ob sie einen gewissen belebenden Kontakt herstellen wollte, eine Macht oder eine Gabe übertragen.


Am nächsten Tag sortierten und verpackten sie die Reste der Party und verließen die Fliesenterrassen, die wie Fransen eines Emailhalsbandes an der Seite des alten schwarzen Vulkans drapiert waren. Sie sagten Lebewohl zu den Besatzungen der Luftschiffe, die vom Hang hinunterglitten wie Ballone, die einer Kinderhand entglitten waren. Die sandfarbenen der verborgenen Kolonie waren bald nicht mehr zu erkennen. Als John mit Maya in seinen Rover stieg, verabschiedeten sie sich, und während sie um den Rand von Olympus Mons fuhren, bewegten sie sich in Kolonne mit Rovern, in denen Arkady und Nadia, Ann und Simon und ihr Sohn Peter saßen. John sagte gesprächsweise an diesem Tage: »Wir müssen mit Helmut reden und die UN dazu bringen, uns als Sprecher für die Gesamtheit der lokalen Bevölkerung zu akzeptieren. Und wir müssen der UN einen Entwurf des revidierten Vertrages vorlegen. Um Ls neunzig soll ich zu einer Einweihungszeremonie für ein neues Zelt auf Ost-Tharsis erscheinen. Man nimmt an, dass Helmut dort sein wird. Vielleicht könnten wir uns dann treffen?«

Nur wenige von ihnen konnten es schaffen, aber sie waren für den Rest als Delegierte ernannt, und man stimmte dem Plan zu. Danach sprachen sie über den möglichen Inhalt des Vertragsentwurfs und führten Funkgespräche mit allen Karawanen und Luftschiffen. Am nächsten Tag kamen sie über die Rampe zur nördlichen Böschung und fuhren an deren Fuß in verschiedene Richtungen weiter. »Das war eine gute Party!« sagte John über Radio der Reihe nach zu allen. »Auf Wiedersehen bei der nächsten!«

Die Sufis rollten da, wo sie hielten, vorbei. Sie winkten aus ihren Fenstern und sagten auch per Funk Lebewohl. John erkannte die Stimme der alten Frau, die ihn im Sturm nach dem Tanz auf der Toilette betreut hatte. Als sie seiner Karawane zuwinkte, rief sie über Funk:

»Sei es in dieser Welt oder jener … Deine Liebe wird uns hinüberfuhren zuletzt.«

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