ACHTER TEIL Shikata ga nai

Als die Insassen des Aufzugswagens Bangkok Friend erfuhren, dass Clarke weggebrochen war und das Kabel abstürzte, eilten sie ins Foyer und zum Gepäckraum und zogen, so schnell sie konnten, Not-Raumanzüge an. Es war ein Glück, dass keine allgemeine Panik ausbrach. Alles geschah im Innern, auf der Oberfläche war jeder sachlich und achtete auf die kleine Gruppe an der Schleusentür, die versuchte herauszubringen, wo sie genau waren und wann sie den Wagen verlassen sollten. Diese Nüchternheit erstaunte Peter Clayborne, dem das Blut in wuchtigen Adrenalinstößen durch den Körper jagte. Er war nicht sicher, ob er hätte sprechen können, falls er das hätte tun müssen. Ein Mann in der Gruppe vorn sagte ihm in ruhigem Ton, dass sie sich dem areosynchronen Punkt näherten. Darum drängten sie sich alle in der Schleuse zusammen, bis sie so dicht gepackt waren, wie vorher die Anzüge im Gepäckraum. Dann verschlossen sie die Tür und atmeten die Anzugluft. Die Außentür glitt auf; und da war es — ein großes Rechteck von gestirntem tiefschwarzem Raum. Es war wirklich beängstigend, in einem nicht festgehakten Raumanzug hineinzuspringen. Das kam dem jungen Mann wie Selbstmord vor. Aber die vordersten stiegen aus, und der Rest folgte wie Sporen aus einer platzenden Samenkapsel.

Der Wagen und der Aufzug verschwanden rasch in östlicher Richtung. Die Wolke aus Raumanzügen begann sich zu zerstreuen. Viele stabilisierten sich mit den Füßen in Richtung auf den Mars, der wie ein schmutziger Basketball unter ihnen lag. Die Gruppe, welche die Berechnungen anstellte, war immer noch auf der allgemeinen Frequenz und besprach die Lage wie ein Schachproblem. Sie befanden sich nahe dem areosynchronen Orbit, aber mit einer Sinkgeschwindigkeit von etwa hundert Kilometern in der Stunde. Der Verbrauch der Hälfte ihres Haupttreibstoffs würde dem großenteils entgegenwirken; und sie würden sich in einer stabileren Umlaufbahn befinden, als unbedingt notwendig war in Anbetracht ihrer Luftvorräte. Mit anderen Worten, sie würden entweder später ersticken oder früher durch die Hitze beim Eintritt in die Atmosphäre sterben. Aber darauf sollte man es zunächst ankommen lassen. Es war möglich, dass während der Gnadenfrist Retter erschienen. Sicher wollten die meisten es versuchen.

Der junge Mann zog seine Raketenkontrollstäbe aus den Konsolen an den Handgelenken und legte seine Finger und Daumen auf die Knöpfe. Er bekam den Mars zwischen seine Stiefel und schoss sich einige Zeit von ihm fort. Einige andere versuchten beisammen zu bleiben; aber er hielt das für unmöglich und eine Vergeudung von Treibstoff. Er ließ sie über sich davondriften, bis sie nur noch Sterne waren. Er war nicht so verängstigt wie vorhin im Gepäckraum, aber er war ärgerlich und bekümmert. Er wollte nicht sterben. Ein Krampf des Grams um seine verlorene Zukunft durchfuhr ihn. Er schrie laut und weinte. Nach einiger Zeit schwanden die physischen Reaktionen, obwohl er sich ebenso elend fühlte wie zuvor. Er starrte dumpf auf die Sterne. Gelegentliche Wogen von Angst oder Verzweiflung durchzogen ihn. Sie wurden aber seltener, als die Minuten vergingen und dann die Stunden. Er versuchte, seinen Stoffwechsel zu verlangsamen. Aber das hatte den gegenteiligen Effekt wie erwartet, so dass er beschloss, darauf zu verzichten. Allerdings rief er zuerst noch an seiner Armbandkonsole seine Pulsfrequenz auf. Hundertundacht Schläge in der Minute. Zum Glück hatte er nicht nachgesehen, als sie sich anzogen und ausstiegen. Er zog eine Grimasse und versuchte, Sternbilder zu bestimmen. Die Zeit verrann.

Er erwachte. Als er merkte, dass er eingeschlafen war, war er zugleich erschrocken und belustigt und fiel prompt wieder in Schlaf. Nach einiger Zeit wachte er dann wieder auf, diesmal endgültig. Die anderen Flüchtlinge aus dem Wagen waren außer Sicht, obwohl einige Sterne sich vor dem Hintergrund zu bewegen schienen. Das hätten sie sein können.

Keine Spur vom Aufzug, weder im Raum noch auf der Marsoberfläche.

Es war ein seltsamer Weg des Dahinscheidens. Etwas wie die Nacht vor einem Termin mit dem Exekutionskommando vielleicht, verbracht in einem Traum vom Weltraum. Das war in mancher Hinsicht ein langweiliges Warten. Es machte ihn ungeduldig, und er überlegte, ob er sein Heizsystem ausschalten sollte. Das wäre es dann gewesen. Das Wissen, er könnte das tun, machte das Warten leichter, und er nahm sich vor, es zu tun, wenn sein Luftvorrat zu versiegen drohte. Der Gedanke trieb seinen Puls auf einhundertdreißig, und er versuchte, sich auf den Planeten unten zu konzentrieren. Home sweet home. Er war immer noch in fast areosynchronem Orbit. Noch nach Stunden hatte er Tharsis unter sich, wenn auch ein bisschen weiter westlich.

Er war über Marineris.

Stunden vergingen, und unbeabsichtigt fiel er wieder in Schlaf. Als er aufwachte, hing ein kleines silbernes Raumfahrzeug vor ihm wie ein UFO. Er schrie vor Überraschung und begann hilflos zu taumeln. Er arbeitete fieberhaft mit den Raketen, um sich unter Kontrolle zu bringen. Als er das geschafft hatte, war das Raumschiff immer noch da. Am Seitenfenster war ein weibliches Gesicht, das zu ihm sprach und auf ihr Ohr deutete. Er schaltete die allgemeine Frequenz ein, aber er hörte nichts. Er schoss mit Raketenkraft auf das Vehikel zu und erschreckte die Frau, weil er fast aufprallte. Es gelang ihm anzuhalten und sich etwas zurückzuziehen. Die Frau gestikulierte; wollte er hineinkommen? Er machte mit Zeigefinger und Daumen im Handschuh einen ungeschickten Kreis und nickte so heftig, dass er wieder ins Taumeln geriet. Während er sich drehte, sah er hinter dem Fenster oben auf dem Fahrzeug eine offene Ladeluke. Er stabilisierte den Anzug und stieß auf die Bucht zu. Er fragte sich, ob sie real sein würde, wenn er hinkäme. Er berührte die offene Luke, und Tränen traten ihm in die Augen. Er blinzelte, und die Tränen schwebten als Kügelchen auf seine Visierscheibe zu, während er sich auf dem Boden der Bucht flach ausstreckte. Er hatte noch Luft für eine Stunde übrig …

Als die Bucht geschlossen und belüftet war, nahm er seinen Helm ab. Die Luft war rein, reich an Sauerstoff und kühl. Die Tür der Bucht ging auf, und er stieß sich hindurch.

Da hörte er Frauen lachen. Es waren ihrer zwei an Bord; und die waren sehr guter Dinge. Eine fragte: »Wohin warst du unterwegs? Wolltest du darin landen?«

Er sagte mit rauer Stimme: »Ich war auf dem Aufzug. Wir mussten abspringen. Habt ihr sonst noch jemanden aufgefischt?«

»Du bist der einzige, den wir gesehen haben. Möchtest du nach unten mitgenommen werden?«

Er konnte nur schlucken. Sie lachten ihn an.

»Wir sind erstaunt, hier auf jemanden getroffen zu sein, Junge! Wie viele Ges verträgst du gutwillig?«

»Ich weiß nicht. Drei?«

Sie lachten wieder.

»Nun, wie viel kannst du ertragen?«

»Eine Menge mehr als das«, sagte die Frau, die nach ihm Ausschau gehalten hatte.

»Eine Menge mehr«, spottete er. »Wie viel kann ein Mensch aushalten?«

»Das werden wir herausfinden«, sagte die andere Frau und lachte. Das kleine Vehikel beschleunigte nach unten auf den Mars zu. Der junge Mann lag erschöpft in einem Andrucksessel hinter den beiden Frauen, stellte Fragen, trank Wasser und lutschte Cheddarkäse aus einer Tube. Die Frauen waren auf einem der kleineren Spiegelkomplexe gewesen und hatten dieses Notlandegerät geklaut, nachdem sie die Spiegel in ein taumelndes Gewirr moleküldünner Membranen verwandelt hatten. Sie machten ihre Landung noch komplizierter durch Übergang in einen polaren Orbit. Sie wollten nahe der südlichen Polkappe landen.

Peter nahm das schweigend in sich auf. Dann hüpften sie wild herum. Die Fenster wurden weiß, dann gelb und danach zornig orangerot. Gravitationskräfte drückten ihn gewaltsam in den Sessel, die Sicht verschwamm, und sein Hals schmerzte. »Was für ein Leichtgewicht!« sagte die eine Frau, und er wusste nicht, ob sie ihn oder das Landefahrzeug meinte.

Dann ließ die Beschleunigung nach, und das Fenster wurde klar.

Er schaute hinaus und sah, dass sie in steilem Sturzflug auf den Planeten zu fielen und nur noch wenige tausend Meter über der Oberfläche waren. Er konnte es nicht glauben. Die Frauen hielten das Fahrzeug im Sturz, und es schien, dass sie sich in den Sand bohren würden. Dann gingen sie im letzten Moment in eine flache Flugbahn, und er wurde wieder in seinem Sessel nach hinten gedrückt. »Sehr hübsch!« erklärte die eine Frau, und dann waren sie — bums — unten und liefen über das geschichtete Terrain.

Wieder Schwerkraft. Peter kletterte nach den zwei Frauen aus dem Lander eine Gehröhre hinunter und in einen großen Rover. Er fühlte sich benommen und hätte weinen mögen. In dem Rover befanden sich zwei Männer, die die Frauen laut begrüßten und an sich drückten. Sie riefen: »Wer ist das?« — »Oh, den haben wir da oben aufgegriffen, er ist aus dem Aufzug gesprungen. Er steht noch etwas unter Raumschock. He«, sagte sie zu ihm lächeln. »Wir sind unten. Es ist okay.«


Manche Fehler kann man nie wieder gutmachen. Ann Clayborne saß hinten in Michels Rover über drei Sitze ausgestreckt und fühlte, wie die Räder über den Steinen auf und ab hüpften. Es war ihr Fehler gewesen, zum Mars zu gehen und sich in ihn zu verlieben. Sich in eine Welt zu verlieben, die offenbar jeder andere vernichten wollte.

Außerhalb des Rovers war der Planet für immer verändert worden. Drinnen wurde der Hauptraum durch zwei bis zum Fußboden reichende Fenster erhellt, die unter dem Rand des steinernen Wagendachs einen begrenzten Blick nach außen boten. Rohe Kiesstraße, herabgestürzte Steine auf der Strecke. Sie waren auf der Noctis-Fernstraße, aber viele Felsbrocken waren darauf gefallen. Michel machte sich nicht die Mühe, um die kleineren Stücke herumzufahren. Sie rollten mit etwa sechzig km/h dahin, und wenn sie auf einen größeren stießen, wurden sie alle in ihren Sitzen durchgeschüttelt. »Tut mir leid«, sagte Michel, »Wir müssen so bald wie möglich aus dem Kandelaber herauskommen.«

»Dem Kandelaber?«

»Noctis Labyrinthus.«

Der ursprüngliche Name, wusste Ann, war ihm von den Geologen der Erde bei Betrachtung von Mariner-Fotos verliehen worden. Aber sie sagte nichts. Der Wille zum Sprechen hatte sie verlassen.

Michel redete weiter. Seine Stimme war leise, unterhaltsam und beruhigend. »Es gibt einige Stellen, wo es unmöglich wäre, die Wagen hinterzubringen, falls die Straße durchtrennt ist. Querböschungen, die von einer Wand zur anderen verlaufen, riesige Steinfelder und so. Sobald wir nach Marineris hineinkommen, wird es gut sein. Dort gibt es Querfeldeinwege aller Art.«

»Sind diese Wagen für eine Fahrt den ganzen Canyon hinunter vorgesehen?« fragte Sax.

»Nein. Aber wir haben Verstecke auf der ganzen Strecke.« Offenbar hatten die großen Canyons zu den wichtigsten Transportkorridoren der verborgenen Kolonie gehört. Als der offizielle Canyon-Highway gebaut wurde, hatte ihnen das Schwierigkeiten bereitet, weil viele ihrer Routen abgeschnitten wurden.

Aus ihrer Ecke hörte Ann Michel ebenso aufmerksam zu wie der Rest. Sie konnte sich der Neugier über die verborgene Kolonie nicht erwehren. Ihre Benutzung der Canyons war genial. Rover, die dazu bestimmt waren, in ihnen zu bleiben, waren so getarnt, dass sie wie einige unter den Millionen von Felsblöcken aussahen, die in großen Haufen im Vorfeld der Klippenhänge lagen, die Dächer der Wagen waren tatsächlich Steine, die man von unten ausgehöhlt hatte. Schwere Isolierung verhinderte, dass das Dach des Wagens aufgeheizt wurde, so dass es kein Infrarotsignal gab, »zumal noch beliebige Mengen Saxscher Windmühlen hier unten verteilt sind, die das Bild stören.« Der Rover war auch auf der Unterseite isoliert, so dass er keine Schneckenspur hinterließ, die seinen Weg verraten hätte. Die Wärme aus dem Hydrazinmotor diente zur Heizung der Wohnräume, und jeder Überschuss wurde für späteren Gebrauch in Spulen geleitet. Wenn die sich bei der Fahrt zu sehr aufluden, wurden sie in Löcher geworfen, die man unter dem Wagen grub und mit einem Gemisch aus Regolith und flüssigem Sauerstoff bedeckte. Bis sich der Boden über der Spule erwärmt hatte, war der Rover längst fort. Also hinterließen sie kein Wärmesignal, benutzten keinen Funk und fuhren nur nachts. Tagsüber parkten sie zwischen anderen Felsblöcken, »und selbst wenn sie täglich Fotos verglichen und sehen, dass wir in der Gegend neu sind, wären wir bloß einer unter tausend neuen Steinen, die in jener Nacht von den Klippen heruntergefallen waren. Die Zermürbung von Formationen hat sich wirklich beschleunigt, seit ihr mit dem Terraformen angefangen habt, weil es jeden Tag gefriert und wieder taut. Morgens und abends kommt alle paar Minuten etwas herunter.«

»Also gibt es für sie keine Möglichkeit, uns zu sehen«, sagte Sax. Er wirkte überrascht.

»Das stimmt. Kein visuelles Signal, kein elektronisches Signal, kein Wärmesignal.«

»Ein getarnter Rover«, sagte Frank über Interkom aus dem anderen Wagen und lachte in seiner rauen Art.

»Richtig. Die wahre Gefahr hier unten ist der Steinschlag selbst, der uns verbirgt.« Ein rotes Licht auf dem Armaturenbrett ging an, und Michel lachte. »Wir fahren so gut, dass wir anhalten und eine Spule vergraben müssen.«

»Wird es nicht zu lange dauern, ein Loch zu graben?« fragte Sax.

»Da ist schon eines gegraben, falls wir hinkommen können. Noch vier Kilometer. Ich denke, das werden wir schaffen.«

»Ihr habt ein tolles System.«

»Nun, wir leben jetzt seit vierzehn Jahren im Untergrund — ich meine, vierzehn Marsjahre. Die Technik der Wärme-Entsorgung ist für uns sehr wichtig.«

»Aber wie macht ihr es mit euren ständigen Habitaten, sofern ihr welche habt?«

»Wir leiten die Wärme in das tiefe Regolith und schmelzen Eis für unsere Wasserversorgung. Oder wir leiten sie in Rohren zu Auslässen, die als eure kleinen Windmühlenerhitzer getarnt sind. Neben anderen Methoden.«

»Die war keine gute Idee«, sagte Sax. Aus dem anderen Wagen lachte Frank ihn an. Diese Erkenntnis kommt nur dreißig Jahre zu spät, würde Ann gesagt haben, falls sie spräche.

»O nein, eine ausgezeichnete Idee«, sagte Michel. »Die Windmühlen müssen inzwischen Millionen Kilokalorien in die Atmosphäre gepumpt haben.«

»Das ist ungefähr so viel, wie in einer Stunde aus irgendeinem Mohole aufsteigt«, sagte Sax pedantisch.

Er und Michel fingen an, die Terraformungsprojekte zu diskutieren. Ann ließ ihre Stimmen in psychotisches Geplapper übergehen. Das war erstaunlich leicht. In diesen Tagen waren Unterhaltungen für sie immer hart am Rande von Sinnlosigkeit. Sie musste sich regelrecht um Verständnis bemühen. Sie entspannte sich distanziert von ihnen und fühlte den Mars unter sich hüpfen und stoßen. Sie hielten kurz an, um eine Heizspule zu vergraben. Als sie weiterfuhren, wurde die Straße glatter. Sie befanden sich jetzt tief im Labyrinth, und in einem normalen Rover hätte sie durch die Fenster im Dach enge, steile Canyonwände gesehen. Rißtäler, vergrößert durch Einbrüche. Auf dem Boden hatte es einstmals Eis gegeben, das jetzt vermutlich alles zum Wasserlager Compton am Boden von Noctis gewandert war.

Ann dachte an Peter und erschauerte hilflos. Man konnte nichts wissen, aber die Furcht nagte an ihr. Simon beobachtete sie verstohlen, den auf ihrem Gesicht deutlichen Kummer. Und plötzlich hasste sie diese hündische Ergebenheit, diese hündische Liebe. Sie wollte nicht, dass sich jemand so um sie kümmerte. Das war eine unerträgliche Last, eine arge Zumutung.

In der Morgendämmerung machten sie halt. Die zwei Felsrover parkten am Rand einer Stelle mit ähnlichen Felsblöcken. Den ganzen Tag saßen sie in den Wagen beisammen, trödelten bei kleinen rehydrierten oder mit Mikrowelle aufgewärmten Mahlzeiten und versuchten, Fernseh- oder Radiosendungen zu finden. Es gab keine, die der Rede wert gewesen wären, nur ein gelegentlicher Schwall von Sprachen und verschlüsselten Sendungen. Äthermüll, der sich zu einem unzusammenhängenden Mischmasch steigerte. Harte Ausbrüche statischer Störungen schienen elektromagnetische Impulse anzuzeigen. Aber die Elektronik des Rovers war geschützt, wie Michel sagte. Er saß in einem Sessel, als ob er meditierte. Eine neue Ruhe für Michel Duval, dachte Ann. Als ob er es gewohnt wäre, seine Tage im Verborgenen zu verbringen. Sein Gefährte, der junge Mann, der den anderen Wagen fuhr, hieß Kasei. Seine Stimme klang immer nach starker Missbilligung. Nun, das verdienten sie. Am Nachmittag zeigte Michel Sax und Frank auf einer topographischen Karte, die er auf die Bildschirme beider Wagen schaltete, wo sie waren. Ihre Route durch Noctis sollte von Südwest nach Nordost verlaufen, längs eines der größten Canyons des Labyrinths. Von da aus ging sie im Zickzack nach Osten und fiel steil ab, bis sie in dem großen Areal zwischen Noctis und den Anfängen von Ius- und Tithonium-Chasma waren. Michel nannte dieses Gebiet den Compton Break. Das war ein chaotisches Terrain; und bis sie es durchquert hatten und nach Ius Chasma hinuntergelangt waren, würde Michel sich nicht wohl fühlen. Denn die Gegend war, wie er sagte, ohne ihre heimliche Straße völlig unpassierbar. »Und wenn sie denken, dass wir diesen Weg von Cairo weg genommen haben, könnten sie die Strecke bombardieren.« Sie hatten in der vorangegangenen Nacht fast fünfhundert Kilometer zurückgelegt, fast die ganze Länge von Noctis. Noch eine Nacht, und sie würden unten in Ius sein und sich nicht mehr voll auf eine einzige Route verlassen müssen.

Es war ein dunkler Tag, die Luft dick von braunem Grus bei starken Winden. Ohne Zweifel ein neuer Staubsturm. Die Temperatur fiel. Sax lauschte einer Radiostimme, die sagte, der Staubsturm würde global werden. Aber Michel war erfreut. Das bedeutete, sie könnten auch am Tag fahren und so ihre Reisezeit halbieren. »Wir müssen fünftausend Kilometer zurücklegen, und das meiste davon ohne Wege. Es wird wundervoll sein, bei Tag zu reisen. Ich habe das seit dem Großen Sturm nicht mehr gemacht.«

Also fingen er und Kasei an, rund um die Uhr zu fahren. Sie machten Schichten von drei Stunden am Lenkrad und hatten danach eine halbe Stunde frei. Noch ein Tag, und sie waren unten bei Compton Break, kamen nach Ius Chasma hinein, und Michel entspannte sich.

Ius war der engste aller Canyons im Marineris-System, nur fünfundzwanzig Kilometer breit, wenn er Compton Break verließ, der Sinai Planum von Tithania Catena trennt. Der Canyon war eine tiefe Spalte zwischen diesen beiden Plateaus, seine Seitenwände mehr als drei Kilometer hoch, ein langer, enger Gigant einer Schlucht. Aber sie sahen die Wände nur in kurzen Blicken durch Blasen freier Luft im Wehen des Staubes. Sie folgten weiter einer ebenen, aber mit Steinen besäten Route und kamen während eines langen, trüben Tages gut voran. Im Wagen war es ruhig, das Radio heruntergedreht, um die Störung durch Statik zu vermindern. Die Kameras, welche höher als die Fenster angebracht waren, zeigten peitschenden Staub, so dass es schien, als würden sie sich kaum bewegen. Oft sah es so aus, als rutschten sie seitlich weg. Das Fahren war anstrengend, und Simon und Sax lösten Michel und Kasei ab, wobei sie deren Anweisungen folgten. Ann sprach immer noch nicht, und sie baten sie nicht zu fahren. Sax hielt beim Fahren ein Auge auf seinen Computerschirm gerichtet, der ihm atmosphärische Meldungen übermittelte. Ann konnte durch den ganzen Wagen erkennen, dass der Computer anzeigte, der Aufprall von Phobos hätte die Atmosphäre erheblich verdichtet, mutmaßlich um zusätzliche fünfzig Millibar, einen außerordentlichen Betrag. Und die kürzlich zertrümmerten Krater gaben immer noch Gase ab. Sax nahm diese Veränderung mit seiner eulenhaften Genugtuung zur Kenntnis, ohne an den damit verbundenen Tod und die Zerstörungen zu denken. Er bemerkte Mayas Blick und sagte: »Ich nehme an, wie in der Urzeit.« Er hätte beinahe noch mehr gesagt, aber Simon brachte ihn zum Schweigen und wechselte das Thema.

Im nächsten Wagen verbrachten Maya und Frank die Stunden, indem sie hinüberriefen und Michel Fragen stellten über die verborgene Kolonie oder über den Krieg spekulierten. Sie kauten alles endlos durch, versuchten, ihm einen Sinn abzugewinnen und sich vorzustellen, was geschehen war. Reden, nichts als reden. Ann dachte, am Tage des Jüngsten Gerichts, wenn alle Lebenden und Toten sich zusammendrängten, würden Maya und Frank immer noch reden und herauszufinden suchen, was geschehen war. Wo sie es falsch gemacht hätten.

Als die dritte Nacht vorbei war, fuhren die beiden Wagen das untere Ende von Ius hinab und kamen auf einen langen lemniskatischen Sporn, der den Canyon teilte. Sie folgten der offiziellen Marineris-Fernstraße zur südlichen Gabelung hinunter. In der letzten Stunde vor der Dämmerung sichteten sie über sich einige Wolken, und die Dämmerung war viel heller als an den vorigen Tagen. Das genügte, dass sie wieder in Deckung gingen, und sie machten in einem Steinschlagpunkt halt vor dem Fuß der Südwand des Canyons. Sie versammelten sich im Führungswagen, um den Tag über auszuharren.

Hier konnten sie die Weite von Melas Chasma überblicken, des größten Canyons von allen. Das Gestein von lus war rau und schwärzlich im Vergleich mit dem glatten roten Boden von Melas. Ann hielt es für möglich, dass beide Canyons aus dem Material alter tektonischer Platten bestanden, die sich gegeneinander bewegt hatten und jetzt für immer nebeneinander ruhten.

Sie saßen den ganzen langen Tag da, verkniffen, erschöpft, mit fettigem und ungekämmtem Haar, die Gesichter verschmiert von dem allgegenwärtigen Grus eines Staubsturms. Manchmal gab es Wolken, manchmal Dunst, manchmal plötzliche klare Stellen.

In der Mitte des Nachmittags schaukelte ohne jede Vorwarnung der Rover auf seinen Stoßdämpfern. Jäh aufmerksam geworden, sprangen sie hoch, um die Fernseher anzuschauen. Die rückwärtige Kamera des Revers war nach hinten auf Ius gerichtet, und plötzlich klopfte Sax auf den Bildschirm. Er sagte: »Reif. Ich möchte wissen …«

Die Kamera zeigte, dass der Reifnebel dichter wurde und sich nach unten auf sie zu bewegte. Die Straße lag auf einem Absatz oberhalb des Hauptbodens der Südflanke von Ius. Das war günstig, weil mit einem Dröhnen, das den Rover erschütterte, dieser Hauptboden verschwand, überspült von einer niedrigen Wand aus schwarzem Wasser und schmutzigweißem Brei. Es war ein Moloch aus Eisstücken, polternden Steinen, Schaum, Schlamm und Wasser, eine Brühe, die in der Mitte des Canyons herabstürzte. Das Getöse klang wie Donner. Selbst im Innern des Wagens war es zum Sprechen zu laut, und der Wagen zitterte unter ihnen.

Unter ihrem Vorsprung war der Boden des Canyons vielleicht fünfzehn Kilometer breit. Die Flut füllte binnen Minuten diese ganze Weite aus und fing prompt an, gegen eine lange Schutthalde anzusteigen, die aus der Klippe unten im Canyon von ihnen wegführte. Die Oberfläche der Flut beruhigte sich, als sie sich vor diesem Damm aufstaute, und erstarrte vor ihren Augen zu einem klumpigen, schmutzigfarbenen Eis-Chaos, das seltsam ruhig war. Jetzt konnten sie einander hören, wenn sie das Knacken, Dröhnen und unablässige Getöse überbrüllten; aber es gab nichts zu sagen. Sie starrten nur bestürzt aus den niedrigen Fenstern oder aufs Fernsehen. Der Reifnebel von der Oberfläche der Flüssigkeit lichtete sich zu einem dünnen Dunst. Aber nicht mehr als fünfzehn Minuten später barst der Eis-See an seinem unteren Ende in einer großen Flutwelle aus schwarzem, dampfendem Wasser, die den Gerölldamm wegriss mit dem explosiven Dröhnen einer Gesteinslawine. Die Flut strömte weiter den Canyon hinunter. Ihr vorderes Ende war nicht mehr zu sehen, als sie sich von Ius nach Melas Chasma hineinergoß.


Jetzt floss also ein Strom durch Valles Marineris, eine breite, dampfende, im Eis erstickende Flut. Ann hatte Videobänder von den Ausbrüchen im Norden gesehen, war aber noch nie dazu gekommen, einen persönlich zu erleben. Hier im Original fand sie es fast unvorstellbar. Die Landschaft selbst redete jetzt in einer Sprache des Wahnsinns. Das anfängliche Gebrüll erschütterte die Luft und ließ ihre Eingeweide erzittern wie ein Bass beim Zerreißen des Weltgefüges. Und es war auch ein visuelles Chaos, ein sinnloses Durcheinander, das sie nicht scharf erfassen konnte zur Unterscheidung von nah und fern, von vertikal und horizontal, von bewegt oder ruhig oder hell und dunkel. Sie verlor die Fähigkeit, ihren Sinnen zu trauen. Nur mit großer Schwierigkeit konnte sie ihre Gefährten im Wagen verstehen. Sie war nicht sicher, ob es an ihrem Gehör lag oder nicht. Sie konnte es nicht ertragen, Sax anzusehen, aber sie verstand Sax auch am wenigsten. Er versuchte, es ihr zu verheimlichen; aber es war klar, dass er erregt war über das, was geschah. Das ruhige Äußere hatte stets eine leidenschaftliche Natur verborgen. Das hatte sie immer gewusst. Jetzt war sein Gesicht stark gerötet wie im Fieber, und er sah ihr nie in die Augen. Sie wusste, dass er wusste, was sie empfand. Sie verabscheute seine drückebergerische Unfähigkeit einer Konfrontation mit ihr, selbst wenn sie aus einer gewissen Rücksicht ihr gegenüber entsprang. Und die Art, wie er immer am Bildschirm geschäftig blieb. Er schaute nie richtig aus den unteren Bodenfenstern des Rovers, um die Flut mit eigenen Augen zu sehen. Die Kameras bieten einen besseren Blick, pflegte er sanft zu sagen, wenn Michel ihn drängte hinzuschauen. Und nur eine halbe Stunde, nachdem er die erste Ankunft der Fluten auf den Fernsehern verfolgte hatte, war er zum Schirm seiner KI gegangen, um auszurechnen, was das für sein Projekt bedeuten könnte. Wasser strömte Ius hinunter, gefror, brach auf und strömte weiter, sicher bis nach Melas hinein. Würde sich dort genügend Wasser zusammenfinden, um bis Coprates zu fließen und dann hinab zu Capri und Eos und weiter in das Aureum Chaos … Das war auf den ersten Blick unwahrscheinlich; aber das Compton-Reservoir war groß gewesen, eines der größten, die man je gefunden hatte. Marineris verdankte seine Existenz sehr wahrscheinlich Ausbrüchen aus früheren Erscheinungen des gleichen Wasserdepots, und der Tharsis-Buckel hatte nie aufgehört, Gas auszuströmen.

Sie fand sich auf dem Boden des Rovers liegend, wie sie die Flut beobachtete und zu verstehen suchte. Sie bemühte sich, im Kopf ihre Strömung zu berechnen, als eine Möglichkeit, sich besser auf das zu konzentrieren, was sie sah und es der Bedeutungslosigkeit zu entreißen, die sie zu überwältigen drohte. Wider Willen empfand sie die Faszination des Rechnens und der Aussicht und sogar der Flut selbst. So etwas hatte es auf dem Mars schon früher gegeben, vor Milliarden Jahren, und wahrscheinlich genau wie dies. Es gab allenthalben Spuren von verheerenden Überschwemmungen, Uferterrassen, lemniskatisch gekrümmten Inseln, Kanalbetten, Plateaulandschaften … Und alle die alten zerbrochenen Wasserdepots hatten sich wieder gefüllt aus der emporquellenden Tharsis und allem, was das an Wärme und Ausgasen zur Folge hatte. Es wäre langsam gewesen, aber bei zwei Milliarden Jahren …

Sie zwang sich, scharf zu sehen. Der Rand der Flut war etwa einen Kilometer entfernt und lag zweihundert Meter unter ihnen. Der Fuß der Nordwand von lus war ungefähr fünfzehn Kilometer entfernt, und die Flut reichte bis dahin. Sie war vielleicht zehn Meter tief, nach den riesigen Felsblöcken zu schließen, die stromabwärts rollten wie Kegelkugeln des Großen Mannes. Sie zertrümmerten Eisplatten und hinterließen schwarze Strudel in ihrem Gefolge. Das Wasser in den offenen Stellen schien sich mit vielleicht dreißig Kilometern in der Stunde zu bewegen. Also (sie tippte Zahlen in ihr Armband) etwa viereinhalb Millionen Kubikmeter pro Stunde. Das wären ungefähr einhundert Amazonas-Ströme. Aber das Wasser lief unregelmäßig, gefror und brach auf in einer ständigen Folge von Eisdämmen, die entstanden und verfielen. Ganze dampfende Teiche sprangen nach unten über jeden Kanal oder Abhang, auf den sie trafen, und rissen dann das Muttergestein weg …

Ann fühlte, während sie auf dem Boden des Revers lag, wie davon ihre Backenknochen heftig vibrierten. Solche Erschütterungen waren auf dem Mars seit Jahrmillionen nicht mehr aufgetreten, was etwas anderes erklärte, das sie gesehen, aber nicht hatte verstehen können, nämlich, dass sich die Nordwand von Ius bewegte. Das Gestein der Klippen blätterte ab und fiel in den Canyon. Dies erschütterte den Boden und löste weitere Zusammenbrüche aus und gigantische Wellen, die sich in die Flut ergossen und Wellen gegen den Strom über das Eis in Bewegung setzten. Infolgedessen brach der mit Wasser versetzte Fels explosionsartig weg, und der dampfende Reif drang so heftig in die von Staub geschwängerte Luft, dass Ann die Nordwand immer nur für Augenblicke sehen konnte.

Und ohne Zweifel würde die Südwand auf ähnliche Weise zusammenbrechen, obwohl Ann diese Wand, die über ihre Straße nach rechts überhing, nur verkürzt und beschränkt sehen konnte. Aber sie würde fallen müssen. Nach dem, was sie von der Nordwand hatte sehen können, konnten die Chancen dafür bei fünfzig Prozent liegen. Aber da drüben war es vermutlich schlimmer; denn die Nordwand schien von der Flut unterspült zu werden, während die Südwand von ihr durch den Absatz getrennt war, über den sie fuhren. Also dürften die Klippen im Süden etwas stabiler sein …

Aber dann wurde ihr Blick stromabwärts nach vorn gelenkt. Die Südwand da oben brach wirklich zusammen und fiel in großen Felsbrocken herunter. Die Basis der Klippe explodierte in einer Staubwolke, die sich über die Schutthalde ausbreitete. Die oberen Abschnitte der Klippe rutschten in diese Staubwolke hinein und verschwanden. Nach einer Sekunde sah man die ganze Masse horizontal aus der Wolke herausfliegen — ein seltsamer Anblick. Der Lärm war schmerzhaft laut, sogar im Wageninnern. Danach bewegte sich ein langer, langsamer Erdrutsch in die Flut hinein, wobei die Steine das Eis zertrümmerten und den Abfluss blockierten. Dieser zeitweilige Damm schnitt viel von dem Canyonstrom ab, daher fingen die Ufer der Flut an zu steigen. Ann beobachtete die Eisschicht der Küstenlinie unter der gebrochenen Stelle. Dann waren es Eisschollen, die in einem See aus schwarzem, dampfendem, zischendem Wasser tanzten, das schnell zum Rover hin anstieg. Wenn der Erdrutsch lange genug dauerte, würde sie die Flut verschlingen.

Ann schaute auf den langen schwarzen Felssturz vor ihnen. Von ihm war nur noch ein Streifen über der Flut zu sehen. Aber der Matsch darunter stieg weiter. Es war ein richtiges Wettrennen. Die Badewanne des Großen Mannes, die ablief, während er neue volle Eimer hineingoß. Die Geschwindigkeit des Anstiegs veranlasste Ann, ihre Abschätzung der Strömungsrate zu erhöhen. Sie fühlte sich gelähmt, gelöst und auf irgendeine seltsame Weise heiter. Es war ihr gleichgültig, ob der Damm brechen würde, ehe die Flut sie erreichte, oder nicht. Und in dem überwältigenden Getöse fühlte sie kein Bedürfnis, mit den anderen darüber zu sprechen. Das war unmöglich. Sie fand, dass sie irgendwie die Flut bejubelte. Sie würde ihnen allen nützen.

Aber dann verschwand der durch den Erdrutsch gebildete Damm unter dem schmutzfarbenen Matsch und rutschte langsam, gleichmäßig zusammenbrechend stromabwärts. Der kurzlebige See sank zusehends. Eisblöcke auf seiner Oberfläche krachten mit lautem Getöse zusammen und schossen hoch in die Luft. Das alles war phantastisch laut und musste jedes Mal wohl mehr als hundert Dezibel betragen. Sie steckte sich die Finger in die Ohren. Der Wagen hüpfte auf und ab. Sie sah, dass von den Klippen stromabwärts weitere Erdrutsche abgingen, ohne Zweifel wegen Unterspülung durch den jähen Anstieg der Flut. Die dadurch bewirkten Beben lösten weitere Zusammenbrüche aus, bis es so aussah, als ob sich der ganze Canyon füllen würde. Es schien unmöglich, dass in all dem Krach und Vibrieren ihre kleinen Wagen überleben würden. Die Reisenden klammerten sich an ihre Lehnstühle oder lagen wie Ann auf dem Boden, isoliert durch den Lärm. Ihre Venen durchströmte eine schreckliche Mischung aus Eis und Adrenalin. Selbst Ann, der es gleichgültig war, fand sich kurzatmig und hatte ihre Muskeln gegen die stürmischen Bewegungen angespannt.

Als sie wieder hören konnten, was sie einander zubrüllten, fragten sie Ann, was geschehen sei. Sie blickte trübselig aus dem Fenster und ignorierte sie. Offenbar würden sie, jedenfalls für den Moment, überleben. Die Oberfläche der Flut bildete jetzt das chaotisch zerrissenste Terrain, das sie je gesehen hatte. Das Eis war zu einer Fläche scharfkantiger Scherben zerbrochen. Die höchste Stelle des Sees war an ihrem Absatz emporgestiegen, bis er nur noch etwas unterhalb von ihnen lag. Der wieder freigelegte feuchte Boden hatte sich in weniger als zwanzig Sekunden von rostigem Schwarz zu schmutzigem Weiß verändert. Frostzeit auf dem Mars.


Sax war diese ganze Zeit in seinem Sessel geblieben, gefesselt durch das Flimmern auf seinem Schirm. Eine Menge Wasser würde verdunsten oder vielmehr gefrieren und sublimieren, murmelte er zu niemandem, während er arbeitete. Es war eine schwer karbonisierte Salzlauge, würde aber als mit Staub gefüllter Schnee enden, der irgendwo anders herunterkäme. Die Atmosphäre könnte wasserhaltig genug sein, dass es mehrere Male schneien würde oder sogar regelmäßig in Zyklen von Niederschlag und Sublimation. Somit würde das Wasser der Flut schön gleichmäßig planetenweit verteilt werden, außer vielleicht in den größten Höhen. Die Albedo würde dramatisch steigen. Man müsste sie senken, vielleicht durch Förderung der Schneealgen, die die Acherongruppe geschaffen hatte. (Aber Acheron gab es nicht mehr, sagte Ann ihm in Gedanken.) Schwarzes Eis würde bei Tag schmelzen und bei Nacht gefrieren. Sublimation und Ausfällung. Und so würden sie eine Wasserlandschaft haben. Ströme würden sich sammeln, Teiche bilden, abwärts fließen, gefrieren und expandieren in Spalten des Gesteins, sublimieren, schneien, schmelzen und wieder fließen. Eine vergletscherte oder schlammige Welt während der meisten Zeit. Aber nichtsdestoweniger eine Wasserlandschaft.

Und jedes Merkmal des urtümlichen Mars würde dahinschmelzen. Der Rote Mars wäre dahin.

Ann lag beim Fenster auf dem Boden. Ihre Tränen strömten dahin wie die Flut. Über den Damm ihrer Nase hinab, bis ihre rechte Wange, das Ohr und die Seite ihres Gesichts nass waren.

»Dies wird es erschweren, den Canyon hinunterzugelangen«, sagte Michel mit einem leicht galligen Lächeln, und aus dem nächsten Wagen lachte Frank. Tatsächlich sah es so aus, dass es für sie unmöglich wäre, auch nur fünf Kilometer weiterzukommen. Direkt vor ihnen war die Canyonstraße unter dem großen Erdrutsch verschwunden. Das neue Steingeröll war zertrümmert und instabil, unterspült durch die Flut und von oben durch nachfolgende Brocken von dem neuen Abhang bombardiert.

Die anderen debattierten lange, ob man wenigstens einen Versuch machen sollte. Sie mussten laut sprechen, um über dem einem Düsenflugzeug ähnlichen Lärm der Flut gehört zu werden, der noch unablässig anhielt. Nadia hielt den Abhang für selbstmörderisch, aber Michel und Kasei waren sich ziemlich sicher, dass sie einen Weg finden könnten; und es gelang ihnen nach einer ganztägigen Erkundung zu Fuß, Nadia zur Zustimmung zu bewegen. Und der Rest war dafür, wenn Nadia es war. Und so verteilten sie sich am nächsten Tag, vor Beobachtung geschützt durch den allgemeinen Staubsturm und den Dampf der Flut, auf die zwei Wagen und fuhren langsam auf die Hangrutschung hinaus.

Sie bestand aus einer groben Masse von Kies und Sand, freigiebig mit Felsblöcken versetzt. Es gab aber eine dem Absatz darunter entsprechende Zone, die relativ eben war. Sie war das einzige Terrain, das eine Passage möglich machte. Es galt, einen unbehinderten Weg zu finden über eine Fläche wie schlecht gemischter Zement und herum um Felsblöcke und vorbei an einem gelegentlich klaffenden Loch. Michel fuhr kühn voran mit einer an Sturheit grenzenden Rücksichtslosigkeit. »Maßnahmen der Verzweiflung«, erklärte er fröhlich. »Könnt ihr euch vorstellen, unter normalen Verhältnissen auf einen solchen Boden zu geraten? Das wäre verrückt.«

»Verrückt ist es jetzt auch«, sagte Nadia mürrisch.

»Nun, was können wir tun? Wir können nicht umkehren, und wir können nicht aufgeben. Das sind Zeiten, die den Männern auf die Nerven gehen.«

»Aber Frauen machen sich gut.«

»Ich habe nur zitiert. Du weißt, was ich meine. Es ist einfach unmöglich umzukehren. Die Höhe von lus wird von Wand zu Wand überflutet sein. Ich glaube, das macht mich irgendwie glücklich. Sind wir jemals so frei gewesen, keine Wahl treffen zu müssen? Die Vergangenheit ist ausgelöscht, nur auf das Jetzt kommt es an. Die Gegenwart und die Zukunft. Und die Zukunft ist dieses Feld von Steinen, und wir sind hier. Und ihr wisst, dass man nie alle seine Kraft zusammennimmt, bis man weiß, dass es keinen Weg zurück gibt, dass der einzige Weg nach vorn führt.«

Und so fuhren sie vorwärts. Aber die Munterkeit Michels wurde stark gemindert, als der zweite Wagen in ein Loch stürzte, das durch eine Art Falltür aus Steinen verborgen gewesen war. Mit einiger Mühe gelang es ihnen, die vordere Schleuse zu öffnen und Kasei, Maya, Frank und Nadia herauszuziehen. Aber es gab keinerlei Möglichkeit, den Wagen freizubekommen. Ihnen fehlte es an Hebezeug und einem Ansatzpunkt. Also brachten sie alle Versorgungsgüter in den Führungswagen, bis der gänzlich voll gestopft war. Und sie zogen weiter, zu acht und mit ihren Vorräten, jetzt alle in einem einzigen Wagen.


Als sie den Erdrutsch hinter sich hatten, ging es allerdings leichter. Sie folgten der Canyon-Fernstraße nach Melas Chasma hinunter und stellten fest, dass die Straße dicht an der Südwand angelegt war. Und da Melas ein so breiter Canyon war, hatte die Flut Platz gehabt, sich auszubreiten, und war etwas nach Norden abgebogen. Außerhalb der Schleuse klang es immer noch so, als ob Luftbearbeitungsmaschinen mit höchster Kraft liefen; aber die Straße verlief gut oberhalb und südlich der Flut, die Schleier aus dampfendem Reif ausstieß und jede Sicht weiter nach Norden blockierte.

So kamen sie einige Nächte ohne Schwierigkeit voran, bis sie den Geneva-Sporn erreichten, der aus der riesigen Südwand bis fast an den Rand der Flut hinausragte. Hier war die offizielle Straße dahin abgebogen, wo jetzt die Flut verlief, und sie mussten eine höhere Passage finden. Die Gesteinstraversen, die sie um die niedrigeren Hänge des Sporns machten, waren für den Rover wirklich schwierig. Einmal blieben sie an einem vorstehenden abgerundeten Felsblock beinahe stecken, und Maya beschimpfte Michel wegen Unachtsamkeit. Sie übernahm das Fahren, während Michel, Kasei und Nadia in Schutzanzügen hinausgingen. Sie wuchteten sie von dem Stein frei und gingen dann voran, um die Route der Traverse zu erkunden.

Frank und Simon halfen Maya bei der Ausschau nach Hindernissen, während sie fuhr. Sax verbrachte weiter seine ganze Zeit am Bildschirm. Ab und zu stellte Frank den Fernseher an und suchte nach Signalen, darum bemüht, Nachrichten zusammenzubekommen aus den gelegentlichen gestörten Stimmen, die — das Gerät bei dem Durcheinander finden konnte. Ganz auf der Höhe des Geneva-Dorns, als sie den absurd dünnen Faden der Transcanyon-Fernstraße kreuzten, waren sie von der Südwand weit genug entfernt, um einige Sendungen zu empfangen, wonach es schließlich doch keinen globalen Staubsturm geben würde. Und wirklich waren die Tage manchmal nur diesig, anstatt von Staub erfüllt. Sax erklärte dies als Beweis für den relativen Erfolg der den Staub fixierenden Strategien, die seit dem Großen Sturm praktiziert wurden. Niemand antwortete darauf. Frank bemerkte dazu, der in der Luft befindliche Dunst schiene direkt zu helfen, schwache Radiosignale deutlicher zu machen. Sax nannte das stochastische Resonanz. Das Phänomen war kontraintuitiv, und Frank bat Sax kurz um eine Erklärung dafür. Als er begriff, dröhnte der Raum von seinem unbarmherzigen Gebrüll. »Vielleicht war die ganze Emigration stochastische Resonanz, die das schwache Signal der Revolution verstärkt hat.«

Sax erwiderte steif: »Ich glaube nicht, dass es hilft, zwischen der Welt der Physik und der sozialen Welt Analogien zu konstruieren.«

»Halt den Mund, Sax! Geh zurück zu deiner virtuellen Realität!«

Frank war noch immer ärgerlich. Bitterkeit ging von ihm aus wie der Reifdampf von der Flut. Er stellte Michel knappe Fragen über die verborgene Kolonie. Seine Neugier brach zwei- oder dreimal täglich hervor. Ann war froh, nicht an Hirokos Stelle zu sein, wenn Frank zuerst mit ihr zusammenträfe. Michel antwortete auf diese vorwurfsvollen Fragen ruhig. Er ignorierte den Sarkasmus und das wütende Glitzern in Franks Augen. Mayas Versuche, Frank abzukühlen, steigerten nur noch dessen Wut, aber sie ließ nicht locker. Ann war von ihrer Beharrlichkeit beeindruckt und ihrer Unempfindlichkeit gegenüber Franks brüsken Zurückweisungen. Das war eine Seite von Maya, die Ann noch nie gesehen hatte. Gewöhnlich war Maya die sprunghafteste Person in der Runde. Aber nicht jetzt, wenn die Lage wirklich kritisch war.

Schließlich hatten sie den Geneva-Sporn umrundet und kamen wieder auf die Bank unter der südlichen Böschung. Der Weg nach Osten war oft durch Erdrutsche unterbrochen, aber sie hatten immer Platz, um sie links zu umgehen. Sie kamen gut voran.

Aber dann gelangten sie an das östliche Ende von Melas. Hier verengte sich die größte Schlucht und fiel einige hundert Meter ab in die zwei parallelen Canyons von Coprates, die durch ein langes, schmales Plateau getrennt waren. Coprates Süd endete blind an einer steilen, etwa zweihundertfünfzig Kilometer entfernten Querwand. Coprates Nord hatte eine Verbindung zu den niedrigeren Canyons weiter östlich und war darum der einzige, den sie nehmen wollten. Coprates Nord war auch das längste Einzelelement des Marineris-Systems. Michel nannte ihn La Manche; und er verengte sich wie der Ärmelkanal nach Osten hin, bis er bei etwa 60° Länge in eine gigantische Schlucht mündete — vier Kilometer hohe Steilklippen mit einer Lücke von nur fünfundzwanzig Kilometern dazwischen. Michel bezeichnete sie als Dover-Tor. Offenbar waren die Felswände in dieser Lücke weißlich oder waren es gewesen.

So fuhren sie nun Coprates Nord hinunter, und die Klippen rückten einander jeden Tag näher. Die Flut füllte fast die ganze Breite des Canyonbodens und strömte so rasch, dass das Eis auf ihrer Oberfläche in kleine Schollen zerbrochen war, die sich an den Rändern stehender Wellen trennten und in die Kaskade zurückprallten. Ein wilder Weißwasserkatarakt in der Stärke von hundert Amazonas-Strömen mit Eisbergen darauf. Der Boden des Canyons wurde weggerissen aus seinem Bett und donnerte in mächtigen Wogen aus rostrotem Wasser zu Tal, so dass es aussah, als ob der Planet verblutete. Der Lärm war unglaublich, ein anhaltendes und durchdringendes Getöse, das den Geist benebelte und Reden fast unmöglich machte. Sie mussten alles aus Leibeskräften brüllen und beschränkten sich deshalb auf die dringendsten Mitteilungen.

Aber dann gab es eine dringende Notwendigkeit zum Brüllen. Denn als sie an das Dover-Tor kamen, stellten sie fest, dass der Boden des Canyons fast völlig überflutet war. Ihre Bank unter der Südwand der Schlucht war nur zwei Kilometer breit und wurde jede Minute schmaler. Es schien möglich, dass der ganze Böschungsabsatz im Nu weggerissen werden könnte. Maya schrie, dass es zu gefährlich sei weiterzufahren und drängte auf Umkehr. Sie rief, wenn sie umdrehten und zum toten Ende von Coprates Süd hinaufführen und es schafften, das Plateau darüber zu erklimmen, könnten sie an den Senken von Coprates vorbeifahren und weiter nach Aureum gelangen.

Michel rief, dass er darauf beharrte, weiter vorzustoßen und auf der Bank durch das Tor zu kommen. »Wenn wir uns beeilen, können wir es schaffen. Wir müssen es versuchen!« Und als Maya weiter protestierte, fügte er nachdrücklich hinzu: »Das Ende von Coprates Süd ist steil. Der Wagen würde nie hinaufkommen. Es ist so eine Klippe wie diese hier. Und wir haben nicht genügend Vorräte, um unsere Fahrt um so viele Tage zu verlängern! Wir können nicht zurück!«

Seine einzige Antwort war das wahnsinnige Getöse der Flut. Sie saßen in dem Wagen, durch den Lärm getrennt wie durch viele Kilometer des Raums. Ann wünschte sich, dass die Bank unter ihnen wegrutschen möge oder ein Stück der Südwand auf sie fiele und ihrer Unschlüssigkeit ein Ende machte — und auch dem schrecklichen, betäubenden Lärm.

Sie fuhren weiter. Frank, Maya, Simon und Nadia standen hinter Michel und Kasei und sahen ihnen beim Fahren zu. Sax saß an seinem Bildschirm, reckte sich wie eine Katze und schaute kurzsichtig auf das kleine Bild der Sintflut. Die Oberfläche beruhigte sich für einen Moment und gefror. Der explosionsartige Lärm sank zu einem heftigen tiefen Gemurmel ab. »Es ist wie der Grand Canyon in einem Super-Himalaya-Maßstab«, sagte Sax offenbar zu sich selbst, obwohl nur Ann ihn auch hören konnte. »Die Schlucht von Kala Gandaki ist ungefähr drei Kilometer tief, nicht wahr? Und ich denke, dass Dhaulagiri und Annapurna nur dreißig Kilometer voneinander entfernt sind. Wenn man das mit einer Flut wie dieser füllen würde …« Es gelang ihm nicht, eine vergleichbare Flut zu finden. »Ich möchte wissen, was all dieses Wasser so hoch auf dem Tharsisbuckel gemacht hat.«

Ein Knallen wie von Kanonenschlägen kündigte einen neuen Schwall an. Die weiße Oberfläche der Flut zerriss und taumelte stromabwärts. Plötzlich umgab sie weißer Lärm und übertönte alles, was sie sagten oder dachten, als ob das Weltall erbebte. Eine Stimmgabel im Bass …

»Ausgasen«, sagte Ann. »Ausgasen.« Ihr Mund war steif, sie spürte in ihrem Gesicht, wie lange es her war, seit sie zuletzt gesprochen hatte. »Tharsis ruht auf hochquellendem Magma. Gestein allein konnte das Gewicht nicht tragen. Der Buckel wäre eingesunken, wenn er nicht durch einen aufquellenden Strom im Mantel getragen wäre.«

»Ich dachte, es gäbe keinen Mantel.« Sie konnte Sax durch den Lärm so eben hören.

»Nein, nein.« Es war ihr gleich, ob er sie hören konnte oder nicht. »Der Strom ist nur langsamer geworden. Aber es gibt immer noch Strömungen. Und seit der letzten großen Flut haben sie die hochgelegenen Reservoire von Tharsis aufgefüllt. Und Wasserdepots wie Compton warm genug gehalten, dass sie flüssig blieben. Schließlich wurde der hydrostatische Druck extrem hoch. Aber mit weniger Vulkanismus und weniger großen Meteoriten-Einschlägen wurde es nicht aufgebrochen. Es könnte eine Milliarde Jahre voll gewesen sein.«

»Meinst du, dass Phobos es geknackt hat?«

»Vielleicht. Noch wahrscheinlicher das Schmelzen eines Reaktors.«

»Wusstest du, dass Compton so groß war?« fragte Sax.

»Ich habe nie davon gehört.«

»Nein.«

Ann starrte Sax an. Hatte er gehört, dass sie das sagte?

Er hatte es. Daten verheimlichen. Sie merkte, dass er schockiert war. Er konnte sich keinen hinreichenden Grund für Verheimlichung von Daten vorstellen. Vielleicht lag darin der Grund dafür, dass sie einander nicht verstehen konnten. Wertsysteme, die auf völlig verschiedenen Annahmen beruhten. Ganz unterschiedliche Arten von Wissenschaft.

Er räusperte sich. »Wusstest du, dass es flüssig war?« »Ich habe es mir gedacht. Aber jetzt wissen wir es.« Sax kniff die Augen zusammen und rief auf seinem Schirm das Bild von der linken Kamera auf. Schwarzes sprudelndes Wasser, grauer Schutt, zertrümmertes Eis, stehende Wellen, die sofort gefroren, zusammenstürzten und in Wolken von Reif dampf davonfegten … Der Lärm hatte wieder seine prasselnde Jetstärke erreicht. Sax rief: »Ich hätte es nicht so gemacht!« Ann starrte ihn an. Er sah ruhig auf den Bildschirm. »Ich weiß«, erwiderte sie. Und dann war sie wieder des Sprechens überdrüssig, da sie seine Nutzlosigkeit satt hatte. Es war nie mehr gewesen als auch jetzt. Ein Flüstern gegen das große Dröhnen der Welt, halb gehört und noch weniger verstanden.


Sie fuhren so schnell sie konnten durch das Dover-Tor und folgten der Calais-Rampe, wie Michel ihre Bank nannte. Sie kamen nur nervenaufreibend langsam vorwärts. Es war ein schwerer Kampf, den Rover über den Felssturz zu bringen, der diese schmale Terrasse bedeckte. Überall waren Felsblöcke verstreut, und die Flut verzehrte das Land zu ihrer Linken und verengte die Bank zusehends. Landrutsche kamen vor und hinter ihnen von den Wänden der Klippe herunter. Mehr als einmal krachten einzelne Steine auf das Wagendach, dass sie alle hochsprangen. Es war durchaus möglich, dass ein größerer Brocken sie ganz unverhofft treffen und wie Käfer zerquetschen würde. Diese Möglichkeit bedrückte sie alle, was Ann freute. Selbst Simon ließ sie in Ruhe. Er stürzte sich in die Navigation und ging mit Nadia, Frank oder Kasei auf Erkundungszüge — froh, wie sie meinte, von ihr wegzukommen. Und warum nicht?

Sie rumpelten mit einigen Kilometern in der Stunde dahin. Sie fuhren eine ganze Nacht und den folgenden Tag durch, obwohl der Dunst sich so weit abgeschwächt hatte, dass es möglich war, sie von Satelliten aus zu orten. Sie hatten keine andere Wahl.

Und dann waren sie durch das Dover-Tor hindurch, und Coprates öffnete sich wieder und gab ihnen etwas Spielraum. Die Flut schwenkte ein paar Kilometer nach Norden.

In der Abenddämmerung hielten sie an. Sie waren mehr als vierzig Stunden hintereinander gefahren. Sie standen auf und reckten sich, schlurften herum und setzten sich wieder hin, um eine Mikrowellenmahlzeit zu verspeisen. Maya, Simon, Michel und Kasei waren guter Dinge, Sax war derselbe wie immer, Nadia und Frank etwas weniger brummig als sonst. Die Oberfläche der Flut war im Moment gerade gefroren, und es war möglich zu sprechen, ohne die Kehle zu ruinieren, und doch gehört zu werden. Und so aßen sie, auf die kleinen Portionen konzentriert und plauderten zwanglos.

Spät bei dieser ruhigen Mahlzeit schaute Ann ihre Gefährten ringsum an, plötzlich erstaunt durch dies Schauspiel menschlicher Anpassungsfähigkeit. Hier verzehrten sie ihr Mahl und plauderten über den geringen Aufschwung im Norden in einer perfekten Illusion der Tischgemeinschaft eines Speisesaals. Es hätte irgendwo zu jeder Zeit sein können, und ihre müden Gesichter strahlten wegen eines kollektiven Erfolgs oder auch nur wegen der Freude gemeinsam zu essen.

Dabei dröhnte außerhalb ihrer Kammer die zerbrochene Welt, und ein Steinschlag konnte sie in jedem Augenblick vernichten. Ann fiel ein, dass die Freude und Beständigkeit von Speisesälen schon immer vor einem solchen Hintergrund vorgekommen war, in Konfrontation mit einem universellen Chaos. Solche Augenblicke der Ruhe waren vergänglich und flüchtig wie Seifenblasen, dazu bestimmt zu bersten, sobald sie in Erscheinung traten. Gruppen von Freunden sowie Räume, Straßen, Jahre — nichts davon würde andauern. Die Illusion von Beständigkeit wurde durch eine gemeinsame Bemühung geschaffen, das Chaos zu ignorieren, in das sie eingebettet waren. Und so aßen sie, plauderten und genossen ihre gemeinsame Gesellschaft. So war es schon in den Höhlen gewesen, in der Savanne, in den Wohnungen und Gräben und den unter Bombardement stehenden Städten.

So war es auch in diesem Moment des Sturms. Ann Clayborn gab sich einen Ruck. Sie stand auf und ging zum Tisch. Sie nahm den Teller von Sax, der sie zuerst aus der Reserve gelockt hatte, dann die von Nadia und Simon. Sie trug die Teller zu ihrer kleinen Magnesiumspüle. Und beim Tellerwaschen fühlte sie, wie sich ihre steife Kehle bewegte. Sie krächzte ihren Anteil an der Konservation und half mit ihrem kleinen Faden, das Gewebe der menschlichen Illusion zu gestalten. »Eine stürmische Nacht!« sagte Michel zu ihr, als er beim Abtrocknen der Teller neben ihr stand. »Wirklich eine stürmische Nacht!«

Am nächsten Morgen erwachte sie als erste und betrachtete die Gesichter ihrer Gefährten, die jetzt im Tageslicht höchst ungepflegt aussahen — schmierig, aufgedunsen, schwarz von Frostnarben, mit offenen Mündern im Tiefschlaf der Erschöpfung. Sie wirkten wie tot. Und sie hatte ihnen keine Hilfe zu bieten. Im Gegenteil! Sie war der Gruppe ein Hemmnis gewesen. Jedes Mal, wenn sie in den Wagen zurückgekommen waren, hatten sie über die verrückte Frau auf dem Boden hinwegsteigen müssen, die da lag und sich weigerte zu sprechen, oft weinte, deutlich in schwerer Depression gefangen. So etwas hatte ihnen gerade noch gefehlt!

Beschämt stand sie auf und säuberte ruhig den Hauptraum und den Bereich des Fahrers. Und später an diesem Tage löste sie ihre Kameraden beim Fahren des Rovers ab. Sie übernahm eine sechsstündige Schicht und war danach erschöpft. Aber sie brachte sie gut nach Osten durch das Dover-Tor.

Aber ihre Schwierigkeiten waren noch nicht vorbei. Coprates hatte sich etwas geöffnet, jawohl, und die Südwand hatte zum größten Teil gehalten. Aber es gab in diesem Gebiet einen langen Grat, der jetzt eine Insel war und mitten durch den Canyon verlief und ihn in einen nördlichen und einen südlichen Kanal teilte. Unglücklicherweise lag der südliche tiefer als der nördliche, so dass der größte Teil der Flüssigkeit durch ihn strömte und sie dicht an die Südwand drängte. Zum Glück ließ ihnen die Bankterrasse etwa fünf Kilometer Platz zwischen der Flut und der eigentlichen Wand. Aber mit der Flut so nahe zu ihrer Linken und den steilen Klippen zur Rechten verloren sie nie das Gefühl von Gefahr. Und sie mussten ihre Stimmen heben, um wenigstens die halbe Zeit zu sprechen. Das krachende Getöse der Wogen schien ihnen in den Kopf zu dringen und machte es schwerer denn je, sich zu konzentrieren, aufzupassen oder überhaupt zu denken.

Eines Tages schlug Maya mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Könnten wir nicht warten, bis der Inselgrat weggerissen wird?«

Nach einer ungemütlichen Pause sagte Kasei: »Er ist hundert Kilometer lang.«

»Nun, zum Kuckuck, könnten wir nicht warten, bis diese verfluchte Flut aufhört? Ich meine, wie lange kann sie so weitermachen?«

»Einige Monate«, sagte Ann.

»Können wir nicht so lange warten?«

»Uns wird die Nahrung knapp«, erklärte Michel.

»Wir müssen weiterfahren«, fuhr Frank Maya an. »Sei nicht blöd!« Sie blitzte ihn an und wandte sich ab, sichtlich wütend. Der Rover schien plötzlich viel zu klein zu sein, als ob man einen Haufen Tiger und Löwen zusammen in einen Hundezwinger gesperrt hätte. Simon und Kasei, durch die Spannung bedrückt, zogen sich an und gingen hinaus, um zu erkunden, was vor ihnen lag.


Nach dem, was sie Inselgrat nannten, öffnete sich Coprates wie ein Trichter, mit tiefen Mulden unter den auseinanderstrebenden Canyonwänden. Die nördliche Mulde war Capri Chasma, die eine Fortsetzung von Coprates bildete. Wegen der Flut hatten sie keine andere Wahl, als Eos zu folgen. Aber Michel sagte, dies wäre der Weg, den sie ohnehin hätten nehmen wollen. Hier wurde die südliche Klippe endlich etwas niedriger. Sie war von tiefen Einbuchtungen zerschnitten und von einer Anzahl von Meteoritenkratern erheblicher Größe durchbrochen. Capri Chasma bog nach Nordosten aus ihrem Gesichtsfeld ab. Zwischen den zwei Canyonmulden war eine niedrige dreieckige Mesa, jetzt eine Halbinsel, die den Lauf der Flut in zwei Arme teilte. Leider lief der größere Anteil des Wassers in das etwas niedrigere Eos, so dass sie, obwohl sie der engen Umklammerung von Coprates entronnen waren, immer noch gegen eine Klippe gepresst wurden und nur langsam vorankamen, ohne jede Straße oder Spur und mit abnehmenden Beständen an Nahrung und Luft. Die Vorratsfächer waren fast leer. Sie waren müde, sehr erschöpft. Es war dreiundzwanzig Tage her, seit sie aus Cairo entkommen waren, inzwischen zweitausend fünfhundert Kilometer Fahrt durch Canyons. Und während dieser ganzen Zeit hatten sie in Schichten geschlafen, waren fast ständig gefahren und hatten in dem die Ohren zerreißenden Ansturm der Flut gelebt, dem Getöse einer Welt, die in Stücken auf ihre Köpfe fiel. Sie waren dafür zu alt, wie Maya mehr als einmal klagte; und die Nerven waren durchgescheuert. Sie vermurksten Dinge, begingen kleine Fehler und fielen kurzzeitig in Schlaf.

Der Absatz, der ihre Straße zwischen Klippe und Flut war, wurde zu einem immensen Feld von Steinblöcken, die größtenteils Auswurf naher Krater waren oder Schutt von wirklich riesigem Massenzerfall. Ann hatte den Eindruck, dass die großen überfluteten Einbuchrungen in der südlichen Klippe Einbrüche wären, die sich zu Nebencanyons entwickeln könnten. Aber sie hatte nicht die Zeit, um sehr genau hinzuschauen. Oft schien es, als ob ihr Weg durch Felsblöcke völlig versperrt würde und dass sie nach allen diesen Tagen und Kilometern, nachdem sie den größten Teil von Marineris in einem überaus heftigen Kataklysmus überwunden hatten, zum Halt gezwungen würden kurz vor den riesigen Rinnen, die aus ihm an seinem unteren Ende hinausführten.

Aber dann fanden sie einen Weg, wurden aufgehalten; fanden wieder einen Weg und wurden wieder aufgehalten, und so weiter, einen Tag um den andern. Sie gingen zu halben Rationen über. Ann fuhr mehr als alle, da sie frischer zu sein schien als der Rest. Und sie war, mit möglicher Ausnahme von Michel, am Steuer am besten. Und sie hatte das Gefühl, ihnen das schuldig zu sein nach ihrem beschämenden Zusammenbruch während des größeren Teils ihrer Reise. Sie wollte alles tun, was sie konnte; und wenn sie nicht fuhr, zog sie aus, um den Weg zu erkunden. Draußen war es immer noch betäubend laut, und der Boden zitterte unter den Füßen. Es war unmöglich, sich daran zu gewöhnen, obwohl sie ihr Bestes tat, es zu ignorieren. Sonnenlicht stieß in breiten fahlen Strahlen durch den Nebel und Dunst; und in der Stunde des Sonnenuntergangs erschienen am Himmel Eisbögen und Nebensonnen, zusammen mit Halos um die getrübte Sonne. Oft schien der ganze Himmel zu brennen, eine Turnersche Vision der Apokalypse.

Bald machte auch Ann schlapp, und die Arbeit wurde erschöpfend. Sie verstand jetzt, warum ihre Gefährten so müde gewesen waren und warum sie mit ihr und untereinander so kurz angebunden gewesen waren. Michel war nicht imstande gewesen, die letzten drei Depots zu lokalisieren, ob begraben oder unter Wasser, spielte keine Rolle. Die halben Rationen betrugen 1200 Kalorien am Tag, viel weniger, als sie verbrauchten. Mangel an Nahrung, Mangel an Schlaf und dann zumindest für Ann die gleiche alte Niedergeschlagenheit, beharrlich wie der Tod und in ihr aufsteigend wie eine Flut, wie ein schwarzer Matsch aus Schlamm, Dampf, Eis und Kot. Sie blieb stur bei der Arbeit; aber ihre Aufmerksamkeit fiel dauernd aus, und das sinnlose Geplapper kam immer wieder und spülte in dem weißen Lärm von Verzweiflung alles fort.

Der Weg wurde schwieriger. Eines Tages schafften sie nur einen Kilometer. Am folgenden Tag schienen sie völlig festzusitzen. Die Felsblöcke lagen quer über der Bank wie Panzersperren in der Maginotlinie. Sax bemerkte, es wäre eine perfekte fraktale Fläche von etwa 2,7 Dimensionen. Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten.

Kasei fand zu Fuß eine Passage direkt zur Flut hinunter. Im Moment war der ganze sichtbare Bereich der Überschwemmung gefroren wie schon in den letzten paar Tagen. Bis zum Horizont erstreckte sich eine wirre Fläche wie das Eismeer der Erde, nur viel schmutziger, ein großes Durcheinander von schwarzen, roten und weißen Klumpen. Aber das Eis war in Ufernähe eben und an vielen Stellen klar. Sie konnten hineinsehen und erkennen, dass es wohl nur einige Meter tief war und bis zum Boden gefroren. Also fuhren sie auf diese Eisküste hinunter und an ihr entlang. Wenn Steine im Wege waren, lenkte Ann die linken Räder und dann den ganzen Wagen auf das Eis. Es hielt wie jede andere Fläche. Nadia und Maya murrten über die Nervosität der anderen bei diesem Kurs. Nadia sagte: »Wir sind in Sibirien den ganzen Winter übers Eis gefahren. Das waren die besten Straßen, die wir hatten.«

So fuhr Ann einen ganzen Tag lang längs des rauen Randes der Flut und auf ihrer Oberfläche. Sie schafften einhundertsechzig Kilometer. Ihr bester Tag seit zwei Wochen.

Gegen Sonnenuntergang fing es an zu schneien. Der Westwind blies von Coprates her und trieb kiesige Schneeklumpen an ihnen vorbei, als ob sie sich überhaupt nicht bewegten. Sie kamen an die Stelle eines frischen Bergrutsches, der bis auf das Eis der Flut gegangen war. Große Felsblöcke, die über dem Eis verstreut waren, verliehen ihm einen Hauch von verlorener Nachbarschaft. Das Licht war trüb grau. Sie brauchten einen Führer zu Fuß durch dies Labyrinth; und in einer müden Besprechung meldete sich Frank freiwillig für diese Aufgabe und ging hinaus. Zu diesem Zeitpunkt war er der einzige von ihnen, der noch etwas Kraft hatte, sogar noch mehr als der junge Kasei. Er kochte noch vor Wut, einem unerschöpflichen Treibstoff.

Er ging langsam vor dem Wagen her, prüfte Routen und kam wieder zurück. Entweder schüttelte er den Kopf oder machte Ann ein Zeichen weiterzufahren. Um sie herum stiegen dünne Schleier von dampfendem Reif in den fallenden Schnee auf. Sie vermischten sich bei dem starken Abendwind und verschwanden im Dunkel. Ann, die das düstere Schauspiel eines harten Windstoßes beobachtete, missverstand die Stelle, wo Eis und Boden zusammentrafen, und der Rover stieß gegen einen runden Stein genau an dem gefrorenen Ufer, wobei sich das linke Hinterrad vom Boden abhob. Ann trieb die Vorderräder an, damit sie über den Stein rollen sollten; aber sie gruben sich in einen Fleck aus Sand und Schnee ein. Und plötzlich berührten beide Hinterräder kaum noch den Boden, während die Vorderräder sich leer in den Löchern drehten, die sie gewühlt hatten. Sie hatte den Rover festgefahren.

Das war schon mehrere Male passiert, aber sie war auf sich selbst wütend, weil sie sich durch das unwichtige Schauspiel am Himmel hatte ablenken lassen.

»Was, zum Teufe, machst du da?« brüllte Frank über das Interkom. Ann hüpfte in ihrem Sitz hoch. Sie würde sich nie an Franks bissige Heftigkeit gewöhnen. Er rief: »Fahr los!«

Sie sagte: »Ich bin auf einen Stein gestoßen.«

»Verdammt! Warum passt du nicht auf, wohin du fährst? Los, halt die Räder an! Stopp sie! Ich werde die Greifmatten unter die Vorderräder legen und dich nach vorn hebeln. Dann fahr von diesem Stein herunter und den Hang hinauf, so schnell du kannst! Verstanden? Es kommt eine neue Flut.«

Maya schrie: »Frank, komm herein!«

»Sobald ich die verfluchten Kissen drunter habe. Halte dich bereit loszufahren!«

Diese Kissen waren Bahnen aus Metallgeflecht, die man unter Räder tat, die Löcher in den Sand gewühlt hatten, und die sich dann nach vorn spreizten, so dass die Räder etwas zu fassen bekamen. Eine alte Wüstenmethode. Frank lief vorn um den Rover herum, fluchte vor sich hin und gab Ann kurze Anweisungen, die mit zusammengebissenen Zähnen und verkrampftem Magen gehorchte.

»Los!« brüllte Frank. »Los!«

»Steig erst ein!« rief Ann.

»Keine Zeit. Los, sie ist gleich hier! Ich werde mich an der Seite festhalten. Los, verdammt noch mal!«

Also setzte Ann vorsichtig die Vorderräder in Gang und fühlte, wie sie griffen und den Wagen nach vorn über den Stein zerrten. Dann schurrten sie weg und waren frei. Aber das Getöse der Flut verdoppelte sich und wurde hinter ihnen noch stärker. Dann flogen Eisstücke am Wagen vorbei mit schrecklichem Krach. Dann wurde das Eis von einer dunklen Woge überflutet, die über die Fenster des Wagens spülte. Ann trat das Gaspedal bis zum Boden durch und hielt das in ihren Händen springende Lenkrad eisern fest. Neben dem Donnern der Flutwelle hörte sie Frank schreien: »Los, Idiot, los!« Danach erhielten sie einen harten Stoß, und der Wagen rutschte außer Kontrolle nach links. Ann hing an dem Lenkrad, das sie hin und her schleuderte. Ihr linkes Ohr schmerzte heftig, sie musste irgendwo angestoßen sein. Sie klammerte sich am Rad fest und presste das Gaspedal auf den Boden. Die Räder packten etwas, und der Rover mahlte durch Wasser, das von rechts nach links strömte. Die Flanke des Wagens erhielt einen dumpfen Stoß. »Los!« Sie hielt das Gaspedal am Boden und wandte sich bergauf. Sie hüpfte wild im Fahrersitz. Alle Fenster und Fernsehschirme zeigten flüssigen Wahnsinn. Dann floss das Wasser unter den Rover, und die Fenster wurden klar. Die Scheinwerfer des Wagens zeigten steinigen Boden, Schneefall und voraus ein kahles, flaches Gebiet. Ann raste mit Vollgas darauf zu, während hinter ihnen die Flut donnerte. Als sie die leicht ansteigende Stelle erreichte, musste sie mit den Händen ihren Fuß und das Bein vom Gaspedal losreißen. Der Wagen hielt. Sie befanden sich oberhalb der Flut auf einem schmalen Absatz. Es sah so aus, als ob die Flut schon zurückginge. Aber Frank Chalmers war verschwunden.


Maya bestand darauf, dass sie umkehrten und nach ihm suchten. Das taten sie auch, da die erste Flutwelle die größte gewesen zu sein schien. Aber es war vergebens. In dem Dämmerlicht schnitten die Scheinwerfer fünfzig Meter weit in den Schneefall; und in den zwei sich überkreuzenden gelben Lichtkegeln sahen sie nur die raue Oberfläche der Flut, ein treibendes Strandgut ohne die geringste Andeutung einer regelmäßigen Gestalt. Es sah wirklich aus wie eine Welt, in der solche Formen unmöglich sind. In einem solchen Irrsinn konnte niemand überleben. Frank war dahingegangen, entweder von dem hüpfenden Wagen gestoßen oder in seiner kurzen, tödlichen Begegnung mit der Woge weggeschwemmt.

Seine letzten Flüche schienen noch aus der Statik im Interkom zu quellen, aus dem Dröhnen der Flut. Seine letzte beschwörende Aufforderung klang Ann in den Ohren wie das Urteil, welches sie war: Los, Idiot, los! Es war ihr Fehler gewesen, ganz ihr Fehler …

Maya weinte, erstickte in Seufzern und krümmte sich wie im Krampf zusammen. »Nein!« schrie sie. »Frank, Frank! Wir müssen ihn suchen.« Dann weinte sie so, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Sax kam hinzu und hockte sich neben sie. »Hier, Maya, willst du ein Beruhigungsmittel?« Sie richtete sich auf und schlug ihm die Pillen aus der Hand. Sie schrie: »Nein! Das sind meine Gefühle und meine Männer. Hältst du mich für einen Feigling, denkst du, ich möchte ein Zombie sein wie du?«

Sie brach mit hilflosen, unfreiwilligen, erschütternden Schreien zusammen. Sax stand über ihr, er zwinkerte mit verzerrtem Gesicht und bestürzter Miene. Ann fühlte sich davon betroffen und sagte: »Bitte, bitte!« Sie erhob sich aus dem Fahrersitz, ging zu ihnen zurück und fasste Sax kurz am Arm. Sie bückte sich, um Nadia und Simon zu helfen, Maya vom Fußboden aufzuheben und zu Bett zu bringen. Maya war schon etwas ruhiger geworden, mit roten Augen und triefender Nase. In ihrem Kummer umklammerte sie mit einer Hand Nadias Handgelenk. Nadia blickte auf sie mit der objektiven Miene eines Arztes hinunter, zurückgezogen auf ihre eigene Art und auf russisch etwas murmelnd.

»Maya, es tut mir leid«, sagte Ann. Ihre Kehle war zugeschnürt. Das Sprechen tat weh. »Es war mein Fehler. Es tut mir leid.«

Maya schüttelte den Kopf. »Es war ein Unfall.«

Ann konnte sich nicht dazu überwinden, laut zu sagen, dass sie aufgehört hatte acht zu geben. Die Worte blieben ihr im Hals stecken, und ein neuer Weinkrampf schüttelte Maya. Die Chance zum Sprechen war vorüber.

Michel und Kasei übernahmen die Fahrerplätze und setzten den Rover wieder längs der Felsbank in Bewegung.


Nicht weit östlich davon senkte sich die südliche Wand des Canyons endgültig in die umgebende Ebene, und sie konnten sich frei von der Flut weg bewegen, die auf jeden Fall Eos Chasma folgte, um sich in einer Wendung nach Norden in der Ferne mit Capri Chasma zu vereinen. Michel verfolgte die Spur der verborgenen Kolonie, verlor sie aber wieder, da die Wegmarken oft vom Schnee verdeckt waren. Er bemühte sich einen ganzen Tag lang darum, ein verstecktes Depot zu finden, das er in der Nähe vermutete, aber es gelang ihm nicht. Anstatt noch mehr Zeit zu verlieren, beschlossen sie, mit voller Geschwindigkeit weiterzufahren, ein bisschen nordöstlich auf die Zufluchtsstelle zu, die sie zu erreichen versucht hatten, und die laut Michel in dem zerklüfteten Gelände genau südlich von Aureum Chaos lag. »Das ist nicht mehr unsere Hauptkolonie«, erklärte er den anderen. »Es ist das, wohin wir zuerst gegangen sind, nachdem wir Underhill verließen. Aber Hiroko wollte in den Süden gehen; und das taten wir nach einigen Jahren. Sie sagte, dieses erste Versteck gefiele ihr nicht, weil Aureum eine Senke ist; und sie dachte, es könnte eines Tages ein See werden. Ich hielt das für verrückt, sehe aber jetzt, dass sie recht hatte. Es sieht so aus, als könnte Aureum das letzte Entwässerungsbecken für diese Flut werden. Ich weiß nicht. Aber die Zufluchtsstelle liegt an einer höheren Stelle, als wir uns jetzt befinden. Es wird also sicher sein. Vielleicht werden sich keine Menschen darin befinden, aber es wird mit Vorräten versorgt sein. Und jedenfalls ein Hafen bei Sturm, nicht wahr?«

Niemand hatte den Mut für eine Entgegnung.


Am zweiten Tag harten Fahrens verschwand die Flut im Norden am Horizont. Bald danach verstummte auch ihr Lärm. Der mit einem Meter schmutzigen Schnees bedeckte Boden zitterte nicht mehr unter den Füßen. Die Welt schien tot, seltsam still und in Weiß gehüllt. Wenn es nicht schneite, war der Himmel noch dunstig, schien aber klar genug, dass sie von oben gesehen werden konnten. Also stellten sie das Fahren bei Tage ein. Sie bewegten sich nachts ohne Scheinwerfer über eine Schneelandschaft, die schwach unter den Sternen schimmerte.

Ann fuhr während dieser Nächte. Sie erzählte nie jemandem von dem Moment der Unaufmerksamkeit am Steuer. Sie kam auch nie wieder dicht daran, es wieder zu tun. Sie blieb verzweifelt konzentriert, biss sich in die Unterlippe, bis sie blutete, und vergaß alles außer dem, was in den Lichtkegeln vor ihr lag. Gewöhnlich fuhr sie die ganze Nacht und vergaß, den nächsten Fahrer zu wecken, oder entschloss sich, es nicht zu tun. Frank Chalmers war tot, und es war ihr Fehler. Sie wünschte verzweifelt, sie könnte zurücklangen und die Dinge ändern, aber das war hoffnungslos. Es gibt Fehler, die man nie wieder gutmachen kann. Die weiße Landschaft war von unendlich vielen Steinen verunstaltet, die alle ihre eigene Schneehaube trugen; und die Pfeffer-und-Salz-Landschaft war so ein Flickenteppich, dass das Auge bei Nacht schwer einen Sinn daraus gewinnen konnte. Manchmal schienen sie unter dem Boden dahinzupflügen oder fünf Meter darüber zu schweben. Eine weiße Welt. In manchen Nächten kam es ihr vor, als ob sie einen Leichenwagen führe mit dem Körper des Verstorbenen. Die Witwen Nadia und Maya auf dem Rücksitz. Und jetzt wusste sie auch, dass Peter tot war.

Zweimal hörte sie, wie Frank ihr etwas über das Interkom sagte. Einmal bat er sie, umzukehren und ihm zu helfen. Das andere Mal schrie er: Los, Idiot, los!

Maya hielt sich gut. Sie war irgendwie zäh, trotz aller ihrer Launen. Nadia, die Ann sich immer als die Zähe vorgestellt hatte, schwieg die meiste Zeit. Sax starrte auf seinen Bildschirm und arbeitete. Michel versuchte, mit seinen alten Freunden zu sprechen, gab es aber traurig auf, als offenbar niemand antworten mochte. Simon beobachtete Ann sorgsam wie immer mit unerträglicher Besorgnis. Sie konnte das nicht aushalten und vermied seinen Blick. Der arme Kasei musste sich wie in einem Altersheim für Schwachsinnige gefangen gefühlt haben. Das war fast ein komischer Gedanke. Nur schien seine Stimmung irgendwie gestört zu sein. Sie wusste nicht, warum. Vielleicht war es der Verschleiß, vielleicht die zunehmende Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht überleben würden, vielleicht bloß Hunger. Man konnte es nicht sagen. Die jungen Leute waren merkwürdig. Aber er erinnerte sie an Peter, und darum schaute sie ihn auch nicht an.

Der Schnee machte jede Nacht schimmernd und unruhig. Er würde einmal völlig schmelzen, neue Flussbetten graben und ihren Mars beseitigen. Mars war verschwunden. Michel saß neben ihr während der zweiten Schichten in der Nacht und hielt Ausschau nach Wegzeichen. »Sind wir verloren?« fragte Maya ihn einmal kurz vor der Morgendämmerung.

»Nein, keineswegs. Es ist nur … Wir hinterlassen Spuren im Schnee. Ich weiß nicht, wie lange sie halten werden oder wie gut sichtbar sie sind, aber wenn … Nun, für den Fall, dass sie sich halten, möchte ich den Wagen verlassen und den letzten Teil des Weges zu Fuß gehen. Darum möchte ich sehr genau wissen, wo wir uns befinden, ehe wir das tun. Wir haben einige Steine und Dolmen errichtet, die uns das zuverlässig sagen; aber ich muss einen davon finden. Sie werden am Horizont auftauchen, musst du wissen. Felsblöcke etwas höher als gewöhnlich, oder Säulen.«

»Sie werden bei Tage leichter zu sehen sein«, sagte Simon.

»Gewiss. Wir werden uns morgen rings umschauen, und das sollte genügen. Wir dürften in einer solchen Gegend sein. Sie sind dafür gedacht, verirrten Menschen wie uns zu helfen. Wir werden bald in Sicherheit sein.«

Nur waren ihre Freunde tot. Ihr einziges Kind war tot. Und ihre Welt war endgültig hinüber. Während Ann frühmorgens an den Fenstern lag, versuchte sie, sich das Leben in dem versteckten Zufluchtsort vorzustellen. Jahre um Jahre unter der Oberfläche. Das konnte sie nicht. Los, Idiot, los! Verdammt!

Noch in der Morgendämmerung stieß Kasei ein wildes Triumphgeheul aus. Draußen am Nordhorizont war ein Trio aufgerichteter Steine. Eine Oberschwelle über zwei Pfeilern, als ob ein Teilstück von Stonehenge hierher geflogen wäre. In dieser Richtung lag das Heim, sagte Kasei.

Aber erst würden sie den Tag über abwarten. Michel wurde äußerst vorsichtig, um nicht von Satelliten gesehen zu werden, und wollte erst bei Nacht weiterfahren. Also ließen sie sich nieder, um etwas Schlaf zu finden.

Ann fand keinen. Sie war durch einen neuen Entschluss voller Energie. Michel schnarchte zufrieden, sie alle schliefen zum ersten Mal seit etwa fünfzig Stunden. Sie schlüpfte in ihren Schutzanzug und ging auf Zehenspitzen in die Schleuse. Sie schaute sich um und betrachtete die Schlafenden. Ein hungriger, abgerissener Haufen. Nadias verkrüppelte Hand ragte an der Seite heraus. Das Aussteigen aus der Schleuse machte unvermeidbar ein Geräusch. Aber alle waren es gewohnt, bei Lärm zu schlafen, und das Summen und Knacken des Lebenserhaltungssystems übertönte ihren Ausstieg. Sie kam hinaus, ohne jemanden zu wecken.

Die elementare Kälte des Planeten. Sie erschauderte darin und setzte sich nach Westen in Bewegung. Sie ging in den Spuren des Rovers, damit man ihr nicht folgen konnte. Die Sonne stach durch den Nebel. Es fiel wieder Schnee, rot gefärbt in Strahlen von Sonnenlicht. Sie trottete weiter, bis sie an einen kleinen Moränenhügel kam, dessen steile Seite schneefrei war. Sie konnte daran entlanggehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Das tat sie, bis sie erschöpft war. Es war draußen wirklich kalt. Der Schnee fiel in kleinen Flocken senkrecht herunter, wahrscheinlich um Sandkörner kristallisiert. Am Ende der Moräne war ein dicker, niedriger Felsblock. Sie setzte sich in seinen Windschatten, stellte die Heizung ihres Anzuges ab und bedeckte das blinkende Warnlicht auf ihrem Handgelenk mit einem Schneeklumpen.

Es wurde schnell kälter. Der Himmel war jetzt ein undurchsichtiges Grau mit einem Anflug von Rosa. Daraus fiel Schnee auf ihre Visierscheibe.

Sie hatte gerade aufgehört zu zittern und wurde angenehm kühl, als ein Stiefel sie hart an den Helm stieß. Sie wurde auf die Knie hochgezerrt mit dröhnendem Kopf. Eine Gestalt im Schutzanzug stieß mit ihrem Visier fest auf ihres. Dann packten Hände sie wie mit einem Schraubstock fest an den Schultern und warfen sie zu Boden. »He!« schrie sie schwach. Sie wurde an den Schultern auf die Füße gezogen, und ihr linker Arm wurde zurückgebogen und hoch auf ihrem Rücken festgehalten. Ihr Angreifer hantierte an ihrem Armband und schob sie dann schmerzhaft vorwärts. Ihr Arm wurde immer noch hochgehalten, so dass sie nicht hinfallen konnte, ohne ihn sich zu brechen. Sie fühlte, wie das rhombische Muster ihrer Heizelemente sich in ihre Haut brannte. Alle paar Schritte bekam sie einen festen Schlag auf den Helm.

Die Gestalt führte sie direkt zu ihrem Rover zurück, was sie erstaunte. Sie wurde in die Schleuse geschoben, und die Gestalt stolperte hinter ihr her, schloss die Kammer und setzte ihr den Helm ab, dann sich selbst. Zu ihrem höchsten Erstaunen war es Simon. Er hatte ein rotes Gesicht und brüllte sie an. Dabei schlug er sie noch mit tränenfeuchtem Gesicht. Dieser ihr Simon, der Ruhige, schrie jetzt: »Warum? Warum? Verdammt, du machst das immer so. Immer bist du es, fern in deiner eigenen Welt. Du bist so selbstsüchtig!« Die Stimme stieg an zu einem letzten schmerzhaften Kreischen. Ihr Simon, der nie etwas sagte, nie die Stimme erhob, nie mehr als ein Wort sprach, schlug sie jetzt und brüllte ihr buchstäblich spuckend ins Gesicht, vor Wut keuchend. Das machte sie plötzlich wild. Warum nicht früher, warum nicht, wenn sie jemanden mit etwas Leben darin gebraucht hätte? Warum war er jetzt hierdurch so erregt? Sie stieß ihn kräftig vor die Brust, und er fiel nach hinten. Sie schrie: »Lass mich in Ruhe!« Dann durchfuhr sie die Angst, der kalte Schauer des Todes auf dem Mars. »Warum hast du mich nicht in Ruhe gelassen?«

Er gewann das Gleichgewicht wieder, sprang nach vorn, packte sie an beiden Schultern und schüttelte sie. Sie hatte nie bemerkt, wie stark seine Hände waren.

»Weil«, brüllte er und machte eine Pause, um sich die Lippen zu lecken und zu Atem zu kommen — »Weil …« Seine Augen traten hervor und sein Gesicht wurde noch dunkler, als ob tausend Sätze auf einmal in seiner Kehle festgesteckt hätten. Dieser ihr sanfter Simon! Dann gab er es auf, grunzte und schüttelte sie in seinen Armen.

»Weil! Weil! Weil!«


Es schneite. Obwohl es früher Morgen war, war es trübe. Wind peitschte durch das Chaos und wirbelte die Nebelschwaden über das zerklüftete Land. Felsen groß wie Wohnblöcke lagen wirr durcheinander, und die Landschaft war aufgebrochen in eine Million kleiner Klippen, Löcher, Mesas, Grate und Piks, sowie viele ansehnliche Bergspitzen, Türme und schaukelnde Felsen, die nur durch Kami auf ihrem Platz gehalten wurden. All das steile oder vertikale Gestein in diesem chaotischen Terrain war noch schwarz, während flachere Stellen jetzt weiß von Schnee waren, so dass die Landschaft ein dichtes Muster von Schwarz und Weiß bildete. Alles wirbelte in Sicht und wieder fort, wenn Ballen und Schleier aus Schnee vorbeigetrieben wurden.

Dann hörte der Schneefall auf. Der Wind legte sich. Die schwarzen Vertikalen und weißen Horizontalen gaben der Welt ein ungewöhnliches Aussehen. Bei dem verhangenen Himmel gab es keine Schatten, und die Landschaft glühte, als ob Licht durch den Schnee auf die Unterseiten der dunklen niedrigen Wolken strömen würde. Alles war scharf und deutlich, wie in Glas gefasst.

Über dem Horizont erschienen Gestalten, die sich bewegten. Eine nach der anderen erschienen sie, bis sie in einer gebrochenen Linie ihrer sieben waren. Sie bewegten sich langsam mit hängenden Schultern und nach vorn geneigten Helmen. Sie bewegten sich, als hätten sie kein Ziel. Die vordersten beiden schauten von Zeit zu Zeit hoch, machten aber nie eine Pause, noch zeigten sie den Weg.

Die Wolken im Westen schimmerten wie Perlmutt, das einzige Anzeichen an diesem trüben Tag dafür, dass die Sonne sich senkte. Die Gestalten gingen einen langen Kamm hinauf, der aus der zerstörten Landschaft ragte. Von den oberen Abhängen des Grates konnte man weit in jede Richtung sehen.

Die Gestalten brauchten lange Zeit, um den Grat zu ersteigen. Endlich näherten sie sich einem Pik, einem Felsbuckel, hinter dem der Grat sich wieder zu senken begann. Oben auf dem Buckel war ein seltsames Ding. Ein großer Fels mit flachem Boden stand hoch in der Luft. Er balancierte auf sechs schlanken Steinsäulen.

Die sieben Gestalten näherten sich diesem Megalithen. Sie blieben stehen und betrachteten ihn einige Zeit unter den dunklen zerrissenen Wolken. Dann traten sie zwischen die Säulen unter den Felsen. Er dräute wie ein massives Dach über ihnen. Der kreisrunde Boden darunter war flach. Er bestand aus behauenem, poliertem Gestein.

Eine der Gestalten ging zu einer entfernten Säule und berührte sie mit dem Finger. Die andern sahen auf das unbewegte Schneechaos hinaus. Im Boden öffnete sich eine Falltür. Die Gestalten gingen hin und traten nacheinander in den Grat ein.

Als sie verschwunden waren, begannen die sechs schlanken Säulen in den Boden zu sinken, und der große Dolmen, den sie hochhielten, senkte sich, bis die Säulen verschwunden waren und der große Steinblock auf dem Grat ruhte, wieder in seine frühere Existenz als eindrucksvoller Gipfelstein zurückgekehrt. Hinter den Wolken war die Sonne untergegangen, und das Licht entschwand aus dem leeren Land.


Es war Maya, die sie in Bewegung hielt. Maya drängte sie nach Süden. Das Refugium unter dem Dolmen war ein ersehnter Unterschlupf, eine Folge kleiner Höhlen in dem Grat, versorgt mit Notrationen und Luftvorräten, sonst aber leer. Doch nach ein paar Tagen des Nachholens an Essen und Schlaf fing Maya an, sich zu beklagen. Sie sagte, das wäre keine Art zu leben, es sei nicht mehr als ein lebendiger Tod. Wo waren all die anderen? Wo war Hiroko? Michel und Kasei erklärten wieder, dass sich die verborgene Kolonie im Süden befände, und dass sie vor langer Zeit dorthin umgezogen seien. Okay, sagte Maya, dann werden wir auch nach Süden gehen. In der Garage des Refugiums waren weitere Steinrover. Sie würden bei Nacht fahren, sagte sie, und außerhalb der Canyons würden sie sicher sein. Das Refugium war auf jeden Fall nicht mehr sich selbst versorgend. Seine Bestände waren reichlich, aber beschränkt. Also würden sie es früher oder später sowieso verlassen müssen. Es war besser, aufzubrechen, so lange der Staubsturm noch eine gewisse Deckung für die Reise bot. Man sollte lieber losfahren.

Also trieb sie die müde kleine Gruppe wieder zur Tat an. Sie beluden zwei Wagen und brachen wieder auf, nach Süden über die großen zerknitterten Ebenen von Margaritifer Sinus. Frei von den Beschränkungen durch Marineris legten sie jede Nacht Hunderte von Kilometern zurück und schliefen bei Tag. In einer fast ohne Gespräche verlaufenen Fahrt kamen sie nach einigen Tagen zwischen Arge und Hellas durch, über die endlose Kraterlandschaft der südlichen Hochländer. Es schien allmählich, als hätten sie nie etwas anderes getan, als in ihren kleinen Wagen vorwärts zufahren, und dass die Reise ewig dauern würde.

Aber dann kamen sie eines Nachts auf das terrassierte Gelände der Polregion. Nahe der Morgendämmerung leuchtete der Horizont vor ihnen, wurde dann zu einem schwachen weißen Strich, der immer dicker wurde, während sie vorrückten. Schließlich stand er als eine weiße Klippe vor ihnen. Offenbar die südliche Polkappe. Michel und Kasei übernahmen die Fahrersitze und sprachen leise über das Interkom. Sie fuhren, bis sie die weiße Klippe erreichten und fuhren weiter gerade darauf zu, bis sie auf gefrorenem verkrusteten Sand waren, der sich unter der Masse des Eises befand. Die Klippe war ein riesiger Überhang, wie eine Woge, die einen Augenblick innehielt, bevor sie auf den Strand stürzte. Am Fuß der Klippe war ein Tunnel in das Eis gegraben; und es erschien eine Gestalt im Schutzanzug und dirigierte die beiden Rover hinein.

Der Tunnel führte sie mindestens einen Kilometer weit in das Eis. Er war weit genug für zwei oder drei Rover und hatte eine niedrige Decke. Das Eis um sie herum war reinweiß. Trockeneis, das nur leicht durch Schichtenbildung gestreift war. Sie kamen durch zwei Schleusen, die den Tunnel ausfüllten, und in der dritten hielten Michel und Kasei die Rover an, öffneten deren Schleusen und stiegen aus. Maya, Nadia, Sax, Simon und Ann folgten ihnen nach draußen. Sie kamen durch eine Schleusentür und gingen schweigend weiter durch den Tunnel. Dann öffnete sich der Tunnel, und sie blieben stehen, gebannt durch den Anblick, der sich ihnen bot.

Über ihnen war eine riesige Kuppel aus schimmerndem weißem Eis. Sie standen darunter wie unter einer gigantischen umgedrehten Schale. Die Kuppel hatte mehrere Kilometer Durchmesser und war mindestens einen Kilometer hoch, vielleicht noch mehr. Sie stieg von der Peripherie steil auf und wölbte sich dann sanft zur Mitte. Das Licht war diffus, aber recht stark, wie an einem wolkigen Tag, und es schien aus der weißen Kuppel selbst zu kommen, die leuchtete.

Der Boden unter der Kuppel war leicht welliger rötlicher Sand, in den tieferen Stellen begrünt mit Rasen, mit vielen Gruppen aus hohem Bambus und knorrigen Kiefern. Zur Rechten waren einige kleine Hügel, und darin zusammengedrängt ein kleines Dorf, ein- und zweistöckige, weiß und blau gestrichene Häuser, dazwischen große Bäume, in deren dicke Zweige Räume aus Bambus und Treppen eingelassen waren.

Michel und Kasei gingen auf dieses Dorf zu und die Frau, die ihre Wagen in den Tunnel dirigiert hatte, lief voran und rief: »Sie sind hier, sie sind hier!« Unter der anderen Seite der Kuppel befand sich ein Teich aus schwach dampfendem, offenem Wasser, dessen Oberfläche weiß schimmerte, bewegt von Wellen, die sich am nahen Ufer brachen. Auf dem jenseitigen Ufer stand die blaue Masse eines Rickover-Reaktors, der sich unscharf blau in dem weißen Wasser spiegelte. An ihren Ohren nagten Böen aus kühlem, feuchtem Wind.

Michel kam zurück zu seinen alten Freunden, die wie Statuen dastanden. Er sagte lächelnd: »Kommt, es ist kalt draußen. An der Kuppel sitzt eine Schicht aus Wasser-Eis. Darum müssen wir die Luft hier die ganze Zeit unter dem Gefrierpunkt halten.«

Aus dem Dorf strömten Leute heraus, die laut riefen. Unten an dem kleinen See erschien ein junger Mann, der auf sie zulief, wie eine Gazelle in großen Sätzen über die Dünen springend. Selbst nach all ihren Jahren auf dem Mars erschien den Ersten Hundert ein solch fliegendes Laufen noch traumhaft; und es dauerte eine Weile, bis Simon Ann am Arm packte und rief: »Das ist Peter! Das ist Peter!«

Und dann waren sie in einem Menschengedränge, viele von ihnen junge Leute und Kinder, fremd, aber mit vertrauten Gesichtern, die sich ihren Weg nach vorn bahnten: Hiroko und Iwao, Raul, Rya, Gene und Peter, die sich auf Ann und Simon stürzten und sie an sich drückten. Da waren Vlad und Ursula und Marino und einige andere aus der Acheron-Gruppe, alle um sie gedrängt, die Arme ausgestreckt, um sie zu berühren.

»Was ist das für ein Ort?« rief Maya.

»Dies ist die Heimat«, sagte Hiroko. »Dies ist der Ort, von dem aus wir neu anfangen werden.«

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