Er wurde mit dem Rest des Sonnensystems vor etwa fünf Milliarden Jahren gebildet. Das sind fünfzehn Millionen menschliche Generationen. Steinbrocken prallen im Weltraum aufeinander und bleiben schließlich aneinander haften, alles wegen der geheimnisvollen Kraft, die wir Gravitation nennen. Dieselbe mysteriöse Verzerrung im Geflecht der Dinge bewirkte, dass der Gesteinshaufen, wenn er groß genug war, zu seinem Zentrum hin zusammenkrachte, bis die Hitze des Drucks das Gestein schmolz. Der Mars ist klein, aber massereich mit einem Kern aus Nickel-Eisen. Er ist so klein, dass das Innere sich schneller abgekühlt hat als die Erde. Der Kern rotiert nicht mehr innerhalb der Kruste mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Darum hat der Mars praktisch kein Magnetfeld. Es ist kein Dynamo verblieben. Aber eine der letzten inneren Fluten des geschmolzenen Kerns und Mantels bewirkte, dass ein gewaltiger Klumpen auf einer Seite nach außen drängte und die Kruste zu einer elf Kilometer hohen Beule von der Größe eines Kontinents hochpreßte — dreimal so hoch wie das tibetische Hochland über seiner Umgebung. Infolge dieser Beule kam es zu mannigfachen anderen Erscheinungen. Ein System radialer Brüche, das eine ganze Hemisphäre erfasste, einschließlich der größten aller Grabenbrüche, der Valles Marineris, eines Netzes von Canyons, das so groß war wie die Vereinigten Staaten von Küste zu Küste. Dieser Buckel ließ auch eine Anzahl Vulkane entstehen, einschließlich dreier quer über seinem Rücken: Ascraeus Mons, Pavonis Mons und Arsia Mons. Außerdem am Nordwestrand Olympus Mons, den höchsten Berg im Sonnensystem — dreimal so hoch wie der Everest und mit der hundertfachen Masse von Mauna Loa, dem größten Vulkan der Erde.
Also war die Tharsis-Beule der wichtigste Faktor bei der Gestaltung der Marsoberfläche. Der andere bedeutende Faktor war der Einsturz von Meteoriten. In uralter Zeit, vor drei bis vier Milliarden Jahren, fielen Meteorite in gewaltiger Menge auf den Mars, millionenfach; und Tausende davon waren Planetesimale, Steinbrocken so groß wie Vesta oder Phobos — Ein solcher Einsturz hinterließ das Hellas-Becken, den größten deutlichen Krater im Sonnensystem, obwohl Daedalia Planities ein Einsturzbecken von 4500 Kilometern Durchmesser zu sein scheint. Das sind gewaltige Ausmaße, aber es gibt Areologen, die glauben, dass die ganze nördliche Marshemisphäre ein altes Einsturzbecken sein könnte.
Diese großen Aufschläge bewirkten so verheerende Explosionen, dass man sie sich kaum vorstellen kann. Davon ausgestoßene Brocken landeten auf der Erde und dem Mond und als Asteroiden in Trojanischen Bahnen. Manche Areologen meinen, dass der Tharsis-Buckel auf den Hellas-Aufprall zurückgeht. Andere glauben, dass Phobos und Deimos Auswurfprodukte sind. Und dies waren nur die größten Treffer. Kleinere Steine fielen jeden Tag, so dass die ältesten Flächen auf dem Mars von Kratergebilden zernarbt sind und die Gegend ein Palimpset aus neuen Ringen ist, die alte verdecken. Kein Stück Land blieb verschont. Und jeder derartige Aufprall löste Hitze-Explosionen aus, die Gestein zum Schmelzen brachten. Elemente wurden aus ihrem Verband gerissen und in Form von heißem Gas, Flüssigkeit und neuen Mineralen ausgeschleudert. Dies und das Ausgasen vom Kern erzeugte eine Atmosphäre und viel Wasser. Es gab Wolken, Stürme, Regen und Schnee, Flüsse, Seen, Küstenlinien, die allesamt das Land bespülten und es erodierten. Dabei hinterließen sie unmissverständliche Spuren - Flussbetten, Küstenmarkierungen und jede Art von hydrologischen Hieroglyphen.
Aber all das verging. Der Planet war zu klein und zu weit von der Sonne entfernt. Die Atmosphäre gefror und sank zu Boden. Sublimiertes Kohlendioxid bildete eine dünne neue Atmosphäre, während Sauerstoff sich mit Mineralen verband und sie rot färbte. Das Wasser gefror und sickerte im Lauf der Äonen durch Kilometer von durch Meteorite zerbrochenem Gestein in die Tiefe. Schließlich wurde diese Regolithschicht mit Eis durchsetzt, und die tiefsten Teile waren warm genug, um das Eis zu schmelzen. Daher entstanden auf dem Mars Seen unter der Oberfläche. Wasser fließt immer nach unten. Darum wanderten diese Wasser enthaltenden Schichten langsam sickernd in die Tiefe, bis sie vor irgendeinem Hindernis, einer Rippe von Muttergestein oder einer gefrorenen Bodensperre, aufgehalten und angesammelt wurden. Manchmal baute sich starker artesischer Druck gegen diese Dämme auf, und manchmal traf ein Meteorit, oder ein Vulkan erschien, so dass der Damm brach; und ein ganzes unterirdisches Meer ergoss sich über die Oberfläche in enormen Fluten, die die Strömung des Mississippi zehntausendfach übertrafen. Schließlich gefror aber das Wasser auf der Oberfläche und wurde in den pausenlos trockenen Winden sublimiert, um in der Nebelkappe allwinterlich auf die Pole zu sinken. Darum wurden die Polkappen dicker; und ihr Gewicht drückte das Eis in den Boden, bis das sichtbare Eis nur die Spitze zweier den Planeten überdachender Linsen aus unterirdischem Permafrost bildete. Diese Linsen hatten hundertfach mehr Volumen als die sichtbaren Kappen. Inzwischen wurden zum Äquator hin neue Wasserschichten durch Ausgasen vom Kern her angefüllt. Und einige der alten wasserführenden Bereiche füllten sich aufs neue.
Und so näherte sich dieser sehr langsame Zyklus seiner zweiten Runde. Aber während sich der Planet abkühlte, geschah dies alles immer langsamer in allmählicher Verzögerung wie eine ablaufende Uhr. Der Planet gewann die Gestalt, in der wir ihn sehen. Aber Veränderung hört nie auf. Die rastlosen Winde erodierten das Land mit Staub, der immer feiner wurde. Und die Exzentrizität der Marsbahn bewirkte, dass die südliche und nördliche Hemisphäre in einem Zyklus von 51000 Jahren die kühlen und warmen Winter vertauschten, so dass trockene und wässrige Eiskappen ihre Plätze wechselten. Jede Schwingung dieses Pendels deponierte eine neue Schicht von Sand, und die Täler neuer Dünen durchschnitten ältere Schichten in einem Winkel, bis der Sand um die Pole herum ein Tüpfelmuster nach Art der Navajo-Sandbilder zeigte, das den ganzen Oberteil der Welt umspannte.
Die farbigen Sande in ihren Mustern, die geriffelten und gezackten Wände der Canyons, die sich in den Himmel reckenden Vulkane, das lockere Gestein des chaotischen Geländes, die Unmenge an Kratern — beringten Emblemen vom Anfang des Planeten … Noch schöner oder herber als das: knapp, streng, nackt, schweigend, stoisch, steinig, unveränderlich. Erhaben. Die sichtbare Sprache der mineralen Existenz der Natur.
Mineralisch — nicht animalisch, noch vegetabilisch oder von Viren bestimmt. Das hätte passieren können. Es geschah aber nicht. Es gab nie eine Urzeugung aus den Tonen oder den schwefelhaltigen heißen Quellen. Keine Spore fiel aus dem Weltraum herunter, keine Berührung eines Gottes fand statt. Was auch immer Leben in Gang bringt (denn wir wissen nicht, was), es geschah nicht auf dem Mars. Der Mars rollte als ein Beweis für die Andersartigkeit der Welt, für ihre steinige Vitalität.
Und dann, eines Tages …
Sie trat mit beiden Beinen kräftig auf den Boden. Es war nichts problematisch dabei. Die vertraute Schwere nach neun Monaten in der Ares. Und mit dem Gewicht des Anzugs war es nicht viel anders, als auf der Erde zu gehen, soweit sie sich erinnern konnte. Der Himmel war rosa, mit sandfarbenen Tönungen, eine Nuance kräftiger und feiner als auf allen Fotos. Ann sagte: »Seht euch den Himmel an!« Maya schwatzte so dahin. Sax und Vlad drehten sich wie rotierende Figuren. Nadezhda Francine Cherneshevsky machte einige weitere Schritte und fühlte, wie ihre Stiefel die Oberfläche knirschend zusammendrückten. Sie bestand aus durch von Salz verhärtetem Sand, einige Zentimeter dick, und knackte, wenn man darüberging. Die Geologen sprachen von Durikruste oder Caliche — rohem Salpeter. Die Stiefelabdrücke waren von kleinen radialen Brüchen gerändert.
Maya war draußen und vom Lander entfernt. Der Boden war dunkel orangerostfarben, bedeckt mit einer ebenen lockeren Gesteinsschicht der gleichen Farbe, wenn auch manche Sterne rote, schwarze oder gelbe Töne aufwiesen. Im Osten standen einige Landevehikel, jedes von anderer Form und Größe, deren Spitzen über den Horizont herausragten. Alle waren so orangerot verkrustet wie der Boden. Das war ein seltsamer, erregender Anblick, als wäre man auf einen lange aufgegebenen fremdartigen Raumflughafen geraten. Ein Teil von Baikonur könnte in einer Million Jahren so aussehen.
Sie ging zu einem der nächsten Lander, einem Frachtbehälter von der Größe eines Einfamilienhauses, und setzte sich auf das Gerippe eines vierbeinigen Raketenaggregates, das so aussah, als hätte es schon seit Jahrzehnten da gelegen. Die Sonne stand über den Köpfen, zu grell, um sie auch durch ein Schutzvisier anzuschauen. Es ließ sich durch die Polarisations- und andere Filter schwer beurteilen; aber ihr schien, dass das Tageslicht dem auf der Erde sehr ähnlich war, so weit sie sich entsinnen konnte. Ein heller Wintertag.
Sie schaute sich wieder um und wollte alles in sich aufnehmen. Sie stand auf einem leicht hügligen Gelände, das von kleinen scharfkantigen Steinen bedeckt war, die alle zur Hälfte im Staub steckten. Hinten im Westen wurde der Horizont durch einen kleinen Berg mit flachem Gipfel markiert. Es konnte ein Kraterrand sein. Das war schwer zu sagen. Ann war schon halbwegs dort und immer noch eine recht große Gestalt. Der Horizont war näher, als es richtig schien. Nadia machte eine Pause, um das festzustellen. Sie vermutete, dass sie sich bald daran gewöhnt haben und es nicht mehr bemerken würde. Aber er war nicht erdgemäß, dieser merkwürdig nahe Horizont, das erkannte sie jetzt deutlich. Sie stand auf einem kleineren Planeten.
Sie machte einen angestrengten Versuch, sich die Erdschwere ins Gedächtnis zu rufen und wunderte sich, dass das so schwierig war. Das Gehen in den Wäldern, durch die Tundra und im Winter über das Eis der Flüsse … und jetzt: Schritt um Schritt. Der Boden war flach, aber man musste sich zwischen den überall vorhandenen Felsblöcken einen Weg suchen. Es gab auf der Erde keinen ihr bekannten Ort, wo die so reichlich und gleichmäßig verteilt waren. Ein Sprung: Sie machte ihn und lachte. Selbst mit ihrem Anzug merkte sie, dass sie leichter war. Sie war ebenso stark wie je, wog aber nur dreißig Kilo! Dazu die vierzig Kilo des Anzugs … Nun, der störte ihr gewiss die Balance. Sie hatte ein Gefühl, als wäre sie hohl geworden. Ihr Schwerpunkt war nämlich verlagert. Er lag jetzt außerhalb des Körpers, mehr außerhalb ihrer Muskulatur als innerhalb. Natürlich lag das am Anzug. Im Innern des Habitats würde es so sein, wie es in der Ares gewesen war. Aber hier draußen im Anzug war sie eine hohle Frau. Indem sie das bedachte, konnte sie sich plötzlich leichter bewegen, über einen Felsblock springen, herunterkommen und sich drehen, tanzen! Einfach in die Luft hüpfen, tanzen und auf einem flachen Felsen landen — sich umschauen.
Sie stolperte, landete auf einem Knie und beiden Händen. Ihre Handschuhe stießen durch die Staubkruste. Die fühlte sich an wie eine Schicht von der Sonne zusammengebackenen Sandes am Strand, nur härter und spröder. Wie ausgetrockneter Schlamm. Und kalt! Ihre Handschuhe waren nicht so geheizt wie die Stiefel; und es gab nicht genügend Isolation, wenn man direkt den Boden berührte. Es war, als ob man Eis mit bloßen Fingern anfasste. Oha! etwa 185 Kelvin, wie ihr einfiel, oder minus 90 Grad Celsius. Kälter als Antarctica und Sibirien im schlimmsten Falle. Ihre Fingerspitzen waren taub. Sie würden bessere Handschuhe brauchen, um arbeiten zu können, die wie ihre Stiefelsohlen mit Heizelementen bestückt wären. Dadurch würden sie dicker und weniger flexibel werden. Sie müsste ihre Fingermuskeln wieder in Form bringen.
Sie hatte gelacht. Sie stand auf und ging zu einer anderen abgeworfenen Fracht. Dabei summte sie den ›Royal Garden Blues‹. Sie kletterte auf das Bein des Containers und kratzte die Kruste aus rotem Staub von einer auf der Seite des großen Metallbehälters eingravierten Aufschrift. Ein Mars-Bulldozer der Firma John Deere/Volvo mit Hydrazinantrieb, thermisch geschützt, halbautonom und voll programmierbar. Zusatz- und Reserveteile inbegriffen.
Sie verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Schürfbagger, Frontlader, Bulldozer, Traktoren, Planierer, Baugerät und Materialien jeder Art. Luftfilter, um Chemikalien aus der Atmosphäre zu ziehen. Kleine Fabriken, um diese Chemikalien zu verarbeiten. Ein ganzes Verpflegungsmagazin. Alles, was sie brauchen würden, alles zur Hand in Dutzenden von Behältern, die über die Ebene verstreut waren. Sie fing an, von einem Landevehikel zum andern zu hüpfen und Inventur zu machen. Einige waren offensichtlich schwer aufgeschlagen, bei einigen waren die Spinnenbeine zusammengebrochen, bei anderen die Gehäuse angeknackt. Eines war sogar zu einem Haufen zerquetschter Kisten zusammengedrückt, die halb im Staub begraben waren. Aber das gab ihr nur Gelegenheit zu Bergungs- und Reparaturarbeiten — einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen! Sie lachte laut und war ein bisschen übermütig, als sie sah, dass das Kommunikationslicht auf ihrer Handrückenkonsole blinkte. Sie war überrascht, wie Maya und Vlad zugleich fragten: »Wo ist Ann? Ihr Frauen, kommt hierher zurück! He, Nadia, hilf uns, dieses verdammte Habitat hinzukriegen! Wir können nicht einmal die Tür aufmachen!« Sie lachte.
Die Habitate waren über die Landschaft verstreut wie alles andere. Aber sie waren in der Nähe von einem gelandet, von dem sie wussten, dass es einsatzfähig war. Es war vom Orbit aus vor einigen Tagen eingeschaltet worden und hatte einen vollständigen Check durchgemacht. Unglücklicherweise konnte die äußere Tür nicht in den Check einbezogen werden, und sie klemmte. Nadia machte sich grinsend an die Arbeit. Es sah komisch aus, wie das, was wie ein verlassener Wohnwagen herumstand, mit der Schleusentür einer Raumstation geschmückt war. Nadia brauchte nur eine Minute, um sie zu öffnen, indem sie den Code für Notöffnung eingab und gleichzeitig draußen an der Tür zog. Sie war vielleicht durch die Kälte ungleichmäßig geschrumpft. Sie würden noch eine Menge solch kleiner Probleme haben.
Dann waren sie und Vlad in der Schleuse und danach im Habitat. Das sah immer noch wie ein Wohnwagen aus, aber mit den letzten Errungenschaften an Küchengerät. Die Luft war warm und zirkulierte gut. Das Kontrollpaneel sah wie das eines Kernkraftwerks aus.
Während die anderen hineingingen, schritt Nadia durch eine Reihe kleiner Räume von einer Tür zur anderen; und plötzlich überkam sie ein höchst merkwürdiges Gefühl. Die Dinge schienen nicht in Ordnung zu sein. Die Beleuchtung war eingeschaltet, aber einige Röhren gingen aus und an. Am anderen Ende der Diele pendelte eine Tür langsam in ihren Scharnieren hin und her.
Das kam sicher von der Ventilation. Und der Stoß bei der Landung hatte vermutlich einiges in Unordnung gebracht. Nadia schüttelte das Gefühl ab und ging zurück, um die anderen zu begrüßen.
Inzwischen waren alle gelandet und über die steinige Ebene gegangen, wobei sie anhielten, stolperten, den Horizont anstarrten, sich langsam drehten und dann langsam weitergingen. Sie hatten die drei funktionierenden Habitate betreten, ihre Raumanzüge abgelegt und verstaut, die Wohnanlage überprüft und etwas gegessen. Nachdem sie sich über alles unterhalten hatten, war die Nacht gekommen. Sie arbeiteten weiter an den Habitaten und redeten den größten Teil der Nacht weiter, zu aufgeregt, um Schlaf zu finden. Die meisten schliefen in kurzen Abschnitten bis zur Morgendämmerung. Dann erwachten sie, zogen sich an und gingen wieder hinaus, um sich umzuschauen, Listen nachzusehen und Maschinen durchzuchecken. Dann merkten sie, dass sie ermüdet waren und gingen wieder hinein, um eine schnelle Mahlzeit hinunterzuschlingen. Und dann war schon wieder Nacht.
So blieb es während einer Reihe von Tagen. Die Zeit verging in einem wilden Trubel. Nadia erwachte beim Piepen ihrer Handrückenkonsole und frühstückte rasch, wobei sie aus dem kleinen östlichen Fenster des Habitats blickte. Die Dämmerung verlieh dem Himmel einige Minuten lang eine frische Morgenröte, ehe er von Rosa zu dem kräftigen Orange des Tages überging. Überall auf dem Fußboden schliefen ihre Gefährten auf Matratzen, die tagsüber an die Wände geklappt wurden. Küche und Aufenthaltsraum waren winzig und die vier Toiletten kaum mehr als Schränke. Ann rührte sich, als es im Raum hell wurde, und ging zu einer Toilette. John war schon in der Küche und bewegte sich lässig. Die Verhältnisse waren so viel mehr beengt und öffentlich als auf der Ares, dass es manchen schwer fallen würde, sich anzupassen. Jeden Abend beklagte sich Maya, dass sie unter so vielen Leuten nicht schlafen könne; aber da lag sie nun, den Mund offen wie ein kleines Mädchen. Sie würde als letzte aufstehen und in dem Lärm und der Geschäftigkeit der anderen weiterdösen.
Dann stieg die Sonne über den Horizont, und Nadia war fertig mit ihren Cornflakes, wozu die Milch aus Pulver hergestellt wurde, das mit aus der Atmosphäre gewonnenem Wasser aufbereitet war und entsprechend schmeckte. Dann war es Zeit, in den Schutzanzug zu steigen und zur Arbeit hinauszugehen.
Die Schutzanzüge waren für die Marsoberfläche konstruiert und nicht hermetisch wie Raumanzüge, sondern aus einem elastischen Gewebe, das den Körper ungefähr auf dem Druck der Erdatmosphäre hielt. Dadurch wurden die ernsthaften Verletzungen vermieden, die durch Expansion auftreten müssten, wenn die Haut der sehr dünnen Marsatmosphäre ausgesetzt würde. Aber die Träger hatten viel mehr Bewegungsfreiheit als in einem Druckanzug für den Weltraum. Diese Außenkleidung hatte auch den sehr wichtigen Vorzug, gegen Versagen gefeit zu sein. Nur der harte Helm war luftdicht. Wenn man sich also ein Loch am Knie oder Ellbogen riss, würde ein Stück der Haut verletzt und erfroren sein; man würde aber nicht binnen Minuten ersticken und sterben.
Aber das Anlegen des Anzugs war ein hartes Stück Arbeit. Nadia würgte erst die Hosen über ihr langes Unterzeug, stieg dann in die Jacke und verband die beiden Teile mit einem Reißverschluss. Danach stemmte sie sich in große geheizte Stiefel und schloss deren obere Ringe an die Ringe der Fußgelenke des Anzugs an. Dann setzte sie einen recht normalen Helm auf und verband ihn mit dem Halsring des Anzugs. Danach schulterte sie einen Rucksack mit dem Luftbehälter und verband dessen Schläuche mit dem Helm. Sie atmete ein paar Minuten lang heftig und schmeckte das kühle Gemisch aus Sauerstoff und Stickstoff im Gesicht. Das Armbandgerät des Anzugs zeigte an, dass alle Anschlüsse dicht waren, und sie folgte John und Samantha in die Schleuse. Sie schlossen die Innentür, die Luft wurde in die Behälter zurückgepumpt, und John entriegelte die Außentür. Dann traten alle drei ins Freie.
Es war jeden Morgen aufregend, auf die steinige Ebene hinauszugehen, wenn die Morgensonne lange schwarze Schatten nach Westen warf und die verschiedenen kleinen Buckel und Vertiefungen des Geländes deutlich hervortreten ließ. Gewöhnlich herrschte Südwind, und lockere Grusteilchen wurden in Wellen über den Boden getrieben, so dass die Steine manchmal zu kriechen schienen. Aber selbst der stärkste derartige Wind konnte kaum mit der ausgestreckten Hand gespürt werden. Allerdings hatten sie noch keinen richtigen Sturm erlebt. Bei 500 Kilometern in der Stunde würden sie sicher etwas merken. Bei zwanzig war es fast nichts.
Nadia und Samantha gingen zu einem der kleinen Geländewagen, die sie ausgepackt hatten, und stiegen hinein. Nadia fuhr den Rover über die Ebene zu einem Traktor, den sie am Vortag gefunden hatten, etwa ein Kilometer nach Westen. Die Morgenkälte biss durch ihren Anzug in einem rhombischen Muster wegen der X-förmigen Anordnung der Heizelemente im Material des Anzugs. Ein eigenartiges Gefühl, aber in Sibirien hatte sie es oft kälter gehabt, und sie beklagte sich nicht.
Sie kamen zu dem großen Lander und stiegen aus. Nadia nahm einen Bohrer mit einem Philips-Schraubenzieheransatz und fing an, den Verschlag über dem Vehikel abzubauen. Der Traktor darin war ein Mercedes-Benz. Sie steckte den Bohrer in einen Schraubenkopf, zog den Schalter und sah zu, wie sich die Schraube herausdrehte. Sie hob sie auf und machte sich grinsend an die nächste. Sie war in ihrer Jugend unzählige Male bei solcher Kälte ins Freie gegangen mit tauben und rissigen Händen und hatte titanische Kämpfe geführt, um festgefrorene oder überdrehte Schrauben zu lösen … Aber hier machte es wutsch, und die Schraube war heraus. Außerdem war es in dem Anzug wärmer als in Sibirien und freier als im Weltraum. Er behinderte nicht mehr als ein dünner steifer Tauchanzug. Ringsum waren Steine in unheimlicher Regelmäßigkeit verstreut. Stimmen schnatterten auf der gemeinsamen Frequenz: »He, ich habe diese Sonnenpaddel gefunden!« — »Wenn du denkst, dass das was ist — ich habe gerade den verdammten Kernreaktor gefunden.« Ja, es war ein großartiger Morgen auf dem Mars.
Die aufgestapelten Wände der Kiste bildeten eine Rampe, um den Traktor vom Lander herunterzufahren. Sie sahen anfangs nicht stark genug aus; aber da war wieder die Schwerkraft. Nadia hatte die Heizung des Traktors eingeschaltet, sobald sie herankam, und kletterte jetzt in die Kabine und tastete dem Autopiloten einen Befehl ein, da sie dachte, es wäre am besten, das Ding allein die Rampe herunterkommen zu lassen, während sie und Samantha von der Seite her zuschauten, nur für den Fall, dass die Rampe in der Kälte zerbrechlicher sein würde als erwartet, oder sonst wie unzuverlässig. Sie fand es immer noch fast unmöglich, in den Schwerkraftverhältnissen des Mars zu denken und den Konstruktionen zu vertrauen, die diese in Betracht zogen. Die Rampe sah einfach zu schwach aus!
Aber der Traktor rollte ohne Unfall hinunter und hielt auf dem Boden an. Acht Meter lang, königsblau, mit übermannshohen Rädern aus Drahtgeflecht. Sie mussten über eine kurze Leiter in die Kabine steigen. Der Kran-Ansatz war schon am vorderen Ende montiert. Das machte es leicht, den Traktor mit der Winde, dem Sandbagger, den Kisten mit Ersatzteilen und schließlich den Wänden des Containers zu beladen. Als sie damit fertig waren, sah der Traktor so überladen und kopflastig aus wie eine Dampfpfeifenorgel, aber die Marsschwerkraft sorgte für Gleichgewicht. Der Traktor selbst war ein riesiger Klotz, mit 600 Pferdestärken, einem großen Radstand und mächtigen hohen Rädern. Sein Hydrazinmotor hatte ein noch schlechteres Anzugsmoment als ein Diesel, stellte aber als Gerät den letzten Schrei dar und war unverwüstlich. Sie fuhren los und rollten langsam zum Parkplatz der Anhänger. Und da war sie, Nadezhda Cherneshevsky, und fuhr einen Mercedes-Benz auf dem Mars! Sie folgte Samantha zum Sortierplatz und fühlte sich wie eine Königin.
Das war also der Morgen gewesen. Zurück ins Habitat, Helm und Tank herunter und ein schneller Imbiss in Anzug und Stiefeln. Von all dem Umherlaufen hatte man mächtigen Hunger.
Nach dem Lunch zogen sie wieder mit dem Mercedes-Benz los und schleppten damit ein Luftsammelgerät von Boeing zu einem Platz östlich der Habitate, wohin alle Fabriken kommen sollten. Die Luftsammler waren große Metallzylinder, die Rümpfen einer 737 ähnelten, nur dass sie acht wuchtige Fahrgestelle hatten und Raketenmotore vertikal an den Seiten, dazu zwei Düsenmotore vorn und hinten über dem Rumpf. Fünf solche Geräte waren vor zwei Jahren in dem Gelände abgeworfen worden. In der Zwischenzeit hatten die Düsenmotore die dünne Luft eingesogen und durch eine Folge von Trennvorrichtungen gejagt, um sie in ihre Bestandteile zu zerlegen. Die Gase wurden komprimiert, in großen Tanks gespeichert und standen jetzt zur Verfügung. Jede Boeing enthielt inzwischen 5000 Liter Wasser-Eis, 3000 Liter flüssigen Sauerstoff, 500 Liter Argon und 400 Liter Kohlendioxid.
Es war keine leichte Aufgabe, diese Giganten über das Geröll zu den großen Vorratstanks bei ihren Habitaten zu schleppen; aber sie mussten das tun, denn nachdem sie dort in die Tanks entleert waren, konnte man sie wieder anstellen. Gerade an diesem Nachmittag hatte eine andere Gruppe einen leer gemacht und wieder in Tätigkeit gesetzt. Das tiefe Brummen seiner Düsen konnte man überall hören, sogar im Helm oder im Habitat.
Nadia und Samanthas Boeing war hartnäckiger. Am Nachmittag gelang es ihnen nur, ihn einige hundert Meter zu schleppen; und sie mussten den Bulldozer-Ansatz benutzen, um auf der ganzen Strecke eine rohe Straße dafür zu kratzen. Kurz vor Sonnenuntergang kehrten sie durch die Schleuse in ihr Habitat zurück, mit kalten Händen und vor Erschöpfung stöhnend. Sie zogen sich bis auf ihr von Staub verklebtes Unterzeug aus und gingen direkt in die Küche. Sie hatten schon wieder Heißhunger. Vlad schätzte, dass sie je etwa 6000 Kalorien am Tage verbrauchten. Sie kochten und verschlangen rehydrierte Pasta. An ihren Schüsseln verbrannten sie sich fast ihre klammen Finger. Erst als sie mit Essen fertig waren, gingen sie in den Umkleideraum für Frauen und versuchten, sich mit heißem Wasser und Schwämmen zu säubern, um dann saubere Pullover anzuziehen.
»Es wird schwer werden, unsere Kleidung sauber zu halten. Der Staub geht sogar durch die Verschlüsse am Handgelenk, und die Reißverschlüsse in der Taille sind wie offene Löcher.«
»Na ja, dieser Grus ist mikroskopisch fein. Wir werden damit mehr Mühe haben als mit schmutzigen Kleidern, das kann ich euch sagen. Das Zeug wird in alles eindringen, unsere Lungen, unser Blut, unsere Gehirne …«
»So ist das Leben auf dem Mars.« Das war schon ein beliebter Refrain, den man jedes Mal benutzte, wenn man auf ein Problem stieß, besonders, wenn es ein unlösbares war.
An manchen Tagen blieben nach dem Essen noch ein paar Stunden übrig; und die rastlose Nadia ging manchmal wieder nach draußen. Oft verbrachte sie die Zeit damit, dass sie um die Container spazierte, die an diesem Tag zur Basis geschleppt worden waren. Sie brachte allmählich eine persönliche Werkzeugausrüstung zusammen. Sie fühlte sich wie ein Kind im Bonbonladen. Jahre in der sibirischen Kraftwerksindustrie hatten sie gutes Werkzeug schätzen gelehrt. Sie hatte schwer unter dessen Fehlen gelitten. In Nordjakutien war alles auf Permafrost gebaut. Die Plattformen sanken im Sommer ungleichmäßg ein und wurden im Winter vom Eis begraben, und Bauteile waren aus der ganzen Welt gekommen, schwere Maschinen aus der Schweiz und Schweden, Bohrer aus Amerika, Reaktoren aus der Ukraine. Dazu eine Menge altes ausgeschlachtetes sowjetisches Zeug — zum Teil noch gut, zum Teil unsagbarer Schund. Aber das passte alles nicht zusammen — ein Teil war sogar noch in Zoll gemessen —, so dass sie ständig improvisieren mussten. Sie bauten Ölbrunnen aus Eis und Bindfaden, schusterten Kernreaktoren zusammen, gegen die Tschernobyl wie eine Schweizer Uhr aussah. Und jedes jämmerliche Tagewerk wurde mit einer Sammlung von Werkzeug verbracht, über die ein Bastler geweint hätte.
Jetzt konnte sie in dem rubinroten Licht des Sonnenuntergangs herumwandern. Ihre alte Jazz-Sammlung aus dem Stereogerät des Habitats in den Kopfhörern ihres Helmes, während sie in Versorgungskästen herumwühlte und jedes Gerät herauspickte, das sie wollte. Sie trug es zu einem kleinen Raum, den sie sich in einem Lagerhaus beschafft hatte, und pfiff dabei mit King Oliver’s Creole Jazz Band vor sich hin, während sie eine Sammlung bereicherte, die unter anderem folgende Stücke enthielt: einen Satz Allen-Schraubenschlüssel, einige Zangen, eine Bohrmaschine, diverse Klammern, einige Bügelsägen, einen Satz Drehmomentschlüssel, einen Satz kälteverträglicher Behelfslitzen, verschiedene Raspeln und Hobel — einen Satz Gabelschlüssel, ein Rändelgerät, fünf Hämmer, einige Arterienklemmen, drei hydraulische Wagenheber, einen Blasebalg, verschiedene Garnituren Schraubendreher, Bohrer und Beitel, einen tragbaren Zylinder für komprimiertes Gas, eine Kiste mit Plastiksprengstoff und Formladungen, ein Bandmaß, ein gigantisches Schweizer Militärmesser, Blechscheren, Pinzetten, eine Abisolierzange, eine Kreuzhacke, diverse Schlägel, einige Gewindeschneider, Schlauchklammern, einen Satz Stirnfräser, einen Satz Uhrmacherschraubenzieher, ein Vergrößerungsglas, alle Arten von Klebeband, Klempnerwerkzeug, eine Nähgarnitur, Scheren, Siebe, eine Drehbank, Wasserwaagen jeder Größe, Spitzzangen, Spannzwingen, Schneidkluppen, drei Schaufeln, einen Kompressor, einen Generator, eine Schweißeinrichtung, eine Schubkarre …
Und so weiter. Das waren ihre Mechaniker-Ausrüstung und ihr Zimmermannswerkzeug. In anderen Teilen des Lagerhauses häuften sich Forschungs- und Laborgeräte an, geologische Apparate und jede Menge an Computern, Radios, Teleskopen und Videokameras. Und das Biosphärenteam besaß ganze Lagerhäuser, um die Farm einzurichten, die Wasser-Aufbereiter, den Mechanismus für Gasaustausch — eigentlich seine ganze Infrastruktur. Die medizinische Abteilung hatte weitere Lagerhäuser für klinischen Bedarf und Forschungslabors und die Einrichtung für genetische Technik. »Du weißt, was das ist«, sagte Nadia eines Abends zu Sax Russell, der sich in ihren Lagerbeständen umschaute. »Es ist eine ganze Stadt, zerlegt und in Teilen umherliegend.«
»Und sogar eine sehr wohlhabende Stadt. Mit erstklassigen Fakultäten für verschiedene Wissensgebiete.«
»Aber noch in Einzelteilen.«
»Ja. Aber mir gefällt sie so irgendwie.«
Bei Sonnenuntergang war es Vorschrift, in die Habitate zurückzukehren. In der Dämmerung stolperten die Leute dann zur Schleuse und hinein und verzehrten auf den Betten sitzend noch eine kalte Mahlzeit. Dabei horchten sie auf die Gespräche, die sich meistens um die Arbeit des nächsten Tages drehten und die Einteilung der Aufgaben für den nächsten Morgen. Frank und Maya sollten das besorgen, aber in Wirklichkeit geschah das spontan, in einer Art von improvisiertem Austausch. Hiroko war dabei besonders gut. Das war eine Überraschung, wenn man bedachte, wie zurückgezogen sie bei der Ausreise gewesen war. Aber jetzt, wo sie Hilfe von außerhalb ihres Teams brauchte, verbrachte sie den größten Teil des Abends damit, dass sie vom einen zum anderen ging, so zielstrebig und überzeugend, dass sie jeden Morgen gewöhnlich eine ansehnliche Gruppe auf der Farm bei der Arbeit hatte. Nadia konnte das nicht recht verstehen. Sie hatte fünf Jahre lang dehydrierte Kost und Dosenkost gegessen, die ihr zusagte, und sie hatte sich überhaupt kaum je für Nahrung interessiert. Sie hätte ebenso gut Heu essen oder sich wie ein Traktor auftanken können. Aber sie brauchten die Farm, um Bambus zu ziehen, den Nadia als Baumaterial in dem permanenten Habitat benutzen wollte, das sie bald zu errichten hoffte. Alles griff ineinander. Alle ihre Aufgaben fügten sich zusammen und waren gegenseitig notwendig. Als also Hiroko sich neben sie hinsetzte, sagte sie. »Ja ja, um acht da sein. Aber du kannst die permanente Farm nicht einrichten, bevor das Basishabitat fertig ist. Also solltest du mir morgen wirklich helfen, nicht wahr?«
»Nein, nein«, sagte Hiroko lachend. »Aber übermorgen, okay?«
Hirokos größter Konkurrent bei Arbeiterwünschen war Sax Russell und seine Mannschaft, die alle Fabriken auf einmal in Gang setzen wollten. Vlad und Ursula und die biomedizinische Gruppe waren darauf aus, ihre Labors aufzustellen und in Betrieb zu nehmen. Diese drei Teams schienen bereit, unbegrenzte Zeit in den Containern zu leben, so lange nur ihre Projekte vorankamen; aber zum Glück gab es eine Menge Leute, die nicht so sehr von ihrer Arbeit besessen waren, Menschen wie Maya und John und die übrigen Kosmonauten, die daran interessiert waren, so bald wie möglich in größere und besser geschützte Quartiere umzuziehen. Von ihnen würde Nadias Projekt also Unterstützung bekommen.
Wenn Nadia mit Essen fertig war, brachte sie ihre Schüssel in die Küche und säuberte sie mit einem kleinen Putzlappen. Dann setzte sie sich zu Ann Clayborne, Simon Frazer und den anderen Geologen. Ann schien fast zu schlafen. Sie machte vormittags Märsche und lange Fahrten mit dem Rover. Dann arbeitete sie den ganzen Nachmittag schwer, um ihre Exkursionen aufzuarbeiten. Nadia fand sie recht angespannt und weniger erfreut, auf dem Mars zu sein, als sie gedacht hatte. Sie schien unwillig, an den Fabriken oder für Hiroko zu arbeiten. Tatsächlich arbeitete sie meistens für Nadia, von der man, da sie nur Unterkünfte zu bauen versuchte, wohl sagen konnte, dass sie dem Planeten weniger Schaden zufügte als die ehrgeizigeren Teams. Vielleicht war es das, vielleicht auch nicht - Ann sagte es nicht. Sie war schwer zugänglich und launisch — nicht auf die extravagante russische Art Mayas, sondern subtiler und, wie Nadia dachte, in einem mehr düsteren Register.
Um sie herum räumten die Leute nach dem Essen auf und redeten. Sie sahen Listen durch und redeten. Sie drängten sich um Computerterminals und redeten, wuschen Wäsche und reinigten ihre Kleider und redeten, bis die meisten ausgestreckt in ihren Betten lagen und mit gedämpften Stimmen weiterredeten, bis sie einschliefen. »Es ist wie die erste Sekunde des Universums«, bemerkte Sax Russell und rieb sich müde das Gesicht. »Alles zusammengedrängt und keine Differenzierung. Nur ein Haufen heißer Partikel, die umhersausen.«
Und das war bloß ein Tag, und der war wie alle Tage, einer nach dem anderen. Keine nennenswerte Wetteränderung außer einem gelegentlichen Wolkenfetzen oder einem besonders windigen Nachmittag. Hauptsächlich verliefen die Tage alle gleichförmig. Alles dauerte länger als geplant. Allein schon das Anlegen des Schutzanzugs und Verlassen der Habitate war anstrengend. Und dann musste die ganze Ausrüstung erwärmt werden. Und obwohl sie nach gleichmäßigen Standards angefertigt war, brachte die internationale Natur der Geräte es mit sich, dass es unvermeidbar Schwierigkeiten beim Zusammenpassen und Funktionieren gab. Und dann der Staub! (»Nennt es nicht Staub!« beklagte sich Ann. »Das ist so, als wenn man Staub als Kies bezeichnet. Nennt es lieber Grus!«) Der drang in alles ein. Und die ganze körperliche Arbeit in der durchdringenden Kälte war so erschöpfend, dass sie langsamer vorankamen, als sie erwartet hatten. Es gab auch einige kleinere Verletzungen. Und schließlich gab es eine erstaunliche Menge von Arbeiten, von denen ihnen manche völlig neu waren. Zum Beispiel brauchten sie etwa einen Monat (sie hatten mit zehn Tagen gerechnet), nur um alle Frachtcontainer aufzumachen, ihren Inhalt zu prüfen und zu den entsprechenden Vorratslagern zu schaffen — dorthin, wo sie dann wirklich mit der Arbeit beginnen konnten.
Danach konnten sie ernsthaft anfangen zu bauen. Und hier war Nadia in ihrem Element. Auf der Ares hatte sie nichts zu tun gehabt. Das war wie eine Art Winterschlaf für sie gewesen. Aber etwas zu bauen war ihr großes Talent, die Natur ihrer Begabung, geübt in der bitteren Schule Sibiriens. Sehr rasch wurde sie der wichtigste Troubleshooter der Kolonie, das Mädchen für alles, wie John sie nannte. Bei fast jeder Aufgabe hatten sie von ihrer Hilfe profitiert; und wenn sie den ganzen Tag umherrannte, um Fragen zu beantworten und Rat zu erteilen, fühlte sie sich in einem zeitlosen Arbeitsparadies und blühte richtig auf. So viel zu tun! Jeden Abend bei den Planungssitzungen ließ Hiroko ihre Tricks spielen, und die Farm kam voran. Drei parallele Reihen von Gewächshäusern, die wie kommerzielle auf der Erde aussahen, nur kleiner und mit dickeren Wänden, damit sie nicht wie Luftballons explodierten. Selbst bei einem Innendruck von nur 300 Millibar, der kaum für Farmbetrieb taugte, war der Unterschied zur Außenseite drastisch. Eine schlechte Abdichtung oder eine schwache Stelle, und sie würden platzen. Aber Nadia verstand sich gut auf Dichtungen bei kaltem Wetter, und deshalb rief Hiroko sie in Panik jeden zweiten Tag zu Hilfe.
Sodann erforderten die Materialien, welche die Wissenschaftler benötigten, um ihre Fabriken in Gang zu setzen, und die Leute, die den Kernreaktor montierten, ständig ihre Aufsicht. Sie wurden auch nicht von Arkady getröstet, der vom Phobos per Funk hartnäckig erklärte, sie würden keine so gefährliche Technik benötigen und sollten alle erforderliche Energie durch Windgeneratoren erzeugen. Er und Phyllis stritten heftig darüber. Dann war es Hiroko, die Arkady mundtot machte mit dem, was sie als ein japanisches Sprichwort bezeichnete: »Shikata ga nai«, was bedeutete: »Es gibt keine andere Wahl.« Windmühlen hätten genügend Energie erzeugt, wie Arkady behauptete. Aber sie hatten keine. Statt dessen hatte man ihnen einen Rickover-Kernreaktor geliefert, von der Navy gebaut und ein prächtiges Stück. Niemand hatte Lust, sich auf das Risiko eines Windkraftsystems einzulassen. Sie hatten zu große Eile. Shikata na gai. Das wurde bei ihnen zu einer oft wiederholten Redensart.
Und so bat das Bauteam von Tschernobyl (der Name stammte natürlich von Arkady) Nadia, mit ihnen hinauszugehen und die Aufsicht zu übernehmen. Man hatte sie weit in den Osten der Siedlung verbannt, so dass es Sinn machte, mit ihnen einen vollen Tag hinzugehen. Aber dann forderten die Mediziner ihre Hilfe für den Bau einer Klinik und mehrerer Labors darin aus einigen aufgegebenen Frachtbehältern, die sie gerade in Unterkünfte verwandelten. Anstatt also draußen bei Tschernobyl zu bleiben, ging sie dann mittags zum Essen heim und half dem medizinischen Team. Jeden Abend brach sie erschöpft zusammen.
Einige Abende zuvor hatte sie lange Gespräche mit Arkady oben auf Phobos. Dessen Leute hatten Schwierigkeiten mit der Mikrogravitation dieses Mondes, und auch er wollte ihren Rat. Er sagte: »Wenn wir nur etwas g bekommen könnten, nur um zu wohnen und zu schlafen.«
Nadia schlug leicht verstört vor: »Macht aus einem der Tanks der Ares einen Zug und lasst ihn auf Schienen rundherum fahren! Geht an Bord und fahrt so schnell, dass ihr etwas Beschleunigung gegen das Dach des Zuges bekommt!«
Rauschen, dann gackerte Arkady wild los. »Nadezhda Francine, ich liebe dich, ich liebe dich!«
»Du liebst Schwerkraft.«
Bei all dieser Beratertätigkeit ging der Bau ihrer eigenen permanenten Unterkunft recht langsam voran. Nur einmal in der Woche konnte Nadia in einen offenen Mercedes klettern und über den zerwühlten Boden zum Ende des Grabens fahren, den sie angefangen hatte auszuheben. An dieser Stelle war er zehn Meter breit, fünfzig lang und vier tief, was die von ihr gewünschte Tiefe war. Der Boden des Grabens war der gleiche wie an der Oberfläche: Ton, Grus, Steine aller Größe. Regolith. Während sie mit dem Bulldozer arbeitete, kletterten die Geologen in das Loch hinein und heraus, nahmen Proben und sahen sich um, sogar Ann, der es nicht gefiel, wie sie den Boden aufrissen. Aber kein Geologe, der jemals geboren worden war, konnte sich von einem Landaufschluß fernhalten. Nadia lauschte bei ihrer Arbeit deren Gesprächen. Sie meinten, der Regolith wäre so ziemlich der gleiche bis hinab zum Muttergestein. Und das war sehr schade; denn Regolith war nicht das, was sich Nadia als idealen Baugrund vorstellte. Zumindest war sein Wassergehalt niedrig, unter einem Zehntel Prozent, was bedeutete, sie würden unter einem Fundament nicht viel Einbrüche und Wegrutschen erleben, wie es zu den ständigen Alpträumen des Bauens in Sibirien zählte.
Nachdem sie den Regolithboden begradigt hatte, begann sie mit einem Fundament aus Portlandzement, dem besten Beton, den sie mit den verfügbaren Materialien machen konnten. Der würde brechen, falls sie ihn nicht zwei Meter dick gossen. Aber shikata na gai. Die Dicke würde eine gewisse Isolation schaffen. Aber sie müsste den Schlamm in einen Behälter füllen und erwärmen, damit er abbinden könnte. Das würde nicht unter 13 Grad Celsius geschehen, was Heizelemente erforderte … Langsam … alles ging schrecklich langsam.
Sie fuhr den Bulldozer vorwärts, um den Graben zu verlängern. Er biss sich im Boden fest und bockte. Dann machte sich das Gewicht des Dings geltend, und die Schaufel schnitt in den Regolith und pflügte hindurch. »Was für ein Prachtstück!« sagte Nadia zärtlich zu dem Vehikel.
»Nadia hat sich in einen Bulldozer verliebt«, sagte Maya auf ihrer Welle.
Nadia konterte: »Wenigstens weiß ich, in wen ich verliebt bin.« Sie hatte zu viele Abende der letzten Woche draußen im Werkzeugschuppen mit Maya verbracht und zugehört, wie sie über ihre Probleme mit John plapperte, wie sie in vieler Hinsicht mit Frank wirklich besser zurechtkam, wie sie sich nicht entscheiden konnte, was sie fühlte, und dass Frank sie jetzt sicher hasste undsoweiter undsofort. Nadia hatte beim Werkzeugsäubern gesagt da, da, da und sich bemüht, ihr mangelndes Interesse zu verbergen. In Wahrheit war sie der Probleme Mayas überdrüssig und hätte lieber über Baumaterialien oder sonst etwas anderes diskutiert.
Ein Anruf von der Tschernobylgruppe erreichte sie auf dem Bulldozer. »Nadia, wie können wir so dicken Zement in der Kälte zum Abbinden bringen?«
»Erwärmen!«
»Machen wir schon.«
»Stärker erwärmen!«
»Oh!« Nadia meinte, dass sie da draußen schon fast fertig wären. Der Rickover war größtenteils schon vormontiert. Es war jetzt an der Zeit, die Formen zusammenzufügen, den stählernen Umhüllungstank einzupassen, die Rohre mit Wasser zu füllen (wodurch ihr Vorrat auf fast Null sank), alles zu verkabeln, Sandsäcke darum aufzuschichten und die Kontrollstäbe herauszuziehen. Danach würden sie 300 Kilowatt verfügbar haben, was dem Streit darüber ein Ende setzen sollte, wer am nächsten Tag den Löwenanteil an Generatorenergie bekommen könnte.
Es kam ein Anruf von Sax. Einer der Sabattier-Prozessoren war verstopft, und sie konnten das Gehäuse nicht herunterbekommen. Also überließ Nadia die Arbeit mit dem Bulldozer John und Maya und nahm einen Rover zum Fabrikkomplex, um sich die Sache anzusehen. »Ich bin weg, um die Alchemisten zu besuchen«, sagte sie.
»Hast du dir schon einmal bewusst gemacht, wie sehr die Maschinerie hier den Charakter der Industrie ausdrückt, die sie gebaut hat?« bemerkte Sax zu Nadia, als sie ankam und sich bei dem Sabattier ans Werk machte. »Der wurde von Autogesellschaften gebaut, hat geringe Kraft, ist aber zuverlässig: Wenn er von der Flugzeugindustrie gebaut worden wäre, hätte er ungeheure Kraft, würde aber zweimal täglich versagen.«
»Und in Partnerschaft konstruierte Produkte sind fürchterlich«, sagte Nadia.
»Stimmt.«
»Und chemisches Gerät ist heikel«, ergänzte Spencer Jackson.
»Das kann man wohl sagen. Besonders bei diesem Staub.«
Die Luftsammler von Boeing waren nur der Anfang des Fabrikkomplexes gewesen. Deren Gase wurden in große kastenförmige Anhänger gefüllt, um komprimiert und expandiert und dann wieder rekombiniert zu werden mit Hilfe chemisch-technischer Prozesse wie Entfeuchtung, Verflüssigung, fraktionierter Destillation, Elektrolyse, Elektrosynthese, dem Sabattierprozeß, dem Raschigprozeß, dem Oswaldprozeß … Allmählich verfertigten sie immer komplexere Chemikalien, die von einer Fabrik zur nächsten liefen, durch ein Labyrinth von Strukturen, die aussahen wie große Wohnwagen in einem Netz farbiger Tanks und Rohre und Leitungen und Kabel.
Spencers derzeitiges Lieblingsprodukt war Magnesium, das es hier reichlich gab. Sie gewannen fünfundzwanzig Kilo davon aus jedem Kubikmeter Regolith, sagte er. Und es war bei Marsschwere so leicht, dass sich ein großer Barren wie ein Stück Kunststoff anfühlte. Spencer sagte: »In reinem Zustand ist es zu spröde, aber wir legieren es ein bisschen und haben dann ein extrem leichtes und starkes Metall.«
»Martinstahl«, sagte Nadia.
»Noch besser.«
Also Alchemie, aber mit heimtückischen Maschinen. Nadia fand das Problem mit dem Sabattier und ging ans Werk, um eine gebrochene Vakuumpumpe zu reparieren. Es war erstaunlich, wie viel es bei dem Fabrikkomplex auf Pumpen ankam. Manchmal schien er bloß eine wilde Ansammlung davon zu sein. Und die pflegten naturgemäß durch Grus verstopft zu werden und zu versagen.
Zwei Stunden später war der Sabattier repariert. Auf dem Rückweg zum Anhängerpark schaute Nadia in das erste Gewächshaus. Pflanzen standen schon in Blüte, das neue Getreide stieß aus seinem Bett von frischem schwarzen Boden hervor. Grün strahlte heftig in den roten Tönen dieser Welt. Es war eine Freude, das zu sehen. Der Bambus wuchs täglich um mehrere Zentimeter, wie man ihr gesagt hatte, und der Mais stand schon fast fünf Meter hoch. Es war leicht zu sehen, dass sie bald mehr Boden brauchen würden. Drüben bei den Alchemisten benutzten sie Stickstoff von den Boeings, um Stickstoffdünger herzustellen. Hiroko verlangte danach; denn der Regolith war für Ackerbau ein Alptraum, stark salzig, explosiv durch Wasserstoffperoxid, extrem trocken und völlig ohne Biomasse. Sie würden Boden genau so konstruieren müssen, wie sie es bei den Magnesiumbarren gemacht hatten.
Nadia ging in ihr Habitat im Anhängerpark zu einem Lunch im Stehen. Der Boden des Grabens war in ihrer Abwesenheit fast eben gemacht worden. Sie trat an das Ende des Lochs und blickte hinein. Sie würden ein Gebäude hinstellen, das ihr überaus gefiel. Eines, an dem sie selbst in Antarctica und auf der Ares gearbeitet hatte: eine einfache Reihe von Kammern mit gewölbter Decke und gemeinsamen Zwischenwänden. Wenn man die Kammern in den Graben senkte, würden sie zunächst halb eingegraben sein. Nach Fertigstellung wären sie von zehn Metern Regolith in Sandsäcken bedeckt, um Strahlung abzuhalten und auch weil sie einen Druck von 450 Millibar herstellen wollten, um die Bauten vor Explosion zu schützen. Lokales Material war alles, was sie für das Äußere dieser Bauten brauchten. Das waren praktisch Portlandzement und Backsteine, mit Plastikfutter an manchen Stellen, um die Abdichtung zu sichern.
Unglücklicherweise hatten die Backsteinhersteller einige Schwierigkeiten und riefen Nadia an. Deren Geduld war am Ende, und sie stöhnte: »Wir fahren die ganze Strecke zum Mars, und ihr bringt nicht einmal Ziegel zustande?«
Gene sagte: »Es ist nicht so, dass wir keine Backsteine machen könnten. Es ist nur, dass ich sie nicht mag.« Die Ziegelfabrik vermischte Ton und Schwefel, die aus dem Regolith gewonnen wurden; und diese Kombination wurde in Backsteinformen gegossen und gebrannt, bis der Schwefel anfing zu polymerisieren. Nachdem sie abgekühlt waren, wurden die Ziegel in einem anderen Teil der Maschine etwas zusammengepresst. Die resultierenden schwärzlich roten Backsteine hatten eine Dehnfestigkeit, die zum Gebrauch in den Tonnengewölben passte; aber Gene war nicht zufrieden. Er sagte: »Wir wollen uns bei Dächern über unseren Köpfen nicht auf Minimalwerte beschränken. Wie wäre es, wenn wir einen Sandsack zuviel darauf packten oder es ein kleines Marsbeben gäbe? Das gefällt mir nicht.«
Nach einigem Überlegen sagte Nadia: »Tut Nylon hinzu!«
»Was?«
»Zieht los und findet die Fallschirme von den Frachtabwürfen! Zerkleinert sie zu feinen Schnipsel und fügt sie dem Ton zu! Das wird ihre Dehnfestigkeit erhöhen.«
»Sehr wahr«, sagte Gene nach einer Pause. »Eine gute Idee! Glaubst du, dass wir die Fallschirme finden können?«
»Die müssen sich irgendwo östlich von hier befinden.«
So hatten sie endlich für die Geologen eine Beschäftigung gefunden, die den Baubemühungen wirklich half. Ann, Simon, Phyllis und Sasha fuhren mit Langstreckenrovern weit über den östlichen Horizont der Basis hinaus nach Osten. Sie suchten und machten Vermessungen weit hinter Tschernobyl und fanden in der nächsten Woche fast vierzig Fallschirme, von denen jeder ein paar hundert Kilo brauchbaren Nylons darstellte.
Eines Tages kamen sie aufgeregt zurück. Sie hatten Ganges Catena erreicht, eine Reihe von Dolmen in der Ebene etwa hundert Kilometer südöstlich. Igor sagte: »Es war eigenartig, weil man diese Löcher erst im letzten Moment sehen kann, und sie sind wie riesige Trichter, von ungefähr zehn Kilometern Durchmesser und ein paar Kilometer tief, acht oder neun in einer Reihe, jedes folgende kleiner und flacher. Phantastisch! Es sind wahrscheinlich thermische Karstbildungen. Sie sind aber unglaublich groß.«
»Es ist hübsch, nach all diesem Kram mit einem nahen Horizont so weit blicken zu können«, sagte Sasha.
»Ja, es sind Thermokarste«, sagte Ann. Aber sie hatten gebohrt und kein Wasser gefunden. Das begann ein Problem zu werden. Bisher hatte sie noch kein Wasser in nennenswerter Menge im Boden gefunden, ganz gleich, wie tief sie bohrten. Sie waren gezwungen, sich auf das zu beschränken, was die Luftsammler lieferten.
Nadia zuckte die Achseln. Die Luftsammler waren recht schwierig. Und sie musste sich um ihre Gewölbe kümmern. Die neuen verbesserten Backsteine kamen, und sie hatte die Roboter für den Bau der Wände und Dächer gestartet. Die Ziegelei belud kleine Robotwagen, die wie Spielzeugautos über die Ebene zu Kränen auf dem Baugelände rollten. Die Kräne holten Backsteine einzeln heraus und legten sie auf Kaltmörtel, den eine andere Gruppe von Robotern hingetan hatte. Dies System funktionierte so gut, dass bald die Backsteinproduktion zum Engpass wurde. Nadia hätte gern mehr Vertrauen in die Roboter gesetzt. Diese schienen zwar in Ordnung; aber ihre Erfahrungen in den Jahren auf der Navy Mir hatten sie vorsichtig gemacht. Roboter waren großartig, wenn alles perfekt lief; aber nie ging alles perfekt; und es war schwierig, mit Entscheidungsalgorithmen zu programmieren, die sie entweder so vorsichtig machten, dass sie jeden Moment stillstanden oder so unbeherrscht, dass sie unglaubliche Dummheiten anrichten konnten, einen Fehler tausendmal wiederholten und einen kleinen Ausrutscher zu einem kapitalen Fehler machten, wie in Mayas Gefühlsleben. Man erhielt von den Robotern, was man in sie hineinsteckte, aber auch die besten von ihnen waren hirnlose Idioten.
Eines Abends erwischte Maya Nadia in ihrem Werkzeugraum und bat sie, auf einen privaten Kanal umzuschalten. Sie jammerte: »Michel ist nutzlos. Ich habe es wirklich schwer, aber er sieht mich nur an, als ob er mich ablecken wollte. Nadia, du bist der einzige Mensch, dem ich vertraue. Gestern habe ich Frank erzählt, dass ich dachte, John würde versuchen, seine Autorität in Houston zu untergraben, dass er diesen Verdacht aber nicht weitererzählen sollte. Und schon am nächsten Tage fragte mich John, warum ich meinte, dass er etwas gegen Frank hätte. Es gibt niemanden, der bloß zuhört und den Mund hält.«
Nadia nickte und verdrehte die Augen. »Bedaure, Maya, ich muss mit Hiroko über ein Leck sprechen, das sie nicht finden können.« Sie stieß mit ihrer Visierscheibe leicht gegen die Mayas — Symbol für einen Kuss auf die Wange —, schaltete auf die allgemeine Frequenz um und ging weg. Genug war genug. Es war unendlich viel interessanter, mit Hiroko zu sprechen — echte Konversation über reale Probleme in der realen Welt. Hiroko bat Nadia fast jeden Tag um Hilfe, und das gefiel Nadia, weil Hiroko tüchtig war und seit der Landung ihre Wertschätzung von Nadias Fähigkeiten deutlich gestiegen war. Gegenseitiger professioneller Respekt schafft Freundschaften. Und es war so angenehm, nur fachzusimpeln. Hermetische Verschlüsse, Schleusenmechanismen, Wärmetechnik, Glaspolarisation, human/agrare Grenzfragen (Hiroko war dem Gang der Dinge immer ein paar Schritte voraus). Diese Themen waren eine große Erleichterung nach all den emotional geflüsterten Gesprächen mit Maya darüber, wen sie mochte und wen nicht, wie sie über dies und jenes dachte, und wer an diesem Tag mal wieder ihre Gefühle verletzt hatte … Puh! Hiroko war nie wunderlich; außer wenn sie etwas sagte, mit dem Nadia nichts anfangen konnte, wie: »Der Mars wird uns sagen, was er will, und wann wir es werden tun müssen.« Was konnte man zu so etwas sagen? Aber Hiroko zeigte nur ihr großes Lächeln und lachte über Nadias Achselzucken.
Abends lief das Gespräch meist durcheinander, heftig, beflissen, unbewußt. Dmitri und Samantha waren sich sicher, dass sie bald genetisch erzeugte Mikroorganismen in den Regolith einbringen könnten, die überleben würden. Aber sie müssten erst die Genehmigung von den UN bekommen. Nadia fand ihrerseits den Gedanken alarmierend. Die chemische Technik in den Fabriken wirkte dadurch relativ simpel, mehr wie Ziegel herstellen als die gefährlichen Schöpfungsakte, die Samantha vorschlug. Obwohl die Alchemisten auch selbst hübsch kreativ waren. Fast jeden Tag kamen sie zum Anhängerpark mit Proben neuer Materialien: Schwefelsäure, Zement für Gewölbemörtel, Ammoniumnitratsprengstoffe, ein Treibstoff für Geländewagen aus Calcium-Cyanamid, Polysulfidgummi, Hypersäuren auf Siliziumbasis, emulgierende Wirkstoffe, eine Sammlung von Reagenzröhrchen mit Spurenelementen, die aus den Salzen extrahiert worden waren, und in jüngster Zeit klares Glas. Dies war ein großer Erfolg, da frühere Versuche zur Glasherstellung nur schwarzes Glas geliefert hatten. Aber das Kunststück war gelungen, indem man den Silikaten das Eisen entzog. Und so saßen sie eines Abends in dem Anhänger und reichten kleine wellige Stücke von Glas herum, die noch Blasen und Fehlstellen enthielten, wie Glas aus dem siebzehnten Jahrhundert.
Als sie die erste Kammer eingegraben und unter Druck gesetzt hatten, ging Nadia darin ohne Helm herum und schnupperte die Luft. Sie hatte einen Druck von 450 Millibar, den gleichen wie in den Helmen und den Anhängerparks, mit einer Mischung von Sauerstoff, Stickstoff und Argon, und war auf etwa 15 Grad Celsius erwärmt.
Die Kammer war durch einen Boden aus Bambus in zwei Stockwerke geteilt, die in einen Schlitz in der Backsteinwand in zweieinhalb Metern Höhe eingefügt waren. Das halbierte Bambusrohr bildete eine angenehm grüne Decke, die von darunter hängenden Neonlampen erhellt wurde. An einer Wand befand sich eine Treppe aus Magnesium und Bambus, die durch ein Loch in das Obergeschoß führte. Sie stieg hinauf, um sich umzusehen. Bambusscheite bildeten über den Stämmen einen annehmbar ebenen grünen Fußboden. Die Decke war niedrig, gerundet und bestand aus Backsteinen. Dort oben wollte man die Schlaf- und Badezimmer unterbringen. Das Untergeschoß sollte Wohnraum und Küche sein. Maya und Simon hatten schon Wandvorhänge aus dem Nylon der geborgenen Fallschirme angebracht. Es gab keine Fenster. Das Licht kam nur von den Neonröhren. Nadia missfiel das. In dem größeren Habitat, das sie schon plante, würde es in fast jedem Raum Fenster geben. Aber eines nach dem anderen! Vorerst waren diese fensterlosen Räume das beste, was sie machen konnten. Und auf jeden Fall eine große Verbesserung nach dem Anhängerpark.
Als sie die Treppe hinunterging, strich sie mit den Fingern über die Backsteine und den Mörtel. Die waren rau, aber warm anzufassen, geheizt durch dahinter angebrachte Elemente. Auch unter dem Fußboden gab es Heizkörper. Sie zog Schuhe und Socken aus und schwelgte in der Wärme der warmen rohen Backsteine unter ihren Füßen. Es war ein wundervoller Raum und außerdem hübsch, wenn man bedachte, dass sie den ganzen Weg bis zum Mars zurückgelegt und dort Häuser aus Ziegelsteinen und Bambus errichtet hatten. Sie erinnerte sich an Ruinengewölbe, die sie vor Jahren auf Kreta gesehen hatte, an einen Ort namens Aptera. Unterirdische römische Zisternen mit Tonnengewölbe und aus Backstein, in einer Bergflanke versteckt. Die waren fast ebenso groß gewesen wie diese Räume hier. Ihr exakter Zweck war unbekannt. Speicher für Olivenöl, sagten manche, obwohl das eine schreckliche Menge Öl hätte gewesen sein müssen. Jene Gewölbe waren zweitausend Jahre nach ihrem Bau noch intakt, und das in einem Erdbebengebiet. Als Nadia ihre Stiefel wieder anzog, schmunzelte sie bei diesem Gedanken. In zweitausend Jahren würden ihre Nachfahren vielleicht in diese Kammer gehen, ohne Zweifel bis dahin ein Museum, falls sie überhaupt noch existierte — die erste auf dem Mars gebaute menschliche Wohnung! Und es war ihr Werk. Plötzlich fühlte sie die Augen jener Zukunft auf sich ruhen und erschauerte. Sie waren wie Cro-Magnons in einer Höhle und führten ein Leben, das von den Archäologen künftiger Generationen sicher studiert werden würde. Von Leuten wie sie, die immer wieder staunen und nie ganz begreifen würden.
Es verging mehr Zeit, und mehr Arbeit wurde geleistet. Für Nadia verschwamm das irgendwie. Sie war immer beschäftigt. Die innere Ausstattung der gewölbten Kammern war schwierig, und die Roboter konnten nicht viel helfen bei Installation, Heizung, Gasaustausch, Schleusen und Küchen. Nadias Team hatte alles Inventar und Werkzeug und konnte in Hosen und kurzärmligen Hemden arbeiten; aber es erforderte doch erstaunlich viel Zeit. Arbeit, Arbeit, Arbeit — Tag um Tag!
Eines Abends, kurz vor Sonnenuntergang, schleppte sich Nadia über aufgewühlten Dreck zum Anhängerpark. Sie fühlte sich hungrig und zerschlagen und höchst entspannt, völlig behaglich. Nicht, dass sie am Ende eines Tages nicht vorsichtig hätte sein müssen. Sie hatte sich durch Unachtsamkeit am Vorabend ein Loch in den Rücken eines Handschuhs gerissen, und die Kälte war gar nicht so schlimm gewesen, etwa minus 50 Grad Celsius, nichts im Vergleich mit manchen Wintertagen in Sibirien; aber der geringe Luftdruck hatte sofort Blut aus einer Verletzung gesogen, das dann angefangen hatte zu gefrieren, wodurch die Wunde ohne Zweifel kleiner wurde, aber auch langsamer verheilen würde. Jedenfalls musste man aufpassen; aber ermüdete Muskeln am Ende eines Arbeitstages wirkten irgendwie entspannend. Dazu kam das niedrigfarbene Sonnenlicht über der Ebene; und mit einemmal fühlte sie, dass sie glücklich war. In diesem Moment rief Arkady von Phobos aus an, und sie begrüßte ihn heiter. »Ich fühle mich genau so wie Louis Armstrong solo 1947.«
»Warum 1947?« fragte er.
»Nun, das war das Jahr, in dem er am glücklichsten geklungen hat. Während der meisten Zeit seines Lebens hatte sein Ton eine scharfe Note, wirklich schön; aber 1947 war er noch schöner, weil er diese lässige fließende Freude ausstrahlte, die man bei ihm nie zuvor oder später vernommen hat.«
»Also ein gutes Jahr für ihn, nehme ich an?«
»O ja! Ein erstaunliches Jahr! Schau, nach zwanzig Jahren schrecklicher Big Bands kam er wieder auf eine kleine Gruppe zurück wie die Hot Five. Das war die Gruppe, die er in seiner Jugend geleitet hatte. Und da war es nun wieder — die alten Songs, sogar einige der alten Gesichter. Und alles besser als beim ersten Mal. Die Aufzeichnungstechnik, das Geld, das Publikum, seine eigene Power … Es muss wie ein Jungbrunnen gewirkt haben, sage ich dir.«
Arkady sagte: »Du wirst mir einige Aufzeichnungen schicken müssen.« Er versuchte zu singen: »I cant give you anything but love, baby!« Phobos stand gerade am Horizont, und er hatte sich nur noch verabschieden können. Ehe er verschwand, sagte er: »Das ist also dein Jahr 1947.«
Nadia räumte ihr Werkzeug fort und sang das Lied korrekt. Und sie verstand, dass das, was Arkady gesagt hatte, stimmte. Mit ihr war etwas so Ähnliches geschehen wie bei Armstrong 1947 — denn trotz der miserablen Verhältnisse waren ihre Jugendjahre in Sibirien wirklich ihre glücklichsten gewesen. Und danach hatte sie zwanzig Jahre Big-Band-Kosmonautik ertragen müssen, bestimmt von Bürokratie und Simulationen, ein Leben in geschlossenen Räumen — das alles, um jetzt hier zu sein. Und nun war sie plötzlich wieder im Freien, baute mit ihren Händen Dinge und ging mit schweren Maschinen um. Sie löste täglich an die hundert Probleme, genau wie in Sibirien, nur besser. Es war genau wie Satchmos Wiederkehr!
Als dann Hiroko auftauchte und sagte: »Nadia, dieser Gabelschlüssel ist in dieser Stellung total festgefroren«, sang Nadia ihr vor: »That’s the only thing I’m thinking of baby!« und stemmte ihn gegen einen Tisch wie einen Hammer. Dann drehte sie die Scheibe, um Hiroko zu zeigen, dass er nicht festsaß, und lachte über ihre Miene. »Die technische Lösung«, erklärte sie und ging summend in ihre Schleuse mit dem Gedanken, wie drollig Hiroko war, eine Frau, die ihr ganzes Ökosystem im Kopf hatte, aber keinen Nagel gerade einschlagen konnte.
Und an diesem Abend sprach sie mit Sax über die Arbeit des Tages und mit Spencer über Glas; und mitten drin dabei fiel sie auf ihre Pritsche und kuschelte den Kopf ins Kissen. Sie fühlte sich ganz großartig, und der strahlende Schlußchor von ›Ain’t Misbehauin‹ geleitete sie in den Schlaf.
Aber im Laufe der Zeit ändern sich die Dinge. Nichts dauert, nicht einmal Stein, nicht einmal Glück. Eines Abends sagte Phyllis: »Ist dir klar, dass es schon Ls 170 ist? Sind wir bei Ls 7 gelandet?«
Also waren sie seit einem halben Jahr auf dem Mars. Phyllis benutzte den von Planetenforschern entworfenen Kalender, der unter den Kolonisten gebräuchlicher wurde als das System der Erde. Das Jahr dauerte auf dem Mars 668,6 Tage Ortszeit; und um zu sagen, wo sie sich in diesem langen Jahr befanden, diente der Ls-Kalender. Dieses System erklärte die Linie zwischen Sonne und Mars bei dessen Frühlings-Tagundnachtgleiche als 0°; und dann wurde das Jahr in 360 Grade geteilt, so dass der Nordfrühling von Ls = 0°-90° ging, 90°-180° der nördliche Sommer, 180°-270° der Nordherbst und 270°-360° — oder wieder 0° — der Winter auf der nördlichen Hemisphäre.
Diese einfache Situation wurde kompliziert durch die Exzentrizität der Marsbahn, die nach irdischen Begriffen sehr groß ist; denn im Perihel ist der Mars der Sonne um etwa dreiundvierzig Millionen Kilometer näher als im Aphel und bekommt so etwa fünfundvierzig Prozent mehr Sonnenlicht. Diese Fluktuation macht die südlichen und nördlichen Jahreszeiten sehr ungleich. Das Perihel tritt alljährlich bei Ls = 250° ein, spät im Südfrühling. Darum sind im Süden Frühling und Sommer viel wärmer als im Norden, mit um dreißig Grad höheren Spitzentemperaturen. Im Süden sind allerdings Herbst und Winter kälter, da sie in Nähe des Aphels eintreten — so viel kälter, dass die südliche Polkappe größtenteils aus Kohlendioxid besteht, die nördliche dagegen zumeist aus Wassereis.
669 ganze Marstage m 1 Marsjahr
24 Monate =
21 Monate mit 28 Tagen
3 Monate (jeder achte) mit 27 Tagen
Also ist der Süden die Hemisphäre der Extreme, der Norden dagegen gemäßigter. Und die Bahnexzentrizität bewirkt noch einen anderen merklichen Unterschied. Da die Planeten sich um so schneller in ihren Bahnen bewegen, je näher sie der Sonne sind, sind die Jahreszeiten in Nähe des Perihels kürzer als in Nähe des Aphels. Auf dem Mars dauert der Herbst im Norden 143 Tage, der nördliche Frühling aber 194, also 51 Tage länger als der Herbst! Manche meinten, dies alleine mache es wert, sich im Norden anzusiedeln.
Auf jeden Fall befanden sie sich im Norden; und der Sommer war gekommen. Die Tage wurden jeden Tag ein bisschen länger, und die Arbeit ging weiter. Das Gelände um die Basis wurde immer zerwühlter und kreuz und quer von Fahrrinnen durchzogen. Sie hatten eine Zementstraße nach Tschernobyl, und die Basis selbst war jetzt so groß, dass sie sich nach allen Richtungen über den Horizont erstreckte. Das Alchemistenviertel und die Straße nach Tschernobyl im Osten, die Dauersiedlung im Norden, das Lager und die Farm in Westen und das biomedizinische Zentrum im Süden.
Schließlich zogen alle in die fertigen Räume der Dauersiedlung um. Die abendlichen Besprechungen waren dort kürzer und routinierter als früher im Anhängerpark. Es vergingen Tage, in denen Nadia keine Hilferufe bekam. Es gab Leute, die sie nur selten zu sehen bekam. Die Biomediziner in ihren Labors, die Schürfgruppe von Phyllis und sogar Ann. Eines Abends haute Ann sich auf ihr Bett neben dem von Nadia und lud sie zu einer Expedition nach Hebes Chasma ein, etwa 130 Kilometer im Südwesten. Offenbar wollte Ann ihr etwas außerhalb des Basisgebietes zeigen; aber Nadia lehnte ab. »Weißt du, ich habe zuviel zu tun.« Und als sie Anns Enttäuschung sah. »Vielleicht beim nächsten Ausflug.«
Und dann ging es wieder an die Arbeit mit dem Innern der Räume und dem Äußeren eines neuen Flügels. Arkady hatte vorgeschlagen, die Räume in einem Quadrat anzuordnen, und Nadia war damit beschäftigt. Wie Arkady erklärte, wäre es dann möglich, das von dem Quadrat umschlossene Areal zu überdachen. Nadia sagte: »Da werden wir diese Magnesiumbalken gut brauchen können. Wenn wir nur stärkere Glasscheiben machen könnten …«
Sie hatten zwei Seiten des Quadrates fertig gestellt und zwölf Räume ganz hergerichtet, als Ann und ihr Team von Hebes zurückkamen. Alle verbrachten den Abend damit, ihre Videobänder anzuschauen. Diese zeigten, wie die Rover der Expedition über steinige Ebenen rollten. Dann erschien vorn ein Riss, der den ganzen Bildschirm ausfüllte, als ob sie sich dem Ende der Welt näherten. Schließlich zwangen seltsame kleine meterhohe Klippen die Rover zum Halten, und die Bilder machten einen Sprung, als ein Kundschafter ausstieg und mit laufender Helmkamera losging.
Dann kam abrupt das Panoramabild einer Schlucht, die um so viel größer war als die Senken von Ganges Catena, dass es kaum zu fassen war. Die Wände der gegenüberliegenden Seite des Canyons waren an dem entfernten Horizont knapp sichtbar. Man konnte rundum Wände sehen; denn Hebes war ein fast geschlossener Schlund, eine eingetiefte Ellipse von ungefähr zweihundert Kilometern Länge und hundert Breite. Anns Gruppe hatte den Nordrand am späten Nachmittag erreicht, und die östliche Krümmung der Wand war deutlich sichtbar, von Sonnenlicht übergossen. Nach Westen zu war die Wand nur eine niedrige dunkle Markierung. Der Boden der Senke war im allgemeinen eben, mit einer zentralen Vertiefung. Ann sagte: »Wenn man eine Kuppel über dem Chasma schweben lassen könnte, hätte man ein großes geschlossenes Gebiet.«
»Du sprichst von Zauberkuppeln, Ann«, sagte Sax. »Das sind ungefähr zehntausend Quadratkilometer.«
»Nun ja, das gäbe eine schöne große Einfriedung. Und dann könnte man den Rest des Planeten sich selbst überlassen.«
»Das Gewicht einer Kuppel würde die Wände des Canyons zum Einsturz bringen.«
»Darum habe ich gesagt, man müsste sie schweben lassen.«
Sax schüttelte bloß den Kopf.
»Das ist nicht ausgefallener als der Weltraumlift, von dem du sprichst.«
»Ich möchte in einem Haus wohnen — gerade dort, wo du dies Video gemacht hast«, warf Nadia ein. »Was für eine Aussicht!«
Ann sagte ärgerlich: »Warte nur, bis du auf einen der Tharsis-Vulkane kommst. Da wirst du eine Aussicht haben!«
Es gab jetzt dauernd solche kleinen Wortwechsel. Das erinnerte Nadia unangenehm an die letzten Monate auf der Ares. Ein anderes Beispiel: Arkady und seine Crew sendeten Videos von Phobos herunter, wozu er bemerkte: »Der Sidney-Aufprall hat diesen Stein fast in Stücke gebrochen, und er ist chondritisch, fast zwanzig Prozent Wasser. Darum ist eine Menge Wasser bei dem Stoß ausgegast, hat das Bruchsystem gefüllt und ist zu einem ganzen System von Eis-Adern gefroren.« Eine faszinierende Sache, aber sie verursachte nur eine Diskussion zwischen Ann und Phyllis, ihren beiden Spitzengeologinnen, ob dies die richtige Erklärung für das Eis wäre. Phyllis schlug sogar vor, Wasser von Phobos herunterzuschicken, was verrückt war, selbst wenn ihre Bestände klein waren und der Bedarf wuchs. Tschernobyl brauchte eine Menge Wasser, und die Farmer wollten in ihrer Biosphäre einen kleinen Sumpf einrichten, und Nadia wollte in einer der überwölbten Kammern einen Schwimmkomplex installieren, einschließlich eines Planschbeckens, dreier Strudelbäder und einer Sauna. Jeden Abend fragte Nadia, wie es damit voranginge; denn alle waren es satt, sich mit Schwämmen zu waschen und trotzdem staubig zu bleiben und niemals richtig warm zu werden. Sie wollten ein Bad — in ihren alten delphinischen, von Wasser geprägten Gehirnen unterhalb des Großhirns, wo die Wünsche urtümlich und stürmisch waren, zog es sie zurück ins Wasser.
Sie brauchten also mehr Wasser. Aber die seismischen Sondierungen lieferten keinen Hinweis auf Eisschichten unter der Oberfläche, und Ann meinte, es gäbe keine in dieser Region. Sie mussten sich weiter auf die Luftsammler verlassen oder Regolith zusammenkratzen und in die Boden-Wasser-Destilieranlagen füllen. Aber Nadia mochte die Destillerien nicht überbeanspruchen, weil sie von einem französisch-ungarisch-chinesischen Konsortium gebaut waren und sicher versagen würden, wenn man sie zu stark belastete.
Aber so war das Leben auf dem Mars. Er war eine trockene Welt. Shikata ga nai.
»Es gibt immer Möglichkeiten«, sagte Phyllis dazu. Darum hatte sie auch vorgeschlagen, Landevehikel mit Eis von Phobos zu beladen und herunterzubringen. Aber Ann hielt das für eine lächerliche Verschwendung von Energie. Und dann redete man nicht mehr darüber.
Für Nadia war das besonders unangenehm, da sie so guter Dinge war. Sie sah keinen Grund zu Zank, und es störte sie, dass die anderen nicht genau so empfanden. Warum schwankte die Dynamik einer Gruppe so? Sie waren hier auf dem Mars, wo die Jahreszeiten doppelt so lang waren wie auf der Erde und jeder Tag vierzig Minuten länger dauerte. Warum konnten die Leute sich nicht entspannen? Nadia merkte, dass etwas getan werden musste, obwohl sie immer geschäftig war. Und die zusätzlichen neununddreißigeinhalb Minuten pro Tag waren wahrscheinlich der wichtigste Beitrag zu diesem Gefühl. Die den Tag umspannenden Biorhythmen der Menschen hatten sich im Laufe von Jahrmillionen der Evolution eingeprägt. Und jetzt hatten sie plötzlich zusätzliche Minuten von Tag und Nacht, alltäglich und allnächtlich. Das hatte bestimmt Wirkungen. Nadia war sich dessen sicher; denn trotz des hektischen Tempos jedes Arbeitstages und der tiefen Erschöpfung, in die sie jeden Abend verfiel, wachte sie immer ausgeruht auf. Diese seltsame Pause auf den Digitaluhren, wenn um Mitternacht die Ziffern 24.00.00 zeigten und dann jäh anhielten und die unmarkierte Zeit verstrich — immer weiter — was manchmal sehr lange zu dauern schien. Und dann sprangen die Ziffern auf 00.00.01 und fingen wieder unvermeidlich an, wie gewohnt weiterzuspringen. Nun, der Zeitrutsch auf dem Mars war etwas ganz Besonderes. Oft verschlief Nadia ihn, wie auch die meisten anderen. Aber Hiroko hatte eine Melodie, die sie dann sang, wenn sie wach war; und sie und das Farmteam und viele andere verbrachten jeden Samstag Abend mit einer Party und diesem Gesang während des Zeitrutsches. Es war irgend etwas Japanisches. Nadia erfuhr nie, was, obwohl sie es bisweilen vor sich hin summte, wenn sie da saß und sich an dem Gewölbe und ihren Freundinnen ergötzte.
Aber eines Abends, als sie wieder da saß und döste, kam Maya herüber und lehnte sich an ihre Schulter, um zu plaudern. Maya, mit ihrem schönen Gesicht, immer sehr elegant, selbst in ihren alltäglichen Pullovern, sah bestürzt aus. »Nadia, du musst mir einen Gefallen tun, bitte, bitte!«
»Was denn?«
»Du musst Frank etwas sagen.«
»Warum tust du das nicht selbst?«
»John darf uns nicht miteinander sprechen sehen. Ich muss ihm eine Nachricht zukommen lassen; und bitte, Nadezhda Francine, du bist meine einzige Möglichkeit.«
Nadia knurrte missmutig.
»Bitte!«
Es war erstaunlich, wie viel lieber Nadia mit Ann oder Samantha oder Arkady gesprochen hätte. Wenn Arkady nur von Phobos herunterkommen würde!
Aber Maya war ihre Freundin. Und ihre verzweifelte Miene … — Nadia konnte nicht widerstehen. »Was für eine Mitteilung?«
»Sag ihm, dass ich ihn heute Abend im Lagerbereich treffen will!« sagte Maya energisch. »Um Mitternacht.
Um zu reden.«
Nadia stöhnte. Aber später ging sie zu Frank und überbrachte ihm die Botschaft. Er nickte, ohne sie anzusehen, verlegen, mürrisch, unglücklich.
Dann säuberten Nadia und Maya zusammen den Backsteinboden der letzten unter Druck zu setzenden Kammer; und Nadias Neugier siegte. Sie brach ihr übliches Schweigen über dieses Thema und fragte Maya, was los wäre. Maya sagte kläglich: »Nun, es geht um John und Frank. Sie sind sehr eifersüchtig aufeinander. Sie sind wie Brüder, ja, aber unterschwellig ist da große Eifersucht, vor allem bei Frank. John ist zuerst zum Mars gegangen und hat dann die Erlaubnis erhalten, noch einmal zu gehen. Frank findet das unfair. Frank hat in Washington schwer gearbeitet, um die Kolonie zu fördern und denkt, dass John immer Nutzen von seiner Arbeit gehabt hat. Und jetzt, John und ich verstehen einander gut. Ich mag ihn. Mit ihm ist es leicht. Leicht, aber vielleicht ein wenig … Ich weiß nicht. Nicht langweilig. Aber auch nicht aufregend. Er geht gern umher und treibt sich mit der Farmcrew herum. Er spricht nicht viel. Aber Frank und ich, wir könnten für immer miteinander reden. Vielleicht für immer uns streiten, aber wenigstens sprechen wir! Und du weißt, wir hatten eine ganz kurze Affäre auf der Ares damals zu Anfang. Und das hat nichts erbracht, aber er denkt immer noch, dass es das könnte.«
Warum würde er das denken? fragte sich Nadia.
»Also will er mich dauernd überreden, John zu verlassen und mit ihm zusammen zu sein. Und John argwöhnt das. Darum gibt es zwischen ihnen große Eifersucht. Ich versuche nur zu verhindern, dass sie einander an die Gurgel gehen. Das ist alles.«
Nadia hatte sich entschieden, bei ihrem Vorsatz zu bleiben und nicht wieder danach zu fragen. Aber jetzt war sie wider Willen darin verwickelt. Maya kam zu ihr, um zu reden und sie zu bitten, für sie Frank Mitteilungen zu überbringen. »Ich bin keine Mittelsperson!« protestierte Nadia ständig, tat es aber dennoch weiter. Und ein paar Mal wurde sie dabei in lange Gespräche mit Frank verwickelt, natürlich über Maya. Wer sie wäre, wie sie wäre, warum sie so gehandelt hätte. Nadia sagte ihm: »Schau, ich kann nicht für Maya sprechen. Ich weiß nicht, warum sie das tut, was sie tut. Du musst sie selbst fragen. Aber ich kann dir sagen, sie kommt aus der alten Moskauer sowjetischen Kultur, Universität und Kommunistischen Partei seitens ihrer Mutter und Großmutter. Und für Mayas Babushka waren Männer die Feinde und auch für ihre Mutter. Es war eine Matrioshhi. Mayas Mutter pflegte ihr zu sagen: ›Frauen sind die Wurzeln, Männer sind bloß die Blätter.‹ Das war eine Kultur von Misstrauen, Manipulation und Furcht. Das ist es, woher Maya kommt. Und zu gleicher Zeit haben wir diese Tradition von amicochonstvo, einer Art intensiver Freundschaft, wo man die winzigsten Details aus dem Leben seines Freundes — oder seiner Freundin — erfährt, wo man gewissermaßen in das Leben der anderen Person eindringt. Und das ist natürlich unmöglich und muss enden — meistens schlecht.«
Frank nickte zu dieser Darstellung. Er erkannte etwas in ihr. Nadia seufzte und fuhr fort: »Das sind die Freundschaften, die zu Liebe führen; und dann erfährt die Liebe die gleiche Art von Schwierigkeiten, nur vergrößert, besonders mit all der Furcht, die ihr zugrunde liegt.«
Und Frank, groß, dunkel und irgendwie hübsch, von Energie strotzend, mit seinem inneren Dynamo rotierend, der amerikanische Politiker, jetzt von einer neurotischen russischen Schönheit um die Finger gewickelt — Frank nickte ergeben und dankte ihr mit enttäuschtem Gesicht, so gut er konnte.
Nadia tat ihr Bestes, um all das zu ignorieren. Aber anscheinend war auch alles andere problematisch geworden. Vlad hatte es nie gefallen, wie viel Zeit sie bei Tage auf der Oberfläche verbrachten. Er sagte: »Wir sollten die größte Zeit unter dem Hügel bleiben und auch alle Labors eingraben. Die Außenarbeiten sollten auf eine Stunde am frühen Morgen und eine zweite am späten Nachmittag beschränkt werden, wenn die Sonne tief steht.«
»Ich denke nicht daran, den ganzen Tag drinnen zu bleiben«, beschied ihm Ann. Viele pflichteten ihr bei.
Frank erklärte: »Wir haben eine Menge Arbeit zu tun.«
»Aber das meiste davon könnte durch Fernsteuerung erledigt werden«, sagte Vlad. »Und das sollte es auch. Was wir tun, ist nämlich etwa so, als würden wir uns zehn Kilometer von einer Atomexplosion entfernt aufhalten.«
»So?« fragte Ann. »Soldaten haben das getan …«
»… alle sechs Monate«, schloss Vlad und starrte sie an. »Würdest du das tun?«
Sogar Ann machte ein besorgtes Gesicht. Keine Ozonschicht, kein nennenswertes Magnetfeld. Sie wurden von Strahlung fast so schlimm geröstet, als wären sie im interplanetaren Raum, mit einer Rate von 10 Rem jährlich.
Und so ordneten Frank und Maya an, dass sie ihre Zeit im Freien rationieren sollten. Es gab unter dem Hügel eine Menge Innenarbeit zu tun, um die letzte Reihe von Kammern fertig zu stellen. Und es war möglich, unter den Gewölben einige Keller zu graben, um mehr strahlungsgeschützten Raum zu schaffen. Und viele Traktoren waren darauf eingerichtet, von Stationen im Innern ferngesteuert zu werden. Ihre Entscheidungsalgorithmen erledigten die Details, während die menschlichen Maschinisten unten Bildschirme beobachteten. Es ließe sich also machen. Aber niemand gefiel das daraus sich ergebende Leben. Sogar Sax Russell, dem es recht war, den größten Teil der Zeit drinnen zu verbringen, sah etwas verwirrt aus. An den Abenden fingen einige Leute an, sich für sofortige Bemühungen um ein Terraformen auszusprechen, und vertraten die Sache mit wachsender Intensität.
Frank entgegnete ihnen scharf: »Diese Entscheidung liegt nicht bei uns, sondern bei den UN. Außerdem ist es eine langfristige Lösung, bestenfalls nach Jahrhunderten zu bemessen. Vergeudet keine Zeit, indem ihr darüber sprecht!«
»Das ist alles wahr«, erwiderte Ann, »aber ich will meine Zeit nicht hier unten in diesen Höhlen verbringen. Wir sollten unser Leben so leben, wie wir es wollen. Wir sind zu alt, um uns wegen Strahlung Sorgen zu machen.«
Weitere Diskussionen, die bei Maya den Eindruck erweckten, als wäre sie von dem guten soliden Gestein ihres Planeten wieder in die angespannte schwerelose Realität der Ares zurückversetzt worden. Nörgeleien, Beschwerden, Gezänk — bis die Leute davon genug hatten oder müde wurden und schlafen gingen. Nadia machte sich zur Angewohnheit, den Raum zu verlassen, sobald das losging. Sie sah Hiroko an und wartete auf eine Chance, etwas Konkretes zu diskutieren. Aber es war schwer, diesen Themen auszuweichen und aufzuhören, daran zu denken.
Dann kam eines Abends Maya weinend zu ihr. In der Dauersiedlung gab es Platz für private Gespräche, und Nadia ging mit ihr hinunter in die nordöstliche Ecke der Gewölbe, wo man noch am Inneren arbeitete. Dort setzten sie sich dicht nebeneinander. Sie fröstelte und hörte ihr zu und legte ab und zu einen Arm um sie und drückte sie an sich. »Schau«, sagte Nadja zu ihr, »warum entscheidest du dich nicht einfach? Warum hörst du nicht auf, den einen gegen den anderen auszuspielen?«
»Aber ich habe mich entschieden! John ist es, den ich liebe. John ist es immer gewesen. Aber jetzt hat er mich mit Frank gesehen und denkt, dass ich ihn betrogen hätte. Das ist wirklich engstirnig von ihm! Sie sind wie Brüder, sie sind Rivalen in jeder Hinsicht; und diesmal ist es bloß ein Irrtum!«
Nadia hatte keine Lust, die Details anzuhören. Sie saß da und lauschte irgendwie.
Und dann stand John vor ihnen beiden. Nadia stand auf, um fortzugehen, aber er schien es nicht zu bemerken. Er sagte zu Maya: »Schau, es tut mir leid, aber ich kann mir nicht helfen. Es ist vorbei.«
»Es ist nicht vorbei«, entgegnete Maya, sofort gefasst. »Ich liebe dich.«
John lächelte traurig. »Ja. Und ich liebe dich. Aber ich will klare Verhältnisse.«
»Sie sind klar.«
»Nein, das sind sie nicht. Ich meine, du kannst gleichzeitig in mehr als eine Person verliebt sein. Das kann ein jeder. So ist es eben. Aber du kannst nur einem treu sein. Und ich … ich will treu sein. Aber einer Person, die mir treu ist. Das meine ich mit klaren Verhältnissen, aber …«
Er schüttelte den Kopf. Er konnte den Ausdruck nicht finden. Er ging zurück in die östliche Reihe von Kammern und verschwand durch eine Tür.
»Amerikaner«, sagte Maya giftig. »Schreckliche Kinder!« Dann ging sie hinter ihm durch die Tür.
Sie kam aber bald zurück. Er hatte sich zu einer Gruppe in einem der Gesellschaftsräume zurückgezogen und wollte die nicht verlassen. »Ich bin erschöpft«, versuchte Nadia sie abzuwimmeln, aber Maya wollte das nicht hören. Sie wurde immer erregter. Sie diskutierten unentwegt eine Stunde lang darüber. Nadia ging mürrisch durch die Räume, ohne die Backsteine und bunten Nylonvorhänge zu beachten. Die Mittelsperson, welche niemand bemerkte. Könnte man nicht Roboter dafür einsetzen? Sie fand John, der sich dafür entschuldigte, dass er sie vorher ignoriert hatte. »Ich war aufgeregt. Es tut mir leid. Ich dachte, du würdest es sowieso zu hören bekommen.«
Nadia zuckte die Achseln. »Kein Problem. Aber schau, du wirst mit ihr sprechen müssen. So ist das mit Maya. Wir reden, reden und reden. Wenn du eine Beziehung eingehen willst, musst du dauernd reden. Andernfalls wird es für dich auf lange Sicht schlimmer sein, glaub mir!«
Das kam bei ihm an. Ernüchtert machte er sich auf, um Maya zu finden. Nadia ging zu Bett.
Am nächsten Tage arbeitete sie draußen auf einem Aushubgerät. Es war der dritte Job dieses Tages, und der zweite hatte Schwierigkeiten gemacht. Samantha hatte versucht, während einer Drehung eine Ladung auf die Schaufel zu heben, und das Ding war vornüber gekippt und hatte die Stangen der Schaufelblätter aus ihren Lagern gerissen und hydraulische Flüssigkeit über den Boden vergossen, wo sie gefror, noch ehe sie sich ausbreiten konnte. Sie mussten Wagenheber unter das in der Luft schwebende Ende des Traktors schieben, dann den ganzen Schaufelansatz loskuppeln und das Vehikel auf die Heber heruntersenken. Jeder Schritt dieser Operation war eine Tortur gewesen.
Sobald das erledigt war, wurde Nadia zu Hilfe bei einer Sandvik-Tubex-Bohrmaschine gerufen, mit der sie verschalte Löcher durch große Felsblöcke bohrten, die beim Bau einer Wasserleitung von den Alchemisten zur Wohnsiedlung im Wege waren. Der pneumatische Hammer war offenbar voll ausgestreckt eingefroren und steckte fest wie ein Pfeil, der größtenteils durch einen Baumstamm gejagt wurde. Nadja sah sich den Hammerstiel an. Spencer fragte: »Hast du irgendwelche Vorschläge, wie man den Hammer freibekommen kann, ohne ihn zu zerbrechen?«
»Ihr müsst den Stein zertrümmern«, sagte Nadia müde. Sie ging los und brachte einen Traktor her, an dem schon eine Ramme befestigt war. Sie führte ihn über den Felsblock und wollte einen kleinen hydraulischen Stoßhammer an der Ramme befestigen, als der Hammer plötzlich den Bohrer zurückstieß, den Stein mitnahm und die Außenseite ihrer linken Hand gegen die Unterseite der Ramme quetschte.
Sie fuhr instinktiv zurück. Schmerzen zogen ihren Arm hoch in die Brust. Die linke Seite ihres Körpers brannte wie Feuer, und sie konnte nichts mehr sehen. In ihre Ohren drangen Rufe. »Was fehlt? Was ist passiert?« Sie krächzte: »Hilfe!« Sie saß da, ihre gequetschte linke Hand noch zwischen Stein und Hammer eingeklemmt. Sie drückte mit dem Fuß gegen das Vorderrad des Traktors, schob mit aller Kraft und fühlte, wie der Hammer ihre Knochen über Gestein zerrte. Dann flog sie mit freier Hand auf den Rücken. Der Schmerz war betäubend. Ihr war übel, und sie meinte, ohnmächtig zu werden. Sie drückte sich mit der unverletzten Hand auf die Knie und sah, dass die verletzte Hand blutete. Der Handschuh war zerrissen und der kleine Finger offenbar verschwunden. Sie stöhnte, beugte sich vor, presste die Hand an sich und danach auf den Boden, ohne sich um den stechenden Schmerz zu kümmern. Auch wenn die Hand blutete, müsste sie einfrieren. Wie lange würde das dauern? »Friere endlich, verdammt!« schrie sie. Sie schüttelte sich Tränen aus den Augen und zwang sich hinzuschauen. Überall dampfendes Blut. Sie schob die Hand so fest in den Boden, wie sie es aushalten konnte. Sie schmerzte schon weniger. Bald würde sie taub sein. Sie würde aufpassen müssen, dass nicht die ganze Hand erfror! Erschrocken wollte sie sie wieder in ihren Schoß ziehen. Dann waren Leute da, hoben sie hoch, und sie verlor das Bewusstsein.
Danach war sie verstümmelt. Nadia-mit-den-neun-Fingern, nannte Arkady sie am Telefon. Er schickte ihr Zeilen von Jewtuschenko, die er zur Trauer um den Tod von Louis Armstrong geschrieben hatte: »Mach weiter so, wie du es in der Vergangenheit getan hast, und spiele.«
»Wo hast du das gefunden!« fragte ihn Nadia. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du Jewtuschenko liest.«
»Doch, natürlich lese ich ihn. Das ist besser als Mc-Gonagall! Nein, das war in einem Buch über Armstrong. Ich habe deinen Rat befolgt und ihm bei unserer Arbeit gelauscht und kürzlich abends einige Bücher über ihn gelesen.«
»Ich wünschte mir, du könntest hier herunterkommen«, sagte Nadia.
Vlad hatte die chirurgische Arbeit geleistet. Er sagte ihr, es würde alles gut werden. »Es hat dich sauber erwischt. Der Ringfinger ist etwas geschädigt und wird wahrscheinlich so funktionieren wie früher der kleine Finger. Aber Ringfinger werden ohnehin nicht sehr beschäftigt. Die zwei wichtigsten Finger werden so kräftig sein wie eh und je.«
Jedermann kam zu Besuch. Nichtsdestoweniger sprach sie mit Arkady mehr als mit jemandem sonst, wenn sie in der Nacht allein war, in den viereinhalb Stunden, in denen Phobos von West nach Ost über den Himmel zog. Er rief zuerst fast jede Nacht an und später noch öfter.
Recht bald war sie wieder auf und unterwegs, die Hand in einem Gipsverband, der verdächtig leicht war. Sie machte sich auf, um Störungen zu beheben oder Ratschläge zu erteilen, in der Hoffnung, ihren Geist beschäftigt zu halten. Michel Duval kam niemals vorbei, was ihr merkwürdig erschien. Waren Psychologen nicht zu so etwas da? Sie konnte nicht umhin, sich deprimiert zu fühlen. Sie brauchte ihre Hände für ihre Arbeit, sie pflegte mit den Händen zu arbeiten. Der Verband war hinderlich, und sie schnitt den Teil um das Handgelenk herum ab mit einer Schere aus ihrer Werkzeugsammlung. Aber wenn sie draußen war, musste sie die Hand und den Verband in einem Futteral tragen, und es gab nicht viel, das sie ausrichten konnte. Es war wirklich deprimierend.
Es kam der Samstag Abend, und sie saß in dem kürzlich gefüllten Strudelbad, genoss ein Glas schlechten Weins und sah ihren Kameraden zu, die in ihren Badeanzügen planschten und nass wurden. Sie war keineswegs die einzige Verletzte. Sie waren jetzt alle ein wenig angeschlagen nach so vielen Monaten körperlicher Arbeit. Fast jeder hatte Erfrierungsnarben, Flecken schwarzer Haut, die sich schließlich ablöste und neue hinterließ — rosa, hässlich und in der Wärme der Bäder empfindlich. Und etliche andere Personen hatten Gipsverbände an Händen, Fußgelenken, Armen und sogar Beinen. Alles wegen Brüchen oder Zerrungen. Sie konnten sich eigentlich glücklich schätzen, dass es noch keine Toten gegeben hatte.
All diese Körper und keiner für sie. Sie dachte, dass sie sich kannten wie eine Familie. Sie waren füreinander Ärzte, schliefen in den gleichen Räumen, zogen sich in den gleichen Schleusen an, waren gleich gekleidet und badeten zusammen. Eine unauffällige Schar menschlicher Tiere, augenfällig in der trägen Welt, die sie bewohnten, aber eher tröstend als erregend — zumindest die meiste Zeit. Körper mittleren Alters. Nadia war rund wie ein Kürbis, eine plumpe, zähe, muskulöse Frau, vierschrötig und dennoch rundlich. Und allein. Ihr bester Freund in diesen Tagen war nur eine Stimme in ihrem Ohr, ein Gesicht auf dem Bildschirm. Wenn er von Phobos herunterkäme … Nun, schwer zu sagen. Er hatte eine Menge Freundinnen auf der Ares gehabt, und Janet Blyleven war zum Phobos gegangen, nur um bei ihm zu sein …
Die Leute stritten sich wieder, dort in dem seichten Planschbecken. Ann, groß und eckig, bückte sich, um Sax Russell kurz etwas zu sagen. Wie gewöhnlich schien er nicht hinzuhören. Sie würde ihm eines Tages einen Schlag versetzen, wenn er nicht aufpasste. Es war merkwürdig, wie sich die Gruppe wieder veränderte und wie sie sich anders anfühlte. Sie konnte sich nie ihrer sicher sein. Die reale Natur der Gruppe war eine Sache für sich, mit Eigenleben, irgendwie unterschieden von den Charakteren der Individuen, die sie bildeten. Das musste Michels Beschäftigung als ihrer aller Seelenarzt fast unmöglich machen. Er war der ruhigste und unaufdringlichste Psychiater, der ihr je begegnet war. Ohne Zweifel ein Gewinn in dieser Schar von Leuten, die die Psychologie ablehnten. Aber sie fand es immer noch merkwürdig, dass er nach dem Unfall nicht gekommen war, um sie zu besuchen.
Eines Abends verließ sie die Speiseräume und ging hinunter zu dem Tunnel, den sie von den gewölbten Kammern zum Farmkomplex gruben. Dort am Ende des Tunnels waren Maya und Frank, die sich in boshaften Tönen stritten, so dass nicht ihre Gedanken, sondern ihre Gefühle durch den Tunnel hallten. Franks Gesicht war von Wut verzerrt, und Maya wendete sich weinend von ihm ab. Sie kehrte ihm den Rücken zu und schrie: »Ich bin nie so gewesen!« Dann rannte sie blindlings auf Nadia zu. Ihr Mund war mürrisch zusammengezogen, und Franks Gesicht eine Grimasse des Schmerzes.
Nadia drehte sich schockiert um und ging zurück in die Wohnräume. Sie stieg die Magnesiumtreppe empor zum Wohnzimmer im Sektor Zwei und stellte den Fernseher an, um sich ein vierundzwanzigstündiges Nachrichtenprogramm von der Erde einzuschalten, was sie nur sehr selten tat. Nach einer Weile drehte sie den Ton herunter und blickte auf die Backsteinmuster in dem Gewölbe über sich. Maya kam herein und fing an, ihr die Dinge zu erklären: Es gab nichts zwischen ihr und Frank. Das existierte nur in Franks Geist. Er wollte es einfach nicht aufgeben, obwohl es sinnlos war. Sie begehrte nur John; und es war ihr Fehler, dass John und Frank sich jetzt so schlecht vertrugen. Das lag an Franks unvernünftigem Verlangen. Es war nicht ihr Fehler, aber sie fühlte sich so schuldig, weil die beiden Männer früher so enge Freunde gewesen waren, fast wie Brüder.
Und Nadia hörte mit mühsam geheuchelter Geduld zu und sagte »Da da« und dergleichen, bis Maya heulend flach auf dem Rücken am Boden lag und Nadia, die auf der Kante eines Stuhles saß, sie anstarrte und sich fragte, wie viel davon wohl zuträfe. Und um was sich der Streit in Wirklichkeit gedreht hätte. Und ob sie eine schlechte Freundin wäre, wenn sie der Story ihrer alten Gefährtin so gänzlich misstraute. Aber irgendwie machte das Ganze den Eindruck, als ob Maya ihre Spuren verwischte und eine neue Manipulation ausübte. Es war doch so gewesen, dass diese zwei verzerrten Gesichter, die sie im Tunnel gesehen hatte, der klarstmögliche Beweis für einen Streit zwischen intimsten Personen gewesen waren. Also war Mayas Erklärung fast sicher eine Lüge. Nadia sagte etwas zu ihr und ging zu Bett. Sie dachte: Du hast mir schon zuviel von meiner Zeit und Energie und Konzentration mit diesen Spielchen geraubt. Du hast mich damit einen Finger gekostet, du Biest!
Es war ein neues Jahr, das sich dem Ende des langen nördlichen Sommers zuneigte; und sie hatten immer noch keine zufrieden stellende Wasserversorgung. Darum schlug Ann vor, eine Expedition zur Polkappe zu unternehmen und eine Roboter-Destillieranlage einzurichten, sowie längs des Weges eine Route anzulegen, damit Roboter einem automatischen Piloten folgen könnten. Sie sagte zu Nadia: »Komm mit uns! Du hast noch nichts auf dem Planeten gesehen außer dem Streifen zwischen hier und Tschernobyl, und das ist nichts. Du hast Hebes und Ganges versäumt und machst hier nichts Neues. Wirklich, Nadia, ich kann nicht glauben, was für ein Arbeitstier du gewesen bist. Ich meine, wozu bist du überhaupt auf den Mars gekommen?«
»Warum?«
»Ja, warum? Ich meine, es gibt hier zwei Arten von Aktivitäten. Da ist die Erforschung des Mars und dann die Sorge für das Leben dieser Erforschung. Und hier bist du völlig in der Lebensversorgung aufgegangen, ohne dem Grund, weshalb wir in erster Linie hergekommen sind, die geringste Aufmerksamkeit zu widmen!«
»Nun, das tue ich eben gern«, sagte Nadia beunruhigt.
»Fein, aber bemühe dich, etwas Abstand davon zu gewinnen! Zum Teufel, du hättest auf der Erde bleiben und Klempner werden können. Du musstest nicht diesen ganzen Weg zurücklegen, um einen blöden Bulldozer zu fahren. Wie lange willst du hier noch weiter schuften, Toiletten installieren und Traktoren programmieren?«
»Schon gut«, sagte Nadia und dachte an Maya und alles übrige. Das Gewölbequadrat war sowieso fast fertig gestellt. »Du hast recht. Ich könnte einen Urlaub brauchen.«
Sie fuhren in drei großen Geländewagen für Fernfahrten los. Nadia und fünf Geologen: Ann, Simon Frazier, George Berkovic, Phyllis Boyle und Edvard Perrin. George und Edvard waren Freunde seit ihren Tagen bei der NASA und befürworteten ›angewandte geologische Studien‹, das heißt die Suche nach Edelmetallen. Simon andererseits war ein stiller Verbündeter von Ann, der sich reiner Forschung und einer gewissen Zurückhaltung widmete. Nadia wusste all das, obwohl sie nur sehr wenig Zeit mit diesen Leuten allein verbracht hatte, außer mit Ann. Aber es wurde viel geredet. Sie hätte, wenn nötig, alle Neigungen eines jeden auf der Basis nennen können.
Die Rover bestanden alle aus je zwei vierrädrigen Elementen, die durch einen flexiblen Rahmen zusammengekoppelt waren, und sahen etwa wie Riesenameisen aus. Sie waren von Rolls-Royce und einem multinationalen Aerospace-Konsortium gebaut worden und hatten eine hübsche meeresgrüne Lackierung. Die vorderen Elemente enthielten die Wohnräume und hatten auf allen Seiten getönte Fenster. Die hinteren enthielten die Treibstoffbehälter und prangten mit schwarzen rotierenden Sonnenpaddeln. Die Räder aus achtfachem Drahtgeflecht waren zweieinhalb Meter hoch und sehr breit.
Während sie über Lunae Planum nach Norden fuhren, markierten sie ihre Route mit kleinen grünen Transpondern, die sie alle paar Kilometer absetzten. Sie räumten auch Steine aus ihrem Weg, die einen Rover mit Robotersteuerung behindern könnten, wozu sie den Schneepflug-Ansatz oder den kleinen Kran am Vorderende des ersten Rovers benutzten. So bauten sie praktisch eine Straße. Aber sie hatten auf Lunae die Vorrichtung zum Beseitigen von Steinen nur selten einzusetzen. Sie fuhren mit fast ihrer vollen Geschwindigkeit von dreißig Kilometern in der Stunde einige Tage lang glatt durch. Ihre Richtung war Nordwest, um die Canyonsysteme von Tempe und Mareotis zu umgehen. Diese Route führte sie über Lunae zu dem langen Abhang von Chryse Planitia. Diese Regionen sahen beide dem Land um ihr Basislager sehr ähnlich, holprig und mit kleinen Steinen übersät. Aber da sie bergab fuhren, hatten sie oft viel weitere Ausblicke, als sie gewohnt waren. Für Nadia war es ein neues Vergnügen, immer weiter zu fahren und zu sehen, wie ständig neue Landschaften über dem Horizont auftauchten: Hügel, Senken, enorme isolierte Felsblöcke und gelegentlich eine niedrige runde Mesa, welche die Außenseite eines Kraters war.
Als sie in das Tiefland der nördlichen Hemisphäre hinunter gekommen waren, wandten sie sich direkt nach Norden und fuhren wieder mehrere Tage lang durch die immense Acidalia Planitia. Ihre Radspuren zogen sich hinter ihnen dahin wie der erste Schnitt eines Rasenmähers, und die Transponder schimmerten hell und deplaziert zwischen den Steinen. Phyllis, Edvard und George sprachen davon, einige Abstecher zu machen, um einigen Hinweisen nachzugehen, die sie auf Satellitenfotos gesehen hatten. Das waren ungewöhnliche mineralische Ausbisse beim Perepelkin-Krater. Ann erinnerte sie gereizt an ihren Auftrag. Nadia war betrübt zu sehen, dass Ann hier draußen fast genau so distanziert und verkniffen war wie auf der Basis. Immer, wenn die Rover anhielten, ging sie allein draußen herum und wurde wieder hereingeholt, wenn sie im Rover beisammen saßen, um zu essen. Einmal versuchte Nadia aus ihr etwas herauszulocken: »Ann, warum sind alle diese Steine so verstreut?«
»Meteorite.«
»Aber wo sind die Krater?«
»Die meisten im Süden.«
»Wie sind dann aber die Steine hierher gekommen?«
»Sie sind geflogen. Darum sind sie so klein. Nur kleinere Stücke konnten so weit geschleudert werden.«
»Aber ich dachte, du hättest mir gesagt, dass diese nördlichen Ebenen relativ jung wären, die ältere Kraterlandschaft dagegen relativ alt.«
»Das stimmt. Die Steine, die du hier siehst, stammen aus späterer Meteortätigkeit. Die gesamte Ansammlung loser Steine aus Meteoritenfällen ist viel größer, als was wir sehen können. Man nennt das Regolithfelder. Und die sind ein Kilometer tief.«
»Kaum zu glauben«, sagte Nadia. »Ich meine, dass es so viele Meteorite sind.«
Ann nickte. »Es sind Milliarden Jahre. Das ist der Unterschied zwischen hier und der Erde. Das Alter des Landes differiert von Millionen zu Milliarden Jahren. Das ist ein kaum vorstellbarer Unterschied. Aber es kann helfen, wenn man solches Zeug sieht wie hier.«
Mitten auf Acidalia stießen sie auf lange, gerade Canyons mit steilen Wänden und flachem Boden. Sie sahen, wie George mehrfach bemerkte, eher aus wie trockene Betten der legendären Kanäle. Der geologische Name für sie war fossae (Gräben), und sie traten haufenweise auf. Die kleineren dieser Schluchten waren für Rover unpassierbar. Wenn sie an eine kamen, mussten sie wenden und an ihrem Rand entlangfahren, bis sich ihr Boden hob oder die Wände zusammentraten. Dann konnten sie weiter nach Norden über die flache Ebene fahren.
Der Horizont vor ihnen war manchmal zwanzig Kilometer entfernt, manchmal nur drei. Krater wurden seltener, und die, an welchen sie vorbeikamen, waren von niedrigen Hügeln umgeben, die strahlenförmig von den Rändern ausgingen — Spritzkrater, wo Meteorite in den Permafrost gestürzt waren, der durch den Aufprall in heißen Schlamm verwandelt wurde. Nadias Gefährten verbrachten einen ganzen Tag damit, emsig um einen dieser Krater über die Hügel herumzuwandern. Die runden Hänge wiesen, wie Phyllis sagte, ebenso deutlich auf altes Wasser hin, wie das Korn in versteinertem Holz den ursprünglichen Baum verriet. Während sie sprach, erkannte Nadia, dass dies eine weitere Meinungsverschiedenheit zwischen ihr und Ann war. Phyllis glaubte an das Modell der langen nassen Vergangenheit des Mars, Ann an das der kurzen. Oder irgend so etwas. Die Wissenschaft hatte viele Seiten, darunter auch eine Waffe, mit der man andere Gelehrte treffen konnte.
Weiter im Norden, auf 54° Breite, fuhren sie in das eigenartig aussehende Land von Thermokarsten, ein buckliges Terrain, das übersät war von einer Menge ovaler Gruben mit steilen Wänden, so genannten Dolinen. Diese waren hundertmal größer als ihre Entsprechungen auf der Erde. Die meisten hatten zwei bis drei Kilometer Durchmesser und waren etwa sechzig Meter tief. Ein sicheres Anzeichen für Permafrost, wie sich alle Geologen einig waren. Jahreszeitliches Gefrieren und Auftauen des Bodens ließ ihn in dieser Form absinken. Gruben solcher Größe zeigten, dass der Boden hohen Wassergehalt gehabt haben müsse, wie Phyllis sagte. Sofern das nicht eine andere Manifestation von Zeitskalen für den Mars wäre, wie Ann erwiderte. Einfach eisiger Boden, der Äonen lang immer so langsam eingesunken wäre.
Phyllis schlug ärgerlich vor, sie sollten Wasser aus dem Boden gewinnen, und Ann stimmte ärgerlich zu. Sie fanden einen glatten Abhang zwischen den Senken und hielten an, um einen Wassersammler für Permafrost zu installieren. Nadia leitete das Vorhaben mit einiger Erleichterung. Der Mangel an Beschäftigung ging ihr allmählich auf die Nerven. Es war die Arbeit eines vollen Tages. Sie grub mit der kleinen Aushubschaufel des vorderen Rovers einen zehn Meter langen Graben und legte den seitlichen Sammelstollen an, ein mit Kies gefülltes Rohr aus perforiertem rostfreiem Stahl. Dann prüfte sie die elektrischen Heizelemente, die in Streifen an dem Rohr und den Filtern angebracht waren. Schließlich füllte sie den Graben mit Ton und Steinen, die sie vorher ausgegraben hatten.
Über dem unteren Ende des Stollens befanden sich ein Sammelbehälter und eine Pumpe, und eine isolierte Leitung führte zu einen kleinen Vorratstank. Batterien speisten die Heizelemente, und Sonnenpaddel luden die Batterien. Wenn der Vorratstank voll war, schaltete sich die Pumpe ab, und es öffnete sich ein Solenoid-Ventil, welches das Wasser in dem Vorratstank in den Stollen zurücklaufen ließ, woraufhin auch die Heizelemente abgestellt wurden.
»Fast fertig«, erklärte Nadia spät am Tag, als sie sich daran machte, die Transportröhre auf dem letzten Magnesiumpfosten zu befestigen. Ihre Hände waren gefährlich kalt, und die verstümmelte Hand schmerzte. Sie sagte: »Vielleicht kann jemand mit dem Abendessen anfangen. Ich bin hier fast fertig.« Die Transportröhre musste in einen dicken Zylinder aus weißem Polyurethanschaum gepackt und dann in eine größere Schutzröhre eingepasst werden. Erstaunlich, wie sehr Isolation eine einfache Klempnerarbeit erschwerte.
Sechskantmutter, Dichtungsscheibe, Schließbolzen und ein fester Ruck am Schraubenschlüssel. Nadia ging an der Leitung entlang und prüfte die Kupplungsbänder an den Verbindungen. Alles fest. Sie schleppte ihr Werkzeug zum Rover Eins hinüber und schaute auf das Ergebnis eines Tagewerks zurück: Ein Tank, eine kurze Röhre auf Pfosten, ein Kasten auf dem Boden, ein langer flacher Hügel aus aufgewühltem Boden, der bergauf führte und roh, aber eigentlich nicht ungewöhnlich in diesem Land voller Klumpen aussah. Sie sagte: »Auf dem Rückweg werden wir frisches Wasser trinken.«
Sie hatten über zweitausend Kilometer nach Norden zurückgelegt und rollten endlich hinab zu Vastitas Borealis, einer alten Lavafläche mit Kratern, die die nördliche Hemisphäre zwischen 60° und 70° Breite umrundet. Ann und die anderen Geologen verbrachten jeden Morgen einige Stunden auf dem kahlen schwarzen Gestein dieser Ebene und nahmen Proben, woraufhin sie dann den Rest des Tages weiter nach Norden fuhren und ihre Funde besprachen. Ann schien mehr von der Arbeit absorbiert und glücklicher zu sein. Eines Abends zeigte Simon, wie Phobos gerade über die niedrigen Berge im Süden stieg. Die Fahrstrecke des nächsten Tages würde ihn ganz unter dem Horizont verschwinden lassen. Das war eine eindrucksvolle Demonstration dafür, wie niedrig die Bahn dieses kleinen Mondes verlief. Sie waren erst auf 69° Breite! Aber Phobos befand sich nur etwas mehr als 5000 Kilometer über dem Äquator des Planeten. Nadia winkte ihm einen Abschiedsgruß zu in dem Bewusstsein, dass sie immer noch mit Arkady würde sprechen können mittels der kürzlich eingetroffenen areosynchronen Radiosatelliten.
Drei Tage später hörte der kahle Fels auf und verschwand unter Wellen schwärzlichen Sandes. Es war, als käme man an das Ufer eines Meeres. Sie hatten die Großen Nördlichen Dünen erreicht, die den Planeten zwischen Vastitas und der Polkappe wie ein ungefähr 800 Kilometer breites Band umschließen. Der Sand hatte die Farbe von Holzkohle mit purpurnen und rosa Tönen, eine wahre Erleichterung für das Auge nach all dem roten Schotter des Südens. Die Dünen zogen sich nach Norden und Süden hin in parallelen Kämmen, die gelegentlich gebrochen wurden oder zusammenliefen. Es war leicht, darüberzufahren. Der Sand war fest gepackt, und sie mussten sich nur eine große Düne aussuchen und dann an ihrer buckligen Westseite entlangziehen.
Nach ein paar Tagen wurden die Dünen allerdings größer und zu etwas, das Ann (mit einem Ausdruck für einzeln stehende Dünen in der Kirgisensteppe) als ›Barchan‹ bezeichnete. Sie sahen aus wie große gefrorene Wellen mit hundert Meter hohen Vorderseiten und waren einige Kilometer lang. Wie so viele andere landschaftliche Merkmale auf dem Mars waren sie hundertmal größer als ihre Entsprechungen in der Sahara und Gobi. Die Expedition hielt einen ebenen Kurs ein über die Rücken dieser großen Wellen, indem sie von einer Welle zur nächsten kurvte. Die Rover waren wie kleine Schiffe, die über ein dunkles Meer fuhren, das im Höhepunkt eines titanischen Sturms eingefroren war.
Eines Tages hielt Rover Zwei auf diesem gigantischen Meer an. Ein rotes Licht auf dem Kontrollpaneel besagte, dass das Problem in dem flexiblen Rahmen wischen den beiden Elementen steckte. Es zeigte sich, dass das hintere Modul nach links gekippt war und mit den Rädern an der linken Seite im Sand schaufelte. Nadia legte einen Anzug an und ging nach hinten, um nachzusehen. Sie nahm die Staubhülle von dem Gelenk, wo der Rahmen mit dem Chassis des Moduls verbunden war, und fand, dass alle Bolzen, die diese Teile zusammenhalten sollten, gebrochen waren.
»Das wird eine Weile dauern«, sagte Nadia. »Ihr könnt euch inzwischen gut noch etwas umschauen.«
Bald kamen in ihren Anzügen Phyllis und George heraus, hinter ihnen Simon, Ann und Edvard. Phyllis und George nahmen einen Transponder von Rover Drei und stellten ihn drei Meter rechts von ihrer »Straße« auf. Nadia machte sich bei dem gebrochenen Rahmen an die Arbeit, wobei sie die Dinge so wenig wie möglich anfasste. Es war ein kalter Nachmittag, vielleicht siebzig Grad unter Null, und sie spürte die schneidende Kälte bis ins Mark.
Die Enden der Bolzen wollten nicht aus der Seite des Moduls herausgehen, darum holte sie einen Bohrer und machte neue Löcher. Sie fing an, ›The Sheik of Araby‹ zu summen. Ann, Edvard und Simon diskutierten über Sand. Es war so nett, dachte Nadia, einen Boden zu sehen, der nicht rot war. Zu hören, wie Ann in ihre Arbeit versunken war. Und selbst etwas zu tun zu haben.
Sie hatten fast den Polarkreis erreicht, und es war Ls = 84. Bis zur nördlichen Sonnenwende waren es nur noch zwei Wochen. Also wurden die Tage lang. Nadia und George arbeiteten den ganzen Abend, während Phyllis das Essen erhitzte und Nadia danach wieder hinausging, um die Arbeit zu vollenden. Die Sonne war rot in braunem Dunst, klein und rund, selbst kurz vor dem Untergang. Es gab nicht genug Atmosphäre, um sie durch Refraktion zu vergrößern und abzuflachen. Nadia wurde fertig, hatte ihr Werkzeug weggepackt und die äußere Schleusentür von Rover Eins geöffnet, als sie im Ohr die Stimme Anns hörte: »Oh, Nadia, kommst du schon herein?«
Nadia blickte auf. Ann war auf dem Grat der Düne im Westen und winkte ihr zu, eine schwarze Silhouette vor einem blutroten Himmel.
»Das hatte ich vor«, sagte Nadia.
»Komm nur für eine Minute hier herauf! Ich möchte, dass du diesen Sonnenuntergang siehst. Er verspricht schön zu werden. Komm nur, es wird nur eine Minute dauern, und du wirst dich freuen, dass du es getan hast. Im Westen gibt es Wolken.«
Nadia seufzte und machte die äußere Schleusentür wieder zu.
Die Ostseite der Düne war steil. Nadia trat vorsichtig in die Fußstapfen, die Ann beim Aufstieg gemacht hatte. Der Sand war hier dicht gepackt und hielt meistens fest. Nahe dem Kamm wurde es steiler, und sie lehnte sich vor und grub mit den Fingern. Dann kletterte sie auf den breiten runden Grat, konnte sich aufrichten und umschauen.
Nur die Kämme der höchsten Dünen lagen noch im Sonnenschein. Die Welt war eine schwarze Fläche, die durch kurze sichelförmige stahlgraue Kurven verunstaltet war. Der Horizont war ungefähr fünf Kilometer entfernt. Ann hatte sich gebückt, ein Gefäß mit Sand in der Hand.
»Woraus besteht er?« fragte Nadia.
»Dunkle feste mineralische Partikel.«
Nadia knurrte: »Das hätte ich dir vorher sagen können.«
»Ehe wir hier hergekommen sind, hättest du das nicht gekonnt. Es hätte Grus-Abrieb in Verbindung mit Salzen sein können. Aber statt dessen ist es Gestein.«
»Warum so dunkel?«
»Vulkanisch. Siehst du, auf der Erde besteht Sand meistens aus Quarz, weil es dort eine Menge Granit gibt. Aber auf dem Mars gibt es nicht viel Granit. Diese Körner sind wahrscheinlich vulkanische Silikate. Obsidian, Feuerstein, etwas Granat. Schön, nicht wahr?«
Sie hielt Nadia eine Handvoll Sand zum Betrachten hin. Natürlich vollkommen ernsthaft. Nadia sah sich durch ihre Visierscheibe das schwarze Material an und sagte: »Schön.«
Sie standen da und beobachteten den Sonnenuntergang. Ihre Schatten liefen direkt auf den Osthorizont zu. Der Himmel war dunkelrot und trübe, nur im Westen über der Sonne etwas heller. Die von Ann erwähnten Wolken waren hellgelbe Streifen sehr hoch am Himmel. Etwas in dem Sand nahm das Licht auf, und die Dünen waren deutlich purpurn. Die Sonne war ein kleiner goldener Knopf, und darüber leuchteten zwei Abendsterne: Venus und Erde.
Ann sagte leise: »Sie sind jetzt jeden Abend näher zusammengerückt. Die Konjunktion dürfte wirklich prächtig werden.«
Die Sonne berührte den Horizont, und die Dünenkämme wurden zu Schatten. Die kleine knopfartige Sonne sank unter die schwarze Linie im Westen. Jetzt war der Himmel eine kastanienbraune Kuppel. Die hohen Wolken hatten die Farbe von Leimkraut. Überall tauchten Sterne auf, und der braune Himmel verfärbte sich in ein lebhaftes dunkles Violett, eine metallene Farbe, die von den Dünenkämmen aufgenommen wurde, so dass es aussah, als lägen Halbmonde aus flüssiger Dämmerung über der schwarzen Ebene. Plötzlich fühlte Nadia, wie eine Brise durch ihr Nervensystem wirbelte, das Rückgrat herauf und durch die Haut hinauslief. Ihre Wangen kribbelten, und sie konnte ihr Rückenmark klopfen hören. Schönheit konnte einen erschauern lassen! Es war ein Schock, eine solche physische Reaktion auf Schönheit zu spüren, eine Erregung wie eine Art von Sex. Und dabei war diese Schönheit so absolut fremdartig. Nadia hatte sie vorher nie gesehen oder wirklich empfunden. Das wurde ihr jetzt bewusst. Sie hatte ihr Leben genossen, als wäre es ein zurechtgemachtes Sibirien gewesen, so dass sie tatsächlich in einer gewaltigen Analogie gelebt und alles in Formen ihrer Vergangenheit verstanden hatte. Aber jetzt stand sie unter einem hohen violetten Himmel auf der Oberfläche eines versteinerten schwarzen Ozeans. Alles neu, alles fremdartig. Es war unmöglich, dies mit irgend etwas zu vergleichen, das sie früher gesehen hatte. Und mit einemmal entwich die Vergangenheit aus ihrem Kopf, und sie drehte sich in Kreisen wie ein kleines Mädchen, das sich schwindlig machen will, ohne einen Gedanken im Kopf. Von ihrer Haut sickerte Gewicht nach innen; und sie fühlte sich nicht mehr hohl. Im Gegenteil fand sie sich äußerst massiv, kompakt, ausgeglichen. Ein kleiner denkender Felsblock, der wie ein Kreisel in Drehung versetzt wurde.
Sie rutschten die steile Vorderseite der Düne auf den Absätzen ihrer Stiefel hinunter. Unten angekommen drückte Nadia Ann impulsiv an sich. »O Ann, ich weiß nicht, wie ich dir dafür danken kann!« Selbst durch die getönten Visierscheiben konnte sie Ann grinsen sehen. Ein seltenes Bild.
Danach sahen die Dinge für Nadia anders aus. Oh, sie wusste, dass es in ihrem Innern war, dass sie vermochte, mit neuen Augen hinzuschauen, zu sehen. Aber die Landschaft inspirierte diese Sinneserregung und nährte ihre neue Aufmerksamkeit. Denn schon am nächsten Tage verließen sie die schwarzen Dünen und fuhren auf etwas, das ihre Kameraden ein geschichtetes oder blätteriges Gelände nannten. Dies war das Gebiet aus flachem Sand, das im Winter unter der CO2-Decke der Polkappe lag. Jetzt im Mittsommer war es frei und bildete eine Landschaft mit Mustern aus krummen Linien. Sie fuhren durch breite flache Mulden aus gelbem Sand, die durch lange gewellte Plateaus mit flachen Gipfern begrenzt waren. Deren Hänge waren abgestuft und zeigten feine und gröbere Schichtungen. Sie sahen aus wie Holz, das geschnitten und poliert worden war, um eine hübsche Maserung zu zeigen. Niemand von ihnen hatte je ein so entlegenes Land gesehen; und sie verbrachten die Morgen mit Entnahme von Proben und Bohrungen. Sie kletterten umher mit kleinen Sprüngen in einem Marsballet und schwatzten und plapperten. Nadia war ebenso erregt wie jeder andere. Ann erklärte ihr, dass der Frost in jedem Winter eine Art Lamelle auf der Oberfläche bewirkte. Dann hatte Wind-Erosion Schluchten geschnitten und deren Wände abgewetzt. Jede Schicht wurde etwas stärker beschnitten als die darunterliegende, so dass die Wände dieser Trockentäler aus Hunderten schmaler Terrassen bestanden. Simon sagte: »Es ist, als wäre das Land eine Konturenkarte von sich selbst.«
Sie fuhren tagsüber und kamen abends heraus, in einer purpurnen Dämmerung, die bis kurz vor Mitternacht währte. Sie bohrten Löcher und holten Kerne heraus, die sandig und geschichtet waren, soweit sie nur bohren konnten. Eines Abends kletterte Nadia mit Ann eine Reihe paralleler Terrassen empor und lauschte mit halbem Ohr ihren Ausführungen über die Präzession der Tag- und Nachtgleichen, als sie über das Tal zurückblickte und sah, dass es wie Limonen und Aprikosen im Abendlicht schimmerte, und dass sich darüber blaßgrüne linsenförmige Wolken befanden, die perfekt die Kurvenlinien des Terrains nachzeichneten. »Schau!« rief sie aufgeregt.
Ann schaute zurück, sah es und wurde still. Sie beobachteten die niedrigen gebänderten Wolken über ihren Köpfen.
Schließlich holte sie ein Ruf zum Essen von den Rovern zurück. Und als sie über die abgestuften Terrassen aus Sand hinuntergingen, erkannte Nadia, dass sie sich verändert hatte — oder aber, dass der Planet immer fremdartiger und schöner wurde, je weiter sie nach Norden fuhren. Oder beides.
Sie rollten über flache Terrassen aus gelbem Sand, so fein und hart und frei von Steinen, dass sie mit voller Geschwindigkeit fahren konnten und nur langsamer wurden, um von einer Plattform zur anderen überzuwechseln. Gelegentlich machte ihnen der abgerundete Hang zwischen Terrassen einige Schwierigkeiten; und ein paar Mal mussten sie zurückfahren, um einen Weg zu finden. Aber gewöhnlich ließ sich eine nach Norden führende Route ohne Schwierigkeit finden.
An ihrem vierten Tag in dem geschichteten Gelände rückten die Wände des Plateaus, das ihr flaches Tal begrenzte, zusammen, und sie fuhren durch den Spalt auf eine höhere Ebene. Und dort, vor ihnen an dem neuen Horizont, war ein weißer Berg, ein großes rundes Ding wie ein Ayers Rock in Weiß zu sehen. Ein weißer Berg — das war Eis! Ein Berg aus Eis, etwa hundert Meter hoch und ein Kilometer breit. Und als sie um ihn herumfuhren, sahen sie, dass er sich über den Horizont nach Norden hinzog. Es war die Spitze eines Gletschers, vielleicht eine Zunge der Polkappe selbst. In den anderen Wagen ertönten Rufe; und bei dem Lärm und der Verwirrung konnte Nadia nur hören, wie Phyllis schrie: »Wasser, Wasser!«
Tatsächlich Wasser. Obwohl sie gewusst hatten, dass es hier sein müsste, war es doch höchst aufregend, einen ganzen großen Berg davon anzutreffen, tatsächlich die höchste Erhebung, der sie auf den ganzen 5000 Kilometern ihrer Reise begegnet waren. Sie brauchten den ganzen ersten Tag, um sich daran zu gewöhnen. Sie hielten die Rover an, zeigten hin, plapperten, stiegen aus, um zu schauen, nahmen Proben von der Oberfläche und aus Bohrungen, berührten es und kletterten ein Stück hinauf. Der Eisberg war wie der Sand um ihn horizontal geschichtet, mit Staublinien in etwa einem Zentimeter Abstand. Zwischen den Linien war das Eis narbig und körnig. Bei diesem atmosphärischen Druck sublimierte es bei fast allen Temperaturen und hinterließ löchrige, verwitterte Seitenwände bis zu einer Tiefe von einigen Zentimetern. Darunter war es fest und hart.
»Das ist eine Menge Wasser«, sagten sie alle an der einen oder anderen Stelle. Wasser, auf der Oberfläche des Mars …
Am nächsten Tag bildete der Gletscherhügel ihren Horizont, eine Wand, die während der Fahrt des ganzen Tages neben ihnen her verlief. Danach schien er wirklich wie eine Menge Wasser auszusehen, besonders, als im Laufe des Tages die Wand höher wurde und sich bis auf etwa dreihundert Meter erhob. Wirklich eine Art weißer Bergrippe, die ihr flaches Tal auf der Ostseite begrenzte. Und dann erschien über dem Horizont im Nordwesten noch ein weißer Hügel — die Spitze eines anderen Grates, dessen Basis noch unter dem Horizont lag. Ein weiterer Gletscherberg, der sie in etwa dreißig Kilometern Entfernung im Westen abschloss.
Also waren sie im Chasma Borealis, einem von Wind ausgetieften Tal, das nach Norden etwa fünfhundert Kilometer in die Eiskappe einschnitt, mehr als die halbe Entfernung bis zum Pol. Der Boden des Chasmas war flacher Sand, hart wie Beton und oft mit einer Schicht von CO2-Eis bedeckt, die knirschend unter den Rädern zerbrach. Die Eiswände waren hoch, aber nicht senkrecht. Sie wichen zurück in einem Winkel von weniger als fünfundvierzig Grad; und wie die Bergflanken in dem geschichteten Gelände waren sie terrassiert, wobei die Terrassen durch Erosion und Sublimation ausgezackt waren, jene beiden Kräfte, die während Zehntausenden von Jahren das Chasma in seiner vollen Länge zerschnitten hatten.
Anstatt auf den Kopf des Tales hinaufzufahren, überquerten die Forscher das Chasma in westlicher Richtung auf einen Transponder zu, der bei einem Abwurf von Gerät zum Schürfen von Eis dorthin gelangt sein musste. Die Sanddünen waren in der Mitte des Chasmas niedrig und regelmäßig, und die Rover rollten über das wellige Gelände auf und ab, auf und ab. Als sie dann den Grat einer Sandwelle erreichten, erblickten sie das abgeworfene Gerät nicht mehr als zwei Kilometer vom Fuß der nordwestlichen Eiswand entfernt. Dicke limonengrüne Container auf skelettartigen Landeapparaten, ein seltsames Bild in dieser Welt von weißen, braunen und rosa Tönen. »Was für ein hässlicher Anblick!« rief Ann, aber Phyllis und George jubelten.
Während des langen Nachmittags nahm die im Schatten liegende westliche Flanke des Eises mannigfache blasse Farben an. Das reinste Wasser-Eis war klar und bläulich, aber der größte Teil des Abhangs war transparent elfenbeinfarben, üppig getönt mit rosa und gelbern Staub. Unregelmäßige Flecken von Kohlendioxid-Eis waren rein hellweiß. Der Kontrast zwischen Trockeneis und Wassereis war stark und machte es unmöglich, die wahren Konturen der Bergflanke zu erkennen. Und die perspektivische Verkürzung machte es schwierig zu sagen, wie hoch der Berg wirklich war. Er schien für immer aufzuragen und befand sich wahrscheinlich zwischen drei- und fünfhundert Metern über dem Boden von Borealis.
»Das ist eine Menge Wasser!« rief Nadia.
Phyllis sagte: »Und unter der Oberfläche gibt es noch mehr davon. Unsere Bohrungen zeigen, dass sich die Kappe um viele Breitengrade weiter nach Süden erstreckt, als wir sehen, unter dem geschichteten Gelände begraben.«
»Also haben wir mehr Wasser, als wir je brauchen werden!«
Ann verzog unwillig den Mund.
Der Abwurf der Schürfgeräte hatte die Lage des Eisgewinnungslagers bestimmt: die Westwand von Chasma Borealis auf 41° Länge und 83° nördlicher Breite. Deimos war gerade Phobos unter den Horizont gefolgt. Sie würden ihn nicht wieder sehen, bis sie südlich bis 82° N zurückgekehrt wären. Die Sommernächte bestanden aus einer Stunde purpurner Dämmerung. Den übrigen Teil drehte sich die Sonne herum, nie mehr als zwanzig Grad über dem Horizont. Alle sechs verbrachten lange Stunden im Freien. Sie rückten den Eis-Schürfer an die Wand und stellten ihn dann auf. Der Hauptteil war ein robotischer Tunnelbohrer, ungefähr so groß wie einer ihrer Roboter. Der schnitt ins Eis und gab zylindrische Trommeln von anderthalb Metern Durchmesser aus. Als sie den Bohrer anstellten, erzeugte er ein lautes, tiefes Brummen, das noch stärker war, wenn sie ihre Helme auf das Eis drückten oder dies auch nur mit den Händen berührten. Nach einiger Zeit plumpsten weiße Eistrommeln in einen Ladewagen, und dann brachte sie ein kleiner robotischer Gabelstapler zu einer Destillerie, die das Eis schmolz und seinen beträchtlichen Anteil an Staub ausschied. Danach wurde das Wasser in Würfel von einem Meter Kantenlänge gefroren, die besser zum Beladen der Rover geeignet waren. Diese Geländelastwagen waren bestens imstande, vor Ort zu fahren, aufzuladen und selbständig wieder zur Basis zu fahren. Damit würde die Basis eine regelmäßige Versorgung mit Wasser haben — größer, als sie je brauchen würden. Rund vier bis fünf Millionen Kubikkilometer steckten in der sichtbaren Polkappe, so rechnete Edvard aus, obwohl darin viele Schätzwerte enthalten waren.
Mehrere Tage lang testeten sie den Schürfer und stellten eine Reihe von Sonnenpaddeln auf, um ihn mit Energie zu versorgen. In den langen Abenden nach dem Essen pflegte Ann auf die Eismauer zu klettern, vorgeblich, um noch mehr Bohrungen zu machen, obwohl Nadia wusste, dass sie bloß von Phyllis und Edvard und George entfernt sein wollte. Und natürlich wollte sie die ganze Strecke bis zum Gipfel ersteigen, um auf die Polkappe zu gelangen und sich umzuschauen und von den jüngsten Eisschichten Proben zu nehmen. Als nun eines Tages der Schürfer alle Probeläufe beendet hatte, standen Ann, Nadia und Simon in der Morgendämmerung auf — kurz nach zwei Uhr früh —, traten in die extrem kalte Morgenluft hinaus und kletterten los. Ihre Schatten waren wie große Spinnen, die vor ihnen kletterten. Der Eishang hatte einen Neigungswinkel von etwa dreißig Grad, der noch größer wurde und dann nachließ, während sie allmählich die rohen Stufen in dem geschichteten Eis des Hügels erstiegen.
Es war sieben Uhr, als sich der Hang abflachte und sie auf der Oberfläche der Polkappe marschierten.
Nach Norden zog sich eine Eisfläche hin, so weit sie sehen konnten, bis zu einer Horizontlinie in etwa dreißig Kilometern Entfernung. Zurückschauend gen Süden konnten sie weit über die geometrischen Strudel des laminaren Geländes hin blicken. Das war der weiteste Ausblick, den Nadia je auf dem Mars erlebt hatte.
Das Eis des Plateaus war ganz ähnlich geschichtet wie der laminare Sand unter ihnen, mit breiten, schmutzig roten Bändern, die reineres Material umgaben. Die andere Wand von Chasma Borealis lag fern im Osten und sah von ihrem Beobachtungsplatz fast vertikal aus, lang, hoch, massiv. »So viel Wasser!« sagte Nadia wieder. »Das ist mehr, als wir je brauchen werden.«
»Das kommt darauf an«, sagte Ann unaufmerksam und drehte den kleinen Bohrer ins Eis. Ihre abgedunkelte Gesichtsscheibe wandte sich Nadia zu. »Wenn man die Terraformer gewähren lässt, wird das alles wie Tau an einem heißen Morgen verschwinden. In die Luft, um hübsche Wolken zu erzeugen.«
»Wäre das so schlimm?« fragte Nadia.
Ann starrte sie an. Durch die getönte Visierscheibe sahen ihre Augen aus wie Stahlkugeln.
An diesem Abend beim Essen sagte sie: »Wir sollten wirklich einen Ausflug bis hin zum Pol machen.«
Phyllis schüttelte den Kopf. »Wir haben weder die Nahrung noch die Luft dafür.«
»Ruf an, dass sie etwas abwerfen!«
Edvard schüttelte den Kopf. »Die Polkappe ist von Tälern durchschnitten, die fast so tief sind wie Borealis.«
»O nein«, sagte Ann. »Man könnte direkt hinfahren. Die Wirbeltäler sehen aus dem Weltraum dramatisch aus, aber das kommt durch den Unterschied in der Albedo zwischen Wasser und Kohlendioxid. Die Hänge sind in Wirklichkeit nicht mehr als sechs Grad gegen die Horizontale geneigt. Es ist tatsächlich bloß noch mehr geschichtetes Gelände.«
»Wir müssten aber erst mal auf die Kappe kommen«, warf George ein.
»Kein Problem. Wir fahren herum zu einer der Eiszungen, die zum Sand herunterführen. Die sind wie Rampen zum Zentralmassiv. Und einmal dort, fahren wir direkt zum Pol!«
Phyllis sagte: »Es gibt keinen Grund hinzugehen. Es wird bloß mehr von dem sein, was wir hier sehen. Und es bedeutet, mehr der Strahlung ausgesetzt zu sein.«
»Und«, fügte George hinzu, »wir sollten das, was wir an Nahrung und Luft haben, dazu benutzen, einige der Stellen zu erkunden, an denen wir auf dem Weg hierher vorbeigekommen sind.«
Darauf kam es ihnen also an. Ann knurrte: »Ich bin die Leiterin der geologischen Durchmusterung«, sagte sie scharf. Das mochte stimmen; aber sie war eine schreckliche Politikerin, besonders im Vergleich mit Phyllis, die jede Menge Freunde in Houston und Washington hatte.
Phyllis sagte lächelnd: »Es gibt aber keinen geologischen Grund, zum Pol zu gehen. Es wird dasselbe Eis sein wie hier. Ihr wollt bloß hin.«
»Na und?« fragte Ann. »Ich will! Es gibt da oben immer noch wissenschaftliche Fragen zu beantworten. Hat das Eis die gleiche Zusammensetzung? Wie viel Staub? Überall, wohin wir hier kommen, sammeln wir wertvolle Daten.«
»Wir sind aber hier, um Wasser zu besorgen. Nicht, um uns herumzutreiben.«
»Das ist kein Herumtreiben!« platzte Ann heraus. »Wir erhalten Wasser, das uns erlaubt zu forschen. Wir forschen nicht bloß, um Wasser zu bekommen. Du siehst das verkehrt herum. Ich kann mir nicht vorstellen, wie viele Leute in der Kolonie das tun.«
»Lasst uns sehen, was sie in der Basis sagen«, sagte Nadia. »Die könnten uns vielleicht mit etwas dort unterstützen wollen, oder aber nicht imstande sein, eine Kleinigkeit zu schicken. Das kann man nie wissen.«
Ann stöhnte. »Wir werden schließlich noch die Erlaubnis von den UN erbitten, das schwöre ich.«
Sie hatte recht. Frank und Maya gefiel die Idee nicht; John war interessiert, legte sich aber nicht fest. Arkady unterstützte das Vorhaben, als er davon hörte, und erklärte, er würde nötigenfalls von Phobos etwas zur Hilfe abwerfen, was in Anbetracht von dessen Bahn bestenfalls unpraktisch sein würde. Aber an dieser Stelle rief Maya die Kontrollzentren in Houston und Baikonur an, und die Diskussion verlagerte sich nach draußen. Hastings widersetzte sich dem Plan; aber Baikonur und vielen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft gefiel er.
Schließlich ging Ann ans Telefon. Sie sprach sehr knapp und arrogant, obwohl sie verschreckt aussah. »Ich bin hier die geologische Leiterin und sage, dass es gemacht werden muss. Es wird keine bessere Gelegenheit geben, an Ort und Stelle Daten über die ursprüngliche Lage auf der Polkappe zu bekommen. Sie ist ein empfindliches System, und jede Veränderung in der Atmosphäre wird sie schwer treffen. Und ihr habt doch Pläne, das zu tun, nicht wahr? Sax, arbeitest du noch an diesen Windmühlenheizern?«
Sax hatte nicht an der Diskussion teilgenommen und musste ans Telefon gerufen werden. »Sicher«, sagte er, als die Frage wiederholt wurde. Er und Hiroko hatten die Idee aufgebracht, kleine Windmühlen herzustellen, die über dem ganzen Planeten von Luftschiffen abgeworfen werden sollten. Die beständigen Westwinde würden die Mühlen antreiben, und die Rotation würde im Fuße der Mühlen in Spulen zu Wärme umgewandelt werden, und diese Wärme würde einfach in die Atmosphäre entlassen werden. Sax hatte schon eine robotische Fabrik entworfen für die Herstellung der Windmühlen. Er hoffte, sie zu Tausenden herstellen zu können. Vlad wies darauf hin, dass die gewonnene Wärme auf Kosten einer Verlangsamung der Winde gehen würde. Man konnte nichts umsonst haben. Sax argumentierte sofort, dass das ein Nebengewinn sein würde angesichts der Strenge der globalen Staubstürme, die der Wind manchmal bewirkte. »Etwas Wärme für ein bisschen Wind ist ein großer Gewinn.«
»Also jetzt eine Million Windmühlen«, sagte Ann. »Und das ist bloß der Anfang. Du hast doch auch davon gesprochen, schwarzen Staub auf die Polkappen zu streuen, nicht wahr, Sax?«
»Das würde die Atmosphäre schneller verdichten als jede andere Maßnahme, die wir ergreifen könnten.«
»Wenn ihr also freie Hand bekommt, ist das Schicksal der Kappen besiegelt«, sagte Ann. »Sie werden verdunsten; und dann werden wir fragen: ›Wie waren sie eigentlich?‹ Und wir werden es nicht wissen.«
»Habt ihr genügend Material und genug Zeit?« fragte John.
»Wir werden euch Nachschub abwerfen«, sagte Arkady wieder.
»Es sind vier Monate Sommer«, gab Ann zu bedenken.
»Bloß weil es dein Wille ist, zum Pol zu gehen!« sagte Frank vorwurfsvoll.
»So?« entgegnete Ann. »Du bist vielleicht hier hergekommen, um Büropolitik zu machen, aber ich beabsichtige, mich hier etwas umzusehen.«
Nadia verzog das Gesicht. Damit war dieser Teil des Gesprächs beendet, und Frank würde wütend sein. Das war nie eine gute Idee. Ann, Ann …
Am nächsten Tage machten sich die Dienststellen der Erde geltend mit der Ansicht, dass die Polkappe in ihrer urtümlichen Verfassung erforscht und dokumentiert werden müsse. Keine Einwände seitens der Basis, obwohl Frank nicht mehr ans Telefon ging. Simon und Nadia jubelten. »Auf nach Norden zum Pol!«
Phyllis schüttelte bloß den Kopf. »Ich verstehe das nicht. George, Edvard und ich werden als Rückendeckung hier bleiben und uns vergewissern, dass der Eis-Schürfer richtig funktioniert.«
Also nahmen Ann, Nadia und Simon den Rover drei und fuhren wieder das Chasma Borealis hinunter und dann nach Westen, wo ein von der Kappe heruntergleitender Gletscher sich zu einer perfekten Rampe abflachte. Das Geflecht der großen Roverräder griff wie ein Schneemobil und lief gut über alle die verschiedenen Oberflächen der Kappe, über Flecke von freiliegendem granulären Staub, niedrige Hügel aus hartem Eis, Felder von blendend weißem CO2-Reif und das übliche Spitzenmuster aus sublimiertem Wasser-Eis. Flache Täler zogen sich im Uhrzeigersinn vom Pol weg. Manche davon waren sehr breit. Bei deren Durchquerung mussten sie einen holprigen Abhang hinunterfahren, der sich nach rechts und links über beide Horizonte hinweg krümmte. Das alles war bedeckt von hellem Trockeneis. Dies ging so weiter über zwanzig Kilometer, bis die ganze sichtbare Welt strahlend weiß war. Dann erschien vor ihnen eine Steigung aus dem vertrauteren schmutzig roten Wasser-Eis, von Konturlinien gestreift. Als sie den Boden der Senke kreuzten, teilte sich die Welt in zwei Teile: weiß hinten, und schmutzig rosa vorn. Als sie die nach Süden gerichteten Hänge hinauffuhren, fanden sie das Wasser-Eis mehr verrottet als anderswo. Aber Ann erklärte, dass sich in jedem Winter ein Meter Trockeneis auf der beständigen Kappe absetzte und das morsche Filigran des Sommers zerquetschte, so dass die Gruben in jährlichem Rhythmus angefüllt wurden. Und die großen Räder des Rovers knirschten hindurch.
Nach den Strudeltälern befanden sie sich auf einer glatten weißen Ebene, die sich nach allen Richtungen bis zum Horizont hinzog. Hinter dem polarisierten und getönten Glas der Fenster des Rovers war das Weiß makellos und rein. Einmal passierten sie einen niedrigen Ringhügel, das Zeichen für einen relativ neuen Meteoritenaufprall, ausgefüllt durch nachfolgende Eisablagerung. Sie hielten natürlich an, um Bohrproben zu nehmen. Nadia musste Ann und Simon auf vier Bohrungen täglich beschränken, um Zeit zu sparen und zu verhindern, dass die Gepäckräume des Rovers überlastet würden. Und es waren nicht bloß Bohrungen. Oft kamen sie an isolierten Felsen vorbei, die wie Magritte-Skulpturen auf dem Eis lagen. Das waren Meteorite. Sie sammelten die kleinsten von ihnen ein und nahmen Proben von den größeren. (Einmal begegnete ihnen sogar einer, der so groß war wie der Rover.) Sie bestanden größtenteils aus Nickeleisen, oder es waren Chondrite. Während Ann an einem solchen herumschnippelte, sagte sie zu Nadia: »Du weißt, man hat auf der Erde Meteorite gefunden, die vom Mars stammen. Auch das Umgekehrte kommt vor, wenn auch viel seltener. Es erfordert einen wirklich großen Aufprall, um Steine aus dem Schwerefeld der Erde zu schleudern, dass sie hier herkommen — mindestens fünfzehn Kilometer pro Sekunde. Ich habe gehört, dass etwa zwei Prozent des der Erde entrissenen Materials auf dem Mars enden. Aber nur von den größten Treffern. Es wäre eigenartig, hier einen Brocken vom Yucatan-Me-teoriten zu finden, nicht wahr?«
»Aber das war vor sechzig Millionen Jahren«, sagte Nadia. »Er wäre tief unter dem Eis begraben.«
»Stimmt.« Später, auf dem Rückweg zum Rover, sagte sie: »Nun, wenn sie diese Kappen abschmelzen, werden wir einige finden. Wir werden dann ein ganzes Museum von allen möglichen Meteoriten haben, die auf dem Sand herumsitzen.«
Sie durchquerten immer mehr Strudeltäler und verfielen wieder in das alte Muster eines Schiffs über den Wellen. Diesmal waren es die bisher größten Wellen, vierzig Kilometer von Kamm zu Kamm. Sie benutzten die Uhren, um einen Zeitplan einzuhalten, und parkten von zehn bis siebzehn Uhr auf kleinen Hügeln oder eingesunkenen Kraterrändern, um während der Pausen ein Bild vor Augen zu haben. Und sie verdunkelten die Fenster mit doppelter Polarisation, um nachts etwas Schlaf zu bekommen.
Dann, als sie eines Morgens dahinknirschten, stellte Ann das Radio an und begann mit den areosynchronen Satelliten Kontrollmessungen auszuführen. Sie sagte bei der Arbeit: »Es ist nicht leicht, den Pol zu finden. Die frühen Forschungsreisenden auf der Erde hatten es im Norden höllisch schwer. Sie waren immer im Sommer dort und konnten die Sterne nicht sehen. Sie hatten noch keine Satellitenpeilungen.«
»Wie haben sie es dann gemacht?« fragte Nadia, plötzlich neugierig geworden.
Ann dachte darüber nach und lächelte. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht sehr gut, fürchte ich. Vermutlich Koppelnavigation.«
Nadia wurde von diesem Problem gepackt und fing an, auf einem Skizzenblock daran zu arbeiten. Geometrie war nie ihre Stärke gewesen. Aber vermutlich würde die Sonne am Mittsommertag einen perfekten Kreis um den Horizont beschreiben, ohne höher oder tiefer zu gehen. Wenn man also in Nähe des Pols war und fast am Mittsommertag, könnte man die Höhe der Sonne über dem Horizont von Zeit zu Zeit messen … War das richtig?
»Das ist es«, sagte Ann.
»Was?«
Sie hielten den Rover an und sahen sich um. Die weiße Ebene erstreckte sich in Wellen bis zum nahen Horizont, ohne Merkmale außer einigen breiten roten Konturlinien. Diese Linien bildeten keine konzentrischen Kreise um sie herum, und es sah nicht so aus, als hätten sie irgendeinen Höhepunkt erreicht.
»Wo genau?« fragte Nadia.
»Nun, irgendwie gerade nördlich von hier.« Ann lächelte wieder. »Innerhalb von einem oder zwei Kilometern. Vielleicht in dieser Richtung.« Sie zeigte nach rechts. »Wir werden ein Stück dort hinübergehen und mit dem Satelliten wieder kontrollieren müssen. Ein wenig Triangulation, und wir sollten imstande sein, ihn auf den Kopf zu treffen. Jedenfalls plus oder minus etwa hundert Meter.«
»Wenn wir uns die Zeit nähmen, könnten wir es auf plus oder minus ein Meter bringen«, sagte Simon begeistert. »Lasst es uns genau festlegen!«
Also fuhren sie eine Minute lang weiter, befragten das Radio, machten nach rechts kehrt und fuhren weiter. Dann berieten sie sich wieder. Schließlich erklärte Ann, sie wären dort, oder nahe genug. Simon wies den Computer an, weiter daran zu arbeiten, und sie zogen sich an, gingen hinaus und wanderten etwas umher, um sich zu vergewissern, dass sie den Pol betreten hatten. Ann und Simon bohrten ein Loch. Nadia ging weiter, in einer Spirale, die vom Wagen wegführte. Eine rötliche weiße Ebene, der Horizont etwa vier Kilometer entfernt — zu nahe. Es überkam sie jäh, wie bei dem schwarzen Sonnenuntergang, dass dies fremdartig war. Eine scharfe Empfindung der Nähe des Horizonts, die traumhaft geringe Schwere, eine Welt, die nur eben so groß war und nicht größer … Und jetzt stand sie genau auf deren Nordpol. Es war Ls = 92, so nahe dem Mittsommer, wie man verlangen konnte. Wenn sie also dastand, die Sonne direkt vor sich, und sich nicht bewegte, dann würde diese in gleicher Höhe bleiben und den Rest des Tages um sie kreisen, oder auch den Rest der Woche! Das war fremdartig. Sie drehte sich wie ein Kreisel. Wenn sie lange genug still stand, würde sie es dann fühlen?
Ihre polarisierte Visierscheibe reduzierte den Glanz der Sonne auf dem Eis zu einem Bogen aus kristallinen regenbogenfarbigen Punkten. Es war nicht sehr kalt. Sie konnte nur gerade eine Brise mit ihrer erhobenen Handfläche spüren. Ein lieblicher roter Streifen aus abgelagertem Schichtmaterial lief wie eine geographische Länge markierende Linie über den Horizont. Sie lachte bei diesem Gedanken. Um die Sonne herum war ein sehr schwacher Eisring, so groß, dass sein unterer Bogen eben den Horizont berührte. Eis sublimierte von der Polkappe und schimmerte oben in der Luft. Dadurch entstanden die Kristalle in dem Ring. Grinsend stampfte sie die Abdrücke ihrer Stiefel in den Nordpol des Mars.
An diesem Abend stellten sie die Polarisatoren so ein, dass sie ein sehr gedämpftes Bild der weißen Wüste in den Fenstern des Moduls umgab. Nadia hatte sich zurückgelehnt mit einer leeren Ess-Schüssel im Schoß und trank eine Tasse Kaffee. Die Digitaluhr sprang von 23.59.59 auf 0.00.00 und hielt an. Ihre Ruhe betonte die Stille im Wagen. Simon schlief, Ann saß im Fahrersitz und starrte auf die Szene hinaus. Sie hatte ihr Abendessen zur Hälfte verspeist. Kein Laut außer dem Summen des Ventilators. Nadia sagte: »Ich freue mich, dass du uns hier heraufgebracht hast. Es war großartig.«
»Irgendwer sollte sich darüber freuen«, erwiderte Ann. Wenn sie ärgerlich oder mürrisch war, wurde ihre Stimme flach und distanziert. »Es wird hier nicht lange so bleiben.«
»Bist du sicher, Ann? Das Eis ist hier fünf Kilometer tief, hast du doch gesagt. Denkst du wirklich, dass es vollkommen verschwinden wird, bloß weil schwarzer Staub darauf liegt?«
Ann zuckte die Achseln. »Es kommt darauf an, wie warm wir es machen. Und wie viel Wasser es insgesamt auf dem Planeten gibt, und wie viel von dem Wasser im Regolith an die Oberfläche gelangen wird, wenn wir die Atmosphäre heizen. Wir wissen von all diesen Dingen nichts, ehe sie eintreten. Aber ich fürchte, dass diese Kappe, da sie der primär exponierte Wasserkörper ist, gegen Veränderungen am empfindlichsten sein wird. Sie könnte gänzlich wegsublimieren, ehe ein bedeutsamer Teil des Permafrostes geschmolzen ist.«
»Völlig?«
»Oh, gewiss wird jeden Winter etwas abgelagert werden. Aber das ist gar nicht so viel Wasser, wenn man es aus globaler Perspektive betrachtet. Dies ist eine trockene Welt, die Atmosphäre ist superarid. Antarctica wirkt daneben wie ein Dschungel. Und denk daran, wie dieser Ort uns auszudörren versuchte. Wenn also die Temperaturen hoch genug ansteigen, wird das Eis wirklich in sehr hohem Tempo sublimieren. Diese ganze Kappe wird sich in die Atmosphäre verlagern und nach Süden geweht werden, wo sie bei Nacht ausfriert. Also wird sie im Effekt wieder gleichmäßig über den ganzen Planeten verteilt werden, in einer Schicht von ungefähr einem Zentimeter Dicke.« Sie zog eine Grimasse. »Natürlich noch weniger; denn das meiste davon wird in der Luft bleiben.«
»Wenn es aber noch wärmer wird, wird der Reif schmelzen, und es wird regnen. Dann haben wir Flüsse und Seen, nicht wahr?«
»Falls der atmosphärische Druck hoch genug ist. Flüssiges Oberflächenwasser hängt ebenso vom Luftdruck ab wie von der Temperatur. Wenn beide steigen, könnten wir in einigen Jahrzehnten hier auf Sand herumlaufen.«
»Das wird eine beachtliche Meteoritensammlung ergeben«, sagte Nadia im Versuch, Anns Stimmung zu heben.
Das klappte nicht. Ann zog den Mund zusammen, starrte aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht konnte so traurig sein. Das ließ sich nicht allein dem Mars zuschreiben. Da musste noch mehr dran sein, etwas, das diesen starken inneren Krampf und diesen Ärger erklärte. Es fiel schwer zuzusehen. Wenn Maya unglücklich war, war es, als ob Ella Fitzgerald einen Blues sänge. Man wusste, es war aufgesetzt. Der Überschwang strömte einfach hindurch. Aber wenn Ann unglücklich war, schmerzte es hinzusehen.
Jetzt nahm sie ihre Schüssel mit Lasagne und lehnte sich zurück, um sie in die Mikrowelle zu tun. Hinter ihr schimmerte die weiße Ferne unter einem schwarzen Himmel, als ob die Welt draußen ein fotografisches Negativ wäre. Die Uhr sprang auf 0.00.01.
Vier Tage später waren sie vom Eis herunter. Während sie ihre Route rückwärts zu Phyllis und George verfolgten, rollten die drei Reisenden über eine Steigung und hielten an. Am Horizont war eine Struktur. Aus dem flachen Sediment des Chasmabodens ragte ein klassischer griechischer Tempel empor, sechs dorische Säulen aus weißem Marmor, überdeckt von einem runden Flachdach.
»Was, zum Teufel …?«
Beim Näher kommen sahen sie, dass die drei Säulen aus Eistrommeln des Schürfers bestanden, die man aufeinander getürmt hatte. Die Scheibe, die als Dach diente, war roh ausgehauen.
»Georges Idee«, sagte Phyllis über Radio.
»Ich habe bemerkt, dass die Eiszylinder ebenso groß waren wie die Marmortrommeln, die die Griechen für ihre Säulen benutzt haben«, sagte George, der sichtlich mit sich zufrieden war. »Danach lag es auf der Hand.
Und der Schürfer läuft perfekt. Also konnten wir etwas die Zeit totschlagen.«
»Es sieht großartig aus«, sagte Simon. Und da hatte er recht. Ein fremdartiges Bauwerk schimmerte traumhaft wie Fleisch in den langen Dämmerungszeiten, als ob Blut unter seinem Eis flösse. »Ein Tempel für Ares.«
»Für Neptun«, korrigierte George. »Ich glaube nicht, dass wir Ares allzu oft beschwören sollten.«
»Besonders in Anbetracht der Leute im Basislager«, sagte Ann.
Während sie nach Süden fuhren, zog sich ihre Bahn aus Radspuren und Transpondern vor ihnen her, so deutlich wie jede Fernstraße mit einer Betondecke. Es war nicht nötig, dass Ann darauf hinwies, wie sehr dies das Gefühl ihrer Reise veränderte. Sie erforschten nicht mehr unberührtes Land, und die Natur der Landschaft selber war verändert, in links und rechts gespalten durch die parallelen Linien quergerippter Reifenspuren und durch die grünen, vom Staub leicht mattierten Kanister, die alle ›den Weg‹ markierten. Es war nicht mehr Wildnis. Darauf kam es ja beim Straßenbau auch an. Sie konnten das Fahren dem automatischen Piloten von Rover Drei überlassen, und taten das auch oft.
Also gondelten sie mit dreißig km/h dahin mit nichts weiter zu tun, als die zweigeteilte Aussicht zu genießen oder miteinander zu reden, was sie nicht häufig taten, außer an dem Morgen, wo sie in eine hitzige Diskussion über Frank Chalmers gerieten. Ann erklärte ihn für einen abgefeimten Machiavellisten. Phyllis bestand darauf, dass er nicht schlimmer wäre als jeder beliebige Machthaber. Nadia erinnerte sich an ihre Gespräche mit ihm über Maya und wusste, dass es komplizierter war als eine dieser beiden Ansichten. Aber Anns Mangel an Diskretion machte sie bestürzt; und als Phyllis weiter damit fortfuhr, wie Frank sie in den letzten Monaten der Ausreise zusammengehalten hätte, sah Nadia Ann scharf an, um ihr mit Blicken klarzumachen, dass sie zu dem falschen Publikum redete. Phyllis wurde ihre Indiskretionen später gegen sie verwenden. Das war klar. Aber Ann verstand sich schlecht darauf, Blicke zu deuten.
Dann bremste der Rover plötzlich und blieb stehen. Niemand hatte aufgepasst, und sie sprangen alle zum Frontfenster.
Vor ihnen befand sich eine flache weiße Fläche, die ihre Straße auf fast hundert Meter bedeckte. »Was ist das?« schrie George.
»Unsere Permafrostpumpe«, sagte Nadia und zeigte hin. »Sie muss versagt haben?«
»Oder hat zu gut gearbeitet«, sagte Simon. »Das ist Wasser-Eis!«
Sie schalteten den Rover auf Handsteuerung und fuhren näher heran. Das Übergelaufene bedeckte die Straße wie eine Tünche aus weißer Lava. Sie zwängten sich in ihre Anzüge und gingen zum Ende des Ergusses.
»Unsere private Eisbahn«, sagte Nadia und ging zur Pumpe. Sie löste das Isolationspolster und warf einen Blick hinein. »Aha — ein Leck in der Isolation. Genau hier ist Wasser gefroren und hat den Sperrhahn in Stellung ›offen‹ blockiert. Ein ganz anständiger Druck, möchte ich sagen. Ist gelaufen, bis es dick genug einfror, um es zum Stillstand zu bringen. Ein Hammerschlag könnte uns einen kleinen Geyser bescheren.«
Sie ging zu ihrem Werkzeugfach unterhalb des Moduls und holte eine Spitzhacke heraus. »Aufpassen!« Sie schlug einmal auf die weiße Eismasse dort, wo die Pumpe mit dem Zuleitungsrohr für den Tank verbunden war. Ein dicker Wasserschwall spritzte ein Meter hoch in die Luft. »Oha!« Er platschte dampfend auf die weiße Eisfläche, wo er binnen Sekunden gefror und sich auf dem dort schon vorhandenen Eis wie in weißen Blütenblättern ausbreitete. »Seht euch das an!«
Auch das ganze Loch fror zu, der Wasserstrom hörte auf, und der Dampf wurde davongetragen.
»Schaut, wie schnell es gefroren ist!«
»Sieht genau so aus wie diese Spritzkrater«, bemerkte Nadia grinsend. Es war ein wundervoller Anblick gewesen, wie Wasser ausströmte und wie verrückt dampfte, als es einfror.
Nadia klopfte an dem Eis um das Sperrventil herum, während Ann und Phyllis über Wanderung von Permafrost und Wassermengen in dieser Breite etc. etc. diskutierten. Man möchte meinen, sie wären dessen überdrüssig geworden. Aber sie mochten einander wirklich nicht und konnten nicht aufhören. Es wäre die letzte Reise, die sie zusammen unternehmen würden, das war sicher. Nadia hatte keine Lust, jemals wieder mit Phyllis, George und Edvard zu reisen. Die waren zu selbstgefällig und zu sehr eine kleine intime Gruppe für sich. Aber auch Ann war etlichen anderen Leuten entfremdet. Wenn sie nicht Acht gäbe, würde sie überhaupt niemanden haben, um sie auf ihren Fahrten zu begleiten. Zum Beispiel Frank — die Bemerkung über ihn neulich in der Nacht und dann ausgerechnet Phyllis erzählen, wie schrecklich er war — entsetzlich!
Und wenn sie sich von allen außer Simon entfremdete, würde sie nach Konservation lechzen; denn Simon Frazier war der stillste Mann der ganzen Expedition. Er hatte während der ganzen Länge der Reise kaum zwanzig Sätze gesprochen. Es war geradezu unheimlich, als ob man mit einem Taubstummen führe. Außer, er redete vielleicht mit Ann, wenn sie allein waren. Wer konnte das wissen?
Nadia brachte das Ventil in Sperrstellung und schaltete dann die Pumpe ab. »Wir werden hier so weit im Norden dickere Isolierung brauchen«, sagte sie zu niemandem im besonderen, als sie ihr Werkzeug wieder zum Rover brachte. Sie war all der Intrigen müde und wollte wieder ins Basislager zurück und an ihre Arbeit. Sie wollte mit Arkady sprechen. Er würde sie zum Lachen bringen. Und ohne es zu versuchen oder auch nur genau zu wissen, wie, würde sie ihn auch zum Lachen bringen.
Sie taten ein paar Stücke von dem übergelaufenen Eis zu den übrigen Proben und stellten um die Stelle vier Transponder auf, um Robotpiloten darum herumzuführen. »Obwohl es wegsublimieren könnte, nicht wahr?« sagte Nadia.
Ann war in Gedanken versunken und hörte die Frage nicht. Sie murmelte vor sich hin: »Hier oben gibt es eine Menge Wasser.« Sie wirkte besorgt.
Phyllis rief: »Du hast verdammt recht, das gibt es. Warum werfen wir jetzt keinen Blick auf jene Bestände, die wir am Nordende von Mareotis geortet haben?«
Als sie der Basis näher kamen, wurde Ann noch wortkarger und zurückgezogener. Ihr Gesicht war unbewegt wie eine Maske. »Was ist los?« fragte Nadia eines Abends, als sie zusammen kurz vor Sonnenuntergang im Freien waren und einen defekten Transponder reparierten.
»Ich will nicht zurückgehen«, sagte Ann. Sie kniete bei einem freistehenden Felsblock und klopfte daran herum. »Ich wünschte mir, dass dieser Trip kein Ende hätte. Ich möchte die ganze Zeit unterwegs sein, hinab in die Canyons, hinauf auf die Vulkanränder, hinein in das Chaos und die Berge um Hellas. Ich werde nie aufhören wollen.« Sie seufzte. »Aber … ich bin ein Teil des Teams. Also muss ich wieder in das elende Loch zurückkrabbeln zu all den anderen.«
»Ist das wirklich so schlimm?« fragte Nadia und dachte an ihre schönen Tonnengewölbe, das dampfende Strudelbad und ein Glas eisgekühlten Wodkas.
»Du weißt, dass es das ist! Vierundzwanzigeinhalb Stunden täglich unter der Oberfläche in diesen kleinen Räumen, wenn Maya und Frank ihre politischen Spielchen betreiben und Arkady und Phyllis ständig über alles streiten — was ich übrigens jetzt verstehe, glaube mir. Und wo George jammert und John in einem Nebel schwebt und Hiroko von ihrem kleinen Imperium besessen ist. Vlad auch, Sax auch … Ich meine, was für ein Haufen!«
»Sie sind nicht schlechter als jeder andere. Nicht schlechter und nicht besser. Du musst zurechtkommen. Du könntest hier nicht ganz für dich allein sein.«
»Nein. Aber ich habe das Gefühl, als wäre ich überhaupt nicht hier, wenn ich in der Basis bin. Ich könnte ebenso gut wieder auf dem Schiff sein.«
»Nein, nein«, sagte Nadia. »Du vergisst.« Sie gab dem Felsen, an dem Ann weiterarbeitete, einen Tritt, und Ann blickte überrascht auf. »Du kannst Steine wegstoßen, siehst du? Ann, wir sind hier. Hier auf dem Mars. Stehen auf ihm. Und jeden Tag kannst du hinausgehen und umherlaufen. Und du wirst in deiner Position so viele Reisen machen wie jeder andere.«
Ann blickte weg. »Manchmal kommt es mir gar nicht so vor.«
Nadia starrte sie an. »Nun gut, Ann. Die Strahlung hält uns mehr unter der Oberfläche als alles andere. Was du sagst, läuft praktisch darauf hinaus, dass du willst, die Strahlung sollte verschwinden. Was bedeutet, die Atmosphäre dichter zu machen, was aufs Terraformen hinausläuft.«
»Ich weiß.« Ihre Stimme war gepresst — so sehr, dass mit einemmal der zurückhaltende sachliche Ton verloren und vergessen war. »Glaubst du, dass ich das nicht weiß?« Sie stand auf und schwang den Geologenhammer. »Aber es ist nicht richtig! Ich meine, ich schaue auf dieses Land, und … und ich liebe es. Ich möchte immer draußen sein und es bereisen, es studieren, darauf leben und es kennen lernen. Aber wenn ich das tue, dann verändere ich es. Ich zerstöre das, was ich liebe und darin liebe. Diese Straße, die wir angelegt haben — es schmerzt mich, sie zu sehen! Und das Basislager ist wie ein Tagebau, inmitten einer Wüste, die nie angetastet wurde seit dem Anfang der Zeit. So hässlich, so …
Ich will dem Mars nicht das alles antun. Nein, Nadia! Ich würde lieber sterben. Lasst den Planeten in Ruhe, lasst ihm seine Wildheit und lasst die Strahlung tun, was sie will! Das ist sowieso nur eine Sache der Statistik. Ich meine, wenn sie meine Chance auf Krebs um das Zehnfache erhöht, dann wird es mir neun Male von zehn gut gehen.«
»Fein für dich«, sagte Nadia. »Oder für jeden einzelnen. Aber für die Gruppe, für alle Lebewesen hier — der genetische Schaden, weißt du. Im Laufe der Zeit könnte er uns zu Krüppeln machen. Also du weißt, dass du nicht nur an dich allein denken kannst.«
»Teil eines Teams«, sagte Ann niedergeschlagen.
»Ja, das bist du.«
»Ich weiß.« Sie seufzte. »Wir alle werden das sagen. Wir alle werden gehen und den Platz sicher machen. Straßen, Städte. Neuer Himmel, neuer Boden. Bis das alles ein Teil von Sibirien oder den amerikanischen Nordwestterritorien ist. Der Mars wird dahin sein, und wir werden hier sein und uns wundern, warum wir uns so leer fühlen. Wie wäre es, wenn wir das Land anschauen und niemals wieder etwas sehen können als unsere eigenen Gesichter?«
Am zweiundsechzigsten Tag ihrer Reise sahen sie Rauchfahnen über dem Südhorizont, braune, graue, weiße und schwarze Streifen, die aufstiegen, sich vermischten und zu einer Pilzwolke mit flachem Oberteil aufblähten, die nach Westen zog. »Endlich wieder daheim«, sagte Phyllis vergnügt.
Ihre Spuren von der Hinreise, halb von Staub gefüllt, führten sie wieder zu dem Rauch. Durch die Zone der Frachtlandungen, über einen von Fahrspuren kreuz und quer gezeichneten Boden, über einen Boden, der zu leicht rotem Sand getrampelt war, vorbei an Senken und Hügeln, Gruben und Pfählen und schließlich zu dem großen rohen Hügel der Dauersiedlung, einer quadratischen Schanze aus Erde, auf der jetzt ein silbriges Netz von Magnesiumträgern stand. Dieser Anblick reizte Nadias Interesse; aber als sie weiterrollten, konnte sie nicht umhin, das Gewirr von Rahmen, Kisten, Traktoren, Kränen, Ersatzteilhaufen, Abfallgruben, Windmühlen, Sonnenpaddeln, Wassertürmen, Betonstraßen, die nach Ost, West, Süd und Nord führten, sowie Luftsammlern zu bemerken, ferner die niedrigen Gebäude des Alchemistenviertels, deren Schornsteine die Rauchfahnen ausstießen, die sie gesehen hatten. Die Stapel von Glas, die runden Kegel von grauem Kies, die großen Haufen aus rohem Regolith bei der Zementfabrik und die kleinen Haufen von Regolith, die überall sonst verstreut waren. Das Ganze hatte das unordentliche, funktionale, hässliche Aussehen von Vanino oder Usman oder irgendwelcher stalinistischer Schwerindustriestädte im Ural oder der Ölfelder von Yakut. Sie rollten gute fünf Kilometer durch diese Verwüstung; und dabei wagte Nadia nicht, Ann anzuschauen, die schweigend neben ihr saß und Widerwillen und Ekel ausstrahlte. Auch Nadia war schockiert und davon überrascht, wie sie sich selbst verändert hatte. Vor der Reise hatte das alles völlig normal gewirkt und hatte ihr sogar sehr gefallen. Jetzt war ihr leicht übel, und sie fürchtete, dass Ann etwas Gewalttätiges tun könnte, besonders wenn Phyllis noch etwas mehr sagen würde. Aber Phyllis hielt den Mund, und sie fuhren in das Traktorengelände außerhalb der Nordgarage und hielten an. Die Reise war zu Ende.
Einen nach dem anderen zwängten sie die Rover in die Wand der Garage und krochen durch die Türen hinaus. Ringsum drängten sich vertraute Gesichter: Maya, Frank, Michel, Sax, John, Ursula, Spencer, Hiroko und alle übrigen, wirklich wie Brüder und Schwestern; aber so viele, dass Nadia überwältigt war. Sie schrumpfte zusammen wie eine Mimose und konnte kaum sprechen. Sie hatte das Verlangen, etwas zu packen, das ihr zu entkommen schien. Sie sah sich um nach Ann und Simon, aber die waren von einer anderen Gruppe mit Beschlag belegt und wirkten bestürzt. Ann war stoisch eine Maske ihrer selbst.
Phyllis sprach für sie alle. »Es war hübsch, wirklich eindrucksvoll. Die Sonne schien die ganze Zeit, und das Eis gibt es dort wirklich. Wir haben Zugang zu einer Menge Wasser bekommen. Es ist wie die Arktis, wenn man sich auf dieser Polkappe befindet …«
»Habt ihr etwas Phosphorhaltiges entdeckt?« fragte Hiroko. Es war wunderbar, Hirokos Gesicht zu sehen, die wegen des Mangels an Phosphor für ihre Pflanzen besorgt war. Ann sagte ihr, sie hätten Verwehungen von Sulfaten in dem leichten Material um die Krater in Acidalia gefunden. Also gingen sie zusammen los, um die Proben anzuschauen. Nadia folgte den anderen durch die unterirdische, mit Betonwänden versehene Passage in die Dauersiedlung. Sie dachte an eine richtige Dusche und frisches Gemüse. Dabei hörte sie halb Maya zu, die ihr die letzten Nachrichten verkündete. Sie war wieder daheim!
Zurück an die Arbeit! Und die war wie zuvor unerbittlich und vielseitig. Eine endlose Liste von Dingen, die getan werden mussten, und nie genug Zeit; denn obwohl manche Aufgaben viel weniger menschliche Zeit erforderten, als Nadia erwartet hatte, da sie für Roboter geeignet waren, erforderte alles andere mehr. Und nichts davon bereitete ihr die gleiche Freude wie damals der Bau der Räume mit Tonnengewölbe, selbst wenn es technisch interessant war.
Wenn sie wollten, dass der zentrale Platz unter der Kuppel irgendeinen Nutzen haben sollte, mussten sie ein Fundament legen, das von unten nach oben aus Kies, Beton, Kies, Fiberglas, Regolith und schließlich behandeltem Boden bestand. Die Kuppel selbst würde aus doppelten Scheiben von dickem behandeltem Glas bestehen, um den Druck auszuhalten und UV-Strahlen abzuschwächen, sowie einen gewissen Prozentsatz an kosmischer Strahlung abzuhalten. Wenn das alles geschehen war, hätten sie ein zentrales Garten-Atrium von zehntausend Quadratmetern. Wirklich ein eleganter und befriedigender Plan. Aber während Nadia an den verschiedenen Aspekten des Bauwerks arbeitete, fand sie, dass ihr Geist abschweifte und ihr Magen sich verkrampfte. Maya und Frank sprachen nicht mehr miteinander in ihren offiziellen Funktionen, was darauf hinwies, dass ihre private Beziehung wirklich auf einem Tiefpunkt war. Und Frank schien auch nicht gewillt, mit John zu sprechen, was ein Jammer war. Die geplatzte Affäre zwischen Sasha und Yeli war zu einer Art Bürgerkrieg zwischen ihren Freunden geworden; und Hirokos Schar, Iwao, Paul, Ellen, Rya, Gene, Evgenia und der Rest, verbrachte, vielleicht in Reaktion auf all dies, jeden Tag draußen im Atrium oder in den Gewächshäusern. Sie lebten da draußen zusammen, mehr zurückgezogen denn je. Vlad und Ursula und der Rest des medizinischen Teams waren so in Forschungen vertieft, dass klinische Arbeit mit den Kolonisten fast unterblieb, was Frank erboste. Und die Geningenieure verbrachten ihre ganze Zeit draußen in dem umgewandelten Anhängerpark, in den Labors.
Und dennoch verhielt sich Michel, als wäre nichts abnormal und als wäre er nicht der psychologische Beamte der Kolonie. Er verbrachte viel Zeit damit, französisches Fernsehen anzuschauen. Als Nadia ihn wegen Frank und John fragte, machte er nur ein ausdrucksloses Gesicht.
Sie waren jetzt seit 420 Tagen auf dem Mars, und die ersten Sekunden ihres Universums waren vergangen. Sie kamen nicht mehr zusammen, um die Arbeit des nächsten Tages zu planen oder zu besprechen, was sie machten. »Zu beschäftigt«, sagten die Leute zu Nadia, wenn sie fragte. »Nun, das ist zu kompliziert zu beschreiben, weißt du. Du würdest dabei einschlafen. Mir geht es jedenfalls so.« Und so weiter.
Und dann sah sie, in stillen Momenten mit ihrem geistigen Auge die schwarzen Dünen, das weiße Eis, die Silhouetten der Gestalten vor dem Himmel eines Sonnenuntergangs. Sie erbebte dann und kam mit einem Seufzer wieder zu sich. Ann hatte tatsächlich einen neuen Ausflug arrangiert und war fort, diesmal nach Süden zu den nördlichsten Armen der großen Valles ,Marineris, um noch mehr unvorstellbare Wunder zu schauen. Aber Nadia wurde im Basislager gebraucht, ob sie mit Ann in die Canyons losziehen wollte oder nicht. Maya beklagte sich darüber, wie viel Ann fort war. »Es ist klar, dass sie und Simon etwas angefangen haben und nun da draußen Flitterwochen feiern, während wir hier drinnen schuften.« Das war Mayas Art, die Dinge anzuschauen. Das wäre nötig, um Maya so glücklich zu machen, wie Ann klang, wenn sie anrief. Aber Ann war in den Canyons; und das allein genügte, um sie so heiter zu stimmen. Falls sie und Simon ein Verhältnis angefangen hätten, wäre das nur eine natürliche Fortsetzung davon, und Nadia hoffte, es wäre so. Sie wusste, dass Simon Ann liebte, und sie hatte in Ann eine immense Einsamkeit gespürt, etwas, das einen menschlichen Kontakt brauchte. Wenn sie nur wieder mit ihnen beisammen sein könnte!
Aber sie musste arbeiten. Also arbeitete sie. Sie scheuchte Leute auf den Baustellen umher, sie stolzierte über die Bauplätze und schalt die nachlässige Arbeit ihrer Freunde. Ihre Versehrte Hand hatte während der Reise wieder etwas Kraft gewonnen, so dass sie wieder Traktoren und Bulldozer fahren konnte. Sie verbrachte damit lange Tage. Aber es war nicht mehr dasselbe.
Bei Ls = 208° kam Arkady zum ersten Mal auf den Mars herunter. Nadia ging zu dem neuen Raumhafen hinaus und stand am Rande der breiten Fläche aus staubigem Zement, um die Ankunft zu beobachten. Sie hüpfte von einem Fuß auf den anderen. Der ockerfarbene Zement trug schon die gelben und braunen Flecken früherer Landungen. Arkadys Kokon erschien an dem roten Himmel, ein weißer Punkt und dann eine gelbe Flamme wie eine umgedrehte Gasfackel. Schließlich löste er sich zu einer geodätischen Halbkugel auf mit Raketen und Beinen darunter, die auf einer Feuersäule herunterschwebte und mit unirdischer Sanftheit direkt auf dem Zentrumspunkt landete. Arkady hatte am Landeprogramm gearbeitet, offenbar mit Erfolg.
Er kletterte etwa zwanzig Minuten später aus der Luke des Landers und stand aufrecht auf der obersten Stufe, um sich umzuschauen. Selbstsicher ging er die Treppe hinunter und hüpfte, auf dem Boden angekommen, versuchsweise auf den Zehenspitzen, tat ein paar Schritte und drehte sich dann mit ausgebreiteten Armen um. Nadia erinnerte sich sofort daran, was für ein Gefühl diese Empfindung von Hohlheit gewesen war. Dann fiel er vornüber. Sie eilte auf ihn zu; und er sah sie, stand auf, reckte sich und trippelte wieder über den rauen Portlandzement. Sie half ihm wieder auf die Füße, und sie trafen in einer Umarmung zusammen und stolperten — er in einem großen Druckanzug und sie in einem Schutzanzug für den Mars. Sein haariges Gesicht sah durch die Visierscheiben schockierend real aus. Das Video hatte sie die dritte Dimension vergessen lassen und alles andere, das die Realität so lebhaft und wirklich machte. Er stieß mit seinem Visier gegen ihres und zeigte sein wildes Grinsen. Sie spürte die Spannung eines ähnlichen Lächelns auf ihrem Gesicht.
Er zeigte auf seine Armbandkonsole, und schaltete auf ihre private Frequenz um. Sie tat dasselbe.
»Willkommen auf dem Mars!«
Alex, Janet und Roger waren mit Arkady heruntergekommen; und als sie alle ausgestiegen waren, kletterten sie in einen offenen Wagen des Modells T, und Nadia fuhr sie zur Basis, erst über die breite befestigte Straße und dann in einer Abkürzung durch das Alchemistenviertel. Sie erzählte ihnen von jedem Gebäude, an dem sie vorbeikamen, und bemerkte, dass sie die schon alle kannten. Plötzlich wurde sie nervös, als sie sich erinnerte, wie es ihr nach der Reise zum Pol vorgekommen war. Sie hielten an der Garagenschleuse an, und Nadia führte sie hinein. Dort gab es noch eine Familienwiedervereinigung.
Später an diesem Tag führte Nadia Arkady durch das Quadrat überwölbter Räume, eine Tür nach der anderen, einen fertig ausgestatteten Raum nach dem anderen, alle vierundzwanzig, und dann hinaus ins Atrium. Der Himmel hatte durch die Glasscheiben eine rubinrote Farbe, und die Magnesiumstützen schimmerten wie mattiertes Silber.
»Nun?« fragte Nadia schließlich, unfähig, sich zurückzuhalten. »Was meinst du?«
Arkady lachte und zog sie an sich. Er trug noch seinen Raumanzug, und sein Kopf sah in der freien Halsöffnung klein aus. Er fühlte sich gepolstert und sperrig, und sie wollte ihn davon befreien.
»Nun, manches davon ist gut und manches schlecht. Aber warum ist es so hässlich? Warum ist es so trübselig?«
Nadia zuckte ärgerlich die Achseln. »Wir haben zu tun gehabt.«
»Wir auf Phobos auch, aber du solltest es sehen! Wir haben alle Gänge mit Paneelen aus Nickel mit Platinstreifen verkleidet und deren Oberflächen mit sich wiederholenden Mustern verziert, die die Roboter nachts anfertigten. Escher-Reproduktionen, Spiegel für endlose Bildreihen angeordnet, Szenen von der Erde — du solltest das sehen! Du kannst in eine der Kammern eine Kerze stellen, und es sieht aus wie die Sterne am Himmel oder ein Raum im Feuer. Jeder Raum ist ein Kunstwerk. Warte, bis du es siehst!«
»Ich warte schon darauf.« Nadia schüttelte den Kopf und lächelte ihn an.
An diesem Abend gab es ein großes kommunales Bankett in den vier zusammenhängenden Kammern, die den größten Raum in dem Komplex bildeten. Sie aßen Hähnchen und Sojaburger und üppige Salate, und alle redeten zugleich, so dass man an die besten Monate auf der Ares oder sogar in Antarctica erinnert wurde. Arkady erhob sich, um ihnen über die Arbeit auf Phobos zu berichten. »Ich freue mich, endlich in Underhill zu sein.« Sie waren fast damit fertig, den Stickney-Krater zu überkuppeln, sagte er ihnen. Und darunter waren lange Gänge in den brüchigen und an Brekzien reichen Fels gebohrt worden, die den Eisadern direkt durch den Mond folgten. »Gäbe es nicht die mangelnde Schwere, wäre es ein großartiger Ort«, schloss Arkady. »Aber dagegen können wir nichts tun. Wir haben den größten Teil unserer Freizeit in Nadias Gravitationszug verbracht, aber es ist eng, und inzwischen erfolgt alle Arbeit in Stickney oder darunter. Darum haben wir zu viel Zeit schwerelos oder im Training verbracht und dennoch an Kraft eingebüßt. Schon die Schwere auf dem Mars ermüdet mich jetzt. Ich bin schon ganz benommen.«
»Das bist du immer!«
»Also müssen wir dort die Crews regelmäßig auswechseln oder alles von Robotern erledigen lassen. Wir denken daran, dass wir alle endgültig herunterkommen. Wir haben unseren Part da oben erledigt. Eine funktionierende Raumstation ist jetzt bereit für diejenigen, welche folgen. Jetzt wollen wir unsere Belohnung hier unten.« Er hob sein Glas.
Frank und Maya runzelten die Stirn. Niemand würde gern zu Phobos hinaufgehen, und dennoch verlangten Houston und Baikonur, dass der Satellit stets besetzt sein sollte. Maya hatte den schon von der Ares geläufigen Gesichtsausdruck, der besagte, es sei alles Arkadys Fehler. Als Arkady das sah, brach er in Lachen aus.
Am nächsten Tage führten ihn Nadia und einige andere zu einer detaillierteren Tour durch Underhill und die umliegenden Einrichtungen; und er nickte die ganze Zeit mit seinem typisch glotzäugigen Blick, der einen veranlasste, zurückzunicken, wenn er sagte: »Ja, aber; ja, aber«, und dann folgte eine ins einzelne gehende Kritik nach der anderen, bis er schließlich sogar Nadia auf die Nerven fiel. Obwohl schwer zu bestreiten war, dass das Gebiet von Underhill arg mitgenommen war und bis zum Horizont in jeder Richtung verunstaltet, so dass es schien, das ginge über den ganzen Planeten so weiter.
Arkady sagte: »Es ist leicht, Backsteine zu färben. Man füge Manganoxid vom Magnesiumschmelzen hinzu, und schon hat man reinweiße Backsteine. Für Schwarz füge man Kohle hinzu, die beim Bosch-Verfahren übrig geblieben ist. Man kann jede gewünschte Stufe von Rot erhalten, indem man die Menge an Eisenoxiden verändert. Einschließlich einiger wirklich erstaunlicher Scharlachtöne. Schwefel für Gelb. Und es muss auch etwas für Grün und Blau geben. Ich weiß nicht, was; aber Spencer dürfte es wissen. Vielleicht irgendein Polymer auf Schwefelbasis. Ich weiß es nicht. Aber ein helles Grün würde an so einem roten Ort fabelhaft aussehen. Es wird vom Himmel eine schwärzliche Schattierung haben, aber dennoch grün sein und das Auge anziehen.
Und dann baut ihr mit diesen bunten Backsteinen Wände, die alle Mosaiken sind. Das ist eine schöne Arbeit. Jeder kann seine eigene Wand oder sein eigenes Gebäude haben, was immer er will. Alle Arbeitsstätten im Alchemistenviertel sehen aus wie Hinterhofgaragen oder weggeworfene Sardinendosen. Backstein um sie herum würde helfen, sie zu isolieren. Also gibt es einen guten wissenschaftlichen Grund dafür. Aber gewiss ist es ebenso wichtig, dass sie gut aussehen und dass es hier anheimelnd aussieht. Ich habe schon zu lange in einem Lande gelebt, das nur an Nützlichkeit dachte. Wir müssen zeigen, dass wir hier mehr als das wertschätzen, ja?«
»Ganz gleich, was wir mit den Gebäuden anfangen«, erklärte Maya scharf, »der Boden um sie herum wird dennoch ganz aufgerissen sein.«
»Aber nicht unbedingt! Schau, wenn die Bauarbeiten beendet sind, wäre es leicht möglich, den Boden wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen und dann lockeres Gestein darüberzubreiten auf eine Weise, die die einstige Ebene nachahmt. Staubstürme würden bald genug den erforderlichen Abrieb hinzufügen; und wenn die Leute dann Gehwege benutzen und Fahrzeuge auf Straßen oder Schienen laufen würden, sähe es bald aus wie der alte Grund, hier und da von Gebäuden mit farbigem Mosaik besetzt und Glaskuppeln voller Grünzeug und gelben Backsteinstraßen oder sonst etwas. Natürlich müssen wir das machen. Es ist eine Angelegenheit des Geistes. Dies soll nicht heißen, es hätte schon früher gemacht werden können. Erst musste die Infrastruktur eingerichtet werden. Das ist immer unsauber; aber jetzt sind wir bereit für die Kunst der Architektur, für ihren Geist.«
Er schwenkte die Hände, hielt plötzlich inne und starrte auf die zweifelnden Mienen hinter den Visierscheiben um ihn herum. »Nun, das ist doch eine Idee, oder?«
Ja, dachte Nadia und schaute sich mit Interesse um in dem Versuch, es sich bildlich vorzustellen. Vielleicht würde ihr ein solches Vorhaben wieder Freude an der Arbeit geben? Vielleicht würde es dann auch für Ann anders aussehen?
»Noch mehr Ideen von Arkady«, sagte Maya mit saurer Miene an diesem Abend im Schwimmbecken. »Das haben wir gerade nötig.«
»Es sind aber gute Idee«, sagte Nadia. Sie stieg heraus, duschte und zog einen Pullover an.
Später am Abend traf sie wieder Arkady und zeigte ihm die Kammer in der Nordwestecke von Underhill, bei der sie die Wände kahl gelassen hatte, so dass sie ihm das strukturelle Detail vorführen konnte.
»Es ist sehr elegant«, sagte er und strich mit einer Hand über die Backsteine. »Wirklich, Nadia, ganz Underhill ist prächtig. Ich kann deine Hand überall daran erkennen.«
Erfreut ging sie an einen Schirm und rief die Pläne für ein größeres Habitat auf, an denen sie gearbeitet hatte. Drei Reihen von Kammern mit gewölbter Decke unter der Oberfläche übereinander, in einer Wand eines sehr tiefen Grabens, Spiegel an der gegenüberliegenden Seite, um Sonnenlicht in die Räume zu lenken … Arkady nickte und zeigte grinsend auf den Schirm. Er stellte Fragen und machte Vorschläge: »Eine Arkade zwischen den Räumen und der Mauer für freien Platz. Und jedes Stockwerk gegenüber dem darunterliegenden etwas zurückgesetzt, so dass jeder einen Balkon hat, der die Arkade überschaut …«
»Ja, das sollte möglich sein …« Und sie tasteten an dem Computer, um die Architekturskizze zu verändern, während sie redeten.
Später gingen sie in das überdachte Atrium. Sie standen unter hohen Büscheln von schwarzen Bambusblättern. Die Pflanzen waren noch in Töpfen, während der Boden vorbereitet wurde. Es war ruhig und dunkel.
Arkady sagte leise: »Vielleicht könnten wir dieses Areal um ein Stockwerk absenken. Fenster und Türen in eure Gewölbe schneiden und sie aufhellen.«
Nadia nickte. »Wir haben daran gedacht und werden es tun. Aber es geht langsam, so viel Erdreich durch Schleusen hinauszuschaffen.« Sie schaute ihn an. »Aber was ist mit uns, Arkady? Bis jetzt haben wir nur über die Infrastruktur gesprochen. Ich sollte meinen, dass schöne Gebäude ziemlich weit unten auf der Liste der Dinge stehen, die zu tun wären.«
Arkady grinste. »Nun, vielleicht sind alle Dinge weiter oben auf der Liste schon erledigt.«
»Was? Höre ich, dass Arkady Nikelyovich das sagt?«
»Nun, du weißt — ich beklage mich nicht bloß, um mich zu beklagen, Miss Neun-Finger. Und die Art, wie die Dinge hier gelaufen sind, kommt dem sehr nahe, was ich während der Ausreise gesagt habe. So nahe, dass es töricht wäre, sich zu beklagen.«
»Ich muss zugeben, du überraschst mich.«
»Wirklich? Denk aber daran, wie ihr alle in diesem letzten Jahr zusammengearbeitet habt.«
»Halbjahr.«
Er lachte. »Halbjahr. Und während dieser ganzen Zeit besaßen wir keine Lander, wirklich. Diese abendlichen Zusammenkünfte, wenn ein jeder das Sagen hat und die Gruppe entscheidet, was am dringendsten zu tun ist. So sollte es sein. Und keine Zeit vergeuden mit Kaufen oder Verkaufen, weil es keinen Markt gibt. Alles hier gehört allen gleichermaßen. Und niemand von uns kann irgend etwas, das wir besitzen, ausbeuten, weil es außer uns keinen möglichen Käufer gibt. Es ist eine kommunale Gesellschaft geworden. Alle für einen und einer für alle.«
Nadia seufzte. »Arkady, die Dinge haben sich geändert. Es ist nicht mehr so. Und es ändert sich ständig noch mehr. Also wird es nicht dauern.«
»Warum sagst du das?« rief er. »Es wird dauern, wenn wir uns dafür entscheiden, dass es dauern wird.«
Sie sah ihn skeptisch an. »Du weißt, das ist nicht so einfach.«
»Nun ja, das ist es nicht. Aber es liegt in unserer Macht.«
»Vielleicht.« Sie seufzte wieder, dachte an Maya und Frank, an Phyllis, Sax und Ann. »Es gibt schrecklich viel Streit.«
»Das macht nichts, solange wir uns über gewisse grundlegende Dinge einig sind.«
Sie schüttelte den Kopf und rieb sich die Narbe mit den Fingern ihrer anderen Hand. Der fehlende Finger juckte. Sie fühlte sich plötzlich bedrückt. Über ihnen zeichneten sich die langen Bambusblätter vor den Sternen ab. Sie sahen aus wie Spritzer eines gigantischen Bazillus. Beide gingen sie den Weg zwischen Getreidebeeten entlang. Arkady ergriff ihre verstümmelte Hand und schaute auf die Narbe, bis es ihr lästig wurde, und sie sie zurückziehen wollte. Er hob sie hoch und gab dem jetzt freiliegenden Knöchel an der Wurzel des Ringfingers einen Kuss. »Du hast starke Hände, Miss Neun-Finger.«
»Früher habe ich das gemacht.« Sie machte eine Faust und hielt sie empor.
»Eines Tages wird Vlad dir einen neuen Finger wachsen lassen«, versicherte er, nahm ihre Faust und öffnete sie. Dann hielt er die Hand fest, während sie weitergingen. Er sagte: »Das erinnert mich an das Arboretum in Sevastopol.«
»Mmm«, machte Nadia. Sie hörte nicht richtig hin und achtete auf den warmen Druck seiner Hand in der ihren und ihre eng verschlungenen Finger. Auch er hatte starke Hände. Sie war einundfünfzig Jahre alt, eine rundliche kleine russische Frau mit grauem Haar, eine Bauarbeiterin mit einem fehlenden Finger. So schön, die Wärme eines anderen Körpers zu fühlen. Das war so lange her, und ihre Hand sog das Gefühl auf wie ein Schwamm, bis das arme Ding voll und warm kribbelte. Es musste ihm merkwürdig vorkommen, dachte sie. Dann gab sie es auf und sagte: »Ich freue mich, dass du hier bist.«
Die Anwesenheit von Arkady in Underhill war wie die Stunde vor einem Gewitter. Er veranlasste die Leute, über das, was sie taten, nachzudenken. Gewohnheiten, in die sie unbedacht verfallen waren, wurden kritisch betrachtet. Unter diesem neuen Druck wurden manche depressiv und manche aggressiv. Alle laufenden Diskussionen wurden etwas heftiger. Natürlich gehörte die Debatte um das Terraformen dazu.
Jetzt war diese Debatte keineswegs ein Einzelfall, sondern vielmehr ein anhaltender Prozess, ein Thema, das immer wieder auftauchte, eine Sache beiläufiger Gespräche zwischen Einzelpersonen draußen bei der Arbeit, beim Essen und Einschlafen. Alles mögliche konnte es zur Sprache bringen: Der Anblick der weißen Reiffahne über Tschernobyl, die Ankunft eines von Robotern gefahrenen Rovers, beladen mit Wassereis aus der Polstation, Wolken am Dämmerungshimmel. Manch einer, der diese oder andere Phänomene sah, sagte: »Das alles wird einige Wärmeeinheiten für das System bringen«, oder: »Ist dies Hexafluoräthan nicht ein gutes Gas für Gewächshäuser?« Vielleicht folgte dann eine Diskussion über die technischen Aspekte dieses Problems. Manchmal kam das Thema abends wieder in Underhill zur Sprache und führte vom Technischen ins Philosophische und mitunter zu langen hitzigen Diskussionen.
Natürlich beschränkte sich die Debatte nicht auf den Mars. Positionspapiere wurden ausgefertigt von politischen Zentren in Houston, Baikonur, Moskau, Washington und dem UN-Amt für Marsfragen in New York, sowie in Regierungsbüros, Zeitungsredaktionen, Körperschaftsgremien, Universitätsinstituten und Bars und Wohnungen in der ganzen Welt. Bei den Diskussionen auf der Erde fingen viele Leute an, die Namen der Kolonisten als eine Art von Kürzeln für die unterschiedlichen Positionen zu verwenden, so dass die Kolonisten selbst, wenn sie die Nachrichten von der Erde verfolgten, sahen, dass Leute sagten, sie wären für die Clayborne-Position ,oder unterstützten das Russell-Programm. Diese Erinnerung an ihren enormen Ruhm auf der Erde, ihre Existenz als Personen in einem laufenden TV-Drama war immer wieder spaßig und aufregend. Nach der Flut von Sondersendungen und Interviews, die der Landung gefolgt waren, hatten sie dazu geneigt, die ständigen Fernsehübertragungen zu vergessen, absorbiert von der täglichen Realität ihres Lebens. Aber die Videokameras lieferten immer noch Berichte nach Hause; und es gab eine Menge Leute auf der Erde, die diese Shows liebten.
So hatte fast jeder seine Meinung. Abstimmungen zeigten, dass die meisten für das Russell-Programm waren — ein inoffizieller Name für die Pläne von Sax, den Planeten so schnell wie möglich mit allen denkbaren Mitteln zu terraformen. Aber die Minorität, die hinter Anns Haltung, die Finger davon zu lassen, stand, vertrat ihre Ansicht heftiger und behauptete, dass diese Frage unmittelbaren Einfluss auf die Antarktis-Politik und überhaupt alle Umweltmaßnahmen auf der Erde hätte. Inzwischen zeigten verschiedene in den Abstimmungen gestellte Fragen, dass viele Leute von Hiroko und dem Farmprojekt fasziniert waren, während andere sich Bogdanovisten nannten. Arkady hatte nämlich von Phobos eine Menge Videos geschickt; und Phobos war gut im Fernsehen, ein wahres Beispiel von Architektur und Ingenieurskunst. Neue Hotels und kommerzielle Zentren auf der Erde ahmten schon manche seiner Züge nach. Es gab in der Architektur eine Bewegung namens Bogdanovismus, während andere an ihm interessierte Bewegungen sich mehr auf soziale und ökonomische Reformen der Weltordnung konzentrierten.
Aber das Terraformen stand immer dicht beim Zentrum all dieser Debatten, und die Meinungsverschiedenheiten der Kolonisten darüber wurden auf der größten möglichen öffentlichen Bühne ausgetragen. Manche reagierten, indem sie Kameras vermieden und Bitten um Interviews verweigerten. »Davon komme ich gerade her«, sagte Hirokos Assistent Iwao, und recht viele pflichteten ihm bei. Die meisten übrigen kümmerten sich nicht um die eine oder die andere Richtung. Manchen schien es aber zu gefallen. Zum Beispiel wurde das wöchentliche Programm von Phyllis durch beide christlichen Kabelstationen und Programme über Geschäftsanalyse in der ganzen Welt gesendet. Aber ganz gleich, wie man damit umging, es wurde deutlich, dass die meisten Leute auf der Erde und dem Mars annahmen, dass es zum Terraformen kommen würde. Es war keine Frage des Ob, sondern des Wann und Wie viel. Unter den Kolonisten selber war das fast die allgemeine Ansicht. Sehr wenige hielten es mit Arm: Natürlich Simon, vielleicht Ursula und Sasha, vielleicht Hiroko, auf seine Weise John und jetzt auf ihre Weise Nadia. Auf der Erde gab es mehr dieser ›Roten‹; aber sie hielten ihre Stellung notwendigerweise für eine Theorie, ein ästhetisches Urteil. Der stärkste Punkt zu ihren Gunsten, und damit auch der von Ann am häufigsten in ihren Verlautbarungen für die Erde vertretene, war die Möglichkeit einheimisch entstandenen Lebens. Ann pflegte zu sagen: »Wenn es hier auf dem Mars Leben gibt, könnte die radikale Veränderung es töten. Wir können uns nicht einmischen, solange der Status von Leben auf dem Mars unbekannt ist. Das wäre unwissenschaftlich und — noch schlimmer — unmoralisch.«
Viele stimmten dem zu, einschließlich einer Menge in der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf der Erde, die das Mars-Komitee der UN beeinflusste, welches die Kolonie beaufsichtigte. Aber jedes Mal, wenn Sax dieses Argument hörte, konterte er sofort: »Es gibt kein Anzeichen von Leben auf der Oberfläche in der Vergangenheit oder Gegenwart«, sagte er sanft. »Falls es existiert, muss es unterirdisch sein, vermutlich in der Nähe vulkanischer Schlote. Aber selbst wenn es da unten Leben gibt, könnten wir zehntausend Jahre danach suchen und es nie finden, noch auch die Möglichkeit eliminieren, dass es sich da irgendwo anders befindet, irgendwo, wohin wir nicht geschaut haben. Also bedeutet das Warten, bis wir sicher wissen, dass es kein Leben gibt …« — was unter Gemäßigten eine recht verbreitete Meinung war —, »bedeutet praktisch Warten für immer. Auf eine entfernte Möglichkeit, die durch das Terraformen in keiner Weise unmittelbar gefährdet werden würde.«
»Natürlich würde sie das«, widersprach Ann. »Vielleicht nicht unmittelbar, aber schließlich würde der Permafrost schmelzen, es würde Bewegung durch die Hydrosphäre geben und deren totale Kontamination durch wärmeres Wasser und irdische Lebensformen, Bakterien, Viren, Algen. Das könnte einige Zeit dauern, aber es würde bestimmt passieren. Und das können wir nicht riskieren.«
Sax zuckte dann die Achseln. »Erstens ist es ein postudiertes Leben mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit. Zweitens würde es auf Jahrhunderte hinaus nicht gefährdet sein. Wir könnten es in jener Zeit vermutlich lokalisieren und schützen.«
»Aber vielleicht würden wir es nicht finden können.«
»Sollen wir also innehalten für ein wenig wahrscheinliches Leben, das wir womöglich nie finden werden?«
Ann zuckte die Achseln. »Das müssen wir, sofern du nicht erklärst, dass es in Ordnung wäre, Leben auf anderen Planeten zu vernichten, so lange wir es nicht finden können. Und vergiß nicht: Einheimisches Leben auf dem Mars würde die größte Story aller Zeiten sein. Es würde Konsequenzen für die Häufigkeit von Leben in der Galaxis haben, die man unmöglich überschätzen kann. Die Suche nach Leben ist einer der Hauptgründe, weshalb wir hier sind.«
»Gut«, würde Sax sagen. »In der Zwischenzeit ist Leben, dessen Existenz wir ganz sicher sind, einem außerordentlich hohen Maß an Strahlung ausgesetzt.
Wenn wir nichts tun, um das zu mindern, könnten wir nicht imstande sein, hier zu bleiben. Wir brauchen eine dichtere Atmosphäre, um die Strahlung zu verringern.«
Das war keine Antwort auf Anns Punkt, sondern die Einführung eines anderen Arguments, das einen hohen Einfluss hatte. Millionen auf der Erde wollten zum Mars kommen, an die »neue Grenze«, wo das Leben wieder ein Abenteuer war. Wartelisten für Emigration — sowohl echte wie falsche — waren massiv überzeichnet. Aber keiner wollte in einem Bad mutagener Strahlung leben; und das praktische Verlangen, den Planeten für Menschen sicher zu machen, war bei den meisten stärker als der Wunsch, die dort schon vorhandene leblose Landschaft zu erhalten, oder ein postuliertes einheimisches Leben zu schützen, das, wie viele Wissenschaftler versicherten, gar nicht existierte.
Also schien es, auch bei denen, die zur Vorsicht mahnten, sicher, dass es zum Terraformen kommen würde. Ein Unterausschuss des Marskomitees der UN war zusammengetreten, um das Thema zu erörtern; und auf der Erde hatte es jetzt den Charakter eines gegebenen unvermeidlichen Teils des Fortschritts angenommen, eines natürlichen Teils der Ordnung der Dinge. Ein offenkundiges Schicksal.
Auf dem Mars indessen war die Frage zugleich offener und dringender, weniger eine Sache der Philosophie als des täglichen Lebens, von kalter giftiger Luft und der aufgenommenen Strahlung. Unter den Befürwortern des Terraformens scharte sich eine bedeutende Gruppe um Sax — eine Gruppe, die es nicht nur tun, sondern so schnell wie möglich tun wollte. Niemand war sich sicher, was das in der Praxis bedeutete. Schätzungen der Zeit, die es erfordern würde, eine ›menschengerechte Oberfläche‹ zu bekommen, reichten von einem Jahrhundert bis zu zehntausend Jahren, mit extremen Ansichten an beiden Enden von dreißig Jahren (Phyllis) bis zu hunderttausend Jahren (Iwao). Phyllis sagte: »Gott hat uns diesen Planeten gegeben, um ihn nach unserm Bilde zu gestalten, um ein neues Eden zu schaffen.« Simon sagte: »Wenn der Permafrost schmilzt, würden wir auf einer zusammenbrechenden Landschaft leben, und eine Menge von uns würde getötet werden.« Die Argumente gingen über einen weiten Bereich von Themen: Niveaus von Salz, Peroxid und Strahlung, Aussehen des Landes, mögliche lethale Mutationen genetisch behandelter Mikroorganismen und so weiter.
Sax sagte: »Wir können versuchen, es zu modellieren; aber wir werden nie imstande sein, es adäquat zu modellieren. Es ist zu groß, und es gibt zu viele Faktoren, von denen viele unbekannt sind. Aber was wir daraus lernen werden, dürfte nützlich sein für die Beherrschung des Erdklimas, zur Vermeidung einer globalen Erwärmung oder einer künftigen Eiszeit. Es ist ein Experiment, ein großes, und es wird stets ein fortlaufendes Experiment sein, bei dem nichts garantiert oder sicher bekannt ist. Aber so ist nun einmal die Wissenschaft.«
Die Leute pflegten an dieser Stelle zu nicken.
Arkady dachte wie immer an die politische Seite der Sache. Er erklärte: »Wir können nie autark sein, wenn wir nicht terraformen. Wir müssen das tun, um uns den Planeten zu eigen zu machen, damit wir eine materielle Basis für die Unabhängigkeit haben werden.«
An dieser Stelle pflegten die Leute die Augen zu verdrehen. Aber es bedeutete, dass Sax und Arkady in gewisser Weise Verbündete waren; und das war eine starke Kombination. Und so gingen die Argumente immer und immer wieder herum und herum — endlos.
Und jetzt war Underhill fast fertig, ein funktionierendes und in sehr vieler Hinsicht autarkes Dorf. Jetzt war es möglich, weiterzugehen. Jetzt mussten sie entscheiden, was als nächstes zu tun wäre. Und die Mehrheit wollte terraformen. Es wurde jede Menge Projekte vorgebracht, um den Prozess zu beginnen, die alle ihre Befürworter hatten, gewöhnlich bei denen, die für die Ausführung verantwortlich sein würden. Das war ein wichtiges Motiv für die Beliebtheit der Sache. Eine jede Disziplin konnte auf die eine oder andere Weise dazu beitragen. Darum genoss die Sache breite Unterstützung. Die Alchemisten redeten über physikalische und mechanische Mittel, dem System mehr Wärme zuzuführen. Die Klimatologen debattierten über eine Beeinflussung des Wetters. Das Biosphärenteam sprach über zu prüfende ökologische Systeme. Die Bioingenieure arbeiteten schon an neuen Mikroorganismen. Sie verlagerten, beschnitten und rekombinierten Gene von Algen, Methanogenen, Cyanobakterien und Flechten im Versuch, Organismen zu erzielen, die auf oder unter der gegenwärtigen Marsoberfläche leben könnten. Eines Tages luden sie Arkady ein, einen Blick auf das zu werfen, was sie machten, und Nadia kam mit ihm.
Sie hielten einige ihrer genetischen Prototypen in Mars-Behältern, von denen der größte eines der alten Habitate im Anhängerpark war. Sie hatten es aufgemacht, Regolith auf den Fußboden gehäuft und es wieder hermetisch versiegelt. Darin arbeiteten sie mit Fernbedienung und betrachteten die Resultate aus dem benachbarten Anhänger, wo Messinstrumente Daten lieferten und Bildschirme zeigten, was die verschiedenen Schalen produzierten. Arkady sah sich genau jeden Schirm an, aber es gab nicht viel zu sehen. Ihre alten Unterkünfte, bedeckt mit Plastikbehältern voll roten Schmutzes, Roboterarme, die sich von ihren Halterungen gegen die Wände ausstreckten. Auf einem Teil des Bodens sah man Anzeichen von Bewuchs, einen bläulichen Ginster.
»Das ist bis jetzt unser Champion«, sagte Vlad. »Aber immer noch nur leicht areophytisch, für Leben auf dem Mars geeignet.« Sie suchten nach einer Anzahl extremer Eigenschaften, einschließlich Resistenz gegen Kälte, Dehydration und UV-Strahlung, Verträglichkeit mit Salzen, wenig Sauerstoffbedarf und auf Stein oder Boden gedeihend. Kein einziger Organismus von der Erde hatte alle diese Züge; und wenn doch, so pflegten sie äußerst langsam zu wachsen. Aber die Ingenieure hatten mit etwas angefangen, das Vlad ein ›Misch- und Pass-Programm‹ nannte; und kürzlich hatten sie eine Variante des Cyanophyten geschaffen, der manchmal als Blaugrüne Alge bezeichnet wurde. »Sie gedeihen nicht so recht, sterben aber nicht so schnell, kann man sagen.« Sie nannten sie areophyte primäres. Der gebräuchliche Name wurde: Underhill-Algen. Sie wollten damit einen Feldversuch machen und hatten einen Antrag an UNOMA, das Marskomitee der UN, vorbereitet.
Arkady war, als er den Anhängerpark verließ, sichtlich erregt, wie Nadia merkte. Und an diesem Abend sagte er der Gruppe beim Essen. »Wir sollten diese Entscheidung von uns aus fällen; und wenn wir dafür sind, handeln.«
Maya und Frank waren darüber empört, und die meisten übrigen fühlten sich dabei sicher auch nicht recht wohl. Maya bestand darauf, das Gesprächsthema zu wechseln, und so geschah es dann auch etwas mürrisch. Am nächsten Morgen kamen Maya und Frank zu Nadia, um über Arkady zu sprechen. Die beiden Anführer hatten schon spät in der vergangenen Nacht versucht, mit ihm vernünftig zu reden. Maya erklärte: »Er lacht uns ins Gesicht. Es ist zwecklos, mit ihm zu argumentieren.«
»Was er vorschlägt, könnte sehr gefährlich sein«, sagte Frank. »Wenn wir eine Direktive der UN ausdrücklich missachten, würden sie vermutlich herkommen, uns zusammentreiben und heimschicken, um uns durch Leute zu ersetzen, die das Gesetz beachten. Ich meine, biologische Kontamination dieser Umwelt ist bei diesem Stand der Dinge schlechthin illegal; und wir haben nicht das Recht, dies zu ignorieren. Das ist internationales Recht. Das ist es, wie die Menschheit im allgemeinen diesen Planeten zur Zeit behandeln will.«
»Kannst du mit ihm reden?« fragte Maya.
»Ich kann zu ihm sprechen«, erwiderte Nadia. »Aber ich kann nicht sagen, dass das etwas bringen wird.«
»Bitte, Nadia, versuche es einfach! Wir haben genug Probleme damit.«
»Sicher, ich werde es versuchen.«
Also redete sie an diesem Nachmittag mit Arkady. Sie waren draußen auf der Tschernobyl-Straße und auf dem Rückweg nach Underhill. Sie fing davon an und meinte, dass Geduld angeraten wäre. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die UN ohnehin zu deiner Ansicht gelangen.«
Er blieb stehen, hob ihre verstümmelte Hand hoch und sagte: »Wie viel Zeit haben wir deines Erachtens?« Er wies auf die untergehende Sonne. »Wie lange schlägst du vor, sollen wir warten? Auf unsere Enkelkinder? Oder unsere Urenkel? Oder unsere Ururenkel, blind wie ein Grottenfisch?«
»Na na«, sagte Nadia und machte ihre Hand frei. »Grottenfisch!«
Arkady lachte. »Es ist doch aber eine ernste Frage. Wir haben nicht unendlich viel Zeit; und es wäre hübsch zu sehen, wie die Dinge anfangen, sich zu verändern.«
»Selbst so — warum nicht ein Jahr warten?«
»Ein irdisches oder Marsjahr?«
»Ein Marsjahr. Daten aus allen Jahreszeiten bekommen und den UN Zeit lassen, sich zu entscheiden.«
»Wir brauchen die Daten nicht. Die liegen jetzt schon über Jahre vor.«
»Hast du mit Ann darüber gesprochen?«
»Nein. Das heißt irgendwie. Aber sie ist dagegen.«
»Eine Menge Leute sind dagegen. Ich meine letztlich werden sie vielleicht zustimmen, aber du musst sie überzeugen. Du kannst nicht einfach mir nichts dir nichts gegenteilige Meinungen überrennen, sonst bist du genau so schlimm wie die Leute daheim, die du immer kritisierst.«
Arkady seufzte. »Ja, ja.«
»Nun, was ist mit dir?«
»Ihr verdammten Liberalen.«
»Ich weiß nicht, was das heißen soll.«
»Es heißt, du bist zu weichherzig, um jemals wirklich etwas zu tun.«
Aber jetzt waren sie in Sicht des flachen Hügels von Underhill, das aussah wie ein frischer leicht quadratischer Krater, dessen ausgeschleudertes Material um ihn herum verstreut war. Nadia zeigte darauf. »Ihr verdammten Radikalen …« — sie stieß ihm mit dem Ellbogen hart in die Rippen — »ihr hasst den Liberalismus, weil er funktioniert.«
Er knurrte.
»Doch! Er funktioniert allmählich, im Laufe der Zeit, nach schwerer Arbeit, ohne Feuerwerk oder billige Dramatik, oder dass Personen verletzt werden. Ohne eure sexistischen Revolutionen und alles, was damit an Qual und Hass verbunden ist. Er funktioniert einfach.«
»O Nadia!« Er legte seinen Arm um ihre Schultern, und sie gingen weiter auf die Basis zu. »Die Erde ist eine perfekt liberale Welt. Aber die Hälfte davon verhungert. So war es immer und so wird es immer sein. Sehr liberal.«
Dennoch schien Nadia ihn beeinflusst zu haben. Er hörte auf, nach einer einseitigen Entscheidung für die Ausbringung der neuen Genprodukte auf die Oberfläche zu rufen; und er beschränkte seine Propaganda auf sein Programm der Verschönerung und verbrachte viel Zeit mit Versuchen zur Herstellung von farbigen Backsteinen und Gläsern. Nadia traf sich mit ihm an den meisten Tagen zum Schwimmen vor dem Frühstück; und zusammen mit John und Maya zogen sie über eine Bahn in dem flachen Becken, das eine der überwölbten Kammern ganz ausfüllte, und schwammen ein flottes Training von ein- oder zweitausend Metern. John führte beim Sprinten, Maya bei weiten Distanzen, Nadia war bei allem im Rückstand, da sie durch ihre Hand behindert war; und sie quirlten durch das sehr spritzige Wasser wie eine Reihe von Delphinen, wenn sie durch ihre Schutzbrillen auf den himmelblauen Beton des Beckens schauten. »Der Schmetterlingsstil ist für diese Schwerkraft ideal«, sagte John und grinste darüber, wie sie praktisch aus dem Wasser herausfliegen konnten. Das Frühstück danach war angenehm, wenn auch kurz, und der Rest des Tages war die übliche Arbeitsroutine. Nadia bekam Arkady nur selten vor dem Abend beim Essen zu sehen. Oder danach.
Dann wurden Sax und Spencer fertig mit der Installation der Roboterfabrik für die Windmühlenheizer von Sax und beantragten bei der UNOMA Genehmigung, tausend Stück davon rings auf den Äquatorgebieten zu verteilen, um ihre effektive Heizleistung zu erproben. Man erwartete, dass sie alles in allem nur etwa doppelt so viel Wärme mehr liefern würden als Tschernobyl; und es wurde auch gefragt, ob man imstande sein würde, die zusätzliche Wärme von den Fluktuationen des Hintergrundes zu unterscheiden. Aber wie Sax sagte, würde man das erst sicher wissen, nachdem man es versucht hatte.
Und so flammte der Streit ums Terraformen wieder auf. Und Ann entwickelte plötzlich eine emsige Betriebsamkeit. Sie tippte lange Mitteilungen, die sie an die Mitglieder des Exekutivkomitees der UNOMA und an die nationalen Ämter für Marsangelegenheiten bei allen Ländern, die derzeit dem Komitee angehörten, und schließlich auch an die UN-Generalversammlung verschickte. Diese Verlautbarungen erhielten stärkste Beachtung, von den höchst seriösen politisch aktiven Ebenen bis hinunter zu Boulevardzeitungen und dem Fernsehen, zu Medien, die darin die neueste Episode der roten Seifenoper sahen. Ann hatte ihre Mitteilungen privatim geschrieben und verschickt. Daher erfuhren die Kolonisten davon erst, wenn Auszüge daraus im irdischen TV erschienen. Zu den nachfolgenden Reaktionen in den nächsten Tagen zählten Debatten bei der Regierung, eine Rallye in Washington mit zwanzigtausend Teilnehmern, endloser Raum in den Spalten der Presse und Kommentare in den wissenschaftlichen Netzen. Die Intensität dieser Reaktionen wirkte etwas schockierend, und manche Kolonisten waren der Meinung, dass Ann ihre Kompetenzen überschritten hätte. Phyllis ihrerseits war außer sich.
Sax sagte mit heftigem Augenzwinkern: »Außerdem ergibt das keinen Sinn. Tschernobyl entlässt schon fast so viel Wärme in die Atmosphäre wie diese Windmühlen, und darüber hat sie sich nie beklagt.«
»O doch«, sagte Nadia. »Sie hat bloß die Abstimmung verloren.«
Man hielt bei der UNOMA Hearings ab, und währenddessen trat eine Gruppe gewichtiger Wissenschaftler Ann beim Dinner entgegen. Viele der übrigen waren dort Zeugen dieser Konfrontation. Der Hauptspeisesaal von Underhill nahm vier Kammern ein, deren Trennwände entfernt und durch tragende Säulen ersetzt worden waren. Es war ein großer Raum voller Stühle und Topfpflanzen und der Abkömmlinge der Vögel von der Ares. Neuerdings wurde er auch erhellt durch Fenster, die an der ganzen Nordwand eingefügt waren, und durch die man die ebenerdigen Getreidefelder im Atrium erblickte. Ein großer Raum; und mindestens die Hälfte der Kolonisten waren darin beim Essen, als das Meeting stattfand.
»Warum hast du nicht mit uns diskutiert?« fragte Spencer Ann.
Sie zwang ihn mit einem scharfen Blick wegzuschauen und sagte, Sax zugewandt: »Warum sollte ich mit dir darüber diskutieren? Es ist klar, was ihr alle darüber denkt, wir haben das schon oft durchgekaut; und nichts, das ich sage, hat für euch einen Unterschied gemacht. Ihr sitzt hier in euren kleinen Löchern, macht eure kleinen Experimente und stellt Dinge her wie Kinder mit einem Chemiebaukasten im Keller, während die ganze Zeit eine ganze Welt draußen vor eurer Tür sitzt. Eine Welt, wo die Geländeformen hundertmal größer sind als ihre Entsprechungen auf der Erde und tausendmal älter, wobei überall Beweisstücke für den Anfang des Sonnensystems verstreut sind, ebenso wie die ganze Geschichte des Planeten, kaum verändert während der letzten Milliarde Jahren. Und ihr macht euch daran, das alles zu vernichten. Und auch ohne euch ehrlich einzugestehen, was ihr da tut. Weil wir hier leben und den Planeten studieren könnten, ohne ihn zu verändern. Das könnten wir tun mit sehr wenig Schaden oder auch nur Unannehmlichkeiten für uns selbst. All dieses Gerede über Strahlung ist doch Mist, und das wisst ihr auch. Ihr wollt das nur tun, weil ihr glaubt, es zu können. Ihr wollt es ausprobieren und sehen — als ob es ein großer Sandkasten auf einem Spielplatz wäre, auf dem ihr Häuser bauen könnt. Ein großer Marstopf! Ihr findet eure Rechtfertigungen, wo ihr könnt; aber das ist üble Zuversicht und keine Wissenschaft!«
Während dieser Tirade war ihr Gesicht rot angelaufen. Nadia hatte sie noch nie auch nur annähernd so wütend erlebt wie jetzt. Die gewöhnliche Tünche von Sachlichkeit, mit der sie ihren bitteren Ärger verdeckte, war dahin; und sie war fast sprachlos vor Wut und bebte. »Ich sage, das ist keine Wissenschaft! Es ist nur ein Herumspielen. Und für dieses Spiel schickt ihr euch an, diese einmalige historische Chronik zu zerstören, die Polkappen zu vernichten und die Abflußkanäle und die Böden der Canyons — eine schöne reine Landschaft unwiederbringlich zu verwüsten. Und das für überhaupt nichts!«
Im Raum war’s mäuschenstill, alle waren wie versteinert. Die Ventilatoren summten. Die Leute fingen an, einander bedächtig anzusehen. Simon machte einen Schritt auf Ann zu mit ausgestreckter Hand. Sie stoppte ihn mit einem Blick. Er hätte ebenso gut in seiner Unterwäsche hinausgegangen und steifgefroren sein können, so erstarrte er. Sein Gesicht lief rot an. Er verlor seine Haltung und setzte sich wieder hin.
Sax Russell stand auf. Er sah so aus wie immer, vielleicht etwas erhitzter als sonst, aber milde, klein, mit eulenhaftem Blinzeln und ruhiger, trockener Stimme, als ob er über einen Lehrbuchabschnitt der Thermodynamik eine Vorlesung hielte oder das Periodische System der Elemente aufsagte.
»Die Schönheit des Mars besteht im menschlichen Geist«, sagte er in diesem trockenen, sachlichen Ton, und alle starrten ihn erstaunt an. »Ohne die menschliche Präsenz ist er nur eine Ansammlung von Atomen, die sich von keinem anderen Fleck im Universum unterscheidet. Wir sind es, die ihn verstehen und ihm Sinn verleihen. Alle unsere Jahrhunderte haben wir zum Nachthimmel aufgeschaut und den Mars zwischen den Sternen wandern sehen. Alle jene Nächte haben wir ihn durch die Teleskope beobachtet, zugeschaut, eine winzige Scheibe betrachtet und versucht, Kanäle in den Veränderungen der Albedo zu erblicken. Alle diese blöden Science Fiction-Romane mit ihren Monstern und Jungfrauen und sterbenden Zivilisationen. Und all die Wissenschaftler, die die Daten erforscht haben oder uns hierher gebracht haben. Das ist es, was den Mars schön macht. Nicht der Basalt und die Oxide.«
Er machte eine Pause, um sie alle anzuschauen. Nadia schluckte. Es war höchst seltsam zu hören, wie diese Worte aus dem Mund von Sax Russell kamen, in dem gleichen trockenen Ton, den er bei der Analyse einer Datenkurve zu benutzen pflegte.
Er fuhr fort: »Jetzt, da wir hier sind, genügt es nicht, sich unter zehn Metern Boden zu verstecken und das Gestein zu untersuchen. Gewiss ist das Wissenschaft, und auch notwendige Forschung. Aber Wissenschaft ist mehr als das. Wissenschaft ist Teil eines größeren menschlichen Unterfangens; und dieses Unterfangen schließt ein, dass man zu den Sternen geht, sich anderen Planeten anpasst und diese an uns. Wissenschaft ist Schöpfung. Das Fehlen von Leben hier und das Fehlen, es in fünfzig Jahren des SETI-Programms, der Suche nach extraterrestrischen Zivilisationen, irgendwie gefunden zu haben, bezeugt, dass Leben selten ist und intelligentes Leben noch seltener. Und dennoch ist der ganze Sinn des Universums, seine Schönheit, in dem Bewusstsein intelligenten Lebens enthalten. Wir sind das Bewusstsein des Universums; und unsere Aufgabe ist es, dieses allenthalben zu verbreiten und die Dinge zu betrachten und überall zu leben, wo wir es können. Es ist zu gefährlich, das Bewusstsein des Universums auf einen einzigen Planeten beschränkt zu halten. Es könnte ausgelöscht werden. Und so sind wir jetzt auf zweien, auch dreien, wenn ihr den Erdmond mitzählt. Und wir können diesen hier verändern, um das Leben darauf sicherer zu gestalten. Verändern würde nicht heißen Zerstören. Es könnte schwieriger werden, seine Vergangenheit zu erkunden, aber seine Schönheit würde nicht vergehen. Wenn es Seen, Wälder oder Gletscher gäbe, wie minderte das die Schönheit des Mars? Ich glaube nicht, dass es das täte. Ich meine, es erhöhte sie nur. Es fügt Leben hinzu, das schönste aller Systeme. Aber nichts, was Leben tun kann, wird Tharsis herunterholen oder Marineris füllen. Mars wird immer Mars bleiben, anders als die Erde, kälter und wilder. Aber er kann Mars sein und zugleich der unsere. Und er wird es sein. Das hat der menschliche Geist so an sich: Es kann gemacht werden, und es wird gemacht werden. Wir können den Mars umwandeln und bauen, wie man eine Kathedrale erbauen würde, als ein Denkmal zugleich für die Menschheit und das Universum. Wir können das machen, also werden wir es machen. Also …« — er hielt die Hand empor, als ob er darüber befriedigt wäre, dass die Analyse durch die Daten in der Graphik bestätigt würde, als ob er das Periodische System geprüft und gefunden hätte, dass es noch gültig wäre — »… also können wir sehr wohl anfangen.«
Er sah Ann an; und alle Augen folgten ihr. Ann hatte die Lippen zusammengepresst, und ihre Schultern sanken herab. Sie wusste, dass sie geschlagen war.
Sie zuckte die Achseln, als ob sie eine Kapuze über Kopf und Rumpf zöge, einen schweren Umhang, der sie zu Boden drückte und ganz vor ihnen verbarg. Mit dem flachen stillen Ton, den sie gewöhnlich benutzte, wenn sie erregt war, sagte sie: »Ich denke, du bewertest Bewusstsein zu hoch und Gestein zu niedrig. Wir sind nicht Herren des Universums. Wir sind nur ein kleiner Teil davon. Wir mögen sein Bewusstsein sein; aber dies bedeutet nicht, alles in ein Spiegelbild von uns zu verwandeln. Es bedeutet vielmehr, sich darin einzufügen, wie es ist, und es mit unserer Achtsamkeit zu verehren.« Sie begegnete dem sanften Blick von Sax, und ein letzter Wutausbruch schoss heraus. »Du hast den Mars nie gesehen.« Und sie verließ den Raum.
Es war geplant, sie aus Luftschiffen abzuwerfen. Arkady beanspruchte sofort das Recht, deren erstes zu steuern, als eine Art von Belohnung für seine Arbeit auf Phobos. Maya und Frank waren nicht unglücklich bei dem Gedanken, dass Arkady für einen oder zwei Monate aus Underhill verschwände, und wiesen ihm gleich eines der Schiffe zu. Er würde in den vorherrschenden Winden ostwärts driften und absteigen, um Windmühlen in Kanalbetten und auf den äußeren Flanken von Kratern zu platzieren, beides Stellen, wo es oft starke Winde geben könnte. Nadia hörte erst von der Expedition, als Arkady durch die Räume zu ihr kam und davon erzählte.
»Klingt hübsch«, sagte sie. Er fragte: »Hast du Lust mitzukommen?« »O ja«, sagte sie. Ihr Geisterfinger pulsierte.
Das Lenkluftschiff war das größte, das jemals gebaut wurde, ein planetares Modell, das seinerzeit in Deutschland in Friedrichshafen konstruiert worden war. Man hatte es 2029 auf den Weg gebracht, so dass es erst kürzlich angekommen war. Es hieß Arrowhead und maß 120 Meter über die Flügel, 100 Meter von Bug bis Heck und war 40 Meter hoch. Es hatte ein inneres ultraleichtes Gerippe, Turbopropeller an jeder Flügelspitze und unter der Gondel. Diese wurden von Solarzellen angetrieben, die auf der Oberseite der Hülle untergebracht waren. Die bleistiftförmige Gondel erstreckte sich längs über den größten Teil der Unterseite, war innen aber kleiner, als Nadia erwartet hatte, weil ein großer Teil von ihr vorerst mit ihrer Ladung an Windmühlen angefüllt war. Beim Start bestand ihr freier Raum aus kaum mehr als dem Cockpit, zwei schmalen Betten, einer winzigen Küche, einer noch kleineren Toilette und dem engen Tunnel, der notwendig war, um dazwischen herumzukriechen. Es war reichlich eng, aber zum Glück hatten beide Seiten der Gondel Fenster an den Seiten; und diese boten, obwohl etwas durch Windmühlen blockiert, eine Menge Licht und gute Sicht.
Das Abheben beim Start war langsam. Arkady löste die von den drei Anlegemasten ausgehenden Taue mit dem Umlegen eines Knebels im Cockpit. Die Turboprops arbeiteten heftig, aber sie hatten es mit Luft zu tun, die nur zwölf Millibar dicht war. Das Cockpit schaukelte langsam auf und ab und bog sich mit dem inneren Gerüst. Und jeder Auf- und Abhüpfer führte etwas höher über den Boden. Für jemanden, der an Raketenstarts gewöhnt war, wirkte das komisch.
»Lass uns dreisechzig nehmen und Underhill ansehen, ehe wir wegfahren«, sagte Arkady, als sie fünfzig Meter hoch waren. Er neigte das Schiff auf die Seite, und sie machten eine langsame weite Kurve, wobei sie aus Nadias Fenster blickten. Fahrspuren, Löcher, Haufen von Regolith, alles dunkelrot vor der staubig orangenen Oberfläche der Ebene — es sah aus, als hätte ein Drache mit großer Klaue hinuntergelangt und ab und zu Blut gesogen. Underhill befand sich im Zentrum der Wunden und bot an sich einen hübschen Anblick, ein dunkelrotes Quadrat als Rahmen für ein leuchtendes Juwel aus Glas und Silber, mit unter der Kuppel eben erkennbarem Grün. Von ihm ausgehend führten die Straßen nach Osten zu Tschernobyl und nach Norden zu den Raumflugfeldern. Und oberhalb davon lagen die grünen Blasen von Gewächshäusern, und dann war da der Anhängerpark …
»Das Alchemistenviertel sieht immer noch aus wie etwas aus dem Ural«, sagte Arkady. »Wir müssen wirklich etwas daran tun.« Er lenkte das Luftschiff aus seiner Kurve und wendete es mit dem Wind nach Osten. »Sollte ich uns über Tschernobyl bringen und den Aufwind einfangen?«
»Warum sehen wir nicht einmal, was dieses Ding ohne Unterstützung kann?« fragte Nadia. Sie fühlte sich leicht, als ob der Wasserstoff in den Ballons auch sie angefüllt hätte. Die Aussicht war eindrucksvoll, der dunstige Horizont vielleicht hundert Kilometer entfernt, die Konturen des Landes alle klar sichtbar — die leichten Buckel und Senken von Lunae, die Berge und Canyons des von Kanälen durchzogenen Geländes im Osten. »Oh, das wird wundervoll werden!«
»Ja.«
Es war tatsächlich bemerkenswert, dass sie früher noch nie so etwas unternommen hatten. Aber Fliegen war auf dem Mars nicht einfach wegen der dünnen Atmosphäre. Sie hatten die beste Lösung erwählt: Ein Luftschiff, so groß und leicht wie möglich, gefüllt mit Wasserstoff, der sich in der Luft des Mars nicht entzündete und relativ zu seiner Umgebung leichter war, als er auf der Erde gewesen wäre. Wasserstoff und die letzten Errungenschaften in superleichten Materialien gaben ihnen den Auftrieb, um eine Fracht wie ihre Windmühlen zu befördern. Aber mit einer solchen Last an Bord waren sie lächerlich träge.
Und so drifteten sie dahin. Den ganzen Tag über durchquerten sie die leicht hüglige Ebene von Lunae Planum, vom Wind nach Südosten getrieben. Eine oder zwei Stunden lang konnten sie am Südhorizont Juventa Chasma erkennen, einen klaffenden Canyon, die wie eine riesige Bergwerksgrube aussah. Weiter östlich wurde das Land gelblich. Es war weniger Schotter an der Oberfläche, und das darunter liegende Urgestein war zerknitterter. Es gab auch viel mehr Krater — große und kleine, mit scharfen Rändern oder fast verschüttet. Dies war Xanthe Terra, ein Hochland, das topographisch dem südlichen Bergland ähnelte und hier nach Norden zwischen die Tiefebenen von Chryse und Isidis hineinragte. Sie würden sich einige Tage lang über Xanthe befinden, wenn die vorherrschenden Westwinde ihnen treu blieben.
Sie kamen mit lausigen zehn Kilometern in der Stunde voran. Die größte Zeit flogen sie in etwa hundert Metern Höhe, wodurch der Horizont ungefähr fünfzig Kilometer entfernt lag. Sie hatten Zeit, sich alles genau anzuschauen, was sie wollten, obwohl Xanthe sich als wenig mehr denn eine ständige Folge von Kratern herausstellte.
Spät an diesem Nachmittag neigte Nadia den Bug des Luftschiffs nach unten und kurvte in den Wind. Sie sanken bis auf zehn Meter über dem Boden und warfen dann ihren Anker aus. Das Schiff stieg, zerrte an seinem Tau und rückte abwindig zum Anker, an dem es wie ein dicker Spielzeugdrache zappelte. Nadia und Arkady zwängten sich durch die ganze Länge der Gondel bis hin zu dem, was Arkady als Bombenschacht bezeichnete. Nadia hob eine Windmühle auf den Haken der Frachtwinde. Die Windmühle war ein kleines Ding, ein Magnesiumbehälter mit vier vertikalen Windfahnen auf einer oben herausragenden Stange. Sie wog ungefähr fünf Kilo. Sie schlossen den Schacht über ihr, pumpten die Luft heraus und öffneten die Bodenklappen. Arkady bediente die Winde und blickte durch ein niedriges Fenster, um zu sehen, was er tat. Die Windmühle fiel wie ein Stein hinunter und traf auf verhärteten Sand an der Südflanke eines kleinen namenlosen Kraters. Arkady löste den Haken der Winde und spulte das Tau zurück in den Schacht. Dann schloss er die Bombenklappen.
Sie gingen ins Cockpit zurück und schauten wieder nach unten, um zu sehen, ob die Windmühle arbeitete. Da stand sie, ein kleiner Kasten auf dem Außenhang eines Kraters, etwas geneigt, und die vier breiten vertikalen Blätter drehten sich fröhlich. Es sah aus wie ein Anemometer aus dem meteorologischen Baukasten eines Kindes. Das Heizelement, eine freiliegende Metallspule, die wie eine Herdplatte strahlen würde, war auf einer Seite der Basis. Bei gutem Wind könnte das Element bis zu zweihundert Grad Celsius erreichen. Das war nicht schlecht, besonders in dieser Umgebungstemperatur. Dennoch … »Es wird eine Menge davon erfordern, um einen Unterschied zu bewirken«, bemerkte Nadia.
»Sicher; aber jedes kleine bisschen hilft, und es ist in gewisser Weise kostenlose Wärme. Der Wind besorgt das Erhitzen, und die Sonne versorgt die Fabriken, welche die Windmühlen herstellen, mit Energie. Ich halte es für eine gute Idee.«
Sie hielten an diesem Nachmittag noch einmal an, um eine weitere Windmühle abzusetzen. Dann ankerten sie für die Nacht im Lee eines frischen jungen Kraters. Sie wärmten sich in der winzigen Küche eine Mahlzeit durch Mikrowelle und zogen sich dann in ihre engen Kojen zurück. Es war ein eigenartiges Gefühl, vor dem Wind zu schaukeln wie ein Boot an seiner Vertäuung: Ziehen und Treiben, Ziehen und Treiben. Aber es war sehr entspannend, wenn man sich daran gewöhnt hatte; und bald war Nadia eingeschlafen.
Am nächsten Morgen erwachten sie vor der Dämmerung, legten ab und stiegen mit Motorkraft nach oben ins Sonnenlicht. Aus einer Höhe von hundert Metern konnten sie beobachten, wie die im Schatten liegende Landschaft anfing, sich wie Bronze zu färben, bis der Terminator durchzog und helles Tageslicht folgte. Es beleuchtete ein phantastisches Gewirr von hellen Steinen und langen Schatten. Der Morgenwind drückte direkt nach links gegen ihren Bug, so dass sie nordostwärts gen Chryse geschoben wurden und mit voller Kraft der Propeller dahinbrummten. Dann senkte sich das Land unter ihnen, und sie befanden sich über dem ersten der Ausflußkanäle, die sie passieren würden, einem gewundenen namenlosen Tal westlich von Shalbatana Vallis. Die S-Form dieses kleinen Trockentales war unzweifelhaft durch Wasser eingeschnitten. Stunden später schwebten sie über dem tieferen und viel breiteren Canyon von Shalbatana. Hier waren die Zeichen noch deutlicher: Tränentropfenförmige Inseln, gewundene Kanäle, alluviale Ebenen, Plateaulandschaften. Überall gab es Spuren einer mächtigen Flut, einer Flut, die einen so riesigen Canyon geschaffen hatte, dass die Arrowhead darin wie ein Schmetterling aussah.
Die Ausflußcanyons und das Hochland dazwischen erinnerten Nadia an die Landschaft amerikanischer Cowboyfilme, mit Mulden, Mesas und isolierten Schiffsfelsen wie im Monument Valley. Nur hier dauerte es vier Tage, als sie nacheinander über den anonymen Kanal, Shalbatana, Simud, Tiu und dann Ares zogen. Und alle waren durch gigantische Überschwemmungen gebildet, die auf die Oberfläche durchgebrochen und Monate lang gewährt hatten, wobei sie den Mississippi um das Zehntausendfache übertrafen. Nadia und Arkady sprachen darüber, während sie in die Canyons unter ihnen hinabschauten. Aber es war schwer, sich so mächtige Fluten vorzustellen. Jetzt strömte durch die großen leeren Canyons nichts als Wind. Das aber so gut, dass Arkady und Nadia mehrmals hinuntergingen, um mehr Windmühlen abzusetzen.
Östlich von Ares Vallis flogen sie dann wieder über das dicht mit Kratern besetzte Terrain von Xanthe. Wieder war das Land überall durch Krater markiert: große, kleine, alte, neue, Krater mit Rändern, die durch jüngere zerfranst waren, Krater mit Böden, die von fünf kleineren Kratern punktiert waren, Krater, so frisch, als wären sie erst gestern eingeprägt worden, Krater, die in der Dämmerung kaum zu erkennen waren als verschüttete Bögen in dem alten Plateau. Sie kamen über Schiaparelli, einen mächtigen alten Krater von hundert Kilometern Durchmesser. Als sie über seinen inneren Zentralberg schwebten, bildeten die Kraterwände den Horizont, einen perfekten Ring von Hügeln rings um den Rand der Welt.
Danach wehten Winde einige Tage lang von Süden her. Sie erhaschten einen Blick auf Cassini, einen anderen großen Krater, und flogen über Hunderte kleinerer. Sie setzten täglich einige Windmühlen ab; aber der Flug gab ihnen ein stärkeres Gefühl für die Größe des Planeten, und das Projekt kam ihnen immer mehr wie ein Scherz vor, als ob sie über die Antarktis flogen und das Eis durch Absetzen einer Anzahl von Campingöfen zu schmelzen versuchten. »Man muss Millionen einsetzen, um irgendeinen Unterschied zu bewirken«, sagte Nadia, als sie nach einem weiteren Absetzen wieder aufstiegen.
»Stimmt«, sagte Arkady. »Sax würde auch gern Millionen einsetzen. Er hat ein automatisches Montageband, das sie laufend auswirft. Nur die Verteilung ist das Problem. Und außerdem ist es auch ein Teil der Kampagne, die er plant.« Er zeigte nach hinten auf den letzten Bogen von Cassini, der den ganzen Nordwesten umspannte. »Sax möchte gern noch ein paar Löcher mehr herausschlagen wie dieses hier. Vom Saturn einige kleine Eismonde einfangen oder vom Asteroidengürtel, wenn er welche finden kann, und die dann in den Mars hineinjagen. Heiße Krater erzeugen, den Permafrost schmelzen. Sie werden wie Oasen sein.«
»Würden das nicht trockene Oasen sein? Man würde beim Eintritt das meiste Eis verlieren, und der Rest würde beim Kontakt verschwinden.«
»Sicher, aber wir können auch in der Luft mehr Wasserdampf brauchen.«
»Es würde aber nicht einfach verdampfen, sondern in seine atomaren Bestandteile zerfallen.«
»Einiges davon. Aber auch von Wasserstoff und Sauerstoff könnten wir mehr gebrauchen.«
»Also wollt ihr Wasserstoff und Sauerstoff vom Saturn holen? Na na, es gibt hier schon Mengen von beidem. Man müsste nur etwas von dem Eis zerlegen.«
»Nun, auch das ist eine seiner Ideen.«
»Ich kann es gar nicht erwarten zu hören, was Ann dazu sagt.« Sie seufzte und dachte darüber nach. »Was man tun müsste, wäre, glaube ich, einen Eis-Asteroiden streifend durch die Atmosphäre zu jagen, als ob man ihn aerodynamisch abbremsen wollte. Da würde er verglühen, ohne dass die Moleküle zerfielen. So bekommt man Wasserdampf in die Atmosphäre, der helfen würde. Und man müsste nicht die Oberfläche bombardieren mit Explosionen, die so stark sind wie hundert Wasserstoffbomben auf einmal.«
Arkady nickte. »Eine gute Idee! Das solltest du Sax erzählen.«
»Mach du das!«
Östlich von Cassini wurde das Terrain rauer denn je. Dies war eine der ältesten Oberflächen des Planeten, schon in den frühesten Jahren des Bombardements mit Meteoriten von zahllosen Kratern zernarbt. Ein höllisches Zeitalter, diese Frühzeit. Das konnte man an der Landschaft erkennen. Ein Niemandsland aus einem titanischen Stellungskrieg. Sein Anblick erzeugte nach einiger Zeit eine gewisse Abstumpfung, eine kosmologische Schützengrabenneurose.
Sie flogen weiter — nach Osten, Nordosten, Südosten, Süden, Nordosten, Westen, Osten und wieder Osten. Endlich kamen sie an das Ende von Xanthe und begannen den langen Abhang von Syrtis Major Planitia hinabzusteigen. Das war eine Lava-Ebene, viel weniger dicht von Kratern übersät als Xanthe. Das Land senkte sich immer weiter, bis sie schließlich über ein Becken mit glattem Boden drifteten: Isidis Planitia, eine der niedrigsten Stellen auf dem Mars. Sie war das Kernstück der nördlichen Hemisphäre und wirkte nach den Gebirgen des Südens besonders glatt, flach und niedrig. Und sie war auch ein sehr großes Gebiet. Es gab auf dem Mars wirklich eine Menge Land.
Als sie dann eines Morgens wieder auf Marschhöhe aufstiegen, erhob sich ein Trio von Bergspitzen über den Osthorizont. Sie waren nach Elysium gekommen, dem einzigen anderen der Tharsis ähnlichen ›Buckelkontinente‹, die der Planet besaß. Elysium war eine kleinere Ausbuchtung als Tharsis, aber immer noch groß, ein hoher Kontinent, tausend Kilometer lang und um zehn Kilometer höher als das umgebende Gelände. Wie Tharsis war er beringt mit Flecken aus zerstückeltem Terrain, von Bruchsystemen, die von der Erhebung des Gebietes herrührten. Sie flogen über das westlichste dieser Bruchsysteme, Hephaestus Fossae, und erlebten einen phantastischen Anblick. Fünf lange tiefe parallele Canyons, wie Kratzspuren von Klauen im Muttergestein. Elysium ragte dahinter auf. Wie ein Sattel gestaltet erhoben sich Elysium Mons und Hecates Tholus an den beiden Enden einer langen Bergkette, 5000 Meter höher als der von ihnen markierte Wulst. Ein Ehrfurcht gebietender Anblick. Elysium war um so vieles größer als alles, was Nadia und Arkady bisher gesehen hatten, als das Luftschiff auf die Bergkette zuschwebte. Beide waren sie einige Minuten lang sprachlos. Sie saßen in ihren Sitzen und sahen zu, wie das alles langsam auf sie zuglitt. Als sie dann sprachen, dachten sie nur laut. Arkady sagte: »Sieht aus wie der Karakorum. Himalayawüsten. Nur sind diese so einfach. Diese Vulkane sehen aus wie der Fudschi. Vielleicht werden eines Tages Menschen in Pilgerzügen hinaufziehen.«
»Die sind so groß. Man kann sich schwer vorstellen, wie die Tharsisvulkane aussehen werden. Sind die nicht doppelt so groß wie diese?«
»Mindestens. Sie sehen doch beide aus wie Fudschi, findest du nicht?«
»Nein«, erwiderte Nadia.
Nach einer Weile sagte Arkady: »Nun, wir sollten lieber versuchen, das Ding zu umfahren. Ich bin nicht sicher, ob wir den Auftrieb haben, über diese Berge zu kommen.«
Also stellten sie die Propeller an und wandten sich scharf nach Süden. Die Winde spielten natürlich mit, da auch sie den Kontinent umrundeten. Also schwebte die Arrowhead nach Südosten in eine raue Gebirgsregion namens Cerberus; und den ganzen nächsten Tag konnten sie ihr Fortkommen am Anblick von Elysium erkennen, das langsam links von ihnen vorbeizog. Es vergingen Stunden, das Massiv rückte in ihre Seitenfenster. Wie langsam das ging, machte es deutlich, wie groß diese Welt war. Der Mars hat so viel Landfläche wie die Erde. Das hatten alle immer gesagt, aber das waren nur Worte gewesen. Der augenfällige Beweis dafür war jetzt die Langsamkeit, mit der sie an Elysium vorbeikrochen.
Die Tage vergingen. Hinauf in der kalten Morgenluft, über das zerklüftete rote Land, hinunter bei Sonnenuntergang, um an einer luftigen Verankerung zu hüpfen. Eines Abends, als der Vorrat an Windmühlen geschrumpft war, ordneten sie die restlichen anders an und zogen mit ihren Betten zusammen unter die Steuerbordfenster. Das geschah ohne Diskussion, als ob es so geplant gewesen wäre. Als ob sie sich schon lange zuvor darauf verständigt hätten. Und als sie sich bei der Umordnung der Sachen in der Gondel umherbewegten, stießen sie zusammen, wie es schon während der ganzen Reise geschehen war; jetzt aber geschah es absichtlich und mit einer Sinnlichkeit, die dem Ausdruck gab, was sie schon lange vorgehabt hatten. Zufälle wurden zum Vorspiel. Und schließlich brach Arkady in Gelächter aus, packte sie und drückte sie wie ein Bär an sich. Nadia trug ihn auf den Schultern zu ihrem neuen Doppelbett, und sie küssten sich wie Teenager und liebten sich immer wieder in dem rötlichen Licht der Dämmerung und den gestirnten schwarzen Nächten, während sich das Schiff in seinen Vertäuungen leicht bewegte. Und sie lagen beisammen und plauderten. Das Gefühl des Schwebens, während sie sich in den Armen lagen, war deutlich spürbar, romantischer als in einem Zug oder Schiff auf See. Einmal sagte Arkady: »Zuerst sind wir Freunde geworden. Das macht hier einen Unterschied, denkst du nicht auch?« Er stupste sie mit dem Finger. »Ich liebe dich.« Es war, als ob er die Worte mit der Zunge auskostete. Es war Nadia klar, dass er sie noch nicht oft ausgesprochen hatte. Es war klar, dass sie für ihn etwas bedeuteten, eine Art von Verpflichtung. Ideen bedeuteten ihm so viel! »Und ich liebe dich«, sagte sie.
Und morgens pflegte Arkady in der engen Gondel nackt auf und ab zu tapsen, wobei sein rotes Haar gleich allem anderen in dem horizontalen Morgenlicht wie Bronze schimmerte und Nadia sich in ihrem Bett so heiter und glücklich fühlte und sie sich immer wieder daran erinnern musste, dass das Gefühl des Schwebens nur durch die geringe Schwere des Mars zustande kam. Aber es fühlte sich an wie Freude.
Eines Nachts, als sie einschliefen, fragte Nadia neugierig: »Warum mich?«
»Ha?« Er hatte schon fast geschlafen.
»Ich sagte: Warum ich? Ich meine, Arkady Nikelyovich, du könntest jede der Frauen hier geliebt haben, und sie hätten dich auch geliebt. Du hättest Maya haben können, wenn du gewollt hättest.«
Er brummte: »Ich hätte Maya haben können! Oje! Ich hätte mich an Maya Katarina erfreuen können. Genau wie Frank und John!« Er knurrte, und beide lachten laut los. »Wie habe ich mir so ein Vergnügen entgehen lassen können. Ich muss verrückt sein!« Er kicherte, bis sie ihm einen Stoß gab.
»Schon recht, schon recht. Also eine der anderen, der hübschen, Janet oder Ursula oder Samantha.«
»Lass nur!« sagte er. Er stützte sich auf einen Ellbogen und blickte sie an. »Du hast wirklich keine Ahnung, was Schönheit ist, oder?«
»Ganz gewiss doch«, sagte Nadia eigensinnig.
Arkady ignorierte sie und sagte: »Schönheit ist Macht und Eleganz, rechtes Handeln, eine zur Funktion passende Form, Intelligenz und Einsicht. Und sehr oft …« — er grinste und stupste sie auf den Bauch — »drückt sich das in Kurven aus.«
»Kurven habe ich schon«, sagte Nadia und stieß seine Hand fort.
Er beugte sich vor und versuchte, sie in die Brust zu beißen, aber sie wehrte ihn ab.
»Schönheit ist das, was du bist, Nadezhda Francine. Nach diesen Kriterien bist du die Königin des Mars.«
»Prinzessin des Mars«, korrigierte sie zerstreut und dachte darüber nach.
»Ja, das ist richtig. Nadezhda Francine Cherneshevsky, die neunfingrige Marsprinzessin.«
»Du bist kein konventioneller Mann.«
»Nein!« brüllte er. »Ich habe nie behauptet, eine Ausnahme zu sein, außer natürlich vor gewissen Auswahlkomitees. Ein konventioneller Mann! Ah, hahaha — die konventionellen Männer bekommen Maya. Das ist ihr Lohn.« Er lachte wie ein Wilder.
Eines Morgens überquerten sie die letzten zerklüfteten Berge von Cerberus und schwebten hinaus auf die staubige Ebene von Amazonis Planitia. Arkady führte das Luftschiff nach unten, um eine Windmühle in einem Pass zwischen den zwei letzten Hügeln des alten Cerberus abzusetzen. Aber mit der Klammer des Windenhakens ging etwas schief; und sie schnappte auf, als die Windmühle noch halbwegs über dem Boden war. Sie fiel flach auf ihre Basis. Vom Schiff aus schien das in Ordnung zu sein; aber als Nadia sich anzog und in der Schlinge hinunterging, um es genau zu prüfen, fand sie, dass die Heizplatte von der Basis abgebrochen war.
Und da, hinter der Platte, war etwas. Ein mattgrünes Etwas mit einem Stich ins Blaue, im dunkeln Innern des Kastens. Sie langte mit einem Schraubenzieher hinein und stocherte vorsichtig daran herum. »Verdammt!« sagte sie.
»Was ist?« sagte Arkady oben.
Sie ignorierte ihn und kratzte etwas von der Substanz in einen Beutel, den sie für Schrauben und Muttern benutzte.
Dann stieg sie in die Schlinge und verlangte: »Zieh mich hoch!«
»Was fehlt?« fragte Arkady.
»Zieh mich bloß hoch!«
Er schloss die Bombenklappen hinter ihr und fragte sie: »Was ist los?«
Sie nahm den Helm ab. »Du weißt, was los ist, du Schuft!« Sie holte zu einem Haken aus, und er sprang zurück und prallte auf eine Wand aus Windmühlen. »Au!« schrie er. Eine Windfahne hatte ihn im Rücken getroffen. »He! Was ist denn los, Nadia?«
Sie nahm den Beutel aus der Tasche ihres Schutzanzugs und schwenkte ihn vor ihm. »Wie konntest du das tun? Wie konntest du mich anlügen? Du Schuft, hast du eine Ahnung, in welche Schwierigkeiten uns das hier bringen wird? Sie werden herkommen und uns alle zur Erde zurückschicken!«
Arkady machte große Augen und rieb sich das Kinn. Er sagte ernst: »Ich würde dich nicht belügen, Nadia. Ich belüge meine Freunde nicht. Zeig her!«
»Weißt du es wirklich nicht?«
»Was soll ich wissen?«
Sie konnte nicht glauben, dass er Unkenntnis heuchelte. Das war einfach nicht seine Art. Was die Dinge gleich sehr seltsam machte. »Mindestens einige unserer Windmühlen sind kleine Algenplantagen.«
»Sind was?«
»Die verfluchten Windmühlen, die wir überall abgesetzt haben«, sagte sie, »sind voll gestopft mit Vlads neuen Algen oder Flechten, oder was immer es ist. Schau!« Sie legte den kleinen Beutel auf den winzigen Küchentisch, öffnete ihn und benutzte den Schraubenzieher, um etwas herauszuholen. Kleine knollige Brocken aus bläulicher Flechte. Wie Lebensformen des Mars aus einem alten Science Fiction-Roman.
Sie starrten es an.
Arkady sagte: »Mich laust der Affe!« Er beugte sich hinunter, bis seine Augen nur noch ein Zentimeter über dem Zeug auf dem Tisch waren.
»Schwörst du, es nicht gewusst zu haben?« fragte Nadia.
»Ich schwöre. Das würde ich dir nicht antun, Nadia. Du weißt das.«
Sie holte tief Luft. »Nun, offenbar wollten unsere Freunde uns das antun.«
Er richtete sich auf und nickte. »Das stimmt.« Er dachte scharf nach. Dann nahm er einen der Windmühlenkästen und stellte ihn vor sich hin. »Wo war es?«
»Hinter der Heizplatte.«
Sie machten sich mit Nadias Werkzeug an die Arbeit und öffneten das Ding. Hinter der Platte war wieder eine Kolonie von Underhill-Algen. Nadia stocherte an den Kanten der Platte herum und entdeckte ein Paar kleiner Scharniere, wo die Oberseite der Platte an die Innenseite der Containerwand stieß. »Schau, es ist so konstruiert, dass man es öffnen kann.«
»Aber wer soll das öffnen?« fragte Arkady.
»Radio?«
»Ich werde verrückt!« Arkady stand auf und ging in dem engen Korridor auf und ab. »Ich meine …«
»Wie viele Fahrten mit Luftschiffen sind bis jetzt gemacht worden? Zehn? Zwanzig? Und sie alle werfen diese Dinger ab?«
Arkady fing an zu lachen. Er warf den Kopf zurück, und sein heftiges, verrücktes Grinsen spaltete seinen roten Bart. Er lachte, bis er sich die Seiten hielt. »Ah, hahaha!«
Nadia, die das überhaupt nicht für spaßig hielt, merkte dennoch, dass sie selbst bei seinem Anblick grinsen musste. Sie protestierte: »Wir sind in großen Schwierigkeiten!«
»Vielleicht«, sagte er.
»Bestimmt! Und das ist alles dein Fehler. Einige dieser törichten Biologen in dem Anhängerpark haben deinen anarchistischen Schwulst ernst genommen.«
»Nun, das ist wenigstens ein Punkt zugunsten dieser Bastarde. Ich meine …« — er ging wieder in die Küche, um den Klumpen aus blauem Zeug anzustarren —, »worüber reden wir deiner Meinung nach überhaupt. Wie viele unserer Freunde stecken da drin? Und warum, in aller Welt, haben sie mir nichts gesagt?«
Das wurmte ihn wirklich, wie sie merkte. Tatsächlich war er immer empörter, je länger er darüber nachdachte; denn die Algen bedeuteten, dass in ihrer Gruppe eine Subkultur außerhalb der UNOMA-Auf-sicht agierte, die aber Arkady nicht eingeweiht hatte, obwohl er der erste und lautstärkste Befürworter einer solchen Subversion gewesen war. Was hatte das zu bedeuten? Gab es Leute, die auf seiner Seite standen, ihm aber nicht vertrauten? Gab es Dissidenten mit einem konkurrierenden Programm?
Das konnten sie nicht sagen. Schließlich lichteten sie den Anker und fuhren über Amazonis. Sie passierten einen Krater mittlerer Größe namens Pettit; und Arkady bemerkte, dass der einen guten Platz für eine Windmühle abgeben würde. Aber Nadia knurrte nur. Sie flogen vorbei und besprachen die Lage. Sicherlich musste es etliche Leute in den Labors der Bioingenieure geben, die davon wussten, wahrscheinlich die meisten von ihnen, möglicherweise alle. Und Hiroko hatte sich für die Windmühlen ausgesprochen. Aber sie waren sich nie sicher gewesen, weshalb. Es war unmöglich zu beurteilen, ob sie etwas dieser Art billigen würde oder nicht, da sie mit ihren Ansichten einfach zu zurückhaltend war. Aber es war möglich.
Während sie darüber redeten, nahmen sie die zerbrochene Windmühle völlig auseinander. Die Heizplatte diente gleichzeitig als Tor für das Abteil mit den Algen. Wenn sich das Tor öffnete, würden die Algen in ein Gebiet entlassen, das durch die Heizplatte etwas wärmer war als die Umgebung. Jede Windmühle diente so als Mikro-Oase; und wenn die Algen es schafften, mit ihrer Hilfe zu überleben und dann über das kleine, von der Heizplatte erwärmte Gebiet hinauswuchsen, war es gut. Falls nicht, würden sie auf dem Mars jedenfalls nicht recht gedeihen. Die Heizplatte diente für sie nur als Startplatz, nicht mehr. So etwa müssten ihre Konstrukteure gedacht haben. »Man hat uns zu Johnny Appleseeds gemacht«, sagte Arkady.
»Johnny was?«
»Eine amerikanische Volkssage.« Er erzählte ihr von dem Mann, der durch das Aussäen von Apfelkernen segensreich für sein Land gewirkt haben soll.
»Ach so. Und jetzt wird John Bunyan uns in den Hintern treten.«
»O nein. Niemals. Der Große Mann ist stärker als dieser legendäre Holzfäller, das kannst du mir glauben.«
»Der Große Mann?«
»Weißt du, alle diese Namen gelten Merkmalen der Landschaft. Die Badewanne des Großen Mannes, sein Golfplatz und was auch immer.«
»Nun ja.«
»Jedenfalls sehe ich nicht ein, weshalb wir in Schwierigkeiten geraten sollten. Wir haben nichts davon gewusst.«
»Wer wird uns das aber glauben?«
»Wahrscheinlich niemand. Diese Schufte, damit haben sie mich wirklich erwischt.«
Offenbar machte dies Arkady die meisten Sorgen. Nicht dass sie den Mars mit fremden Lebensformen kontaminiert hätten, sondern dass er von einem Geheimnis ausgeschlossen worden war. Männer waren so Ichbesessen, wenn es darum ging. Und Arkady hatte seine eigene Gruppe von Freunden gehabt, vielleicht mehr als das. Es gab Leute, die ihm in allen zustimmten, gewissermaßen Gefolgsleute. Die ganze Phobos-Crew und eine Menge der Programmierer in Underhill. Und wenn einige seiner eigenen Leute ihm etwas verheimlichten, so war das schlimm. Wenn aber eine andere Gruppe ihre eigenen Geheimpläne hatte, war das gewiss noch schlimmer; weil die mindestens Störer und vielleicht Konkurrenten waren.
So etwa schien er zu denken. Er sprach nicht viel darüber; aber es kam zum Ausdruck durch sein Gebrumm und seine plötzlichen scharfen Flüche, die echt waren, obwohl sie mit Ausbrüchen von Heiterkeit abwechselten. Er konnte sich anscheinend nicht entschließen, ob er geschmeichelt oder wütend sein sollte. Nadia glaubte schließlich, dass er beides zugleich war. So war Arkady. Er empfand die Dinge unbefangen und total, ohne sich viel Gedanken zu machen, ob das zusammenpasste. Aber sie war sich nicht allzu sicher, ob ihr seine Motive diesmal gefielen — sei es sein Ärger oder seine Heiterkeit. Und das sagte sie ihm ziemlich verwirrt.
»Na, mach schon!« schrie er. »Warum sollten sie es vor mir geheim halten, wenn es ursprünglich meine Idee war?«
»Weil sie wussten, dass ich mit dir kommen würde. Wenn sie es dir sagten, hättest du es mir erzählen müssen. Und wenn du es mir sagtest, würde ich es verhindert haben.«
Arkady lachte darüber unbändig. »Also war von ihnen schließlich doch alles wohl bedacht!«
»Quatsch!«
Die Bioingenieure, Sax, die Leute in der Abteilung, die die Dinger wirklich gebaut hatten. Jemand im Nachrichtenwesen wahrscheinlich auch … Es gab eine ganze Anzahl, die es gewusst haben mussten.
»Was ist mit Hiroko?« fragte Arkady.
Sie konnten sich nicht entscheiden. Sie wussten nicht genug von ihren Ansichten, um erraten zu können, was sie vielleicht dachte. Nadia war sich ziemlich sicher, dass sie auch dazu gehörte, konnte aber nicht erklären, warum. Sie dachte darüber nach und sagte: »Ich habe das Gefühl, es ist die Gruppe um Hiroko, das ganze Farmteam und eine hübsche Anzahl anderer, die sie respektieren und … ihr folgen. In gewisser Weise sogar Ann. Obwohl Ann sehr wütend sein wird, wenn sie davon hört. Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass Hiroko von allem, was an Geheimem vor sich geht, wissen würde. Besonders, wenn es mit ökologischen Systemen zu tun hat. Schließlich arbeitet ja die Bioingenieurgruppe die meiste Zeit mit ihr zusammen; und für manche von denen ist sie wie so was wie ein weiblicher Guru. Sie verehren sie beinahe. Wahrscheinlich haben sie ihren Rat erhalten, als sie diese Algen zusammengefügt haben.«
»Hmmm …«
»Also haben sie wahrscheinlich ihre Zustimmung für diese Idee bekommen. Vielleicht sollte ich sogar sagen, ihre Erlaubnis.«
Arkady nickte. »Ich verstehe, was du meinst.«
Sie redeten endlos weiter, zerkrümelten jeden einzelnen Punkt. Das Land, über das sie kamen, flach und unbewegt, sah für Nadia jetzt anders aus. Es war besät und gedüngt. Es würde sich jetzt unausweichlich verändern. Sie sprachen über die anderen Teile der Terraformungspläne von Sax, gigantische orbitale Spiegel, die Sonnenlicht auf die Grenzgebiete der Dämmerungen lenkten, über Kohlenstaub, der über die Polkappen ausgestreut würde, aerothermale Wärme, die EisAsteroiden. Es schien, dass das alles wirklich passieren würde. Die Debatte war umgangen, die ersten irreversiblen Fakten geschaffen worden. Jetzt würden sie das Antlitz des Mars verändern.
Am zweiten Abend nach ihrer Entdeckung, als sie im Lee eines Kraters vor Anker lagen, bekamen sie einen Anruf aus Underhill, der von einem Nachrichtensatelliten übermittelt wurde. »He, ihr beiden!« sagte John Boone zur Begrüßung. »Wir haben ein Problem.«
»Ihr habt ein Problem?« entgegnete Nadia.
»Wieso, stimmt da draußen etwas nicht?«
»Nein, nein.«
»Na schön; denn in Wirklichkeit seid ihr es, auf die ein Problem zukommt. Und ich möchte nicht, dass ihr euch mit mehr als einem herumschlagen müsstet. Unten in der Claritas-Fossae-Region ist ein Staubsturm aufgekommen, und er wächst und bewegt sich ziemlich schnell nach Norden. Wir denken, dass er euch in einem Tag erreichen könnte.«
»Ist es für Staubstürme nicht etwas früh?« fragte Arkady.
»O nein, wir sind bei Ls = 240, das ist die übliche Jahreszeit dafür. Jedenfalls gibt es ihn, und er kommt in eure Richtung.«
Er übermittelte ein Satellitenfoto des Sturms, und sie studierten ihren Fernsehbildschirm eingehend. Die Gegend südlich von Tharsis war jetzt durch eine amorphe gelbe Wolke verdeckt.
»Wir sollten lieber gleich nach Hause starten«, sagte Nadia nach eingehender Betrachtung.
»Bei Nacht?«
»Wir können die Propeller nachts mit Batterien laufen lassen und diese dann morgen früh wieder aufladen. Wir werden nicht viel Sonnenlicht haben, sofern wir nicht über den Staub gelangen können.«
Nach einiger Diskussion mit John und dann mit Ann legten sie ab. Der Wind trieb sie nach Ostnordost, und bei diesem Kurs würden sie direkt zum Südhang des Olympus Mons gelangen. Sie hofften, danach um die Nordflanke von Tharsis herumzukommen, die sie wenigstens für einige Zeit vor dem Sturm schützen würde.
Bei Nacht erschien das Fliegen lauter. Das Rauschen des Windes über den Stoff der Hülle war ein fluktuierendes Stöhnen und der Klang ihrer Motoren ein jämmerliches kleines Brummen. Sie saßen im Cockpit, das nur durch schwach leuchtende grüne Instrumentenlichter erhellt war, und sprachen mit gesenkter Stimme, während sie sich über das dunkle Land in der Tiefe bewegten. Sie mussten etwa 3000 Kilometer zurücklegen bis Underhill. Das bedeutete etwa dreihundert Stunden Flugzeit. Wenn sie rund um die Uhr fuhren, wären das ungefähr zwölf Tage. Aber der Sturm würde, wenn er in dem üblichen Maße zunahm, sie lange davor erreichen. Danach … Es war schwer zu sagen, wie es gehen würde. Ohne Sonnenlicht würden die Propeller die Batterien erschöpfen und dann …
»Können wir einfach mit dem Wind treiben?« fragte Nadia. »Die Propeller für gelegentliche Richtungsschübe benutzen?«
»Vielleicht. Aber diese Dinge sind so konstruiert, dass die Propeller zum Auftrieb beitragen.«
»Ach ja.« Sie machte Kaffee und brachte zwei Becher davon ins Cockpit. Sie saßen da, tranken und schauten auf die schwarze Landschaft oder den grünen Wischer auf dem kleinen Radarschirm. »Wahrscheinlich müssten wir alles abwerfen, das wir nicht brauchen. Besonders diese verdammten Windmühlen.«
Die Stunden der Nacht zogen sich hin. Sie wechselten sich am Steuer ab, und Nadia konnte eine Stunde lang unruhig schlafen. Als sie wieder ins Cockpit kam, sah sie, dass der größte Teil von Tharsis über den Horizont vor ihnen gerutscht war. Die zwei nördlichen der drei Hauptvulkane, Ascraeus Mons und Pavonis Mons, waren fern am Ende der Welt als Klumpen zu erkennen, welche die Sterne nahe dem Horizont verdeckten. Zu ihrer Linken ragte Olympus Mons noch immer über den Horizont; und wenn man die anderen beiden Vulkane hinzunahm, war es so, als flogen sie in einem gigantischen Canyon. Der Radarschirm gab das Bild im kleinen wieder, mit grünen Linien auf dem Netz des Schirms.
Dann, in der Stunde vor der Dämmerung, schien es, als ob sich ein anderer mächtiger Vulkan vor ihnen erheben würde. Der ganze südliche Horizont hob sich, tiefstehende Sterne verschwanden vor ihren Augen. Orion ertrank in Schwärze. Der Sturm kam.
Er erwischte sie gerade bei Tagesanbruch, erstickte das Rot am Osthimmel, überrollte sie und tauchte die Welt in rostfarbene Dunkelheit. Der Wind frischte auf.
Er fuhr an den Fenstern der Gondel vorbei mit dumpfem Gebrüll und dann laut heulend. Staub flog mit erschreckender, unwirklicher Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Dann wurde der Wind noch heftiger, und die Gondel hüpfte auf und ab, wenn das Gerüst des Luftschiffs hin und her verdreht wurde.
Sie hatten insofern Glück, als sie nach Norden wollten. Arkady sagte: »Hoffentlich bewegt sich der Wind um die Nordschulter von Tharsis.«
Nadia nickte schweigend. Sie hatten keine Gelegenheit gehabt, die Batterien nach dem nächtlichen Flug wieder aufzuladen, und ohne Sonnenlicht würden die Motoren nicht sehr viel länger laufen. Nadia sagte: »Hiroko meinte, dass das Sonnenlicht während eines Sturms ungefähr fünfzehn Prozent seiner normalen Stärke erreichen dürfte. In der Höhe würde es mehr sein. Also werden wir etwas nachladen können; aber das wird nur langsam gehen. Es könnte sein, dass wir im Laufe der Fahrt bei Tag gerade genug bekommen, um die Propeller bei Nacht zu betreiben.« Sie rechnete es mit dem Computer aus. Irgend etwas in Arkadys Gesichtsausdruck — nicht Furcht oder Angst, aber ein eigenartiges kleines Lächeln — gab ihr zu erkennen, in welch großer Gefahr sie schwebten. Wenn sie die Propeller nicht benutzen könnten, wären sie nicht imstande, ihren Kurs zu halten und könnten vielleicht nicht einmal mehr in der Luft bleiben. Sie würden gewiss hinuntergehen und versuchen, sich zu verankern. Aber sie hatten nur noch für ein paar Wochen zu essen; und Stürme wie dieser währten oft zwei Monate, manchmal auch drei.
»Das ist Ascraeus Mons«, sagte Arkady und zeigte auf den Radarschirm. »Ein gutes Bild.« Er lachte. »Ich fürchte, das beste Bild, das wir diesmal bekommen, wenn wir herumfahren. So ein Pech! Ich hatte wirklich erwartet, ihn zu sehen. Erinnerst du dich an Elysium?«
»O ja«, sagte Nadia und ließ emsig Simulationen über die Batterieleistung durchlaufen. Das Sonnenlicht des Tages hatte fast sein Maximum im Perihel erreicht. Das war der Hauptgrund für den Ausbruch des Sturms gewesen. Und die Instrumente sagten, dass etwa 20 Prozent des vollen Tageslichts bis zu dieser Höhe durchkämen (ihr Auge hatte den Eindruck, dass es eher 30 oder 40 wären). Darum sollte es möglich sein, die Propeller während der halben Zeit laufen zu lassen, was enorm hilfreich sein würde. Ohne sie bewegten sie sich mit rund zwölf Kilometern pro Stunde und verloren auch an Höhe — obwohl das auch der unter ihnen ansteigende Boden sein mochte. Mit den Propellern könnten sie eine gleichmäßige Höhe halten und ihren Kurs um einen oder zwei Grad beeinflussen.
»Was meinst du, wie dick dieser Staub ist?«
»Wie dick?«
»Du weißt, in Gramm pro Kubikzentimeter. Versuche, Ann oder Hiroko über Funk zu bekommen, um es herauszufinden.«
Sie ging nach hinten, um zu sehen, was sie an Bord hatten, das für die Energieversorgung der Propeller benutzt werden könnte. Hydrazin für die Vakuumpumpen der Luftschleuse des Bombenschachts. Die Pumpenmotoren könnten wahrscheinlich an die Propeller angeschlossen werden … Sie stieß eine der verdammten Windmühlen aus dem Weg und starrte sie an. Die Heizplatten wurden durch elektrischen Strom erwärmt, den die Rotation der Windmühlen erzeugte. Wenn sie also Strom in die Propellerbatterien leiten könnte … Man müsste die Windmühlen außen an der Gondel befestigen können, und dieser Wind könnte die Flügel wie Kreisel rotieren lassen. Die resultierende Elektrizität könnte bei der Energieversorgung der Propeller helfen. Sie durchwühlte das Ausrüstungsfach auf der Suche nach Draht, Transformatoren und Werkzeug und erzählte Arkady von ihrer Idee. Er lachte wie ein Verrückter. »Eine gute Idee, Nadia. Eine großartige Idee!«
»Wenn es funktioniert.« Sie durchsuchte den Gerätesatz, betrüblich kleiner als ihre gewöhnliche Ausrüstung. Das Licht in der Gondel war unheimlich, ein schwaches gelbes Glimmen, das bei jedem Windstoß flackerte. Die Sicht aus den Außenfenstern wechselte von Perioden völliger Klarheit mit dicken gelben Wolken, die wie Gewitterköpfe unter ihnen dahinzogen, zu völliger Dunkelheit. Alle Fensterflächen wurden von Staub gepeitscht, der mit über dreihundert Kilometern in der Stunde vorbeifegte. Selbst bei den ganzen zwölf Millibar stießen die Böen das Luftschiff herum. Vorn im Cockpit fluchte Arkady über die mangelnde Leistung des Autopiloten. »Du musst ihn umprogrammieren!« rief Nadia ihm zu. Sie erinnerte sich an seine vielen sadistischen Simulationen auf der Ares und lachte laut. »Problemlauf! Problemlauf!« Sie lachte über seine lauten Verwünschungen und machte sich wieder an die Arbeit. Wenigstens würde der Wind sie etwas schneller voranschieben. Arkady brüllte ihr von vorn Information seitens Ann zu. Der Staub war äußerst fein, durchschnittliche Partikelgröße um 2,5 Mikron und totale Masse der Säule um 10-3 Gramm pro cm2, ziemlich gleichmäßig verteilt von oben bis unten. Das war nicht allzu schlimm. Wenn er zu Boden sank, würde er eine recht dünne Schicht bilden, was mit dem übereinstimmte, das sie auf den ältesten abgeworfenen Lasten in Underhill gesehen hatten.
Als sie einige Windmühlen neu verdrahtet hatte, klopfte sie an die Verbindungstür zum Cockpit. Arkady sagte: »Ann meint, dass die Winde dicht in Bodennähe am langsamsten sein würden.«
»Gut! Wir müssen landen, um diese Windmühlen außen anzubringen.«
Also gingen sie an diesem Nachmittag blind herunter und ließen den Anker schleppen, bis er sich festhakte und hielt. Der Wind war hier schwächer, aber auch so war das Absenken Nadias in der Schlinge schrecklich. Immer tiefer hinein in die rasende Wolken aus gelbem Staub schwang sie vor und zurück. Und dann war der Boden direkt unter ihren Füßen! Sie traf auf und zog sich an einen Halt. Einmal aus der Schlinge heraus, stemmte sie sich gegen den Wind, der sie trotz geringer materieller Dichte geradezu mit Schlägen traktierte. Ihr altes Gefühl von Hohlheit war überdeutlich. Die Sicht schwankte in Wellen; und der Staub flog so rasch vorbei, dass er ihr die Orientierung raubte. Auf der Erde würde ein derart schneller Wind einen einfach hochheben und wie einen Strohhalm in einem Tornado herumschleudern.
Aber hier konnte man sich, wenn auch nur sehr knapp, am Boden halten. Arkady hatte das Luftschiff langsam an der Ankerwinde heruntergezogen, und jetzt blähte es sich über ihr wie ein grünes Dach. Darunter war es unheimlich finster. Nadia spulte die Drähte zu den Turboprops an den Flügelspitzen ab, befestigte sie am Schiff und klemmte sie an die Kontakte im Innern. Sie arbeitete rasch, um nur möglichst kurz dem Staub ausgesetzt zu sein und unter der Arrowhead hervorzukommen, die im Wind hüpfte. Mit Mühe bohrte sie Löcher in den Boden der Gondel und befestigte zehn Windmühlen mit Schrauben. Während sie die Verdrahtung von dort zu dem Rumpf aus Plastik zog, sank das ganze Luftschiff so schnell, dass sie sich mit gespreizten Armen und Beinen mit dem Gesicht auf den kalten Boden fallen lassen musste. Der Bohrer war ein harter Brocken unter ihrem Magen. »Mist!« brüllte sie. Arkady rief über Interkom: »Was ist los?« Sie sagte: »Nichts«, sprang auf und machte noch schneller weiter. »Verfluchtes Ding! Es ist, als ob man auf einem Trampolin arbeiten würde …« Als sie dann fertig wurde, frischte der Wind wieder auf, und sie musste zurück in den Bombenschacht kriechen. Ihr Atem rasselte in heftigen Stößen.
»Das verdammte Ding hat mich beinahe zerquetscht!« brüllte sie Arkady nach vorn zu, als sie den Helm abgenommen hatte. Während er arbeitete, den Anker loszuhaken, stolperte sie im Innern der Gondel herum, griff sich Dinge, die sie nicht brauchen würden, und warf sie in den Bombenschacht. Eine Lampe, eine der Matratzen, die meisten Küchenutensilien und Essgeschirr, einige Bücher, alle Gesteinsproben. Dann ging sie in den Schacht und ließ alles fröhlich hinunterplumpsen. Sie dachte, falls jemals ein Reisender auf diesen Haufen stoßen würde, er sich bestimmt wundern würde, was da passiert war.
Sie mussten beide Propeller mit voller Kraft laufen lassen, um den Anker frei zu bekommen. Als es ihnen endlich gelang, flogen sie dahin wie ein welkes Blatt im November. Sie ließen die Motoren weiter voll laufen, um so schnell wie möglich Höhe zu gewinnen. Es lagen einige kleine Vulkane zwischen Olympus und Tharsis, und Arkady wollte einige hundert Meter über ihnen fahren. Der Radarschirm zeigte, dass Ascraeus Mons hinter ihnen zurückblieb. Als sie gut nördlich von ihm waren, konnten sie nach Ost wenden und versuchen, einen Kurs um die Nordflanke von Tharsis zu finden und dann hinab nach Underhill.
Aber im Verlauf der langen Stunden stellten sie fest, dass der Wind den Nordhang von Tharsis herabgebraust kam, genau ihnen entgegen, so dass sie auch bei voller Kraft nach Südosten gewandt höchstens nach Nordosten vorankommen konnten. Bei den Versuchen, gegen den Wind zu kreuzen, hüpfte die arme Arrowhead wie ein Gleitflieger und riss sie auf und ab, auf und ab, als ob die Gondel unter einem Trampolin befestigt wäre. Aber trotz allem kamen sie nicht in der gewünschten Richtung voran.
Es wurde wieder dunkel. Sie wurden weiter nach Nordosten getrieben. Bei diesem Kurs würden sie Underhill um einige hundert Kilometer verfehlen. Und dahinter nichts, überhaupt keine Siedlungen, keine Zuflucht. Sie würden über Acidalia geblasen werden, hinauf zu Vastitas Borealis und dem leeren versteinerten Meer schwarzer Dünen. Und sie hatten nicht genug Nahrung und Wasser, um den Planeten noch einmal zu umrunden und es noch einmal zu versuchen.
Nadia fühlte Staub in Mund und Augen. Sie ging wieder in die Küche und erwärmte ihnen eine Mahlzeit. Sie war schon erschöpft, und als der Geruch von Essen die Luft erfüllte, merkte sie, dass sie auch sehr hungrig war. Außerdem durstig. Und der Wasseraufbereiter wurde mit Hydrazin betrieben …
Bei dem Gedanken an Wasser kam ihr ein Bild von der Fahrt zum Nordpol in den Sinn: Die geborstene Permafrostleitung mit ihrem weißen Schwall von Wasser-Eis. Aber wieso war das wichtig? Wieso kreisten ihre Gedanken um dieses Bild?
Sie begab sich wieder ins Cockpit, wobei sie sich bei jedem Schritt an einer Wand festhielt. Sie aß mit Arkady eine kleine Mahlzeit. Staub knirschte zwischen den Zähnen. Arkady wandte keinen Blick vom Radarschirm und sagte nichts. Aber er sah besorgt aus.
Ah! »Schau«, sagte sie, »wenn es uns gelänge, die Signale von den Transpondern auf unserer Straße zu Chasma Borealis zu empfangen, könnten wir dort landen. Dann könnte ein Robot-Rover ausgeschickt werden, um uns zu holen. Der Sturm würde den Rovern nichts ausmachen, da sie sowieso nicht auf Sicht fahren. Wir könnten die Arrowhead vertäut dalassen und nach Hause fahren.«
Arkady sah sie an und hörte auf zu kauen. »Eine gute Idee«, sagte er.
Aber nur, wenn sie die Signale des Transponders wirklich empfangen konnten. Arkady drehte am Radio und rief Underhill. Die Verbindung knisterte von Störungen, die fast so stark waren wie der Staub; aber sie konnten sich dennoch verständlich machen. Während der ganzen Nacht konferierten sie mit den Leuten zu Hause, diskutierten Frequenzen, Bandbreiten, das Maß, wie der Staub die recht schwachen Signale des Transponders überdecken könnte, und so weiter. Weil die Transponder nur dafür konstruiert waren, Rovern, die in der Nähe und auf dem Boden waren, Signale zu übermitteln, würde es problematisch sein, sie zu hören. Underhill könnte imstande sein, ihre Position gut genug zu bestimmen, um ihnen mitzuteilen, wann sie heruntergehen müssten; und ihre eigene Radarkarte würde ihnen auch eine allgemeine Ortung der Straße liefern. Aber keine dieser Methoden war exakt genug, und es wäre fast unmöglich, die Straße in dem Sturm zu finden, wenn sie nicht direkt auf ihr landeten. Zehn Kilometer nach beiden Seiten, und sie läge hinter dem Horizont. Dann hätten sie Pech gehabt. Es wäre viel sicherer, wenn sie sich an eines der Transpondersignale anhängen und ihm nach unten folgen könnten.
Für jeden Fall schickte Underhill einen Robotrover auf die Straße nach Norden. Er würde in etwa fünf Tagen in dem Gebiet der Straße ankommen, das sie wahrscheinlich kreuzen würden. Bei ihrer derzeitigen Geschwindigkeit von fast dreißig Kilometern pro Stunde würden sie selbst in etwa vier Tagen dort eintreffen.
Als die Vereinbarungen getroffen waren, lösten sie sich während des Restes der Nacht bei der Wache ab.
Nadia schlief schlecht, wenn sie Freiwache hatte, lag einen großen Teil der Zeit auf dem Bett und fühlte, wie der Wind sie umherstieß. Die Fenster waren so dunkel, als wären Vorhänge zugezogen. Das Brüllen des Windes war wie ein Gasofen und manchmal wie von Todesengeln. Einmal träumte ihr, sie wäre in einem großen Hochofen voller Feuerdämonen. Sie wachte schwitzend auf und ging nach vorn, um Arkady abzulösen. Die ganze Gondel roch nach Schweiß, Staub und verbranntem Hydrazin. Trotz allen Mikronsiegeln der Dichtungen lag auf allen Flächen in der Gondel ein sichtbarer weißlicher Belag. Sie wischte mit den Fingern über ein blaues Kunststoffschott und starrte auf deren Spuren. Unglaublich.
Sie hüpften dahin in trüben Tagen und in der sternlosen Finsternis der Nächte. Das Radar zeigte etwas, das sie für den Fesenkov-Krater hielten, der unter ihnen dahinzog. Dann wurden sie noch weiter nach Norden geschoben, und es gab absolut keine Chance, dem Sturm Trotz zu bieten und nach Süden bis Underhill zu gelangen. Die Polstraße war ihre einzige Hoffnung. Nadia sah sich in ihren Freiwachen nach Dingen um, die sie über Bord werfen könnten. Sie schnitt Teile des Gondelrahmens weg, die sie für unwesentlich hielt, dass es die Ingenieure in Friedrichshafen gegraust hätte. Aber Deutsche pflegten es als Ingenieure immer zu übertreiben; und niemand auf der Erde konnte sich überhaupt die Marsschwere wirklich vorstellen. Also sägte und hämmerte sie, bis alles in der Gondel fast zu einem Nichts aus Gitterwerk geworden war. Jede Benutzung des Schachts brachte eine neue kleine Staubwolke herein; aber sie meinte, dass es das wert sei. Sie brauchten den Auftrieb. Die Windmühleninstallation lieferte den Batterien nicht genug Strom, und sie hatte den Rest davon längst über Bord geworfen. Aber selbst wenn sie sie noch hätten, hätte sie sich nicht wieder unter das Luftschiff begeben, um sie zu montieren.
Die Erinnerung an den Vorfall ließ sie immer noch erschauern. Statt dessen schnitt sie immer mehr weg. Sie hätte auch Teile vom Gerippe des Luftschiffs abgeworfen, wenn sie zwischen die Ballonets hätte gelangen können.
Während sie damit beschäftigt war, tapste Arkady in der Gondel herum und feuerte sie an — nackt und von Staub verkrustet, der leibhaftige rote Mann, sang Lieder und beobachtete den Fernsehschirm, schlang schnelle Mahlzeiten hinunter und plante ihren Kurs nach Lage der Dinge. Es war unmöglich, nicht von seiner Heiterkeit angesteckt zu werden und mit ihm über die stärksten Windstöße zu staunen und den Staub allmählich sogar im Blut fliegen zu fühlen.
Und so vergingen drei lange anstrengende Tage im harten Griff des dunkelorangefarbenen Windes. Und am vierten Tag, kurz nach Mittag, drehten sie den Radioempfänger auf volle Lautstärke und hörten die Störungen auf der Transponderfrequenz knistern. Nadia wurde durch die Konzentration auf das weiße Rauschen dösig, denn sie hatte nur wenig Schlaf gehabt. Sie war fast bewusstlos, als Arkady etwas sagte; und sie fuhr in ihrem Sitz hoch.
»Hörst du es?« fragte er wieder. Sie lauschte und schüttelte den Kopf. »Da, es macht irgendwie ping.«
Sie hörte ein leises Piepsen. »Ist es das?«
»Ich meine ja. Ich werde uns hinunterbringen, so schnell wir können. Ich werde einige Ballonets entleeren müssen.«
Er tastete sich zum Steuerpaneel vor, und das Luftschiff neigte sich nach vorn, und sie fingen an, im Notfalltempo zu sinken. Die Zahlen des Höhenmessers flimmerten nach unten. Der Radarschirm zeigte, dass der Boden unten im wesentlichen eben war. Das Piepsen wurde immer lauter. Ohne einen Peilempfänger war das ihre einzige Möglichkeit festzustellen, ob sie noch näher kamen oder sich schon wieder entfernten.
Ping … ping … ping … Bei ihrer Erschöpfung war schwer zu sagen, ob es lauter oder leiser wurde. Jeder Piepser schien eine andere Lautstärke zu haben, je nach der Aufmerksamkeit, die sie aufbringen konnte.
Plötzlich sagte Arkady: »Es wird leiser. Meinst du nicht auch?«
»Ich kann es nicht beurteilen.«
»Doch, so ist es.« Er schaltete die Propeller ein, und mit dem Gebrumm der Motoren wirkte das Signal entschieden ruhiger. Er drehte in den Wind, und das Luftschiff bockte wild. Er kämpfte darum, seine Abwärtsbewegung zu stabilisieren. Aber zwischen jeder Verschiebung der Klappen und den Stößen des Schiffs gab es eine Verzögerung. In Wirklichkeit hatten sie kaum mehr als einen kontrollierten Aufprall zu gewärtigen. Vielleicht wurde das ping langsamer schwächer.
Als der Höhenmesser anzeigte, dass sie tief genug waren, um den Anker auszuwerfen, taten sie es; und nach kurzem, besorgniserregendem Treiben griff er und hielt. Sie ließen alle Anker fallen, die sie hatten, und zogen die Arrowhead an den Leinen nach unten. Dann zog Nadia sich an, kletterte in die Schlinge und ließ sich mit der Winde hinunter. Auf der Oberfläche angelangt, tappte sie in einer schokoladefarbenen Dämmerung umher, wobei sie sich hart gegen den ungleichmäßigen Orkan anstemmen musste. Sie merkte, dass sie stärker erschöpft war, als sie sich erinnern konnte, je gewesen zu sein. Es war wirklich schwer, gegen den Wind voranzukommen. Sie musste lavieren. In ihrem Interkom piepte der Transponder sein Signal, und der Boden schien unter ihren Füßen zu hüpfen. Es war schwer, Balance zu halten. Das Piepen war ganz deutlich. Sie sagte zu Arkady: »Wir hätten die ganze Zeit mit unseren Helmen lauschen sollen. Da kann man es besser hören.«
Eine Bö warf sie um. Sie stand auf und schlurfte langsam dahin. Sie ließ eine Nylonleine abrollen und richtete ihren Kurs nach der Lautstärke des Signals aus. Der Boden unter ihr war in Bewegung, wenn sie ihn sehen konnte. Die Sicht war, zumindest in den stärksten Böen, auf ein Meter oder weniger gesunken. Wenn es dann für einen Moment aufklarte, rasten braune Staubstrahlen vorbei, ein Schwall nach dem anderen, die sich mit fürchterlicher Geschwindigkeit bewegten. Der Wind stieß sie so hart umher, wie sie es auf der Erde kaum je erlebt hatte. Es war schmerzhaft, das Gleichgewicht zu bewahren — eine ständige körperliche Anstrengung.
Als sie gerade in einer dicken, die Sicht raubenden Wolke steckte, stolperte sie gegen einen Transponder, der dastand wie ein Zaunpfahl. Sie schrie: »He!«
»Was fehlt?«
»Nichts. Ich bin nur erschrocken, als ich auf den Wegweiser gestoßen bin.«
»Du hast ihn gefunden?«
»Jawohl!« Sie fühlte, wie ihr die Erschöpfung in Hände und Füße glitt. Sie blieb eine Minute lang einfach auf dem Boden sitzen, dann stand sie wieder auf. Es war zu kalt zum Sitzen. Ihr Phantomfinger schmerzte.
Sie nahm die Nylonschnur und kehrte blind zum Luftschiff zurück. Ihr kam vor, als wäre es der Ariadne-Faden, und sie würde ihm aus dem Labyrinth folgen.
Während sie im Rover nach Süden fuhren, von dem Flugstaub geblendet, krächzte das Radio die Nachricht, dass die UNOMA soeben die Einrichtung von drei weiteren Kolonien gebilligt und im Etat verankert hätte. Eine jede sollte aus fünfhundert Personen bestehen, alle aus Ländern, die unter den ersten hundert Expeditionsteilnehmern nicht vertreten gewesen waren.
Und der Unterausschuss für Terraformung hatte empfohlen, und die Generalversammlung hatte es genehmigt: ein ganzes Paket von Terraformungsbemühungen, darunter die Verteilung genetisch konstruierter Mikroorganismen aus dem Zuchtbestand von Algen, Bakterien oder Flechten.
Arkady lachte gut dreißig Sekunden lang. »Diese Schufte, diese glücklichen Bastarde! Jetzt werden sie erst recht damit loslegen!«