4

Als ich zurückkehrte, warteten Random und Flora bereits in meiner Unterkunft. Randoms Blick richtete sich zuerst auf das Juwel, dann auf mein Gesicht. Ich nickte.

Dann wandte ich mich mit einer leichten Verbeugung an Flora. »Schwester«, sagte ich. »Es ist lange her, sehr lange.« Sie sah mich ein wenig verängstigt an, was mir nur recht war. Dann lächelte sie aber und ergriff meine Hand.

»Bruder«, sagte sie. »Wie ich sehe, hast du dein Wort gehalten.«

Hellgolden war ihr Haar. Sie trug es kurzgeschnitten, und in Löckchen gedreht. Ich wußte immer noch nicht, ob ich die Frisur mochte oder nicht. Sie hatte herrliches Haar, blaue Augen und ausreichend Eitelkeit, um alles aus der ihr genehmen Perspektive zu sehen. Zuweilen schien sie ausgesprochen dumm zu handeln, doch dann gab es wieder Augenblicke, da ich über ihre Entschlüsse staunte.

»Entschuldige, daß ich dich so anstarre«, sagte ich. »Doch als wir das letztemal zusammen waren, konnte ich dich nicht sehen.«

»Ich bin sehr glücklich, daß du wieder sehen kannst. Blindheit muß schrecklich sein«, erwiderte sie. »Es war ziemlich . . . Jedenfalls konnte ich es nicht verhindern.«

»Ich weiß«, sagte ich und dachte an ihr Lachen von der anderen Seite der Dunkelheit bei einem der Jahrestage des großen Ereignisses. »Ich weiß.«

Ich trat ans Fenster und öffnete es in dem sicheren Wissen, daß der Regen nicht zu uns hereindringen würde. Ich liebe den Geruch von Unwettern.

»Random, hast du etwas Interessantes erfahren über den mutmaßlichen Briefeschreiber?« erkundigte ich mich.

»Eigentlich nicht«, sagte er. »Ich habe Erkundigungen eingezogen. Niemand scheint an besagtem Ort zu besagter Zeit jemanden gesehen zu haben.«

»Ich verstehe. Vielen Dank. Vielleicht sprechen wir uns später noch.«

»Schön«, sagte er. »Ich werde ohnehin den Abend in meinem Zimmer verbringen.«

Ich nickte, wandte mich um, lehnte mich mit dem Rücken gegen die Fensterbank und beobachtete Flora. Random schloß die Tür leise hinter sich. Eine halbe Minute lang lauschte ich auf den Regen.

»Was willst du mit mir anstellen?« wollte Flora schließlich wissen.

»Anstellen?«

»Du bist neuerdings in der Lage, alte Schulden einzutreiben. Vermutlich soll es damit jetzt losgehen.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Doch die meisten Dinge hängen von anderen Dingen ab – das ist hier und jetzt nicht anders.«

»Was soll das heißen?«

»Gib mir, was ich will – dann werden wir sehen. Ab und zu kann ich sogar nett sein.«

»Was willst du von mir?«

»Die Geschichte, Flora. Fangen wir einmal damit an. Wie du in jenem Schatten auf der Erde meine Wächterin wurdest. Alle wichtigen Einzelheiten. Wie lautete die Vereinbarung? Was hattet ihr abgesprochen? Das ist alles.«

Sie seufzte.

»Es begann . . .«, sagte sie. »Ja . . . es war in Paris, bei der Party eines gewissen Monsieur Focault. Etwa drei Jahre vor den Schrecknissen . . .«

»Moment!« sagte ich. »Was tatest du dort?«

»Ich hatte mich etwa fünf Jahre Ortszeit in jener Schattengegend aufgehalten«, sagte sie. »Ich war auf der Suche nach etwas Neuem herumgewandert, nach etwas, das meine Unruhe stillen konnte. Und jenen Ort fand ich damals ohne besondere Umstände. Ich ließ mich von meinen Wünschen lenken und folgte meinen Instinkten.«

»Ein seltsamer Zufall.«

»Nicht wenn man die darauf verwendete Zeit bedenkt – und die vielen Reisen, die wir im allgemeinen machen. Dieser Schatten war, wenn du so willst, mein Avalon, mein Amber-Ersatz, meine zweite Heimat. Nenn ihn, wie du willst, jedenfalls bist du damals an jenem Oktoberabend mit der kleinen Rothaarigen bei der Party aufgekreuzt – ich glaube, sie hieß Jacqueline.«

Ja, das brachte Erinnerungen aus der Tiefe hoch, Erinnerungen, auf die ich sehr lange nicht mehr zurückgegriffen hatte. Dabei erinnerte ich mich an Jacqueline viel klarer als an Focaults Party.

»Sprich weiter.«

»Wie gesagt«, fuhr sie fort. »Ich war dort. Du kamst später. Natürlich wurde ich sofort auf dich aufmerksam. Wenn man lange genug lebt und ziemlich viel reist, trifft man gelegentlich auf eine Person, die große Ähnlichkeit mit einem Bekannten hat. Das war mein Gedanke nach der ersten Aufregung. Bestimmt war das nur ein Doppelgänger! Es war sehr viel Zeit vergangen. Ich war lange ohne ein Wort von dir gewesen. Doch wir alle haben unsere Geheimnisse und gute Gründe für diese Geheimnisse. Hier war vielleicht eines deiner Geheimnisse. Ich sorgte dafür, daß wir einander vorgestellt wurden, und hatte anschließend große Mühe, dich für ein paar Minuten von dem rothaarigen Teufel zu trennen. Und du bestandest darauf, Fenneval zu heißen – Cordell Fenneval. Ich war unsicher. Ich konnte mir nicht schlüssig werden, ob du ein Doppelgänger warst oder du selbst in einer deiner Rollen. Allerdings ging mir auch die dritte Möglichkeit durch den Kopf – daß du nämlich eine ausreichend lange Zeit in benachbarten Schatten gelebt hattest, um eigene Schatten auszuwerfen. Vielleicht hätte ich die Party im Ungewissen verlassen, wenn Jacqueline nicht mir gegenüber deine Kräfte herausgekehrt hätte. Dies ist nun nicht gerade ein alltägliches Gesprächsthema zwischen Frauen, und ihr Ton überzeugte mich, daß sie von einigen Dingen, die du getan hattest, wirklich beeindruckt gewesen war. Ich horchte sie noch ein wenig aus und erkannte, daß es sich um Taten handelte, die durchaus im Rahmen deiner Fähigkeiten lagen. Das schloß die Möglichkeit eines Doppelgängers aus. Also entweder du selbst oder ein Schatten. Und selbst wenn Cordell nicht Corwin war – hier hatte ich nun zumindest einen Hinweis darauf, daß du in dieser Schattengegend warst oder gewesen warst – der erste echte Anhaltspunkt für deinen Verbleib. Ich mußte der Sache nachgehen. Ich beschloß, dir auf der Spur zu bleiben, ich ließ Nachforschungen über deine Vergangenheit anstellen. Je mehr Leute ich befragte, um so rätselhafter wurde die Sache. Nach mehreren Monaten war ich nicht weiter als am Anfang. Es gab genügend unklare Momente, um beide Varianten möglich zu machen. Die Frage klärte sich endgültig im folgenden Sommer, als ich mich eine Zeitlang in Amber aufhielt. Ich sprach mit Eric über die seltsame Angelegenheit . . .«

»Ja?«

»Nun . . . er . . . verschloß sich dieser Möglichkeit nicht.«

Sie schwieg und legte die Handschuhe auf dem Stuhl neben sich zurecht.

»Aha«, sagte ich. »Was hat er gesagt?«

»Daß du es vielleicht wirklich wärst«, sagte sie. »Er teilte mir mit, es habe – einen Unfall gegeben.«

»Wirklich?«

»Also – nein«, räumte sie ein. »Er sprach nicht von einem Unfall. Er sagte, es wäre zu einem Kampf gekommen, und er hätte dich verletzt. Er wäre der Ansicht gewesen, du würdest sterben, und wollte nicht damit belastet werden. Folglich brachte er dich in die Schatten und ließ dich an jenem Ort zurück. Und nach langer Zeit kam er zu dem Schluß, daß du tot sein müßtest, daß der Streit zwischen euch endgültig ausgetragen sei. Meine Mitteilung beunruhigte ihn natürlich sehr. Er verpflichtete mich zur Verschwiegenheit und schickte mich zurück, damit ich dich im Auge behalte. Schließlich hatte ich einen guten Grund für meine Anwesenheit dort, da ich bereits überall herumerzählt hatte, wie gut mir diese Schattenwelt gefiel.«

»Du hast ihm dein Schweigen sicher nicht umsonst versprochen, Flora. Was hat er dir gegeben?«

»Er gab mir sein Wort, daß er mich nicht vergessen würde, wenn er jemals hier in Amber etwas zu sagen hätte.«

»Das war ein wenig leichtsinnig von dir«, sagte ich. »Schließlich hattest du trotz allem eine Handhabe gegen ihn – das Wissen um den Aufenthaltsort eines anderen Thronanwärters und um Erics Rolle bei der Versetzung des Rivalen dorthin.«

»Das ist richtig. Doch das glich sich irgendwie aus – und ich hätte meine Komplicenschaft zugeben müssen, sobald ich darüber sprechen wollte.«

Ich nickte.

»Mager, aber nicht unmöglich«, sagte ich. »Aber hast du angenommen, er würde mich weiterleben lassen, wenn er wirklich eine Chance auf den Thron erhielt?«

»Darüber haben wir nie gesprochen. Niemals!«

»Aber du hast dir doch bestimmt Gedanken darüber gemacht.«

»Ja, später«, sagte sie. »Und ich kam zu dem Schluß, daß er vermutlich gar nichts tun würde. Schließlich sah es inzwischen so aus, als hättest du das Gedächtnis verloren. Es gab nicht den geringsten Grund, dir etwas anzutun, solange du harmlos warst.«

»Du bist also geblieben, um mich zu bewachen, um dafür zu sorgen, daß ich harmlos blieb?«

»Ja.«

»Was hättest du getan, wenn erkennbar geworden wäre, daß ich mein Gedächtnis zurückerhielt?«

Nun sah sie mich an und wandte den Kopf ab.

»Ich hätte es Eric gemeldet.«

»Und was hätte er getan?«

»Keine Ahnung.«

Ich lachte auf, und sie errötete. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich Flora das letztemal in Verlegenheit gebracht hatte.

»Ich will hier nicht auf dem Offensichtlichen herumreiten«, sagte ich. »Schön, du bist also geblieben, du hast mich beobachtet. Was dann? Was passierte dann?«

»Nichts Besonderes. Du hast dein flottes Leben genossen, und ich habe dich im Auge behalten.«

»Und alle anderen wußten, wo du warst?«

»Ja. Ich hatte kein Geheimnis um meinen Verbleib gemacht. Die anderen haben mich sogar alle mal besucht, allerdings einzeln.«

»Auch Random?«

Ihre Lippen kräuselten sich.

»Ja, mehrmals«, sagte sie.

»Warum das spöttische Lächeln?«

»Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich ihn mag«, sagte sie. »Weißt du, mir gefallen die Leute nicht, mit denen er sich abgibt – Verbrecher, Jazzmusiker . . . Ich mußte ihm das übliche verwandtschaftliche Entgegenkommen erweisen, als er meinen Schatten besuchte, doch ging er mir ziemlich auf die Nerven. Immer wieder schleppte er komische Leute an – zu Jam Sessions und Pokerpartien. Nach seinem Besuch stank das Haus noch wochenlang nach Alkohol und Zigarettenqualm, und ich war immer froh, wenn er wieder fort war. Tut mir leid. Ich weiß, daß du ihn magst, aber du wolltest die Wahrheit hören.«

»Er hat dich in deiner Empfindlichkeit verletzt. Also gut. Jetzt möchte ich deine Aufmerksamkeit auf die kurze Zeit lenken, da ich dein Gast war. Dabei stieß Random ziemlich plötzlich zu uns. Ihm dicht auf den Fersen war ein halbes Dutzend unangenehmer Burschen, die wir in deinem Wohnzimmer erledigten.«

»Ich erinnere mich sogar ziemlich deutlich daran.«

»Erinnerst du dich auch an diese Kerle – die Wesen, gegen die wir kämpfen mußten?«

»Ja?«

»Noch so gut, daß du einen wiedererkennen würdest?«

»Ich glaube schon.«

»Gut. Hattest du diese Geschöpfe vorher schon einmal gesehen?«

»Nein.«

»Und seither?«

»Nein.«

»Hast du irgendwo eine Beschreibung von ihnen gehört oder gelesen?«

»Soweit ich mich erinnere, nicht. Wieso?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Moment. Dies ist mein Verhör, denk dran. Jetzt erinnere dich bitte an die Zeit vor jenem Abend. An das Ereignis, das mich nach Greenwood brachte. Vielleicht sogar ein bißchen früher. Was passierte damals, und wie hast du davon erfahren? Wie waren die Umstände? Was war deine Rolle?«

»Ja«, sagte sie. »Ich wußte, daß du mich früher oder später danach fragen würdest. Eric setzte sich am Tag nach dem Ereignis mit mir in Verbindung – über den Trumpf, von Amber aus.« Wieder sah sie mich an, wohl um meine Reaktion zu beobachten. Mein Gesicht blieb ausdruckslos. »Er sagte mir, du seist am Abend zuvor in einen schlimmen Unfall verwickelt worden und im Krankenhaus. Er bat mich, dich in eine Privatklinik verlegen zu lassen, wo ich mehr Einfluß auf deine Behandlung nehmen könnte.«

»Mit anderen Worten – er wollte, daß ich ein Wrack blieb.«

»Er wollte, daß du immer unter dem Einfluß von Betäubungsmitteln standest.«

»Hat er zugegeben, für den Unfall verantwortlich zu sein – oder nicht?«

»Er hat nicht gesagt, dein Reifen sei auf seinen Befehl hin kaputtgeschossen worden, doch er wußte genau über den Hergang des Unfalls Bescheid. Woher hätte er es sonst erfahren sollen? Als man mir später mitteilte, daß er den Thron besteigen wollte, nahm ich einfach an, er habe es schließlich für das beste gehalten, dich völlig zu beseitigen. Als der Versuch fehlschlug, kam es mir logisch vor, daß er die nächstbeste Maßnahme ergriff – dafür zu sorgen, daß du aus dem Wege bliebst, bis die Krönung vorüber war.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß jemand auf meine Reifen geschossen hat«, sagte ich.

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Dann erholte sie sich wieder.

»Du hast mir gesagt, du wüßtest, daß es kein Unfall war – daß jemand dich hatte umbringen wollen. Da dachte ich, du wüßtest die Einzelheiten.«

Zum erstenmal seit langer Zeit bewegte ich mich wieder auf schwankendem Boden. Meine Amnesie war noch immer nicht völlig geheilt – ein Zustand, bei dem es vermutlich bleiben würde. Meine Erinnerungen an die letzten Tage unmittelbar vor dem Unfall waren noch immer lückenhaft. Das Muster hatte die verlorenen Erinnerungen an mein gesamtes Leben bis zu dieser Zeit wiederhergestellt, doch das Trauma schien den Rückgriff auf einige Ereignisse unmittelbar davor zu verhindern. So etwas kommt vor. Vermutlich organischer Schaden, nicht bloß eine einfache Funktionsstörung. Ich war so glücklich, das große Ganze wieder im Griff zu haben, daß die wenigen Lücken mir nicht besonders ins Gewicht zu fallen schienen. Was den Unfall und mein Gefühl anging, daß es mehr gewesen war als nur ein Unfall . . . Nun, ich erinnerte mich plötzlich an Schüsse. Es war zweimal geschossen worden. Vielleicht hatte ich sogar einen Blick auf die Gestalt mit dem Gewehr werfen können – blitzschnell, zu spät. Vielleicht war das aber auch nur Einbildung. Doch es wollte mir scheinen, als hätte ich den Kerl gesehen. Ein entsprechender Eindruck hatte mich geplagt, als ich nach Westchester fuhr. Doch selbst jetzt noch, da ich in Amber die Macht hatte, mochte ich diesen Mangel nicht eingestehen. Schon einmal hatte ich mich bei Flora durchgesetzt, und damals hatte ich viel weniger gewußt. Ich beschloß, bei dem erprobten Rezept zu bleiben.

»Ich war nicht in der Lage auszusteigen und mir anzusehen, was getroffen worden war«, sagte ich. »Ich hörte die Schüsse. Ich verlor die Kontrolle über den Wagen. Ich nahm an, daß es ein Reifen war, doch ich war meiner Sache nicht sicher. Ich habe die Frage auch nur aufgebracht, weil ich erfahren wollte, woher du wußtest, daß es ein Reifen war.«

»Ich sagte dir schon, daß Eric mir davon erzählt hat.«

»Nein, aber mir war viel wichtiger, wie du das gesagt hast. Deinem Tonfall nach zu urteilen, wußtest du die Einzelheiten schon vor seinem Anruf.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Verzeih mir wegen der Ausdrucksweise«, sagte sie. »Dazu kommt es manchmal, wenn man die Dinge im Rückblick überdenkt, wenn man längst alles weiß. Ich muß leider abstreiten, was du hier andeutest. Ich hatte nichts damit zu tun und hatte vor dem Ereignis keine Ahnung davon.«

»Da Eric nicht mehr in der Lage ist, irgend etwas zu bestätigen oder abzustreiten, müssen wir es wohl dabei bewenden lassen«, sagte ich. »Im Augenblick jedenfalls.« Die letzten Worte setzte ich hinzu, damit sie sich noch mehr als bisher auf ihre Verteidigung konzentrierte, damit sie abgelenkt wurde von jedem möglichen Hinweis in Wort oder Ausdruck, aus dem sie womöglich auf die noch vorherrschenden kleinen Lücken in meinem Gedächtnis schließen konnte. »Hast du später noch erfahren, wer die Person mit dem Gewehr gewesen ist?« fragte ich.

»Niemals«, erwiderte sie. »Vermutlich ein gemieteter Gangster. Ich weiß es nicht.«

»Hast du eine Vorstellung, wie lange ich bewußtlos war, ehe ich gefunden und in ein Krankenhaus gebracht wurde?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

Irgend etwas störte mich, doch ich vermochte nicht genau zu bestimmen, was es war.

»Hat Eric dir gesagt, zu welcher Zeit ich ins Krankenhaus gebracht wurde?«

»Nein.«

»Als ich bei dir war, warum hast du versucht, zu Fuß nach Amber zurückzukehren? Warum hast du nicht Erics Trumpf verwendet?«

»Ich bekam keinen Kontakt mit ihm.«

»Du hättest einen anderen von uns ansprechen können, der dich geholt hätte«, sagte ich. »Flora – ich glaube, du lügst mich an.«

Eigentlich waren die Worte nur ein Schuß ins Dunkle, um zu sehen, wie sie reagierte. Warum auch nicht?

»Inwiefern?« fragte sie. »Ich bekam mit niemandem Kontakt. Sie waren alle irgendwie beschäftigt. Meinst du das?«

Sie sah mich lauernd an.

Ich hob den Arm und deutete auf sie, und hinter mir, unmittelbar vor dem Gebäude, zuckte ein Blitz auf. Der Donnerschlag war ebenfalls sehr eindrucksvoll.

»Du versündigst dich durch Auslassung«, sagte ich probehalber.

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann zu weinen.

»Ich weiß nicht, was du meinst!« sägte sie. »Ich habe alle deine Fragen beantwortet! Was willst du von mir? Ich weiß nicht, wohin du wolltest oder wer auf dich geschossen hat oder wann es geschah! Ich weiß nur die Tatsachen, die ich dir eben aufgezählt habe, verdammt nochmal!«

Entweder war sie ehrlich oder mit diesen Mitteln nicht zu überführen, überlegte ich. Wie dem auch immer – ich verschwendete meine Zeit. So kam ich nicht weiter. Außerdem sollte ich den Unfall lieber auf sich beruhen lassen, ehe sie sich Gedanken zu machen begann über seine Bedeutung für mich. Wenn mir noch etwas entgangen war, wollte ich es als erster finden.

»Komm mit«, sagte ich.

»Wohin?«

»Ich möchte, daß du etwas für mich identifizierst. Den Grund sage ich dir hinterher.«

Sie erhob sich und folgte mir. Ich führte sie durch den Flur zu der Leiche, ehe ich ihr die Geschichte mit Caine vortrug. Sie betrachtete ziemlich ungerührt den Toten. Dann nickte sie.

»Ja«, sagte sie und setzte hinzu: »Selbst wenn ich das Wesen nicht kenne, würde ich es gern behaupten – für dich.«

Ich knurrte etwas Unverbindliches. Familientreue rührt mich immer an. Ich war mir nicht schlüssig, ob sie mir glaubte, was ich über Caines Tod erzählt hatte, doch letztlich war mir das nicht wichtig. Ich erzählte ihr nichts über Brand, über den sie offenbar auch nichts Neues wußte. Als alles gesagt war, war ihr einziger Kommentar: »Das Juwel steht dir gut. Was ist mit dem Kopfschmuck?«

»Reden wir nicht davon – dazu ist es zu früh«, erwiderte ich.

»Was immer dir meine Unterstützung nützen kann . . .«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß.«


Mein Mausoleum ist ein ruhiger Ort. Es steht allein in einer Felsnische, auf drei Seiten vor den Elementen geschützt, umgeben von aufgehäufter Muttererde, in der zwei knorrige Bäume, verschiedene Büsche, Unkräuter und Bergefeupflanzen wurzeln. Die Stelle liegt auf der anderen Seite des Kolvir, etwa zwei Meilen unterhalb des Gipfels. Das eigentliche Mausoleum ist ein langes, niedriges Gebäude mit zwei Bänken an der Vorderfront; der Efeu hat einen großen Teil des Bauwerks eingehüllt und verdeckt gnädig die bombastischen Äußerungen, die unter meinem Namen in die Steinflächen eingemeißelt sind. Verständlicherweise ist das Bauwerk die meiste Zeit verlassen.

An jenem Abend jedoch begaben sich Ganelon und ich dorthin, begleitet von einem guten Vorrat an Wein und Brot und kaltem Fleisch.

»Du hast ja gar nicht gescherzt!« sagte er, nachdem er abgestiegen war, den Efeu zur Seite gestreift und im Mondlicht die Worte gelesen hatte, die dort angebracht waren.

»Natürlich nicht«, gab ich zurück, stieg ebenfalls ab und kümmerte mich um die Pferde. »Dies ist mein Haus.«

Ich band die Tiere an einen Busch in der Nähe, nahm die Beutel mit Vorräten ab und trug sie zur nächsten Bank. Ganelon setzte sich zu mir, als ich die erste Flasche öffnete und zwei Gläser füllte.

»Ich verstehe das noch immer nicht«, sagte er und nahm sein Getränk entgegen.

»Was gibt es da zu verstehen? Ich bin tot und liege hier begraben. Dies ist mein Zenotaph – das Monument, das errichtet wird, wenn eine Leiche nicht zu finden ist. Ich habe erst kürzlich von dem Bauwerk erfahren. Es wurde vor mehreren Jahrhunderten gebaut, als man zu dem Schluß kam, daß ich nicht zurückkehren würde.«

»Irgendwie unheimlich«, bemerkte er. »Was ist denn da drin?«

»Nichts. Allerdings hat man rücksichtsvollerweise eine Nische gebaut und einen Sarg hineingestellt, für den Fall, daß meine Überreste doch noch auftauchten. So war man auf alles vorbereitet.«

Ganelon machte sich ein belegtes Brot.

»Wessen Einfall war denn das?«

»Random meint, Brand oder Eric hätten die Sprache darauf gebracht. Niemand erinnert sich genau daran. Damals hielten wohl alle den Vorschlag für gut.«

Er lachte leise – ein unheimlicher Laut, der ausgezeichnet zu seinem faltigen, vernarbten, rotbärtigen Wesen paßte.

»Was wird denn jetzt daraus?«

Ich zuckte die Achseln.

»Vermutlich sind einige der Ansicht, es sei schade, das Bauwerk verkommen zu lassen; sie hätten es am liebsten, wenn ich es füllte. Doch bis es soweit ist, haben wir hier ein hübsches Fleckchen zum Besaufen. Jedenfalls hatte ich meinen Antrittsbesuch hier noch nicht gemacht.«

Auch ich richtete mir zwei Brote und verzehrte sie. Dies war die erste wirkliche Atempause, die ich seit meiner Rückkehr hatte – und vielleicht auf absehbare Zeit die letzte. Ich wußte es nicht. In der letzten Woche hatte ich jedenfalls keine Gelegenheit gehabt, mich mit Ganelon in Ruhe zu unterhalten, obwohl er einer der wenigen Menschen war, denen ich wirklich vertraute. Ich wollte ihm alles erzählen. Ich konnte nicht anders. Ich mußte mit jemandem sprechen, der nicht damit zu tun hatte, wie alle übrigen. Und ich trug ihm meine Sorgen vor.

Der Mond bewegte sich ein gutes Stück, und die Glasscherben in meiner Krypta vermehrten sich.

»Wie haben die anderen darauf reagiert?« fragte er schließlich.

»Wie nicht anders zu erwarten«, gab ich zurück. »Ich wußte genau, daß mir Julian kein Wort geglaubt hat – obwohl er das behauptete. Er weiß, wie ich zu ihm stehe, und ist nicht in der Lage, mich herauszufordern. Ich glaube auch nicht, daß Benedict mir glaubt, doch aus ihm wird man nicht so recht schlau. Er wartet seine Zeit ab, doch ich hoffe, daß er sich wenigstens die Mühe gibt, meine Argumente abzuwägen. Was Gérard angeht, so habe ich das Gefühl, daß jetzt der entscheidende Anstoß gegeben worden ist – wenn er mir bisher noch vertraut hat, ist es damit nun endgültig vorbei. Dennoch wird er morgen früh nach Amber zurückkehren, um mich zu dem Wäldchen zu begleiten. Wir wollen Caines Leiche heimholen. Ich wollte das Ganze zwar nicht zu einer Safari werden lassen, doch ein Familienmitglied sollte wenigstens dabei sein. Deirdre nun – sie schien ganz zufrieden zu sein. Ich bin sicher, daß sie mir kein Wort geglaubt hat. Aber das ist auch nicht erforderlich. Sie hat immer auf meiner Seite gestanden und Caine nie gemocht. Ich würde sagen, sie ist froh, daß ich offenbar meine Position konsolidiere. Ob Llewella mir geglaubt hat oder nicht, weiß ich nicht. Soweit ich ausmachen kann, ist es ihr ziemlich gleichgültig, was wir anderen miteinander anstellen. Und was Fiona betrifft, so schien sie lediglich amüsiert zu sein. Doch sie steht seit jeher irgendwie über den Dingen. Man weiß nie genau, was sie wirklich denkt.«

»Hast du den anderen schon von der Sache mit Brand erzählt?«

»Nein. Ich habe mich auf Caine beschränkt und ihnen gesagt, sie sollten morgen abend alle nach Amber kommen. Bei dieser Gelegenheit werden wir dann auf Brand zu sprechen kommen. Ich habe da eine Idee, die ich ausprobieren möchte.«

»Du hast dich mit allen durch die Trümpfe in Verbindung gesetzt?«

»Richtig.«

»Deswegen wollte ich dich schon immer mal fragen. In der Schattenwelt, in der wir vor einiger Zeit Waffen kauften, gibt es Telefone . . .«

»Ja?«

»Während unseres Aufenthalts dort erfuhr ich von Abhörmöglichkeiten und so weiter. Was meinst du – ist es vielleicht möglich, die Trümpfe anzuzapfen?«

Ich begann zu lachen, hörte aber schleunigst auf, als mir einige Folgerungen seines Gedankens bewußt wurden. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Ein Großteil von Dworkins Arbeit liegt noch im Dunkeln. Bisher bin ich gar nicht auf den Gedanken gekommen. Ich jedenfalls habe es noch nicht versucht. Aber ich frage mich . . .«

»Weißt du, wie viele Kartenspiele es gibt?«

»Nun, jeder in der Familie hat ein oder zwei Kartensätze, und in der Bibliothek befand sich etwa ein Dutzend Ersatzspiele. Ich weiß nicht, ob es woanders noch Karten gibt.«

»Ich habe den Eindruck, als ließe sich eine Menge erfahren, wenn man einfach nur zuhört.«

»Ja. Vaters Spiel, Brands Spiel, mein erstes Spiel, das Spiel, das Random verloren hat . . . Hölle! Wir wissen heute wirklich nicht, wo eine Reihe von Kartensätzen geblieben sind. Aber ich habe keine Ahnung, was ich nun tun soll. Vermutlich sind eine Inventur und ein paar Versuche angebracht. Vielen Dank für deinen Hinweis.«

Er nickte, und wir tranken eine Zeitlang stumm vor uns hin.

»Was willst du tun, Corwin?« fragte er schließlich.

»In welcher Beziehung?«

»Na, wegen allem. Was greifen wir jetzt an? In welcher Reihenfolge?«

»Ursprünglich hatte ich die Absicht, die schwarze Straße zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, sobald sich die Lage hier in Amber etwas beruhigt hätte«, antwortete ich. »Doch meine Prioritäten sehen inzwischen anders aus. Wenn Brand noch lebt, möchte ich ihn schleunigst zurückholen. Ist er aber tot, will ich wissen, was ihm zugestoßen ist.«

»Aber wird dir der Gegner soviel Bewegungsspielraum lassen? Vielleicht ist längst eine neue Offensive in Vorbereitung?«

»Ja, natürlich. Das ist berücksichtigt. Ich glaube aber, daß wir noch ein wenig Zeit haben, da unser letzter Sieg ja gerade erst letzte Woche stattgefunden hat. Die Wesen müssen sich erst wieder sammeln; sie müssen ihre Streitkräfte aufmuntern und die Situation im Hinblick auf unsere neuen Waffen überdenken. Ich trage mich mit dem Gedanken, an der schwarzen Straße eine Reihe von Wachstationen einzurichten, damit wir von jeder neuen Bewegung des Gegners sofort erfahren. Benedict hat sich bereit erklärt, diese Aktion zu leiten.«

»Ich frage mich, wieviel Zeit wir haben.«

Ich schenkte ihm frischen Wein nach – die einzige Antwort, die mir im Augenblick einfiel.

»In Avalon – in unserem Avalon, meine ich – waren die Dinge nie so kompliziert.«

»Das ist wahr«, gab ich zurück. »Du bist nicht der einzige, der sich in jene Zeit zurücksehnt. Wenigstens scheint sie einem im Rückblick einfacher und überschaubarer gewesen zu sein.«

Er nickte. Ich bot ihm eine Zigarette an, doch er lehnte ab, da er lieber eine Pfeife rauchen wollte. Im Flammenschein studierte er das Juwel des Geschicks, das noch immer auf meiner Brust hing.

»Kannst du mit dem Ding wirklich das Wetter kontrollieren?« fragte er.

»Ja.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe es ausprobiert. Es funktioniert.«

»Was hast du gemacht?«

»Das Unwetter heute nachmittag. Dafür war ich verantwortlich.«

»Ich weiß nicht recht . . .«

»Was?«

»Ich frage mich, was ich mit dieser Art von Macht angefangen hätte. Was ich damit tun würde.«

»Mein erster Gedanke«, sagte ich und schlug mit der Handfläche gegen die Mauer meines Mausoleums, »lief darauf hinaus, dieses Ding durch Blitze zu zerschmettern. Damit jeder genau wußte, was ich fühlte und wozu ich imstande war.«

»Warum hast du´s nicht getan?«

»Ich dachte ein bißchen darüber nach. Und beschloß . . . Hölle! Vielleicht kommt das Gebäude in naher Zukunft doch noch zu Ehren, wenn ich nicht schlau genug oder rücksichtslos genug oder Glückspilz bin. Da die Lage nun mal so war, versuchte ich mir darüber klar zu werden, wo ich am liebsten meine Knochen liegen haben wollte. Und ich kam darauf, daß dies wirklich ein ziemlich gutes Fleckchen ist – hochgelegen, sauber, eine Stelle, da die Elemente sich noch unmittelbar bemerkbar machen. Ringsum nur Gestein und Himmel. Sterne, Wolken, Sonne, Mond, Wind, Regen . . . eine bessere Gesellschaft, als es die meisten anderen Leichen für sich beanspruchen können. Warum sollte ich neben jemandem zu liegen kommen, den ich nicht einmal jetzt neben mir dulden würde – und von der anderen Sorte gibt es nicht viele.«

»Du steigerst dich in eine morbide Stimmung hinein, Corwin. Oder du bist betrunken. Jedenfalls verbittert. Das hast du nicht nötig.«

»Warum maßt du dir an zu wissen, was ich nötig habe?«

Ich spürte, wie er neben mir erstarrte und sich dann wieder entspannte.

»Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Ich sage nur, was ich sehe.«

»Wie halten sich die Truppen?« wollte ich wissen.

»Ich glaube, die Männer sind noch immer verwirrt, Corwin. Sie sind ursprünglich angetreten, um an den Hängen des Himmels einen heiligen Krieg auszufechten. Sie meinen, darum sei es bei der Schießerei letzte Woche gegangen. In dieser Beziehung sind sie also glücklich, sehen sie doch, daß sie gewonnen haben. Doch das Warten in der Stadt . . . Sie verstehen diesen Ort nicht. Etliche Wesen, die sie für Feinde gehalten haben, sind nun plötzlich Freunde. Sie sind verwirrt. Sie wissen, daß sie kampfbereit sein müssen, doch sie haben keine Vorstellung, wann eine neue Aktion beginnen und gegen wen sie sich richten würde. Da sie die ganze Zeit in der Kaserne bleiben müssen, ist ihnen auch noch nicht klar, wie sehr ihre Gegenwart den Einwohnern und Behörden gegen den Strich geht. Vermutlich kommen sie ziemlich schnell auf die Wahrheit. Ich hatte schon mit dir darüber sprechen wollen, aber du bist in letzter Zeit so beschäftigt gewesen . . .«

Ich rauchte schweigend.

Dann sagte ich: »Am besten rede ich mal mit den Leuten. Doch morgen komme ich noch nicht dazu, obwohl bald etwas passieren sollte. Vielleicht können wir sie verlegen – etwa in ein Zeltlager im Wald von Arden. Morgen, ja, wenn wir zurückkehren, lege ich auf der Karte eine gute Stelle fest. Sag den Männern, es geht darum, die schwarze Straße im Auge zu behalten. Sag ihnen, daß aus dieser Richtung täglich ein neuer Angriff kommen kann – und das entspricht ja auch der Wahrheit. Laßt die Leute ständig üben, damit sie in Kampfbereitschaft bleiben. Ich komme so schnell wie möglich und rede mit ihnen.«

»Aber dann hast du keine direkte Unterstützung mehr in Amber.«

»Das ist wahr. Aber das Risiko mag ganz nützlich sein – als Demonstration des Selbstvertrauens wie auch als Geste des Entgegenkommens. Ja. Ich glaube, dieser Schritt ist empfehlenswert. Wenn nicht . . .«

Ich zuckte die Achseln.

Dann schenkte ich ein und warf eine weitere leere Flasche in mein Mausoleum.

»Übrigens«, sagte ich, »möchte ich mich entschuldigen.«

»Wofür?«

»Ich habe gerade gemerkt, daß ich morbid und betrunken und verbittert bin. Das habe ich nicht nötig.«

Er lachte leise und stieß mit mir an.

»Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß.«

Und so saßen wir da, während der Mond herabsank, bis die letzte Flasche bei ihresgleichen endete. Wir sprachen noch eine Zeitlang von vergangenen Zeiten. Schließlich schwiegen wir, und meine Augen wandten sich den Sternen über Amber zu. Es war gut, daß wir diesen Ort aufgesucht hatten, doch jetzt rief mich die Stadt zurück. Ganelon erahnte meine Gedanken, stand auf, streckte sich und ging zu den Pferden. Ich verschaffte mir neben meinem Grab Erleichterung und folgte ihm.

Загрузка...