11

. . . Und zwischen Regen und Traufe gibt es nur selten ein trockenes Plätzchen . . .

Wir lösten uns voneinander und standen auf. Gleich darauf setzte ich mich wieder – auf die unterste Stufe. Ich löste die Metallhand von meiner Schulter – kein Blut zu sehen, doch eine Vorahnung blauer Flecken – und warf sie zu Boden. Das Licht des frühen Morgens vermochte nicht von dem eleganten und drohenden Aussehen des Arms abzulenken.

Ganelon und Random standen neben mir.

»Alles in Ordnung, Corwin?«

»Ja. Laßt mich nur wieder zu Atem kommen.«

»Ich habe etwas zu essen mitgebracht«, sagte Random. »Wir können gleich hier frühstücken.«

»Guter Gedanke.«

Als Random die Vorräte auszupacken begann, berührte Ganelon meinen Arm mit der Stiefelspitze.

»Was, zum Teufel, ist das?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Das Ding habe ich Benedicts Geist abgeschlagen«, sagte ich. »Aus Gründen, die ich nicht verstehe, vermochte er mich zu berühren.«

Er bückte sich, nahm das Gebilde zur Hand und betrachtete es.

»Erheblich leichter, als ich gedacht hatte«, bemerkte er und fuhr damit durch die Luft. »Mit einer solchen Hand kann man ganz schön zulangen.«

»Ich weiß.«

Er bewegte die Finger.

»Vielleicht kann der echte Benedict etwas damit anfangen.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Allerdings habe ich gemischte Gefühle bei dem Gedanken, ihm das Ding anzubieten – aber vielleicht hast du recht . . .«

»Wie geht es der Wunde?«

Ich drückte vorsichtig darauf.

»Nicht gerade schlecht, wenn man die Umstände bedenkt. Ich werde nach dem Frühstück reiten können, allerdings nur langsam.«

»Gut. Sag mal, Corwin, da Random gerade beschäftigt ist, hätte ich eine Frage, die vielleicht nicht angebracht ist – aber sie hat mir die ganze Zeit zu schaffen gemacht.«

»Na, schieß los.«

»Nun, ich will es mal so ausdrücken: ich stehe natürlich ganz auf deiner Seite, sonst wäre ich jetzt nicht hier. Ich werde für dich kämpfen, damit du den Thron erringst, was auch kommen mag. Doch jedesmal, wenn über die Nachfolge geredet wird, regt sich jemand auf und bricht die Diskussion ab oder wechselt das Thema. Zum Beispiel Random, während du da oben warst. Vermutlich ist es nicht absolut erforderlich, daß ich die rechtliche Grundlage deines Thronanspruchs oder der Ansprüche der anderen kenne, doch ich würde zu gern wissen, woher all der Unfriede kommt.«

Ich seufzte und saß einen Augenblick lang nur da.

»Na schön«, sagte ich nach einiger Zeit und begann zu lachen. »Na schön. Wenn wir uns schon in der Familie nicht über diese Dinge einigen können, wieviel verwirrender muß das für einen Außenstehenden sein; das sehe ich ein. Benedict ist der Älteste. Seine Mutter war Cymnea. Sie gebar Vater zwei weitere Söhne – Osric und Finndo. Dann – wie drückt man so etwas aus? –brachte Faiella Eric zur Welt. Bald darauf sah Vater einen Mangel in seiner Ehe mit Cymnea und ließ sie auflösen – ab initio, wie das in meinem alten Schatten heißen würde: von Anfang an. Ein hübscher Trick. Aber schließlich war er der König.«

»Hat das die Brüder nicht alle zu unehelichen Söhnen gemacht?«

»Nun, ihr Status war jedenfalls plötzlich nicht mehr so klar. Wie man mir erzählt hat, waren Osric und Finndo mehr als ein bißchen verärgert, doch sie starben kurze Zeit danach. Benedict war entweder weniger verärgert oder in der ganzen Sache entgegenkommender. Er hat keinen Aufstand gemacht. Und dann heiratete Vater Faiella.«

»Und machte Eric damit zum ehelichen Kind.«

»Das wäre wohl richtig, wenn er Eric als seinen Sohn anerkannt hätte. Er behandelte ihn zwar so, doch hat er in dieser Beziehung niemals formelle Schritte unternommen. Das hing irgendwie mit der Bereinigung der Angelegenheit mit Cymneas Familie zusammen, die damals ziemlich viel Einfluß hatte.«

»Wenn er ihn aber wie den eigenen Sohn behandelt hat . . .«

»Ah! Aber Llewella hat er später formell anerkannt! Sie wurde ebenfalls unehelich geboren, doch er beschloß, sie anzuerkennen, das arme Mädchen. Sämtliche Anhänger Erics haßten sie wegen der Auswirkungen dieses Schrittes auf seinen Status. Jedenfalls wurde Faiella später meine Mutter. Ich kam als Kind verheirateter Eltern zur Welt, womit ich der erste war, der einen klaren Anspruch auf den Thron hatte. Wenn du dieses Thema bei einem meiner Geschwister anschneidest, bekommst du wahrscheinlich ganz andere Auslegungen zu hören, doch das sind die Tatsachen, auf die sich alles andere gründet. Allerdings kommt mir die Sache nicht mehr so wichtig vor wie früher, nachdem Eric nun tot ist und Benedict kein Interesse zeigt. Jedenfalls ist das meine Position . . .«

»Ich verstehe – ich glaube jedenfalls zu verstehen«, sagte er. »Aber noch etwas . . .«

»Ja?«

»Wer ist der nächste? Ich meine, falls dir etwas zustoßen sollte . . .?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann wird es noch komplizierter. Caine wäre der nächste gewesen. Aber da er tot ist, geht die Thronfolge auf Clarissas Abkömmlinge über, die Rotschöpfe. Danach wäre Bleys an die Reihe gekommen, gefolgt von Brand.«

»Clarissa? Was ist denn aus deiner Mutter geworden?«

»Sie starb im Wochenbett. Deirdre war das Kind. Vater hat erst viele Jahre nach Mutters Tod wieder geheiratet. Dazu wählte er ein rothaariges Mädchen aus einem weit im Süden liegenden Schatten. Ich habe sie nie gemocht. Nach einer gewissen Zeit kam er zu demselben Schluß und begann wieder Unsinn zu machen. Nach Llewellas Geburt in Rebma söhnten sie sich aus, und Brand war das Ergebnis. Als sie endlich geschieden wurden, erkannte er Llewella an, um Clarissa zu ärgern. Wenigstens glaube ich, daß es so war.«

»Bei der Thronanwartschaft rechnest du die Mädchen also nicht mit?«

»Nein – sie sind entweder nicht interessiert oder nicht geeignet. Kämen sie in Frage, würde Fiona vor Bleys kommen und Llewella ihm folgen. Nach Clarissas Gruppe ginge die Thronfolge auf Julian, Gérard und Random über, in dieser Reihenfolge. Entschuldige – du mußt Flora vor Julian stellen. Doch lassen wir es damit gut sein.«

»Gern«, sagte er. »Wenn du stirbst, ist also Brand an der Reihe, richtig?«

»Na ja . . . er ist allerdings ein geständiger Verräter und geht praktisch jedermann gegen den Strich. Ich glaube nicht, daß die anderen ihn so, wie er ist, auf den Thron lassen würden. Andererseits nehme ich nicht an, daß er den Kampf schon aufgegeben hat.«

»Aber die Alternative ist Julian.«

Ich zuckte die Achseln.

»Die Tatsache, daß ich Julian nicht mag, macht ihn nicht automatisch ungeeignet für den Thron. Vielleicht wäre er sogar ein tüchtiger Monarch.«

»Und er hat dich in deinem Zimmer überfallen, um die Chance zu erhalten, dies zu beweisen«, rief Random. »Kommt und eßt.«

»Ich glaube es noch immer nicht«, sagte ich, stand auf und ging zu Random. »Erstens wüßte ich nicht, wie er an mich herangekommen sein sollte. Zweitens wäre es verdammt viel zu offenkundig. Drittens, wenn ich in naher Zukunft sterbe, wird Benedict bei der Nachfolge ein wichtiges Wörtchen mitzureden haben. Das ist allen bekannt. Er hat dazu das Alter, er hat auch das Köpfchen und die Macht. Er könnte beispielsweise einfach sagen: ›Zum Teufel mit der Streiterei, ich unterstütze Gérard‹, und das war´s dann.«

»Wenn er sich nun entschlösse, seinen eigenen Status zu überdenken und selbst auf den Thron zu steigen?« wollte Ganelon wissen.

Wir setzten uns auf den Boden und nahmen das Blechgeschirr zur Hand, das Random gefüllt hatte.

»Wäre es ihm darauf angekommen, hätte er schon längst am Ziel sein können«, sagte ich. »Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Nachkommen einer für null und nichtig erklärten Ehe einzustufen – die günstigste wäre in seinem Fall zugleich die wahrscheinlichste. Osric und Finndo sahen das Problem aus negativster Sicht und kamen zu voreiligen Schlüssen. Benedict wußte es besser. Er hat einfach gewartet. Und so . . . Möglich ist es. Meiner Meinung nach aber unwahrscheinlich.«

»Sollte dir etwas zustoßen, wäre die ganze Sache also noch ziemlich offen.«

»Sehr sogar.«

»Aber warum wurde Caine umgebracht?« wollte Random wissen. Kauend beantwortete er gleich darauf die Frage selbst. »Damit die Nachfolge, nachdem man dich ausgeschaltet hatte, sofort auf Clarissas Kinder überginge. Ich habe mir überlegt, daß Bleys vermutlich noch am Leben ist – und er ist der nächste Anwärter. Seine Leiche wurde nie gefunden. Ich vermute folgendes: während eures Angriffs hat er sich durch den Trumpf zu Fiona abgesetzt, ist in die Schatten zurückgekehrt, um seine Streitkräfte zu sammeln, und hat dich deinem Schicksal überlassen, das, wie er hoffte, auf den Tod durch Erics Hand hinauslaufen würde. Nun ist er allmählich wieder zum Zuschlagen bereit. Die beiden brachten also Caine um und versuchten einen Anschlag auf dich. Wenn sie sich wirklich mit der Horde von der Schwarzen Straße verbündet haben, ist jetzt vielleicht schon für einen weiteren Angriff aus dieser Richtung gesorgt. Dann kann er dasselbe tun wie du – in der letzten Minute eintreffen, die Invasoren zurückschlagen und sich hier einnisten. Und da wäre er dann – als nächster Thronanwärter mit der größten Macht hinter sich. Simpel. Außer daß du den Anschlag nun doch überlebt hast und Brand zurückgeholt wurde. Wenn wir Brands Anschuldigung gegen Fiona glauben wollen – und ich wüßte keinen Grund, warum wir das nicht tun sollten –, ergibt sich dies aus dem ursprünglichen Plan.«

Ich nickte.

»Möglich«, sagte ich. »Ich habe Brand diese Fragen auch schon gestellt. Er gibt zu, daß es möglich ist, doch er behauptet, nicht zu wissen, ob Bleys noch lebt. Persönlich bin ich der Auffassung, daß er gelogen hat.«

»Warum?«

»Es ist denkbar, daß er die Rache für seine Gefangenschaft und den Anschlag auf sein Leben mit der Beseitigung des nach mir einzigen Hindernisses zwischen sich und dem Thron verbinden will. Er scheint für mich eine gefährliche Rolle vorgesehen zu haben in einem Plan, den er zur Zeit schmiedet und der der Beseitigung der Schwarzen Straße dienen soll. Das Umstoßen seiner eigenen früheren Pläne und das Vernichten der Straße könnten ihn in ziemlich gutem Licht dastehen lassen, besonders nach all dem Leid, das er hat durchmachen müssen. Dann, vielleicht dann, hätte er eine Chance – oder bildet sich jedenfalls ein, eine zu haben.«

»Du nimmst also an, daß Bleys auch noch lebt?«

»Ja – aber es ist nur so ein Gefühl.«

»Wie stark ist die Gegenseite eigentlich?«

»Hier haben wir es mit einer Folge höherer Bildung zu tun«, sagte ich. »Fiona und Brand haben seinerzeit auf Dworkin gehört, während wir übrigen in den Schatten unseren Freuden nachgingen. Folglich scheinen sie die grundlegenden Prinzipien besser begriffen zu haben als wir. Sie wissen mehr über die Schatten und die Dinge dahinter, mehr über das Muster, mehr über die Trümpfe. Deshalb vermochte Brand dir seine Nachricht zu schicken.«

»Ein interessanter Gedanke . . .«, sagte Random langsam. »Glaubst du, sie haben Dworkin beseitigt, nachdem sie der Meinung waren, genug von ihm gelernt zu haben? Das könnte auf jeden Fall dazu beitragen, die Kenntnisse im kleinen Kreis zu erhalten, sollte Vater etwas zustoßen.«

»Auf diesen Gedanken bin ich noch gar nicht gekommen«, gestand ich.

Und ich überlegte, ob sie womöglich etwas getan hatten, das sich auf Dworkins Geist ausgewirkt hatte. Etwas, das ihn zu dem Mann gemacht hatte, den ich bei unserem letzten Zusammentreffen erlebt hatte. Wenn das stimmte, wußten sie, daß er womöglich noch irgendwo lebte? Oder glaubten sie ihn völlig vernichtet zu haben?

»Ja, ein interessanter Gedanke«, sagte ich. »Durchaus vorstellbar.«

Die Sonne stieg langsam am Himmel empor, und das Frühstück kräftigte mich. Im Licht des Morgens blieb keine Spur von Tir-na Nog´th am Himmel zurück. Meine Erinnerungen daran ähnelten bereits den Bildern in verstaubten Spiegeln. Ganelon holte das einzige andere Überbleibsel meines Ausflugs, den Arm, und Random verstaute ihn beim Geschirr. Am Tage sahen die ersten drei Stufen nicht wie eine Treppe aus, sondern eher wie unebenes Gestein.

Random machte eine Kopfbewegung.

»Reiten wir auf dem gleichen Weg zurück?« fragte er.

»Ja«, entgegnete ich, und wir stiegen auf.

Wir waren auf einem Wege hergekommen, der sich südlich um den Kolvir herum wand. Dieser Pfad war länger, aber weniger anstrengend als die Route über den Gipfel. Ich wollte mich weitgehend schonen, solange mir meine Wunde Schwierigkeiten machte.

So ritten wir dann nach rechts – Random voran, ich in der Mitte, Ganelon hinten. Der Weg führte ein Stück bergauf, dann wieder hinab. Die Luft war kühl und wehte einen Duft nach Gras und feuchter Erde heran – ziemlich ungewöhnlich für diesen kahlen Ort und diese Höhe. Vermutlich ein Windhauch aus den tieferliegenden Wäldern.

Wir ließen die Pferde gemächlich in die nächste Senke hinabtrotten und dann wieder hangaufwärts. Als wir uns der Kammlinie näherten, begann Randoms Pferd zu wiehern und sich auf die Hinterhufe zu stellen. Er brachte es sofort wieder in seine Gewalt, und ich sah mich um, konnte aber keine Ursache für das plötzliche Scheuen ausmachen.

Als er die Anhöhe erreichte, ritt Random langsamer und rief zurück: »Schau dir mal den Sonnenaufgang an!«

Es wäre schwierig gewesen, das nicht zu tun, doch ich enthielt mich einer Bemerkung. Random neigt sonst nicht zu Sentimentalitäten über Schönheiten der Natur – es sei denn ganz spezielle.

Fast hätte ich selbst die Zügel angezogen, als ich die Anhöhe erreichte, denn die Sonne war ein fantastischer goldener Ball. Sie schien um etwa die Hälfte ihrer normalen Größe gewachsen zu sein, und ihre absonderliche Färbung unterschied sich von allem, was ich in meinem Leben bisher gesehen hatte. Die Beleuchtung stellte großartige Dinge an mit dem Streifen Ozean, der über der nächsten Erhebung sichtbar geworden war, und die Färbung von Wolken und Himmel war in der Tat einzigartig. Ich zügelte mein Pferd jedoch nicht, denn die plötzliche Helligkeit war schmerzhaft für die Augen.

»Du hast recht!« rief ich und folgte ihm in die nächste Senke. Hinter mir stieß Ganelon einen leisen Fluch aus.

Als ich die Nachwirkungen der Lichteffekte fortgeblinzelt hatte, bemerkte ich, daß die Vegetation dichter aussah, als ich sie aus dieser kleinen Senke am Kolvir in Erinnerung hatte. Ich hatte angenommen, daß es hier dürre Bäume und Flechtenbewuchs gäbe – doch tatsächlich fanden wir mehrere Dutzend Bäume, größer und grüner, als ich sie in Erinnerung hatte, und da und dort Grasbüschel und Ranken, die die harten Umrisse der Felsbrocken verschönten. Nach meiner Rückkehr war ich allerdings nur bei Dunkelheit in dieser Gegend gewesen. Wahrscheinlich lag hier auch die Ursache für die Düfte, die ich kurz zuvor wahrgenommen hatte.

Im Hindurchreiten wollte mir scheinen, als wäre die kleine Vertiefung auch breiter, als sie sein sollte. Als wir sie hinter uns hatten und den gegenüberliegenden Hang erklommen, war ich mir meiner Sache sicher.

»Random!« rief ich. »Hat sich dieses Fleckchen kürzlich verändert?«

»Schwer zu sagen!« gab er zurück. »Eric hat mich nicht oft aus der Stadt gelassen. Scheint ein bißchen mehr zugewachsen zu sein.«

»Mir kommt die Senke größer – breiter vor.«

»Ja, da hast du recht. Ich hatte das meiner Einbildung zugeschrieben.«

Als wir den nächsten Kamm erstiegen hatten, wurde ich nicht wieder geblendet, weil sich die Sonne hier hinter Laub versteckte. Das Gebiet vor uns war von noch wesentlich mehr Bäumen bewachsen als die Strecke hinter uns – und sie waren größer und standen dichter beisammen. Wir zügelten unsere Tiere.

»Daran erinnere ich mich nun gar nicht«, sagte Random. »Selbst wenn man bedenkt, daß wir nachts hier durchgekommen sind – das hätte ich gemerkt. Wir müssen irgendwo falsch abgebogen sein.«

»Ich wüßte nicht, wo. Trotzdem wissen wir ungefähr, wo wir sind. Ich möchte lieber weiterreiten als umkehren. Allerdings müßten wir das Umfeld Ambers besser im Auge behalten.«

»Das ist wahr.«

Er begann auf den Wald zuzureiten. Wir folgten ihm.

»Ein solcher Bewuchs ist in dieser Höhe irgendwie ungewöhnlich!« rief er.

»Es scheint hier auch wesentlich mehr Muttererde zu geben.«

»Ich glaube, du hast recht.«

Als wir die Bäume erreichten, wandte sich der Weg nach links. Ich erkannte keinen Grund für diese Abweichung vom direkten Weg. Wir folgten jedoch der Biegung, was zu der Illusion der Entfernung beitrug. Nach wenigen Minuten wandte sich der Weg plötzlich wieder nach rechts. Die Aussicht in dieser Richtung war seltsam. Die Bäume kamen uns womöglich noch größer vor und standen inzwischen so dicht, daß das Auge nicht mehr dazwischen hindurchschauen konnte. Als sich der Weg erneut krümmte, verbreiterte er sich zugleich und lag nun auf größere Entfernung gerade vor uns. Und diese Entfernung war zu groß. So breit war unsere kleine Senke einfach nicht.

Random stoppte erneut.

»Verdammt, Corwin! Dies ist lächerlich!« sagte er. »Du treibst doch mit uns keine Spielchen, oder?«

»Das könnte ich gar nicht, selbst wenn ich wollte«, sagte ich. »In unmittelbarer Nähe Kolvirs habe ich mir die Schatten niemals unterwerfen können. Angeblich gibt es hier keine Möglichkeit, ihrer habhaft zu werden.«

»Das habe ich auch immer gedacht. Amber wirft Schatten aus, ist aber selbst keiner. Dies alles gefällt mir nicht. Was meint ihr, sollen wir umkehren?«

»Ich habe so das merkwürdige Gefühl, als wären wir nicht in der Lage, unseren Weg zurückzuverfolgen«, sagte ich. »Es muß für diese Erscheinungen einen Grund geben, und den möchte ich erfahren.«

»Vielleicht ist das Ganze eine Falle.«

»Trotzdem«, sagte ich.

Er nickte, und wir ritten weiter auf dem schattigen Weg, unter Bäumen, die immer größer geworden waren. Im Wald ringsum herrschte Stille. Der Boden blieb eben, der Weg gerade. Halb unbewußt spornten wir die Pferde zu größerer Eile an.

Etwa fünf Minuten vergingen ohne Gespräch. Dann sagte Random: »Corwin, dies kann kein Schatten sein.«

»Warum nicht?«

»Ich habe ihn zu beeinflussen versucht, doch es geschieht nichts. Hast du es auch schon probiert?«

»Nein.«

»Warum versuchst du´s nicht mal?«

»Na schön.«

Hinter dem Baum dort könnte ein Felsbrocken aufragen, eine Nachtigall könnte jubilieren in den Büschen . . . Ein Stückchen Himmel müßte sich bedecken, eine winzige Wolke vor der Helligkeit . . . Dann soll dort ein Ast abgefallen sein, mit Baumschwamm bewachsen an der Seite . . . Ein trüber Teich . . . Ein Frosch . . . Eine fallende Feder, dahintreibende Pflanzensamen . . . Ein Ast, der sich so dreht . . . Ein anderer Weg, der den unseren kreuzt, frisch ausgetreten, mit tiefen Spuren, dicht an der Stelle, wo die Feder hätte landen müssen . . ..

»Sinnlos«, sagte ich.

»Wenn dies kein Schatten ist, was dann?«

»Natürlich etwas anderes.«

Er schüttelte den Kopf und überzeugte sich, daß seine Klinge locker in der Scheide saß. Ich tat es ihm automatisch nach. Wenige Sekunden später hörte ich hinter mir ein leises Klicken. Ganelon hielt seine Waffe ebenfalls bereit.

Der Weg vor uns wurde schmaler, und gleich darauf begann er sich wieder hin und her zu winden. Wir mußten langsamer reiten; die Bäume rückten näher, und die Äste hingen tiefer herab als je zuvor. Der Weg wurde zu einem Pfad, der sich abrupt hierhin und dorthin wandte, eine letzte Kurve beschrieb und endete.

Random duckte sich unter einem Ast hindurch, hob die Hand und ließ sein Tier anhalten. Wir ritten neben ihn. Soweit wir vorausschauen konnten, gab es keine Spur mehr von einem Weg. Er schien einfach aufzuhören. Als ich zurückblickte, war er auch hinter uns verschwunden.

»Jetzt sind ein paar praktische Vorschläge angebracht«, sagte er. »Wir wissen nicht, wo wir gewesen sind oder wohin wir reiten, geschweige denn, wo wir sind. Ich würde vorschlagen, wir sollten unsere Neugier fahren lassen und schleunigst von hier verschwinden.«

»Mit den Trümpfen?« wollte Ganelon wissen.

»Ja. Was meinst du, Corwin?«

»Einverstanden. Mir gefällt diese Situation auch nicht, und ich habe keine bessere Idee. Versuch es mal.«

»Wen soll ich ansprechen?« fragte er, nahm seine Karten zur Hand und zog sie aus dem Etui. »Gérard?«

»Ja.«

Er blätterte das Spiel durch, fand Gérards Karte und starrte darauf. Wir starrten ihn an. Die Zeit ging ihres Weges.

»Ich scheine ihn nicht erreichen zu können«, verkündete er schließlich.

»Versuch Benedict.«

»Gut.«

Dasselbe von vorn. Kein Kontakt.

»Versuch es mit Deirdre«, sagte ich, nahm meine Karten zur Hand und suchte nach ihrer Karte. »Ich schließe mich an. Mal sehen, ob es zu zweit einen Unterschied macht.«

Und wieder. Und noch einmal.

»Nichts«, sagte ich nach langer Anstrengung.

Random schüttelte den Kopf.

»Ist dir an unseren Trümpfen etwas aufgefallen?« fragte er.

»Ja, aber ich weiß nicht, was. Sie kommen mir irgendwie anders vor.«

»Meine Karten scheinen ihre Kälte verloren zu haben, sie fühlen sich anders an«, bemerkte er.

Prüfend blätterte ich die Trümpfe durch. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über die Bilder.

»Ja, du hast recht«, sagte ich. »Das ist es. Aber versuchen wir es noch einmal. Nehmen wir Flora.«

»Schön.«

Das Ergebnis war das gleiche. Ebenso bei Llewella und Brand.

»Hast du eine Ahnung, was hier nicht stimmt?« fragte Random bang.

»Nicht im geringsten. Jedenfalls können sie uns nicht alle gleichzeitig blockieren. Und sie können auch nicht alle tot sein . . . Na ja, möglich wäre es immerhin. Doch höchst unwahrscheinlich. Irgend etwas scheint die Trümpfe selbst verändert zu haben, da liegt der Hase im Pfeffer. Ich habe bisher gar nicht gewußt, daß es etwas gibt, das die Karten beeinflussen kann.«

»Nun, einer Äußerung des Herstellers zufolge«, sagte Random, »tragen sie keine hundertprozentige Garantie.«

»Was weißt du, das ich nicht weiß?«

Ich lachte leise.

»Unvergeßlich ist der Tag, wenn man volljährig wird und das Muster beschreitet«, sagte er. »Ich erinnere mich daran, als wäre es erst letztes Jahr gewesen. Als diese Prüfung geschafft war und ich rot vor Erregung und Freude dastand, übergab mir Dworkin meinen ersten Satz Trümpfe und unterwies mich in ihrem Gebrauch. Ich erinnere mich deutlich an meine Frage, ob sie denn überall funktionierten. Und ich erinner mich auch an seine Antwort: ›Nein‹, sagte er, ›aber sie müßten dir an jedem Orte dienlich sein, den du jemals aufsuchst.‹ Übrigens hat er mich nie gemocht.«

»Aber du hast ihn sicher gefragt, was seine Antwort bedeutet.«

»Ja, und er sagte: ›Ich bezweifle, daß du jemals einen Status erlangst, da sie dir den Dienst versagen. Und jetzt fort mit dir! ‹ Und ich trollte mich. Ich war begierig, allein mit den Trümpfen zu spielen.«

»›Einen Status erlangen‹? Er hat nicht gesagt ›einen Ort erreichen‹?«

»Nein, in manchen Dingen habe ich ein gutes Gedächtnis.«

»Seltsam – doch im Augenblick hilft uns das, soweit ich erkennen kann, nicht sonderlich weiter. Hört sich nach etwas Metaphysischem an.«

»Ich wette, Brand wüßte mehr.«

»Da hast du sicher recht – was immer uns das hier nützen mag.«

»Wir sollten etwas anderes tun als uns über Metaphysik zu unterhalten«, bemerkte Ganelon. »Wenn ihr die Schatten nicht manipulieren und die Trümpfe nicht einsetzen könnt, sollten wir schleunigst feststellen, wo wir sind. Und uns dann um Hilfe bemühen.«

Ich nickte.

»Da wir nicht in Amber sind, können wir wohl getrost vermuten, daß wir uns in den Schatten aufhalten – an einem ganz besonderen Ort, ganz dicht bei Amber, da die Veränderung nicht abrupt erfolgt ist. Da wir ohne eigene Teilnahme hierher versetzt wurden, muß irgendeine Macht und vermutlich auch eine Absicht hinter dem Manöver stehen. Wenn diese Macht uns angreifen will, ist dieser Augenblick so günstig wie jeder andere. Wenn sie etwas anderes von uns will, muß sie uns das klarmachen, da wir nicht einmal in der Lage sind, Mutmaßungen anzustellen.«

»Du schlägst also vor, daß wir gar nichts tun?«

»Ich schlage vor, daß wir warten. Ich sehe keinen Nutzen darin, herumzuwandern und sich womöglich noch tiefer im Wald zu verirren.«

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir einmal erzählt, daß benachbarte Schatten einigermaßen kongruent sind«, bemerkte Ganelon.

»Ja, das habe ich vermutlich gesagt. Und?«

»Nun, wenn wir Amber so nahe sind, wie du vermutest, brauchen wir doch nur der aufgehenden Sonne entgegenzureiten, um an eine Stelle zu kommen, die der Stadt selbst entspricht.«

»So einfach ist es nun auch wieder nicht. Aber einmal angenommen, es wäre möglich, was soll uns das nützen?«

»Vielleicht würden die Trümpfe am Punkt größter Kongruenz wieder funktionieren.«

Random sah Ganelon an und wandte sich dann an mich.

»Das ist vielleicht einen Versuch wert«, sagte er. »Was haben wir denn schon zu verlieren?«

»Das bißchen Orientierung, das wir noch haben«, sagte ich. »Schau mal, es ist keine schlechte Idee. Wenn sich hier nichts tut, werden wir´s versuchen. Doch im Rückblick will mir scheinen, daß sich der Weg hinter uns in direktem Verhältnis zu der zurückgelegten Entfernung schließt. Wir bewegen uns hier nicht nur räumlich. Unter diesen Umständen würde ich erst weiterwandern wollen, wenn ich weiß, daß wir keine andere Wahl haben. Wenn uns jemand an einem bestimmten Ort haben will, liegt es an ihm, seine Einladung ein wenig deutlicher zu formulieren. Wir warten lieber.«

Beide nickten. Random wollte eben absteigen, doch dann erstarrte er, einen Fuß im Steigbügel, den anderen auf der Erde.

»Nach all diesen Jahren«, sagte er. »Ich hab´s nie wirklich geglaubt.«

»Was ist?« fragte ich irritiert.

»Unsere andere Wahl«, sagte er und stieg wieder in den Sattel.

Er brachte sein Pferd dazu, langsam weiterzugehen. Ich folgte ihm und erblickte es gleich darauf, so wie ich es schon in dem Wäldchen gesehen hatte, halb verborgen in einem Farnbusch: das Einhorn.

Als wir näherkamen, drehte es sich um, und Sekunden später eilte es fort, um dann von neuem halb verborgen hinter einigen Baumstämmen zu warten.

»Ich sehe es!« flüsterte Ganelon. »Wenn ich mir vorstelle, daß es so ein Wesen wirklich gibt . . . Euer Familiensymbol, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ein gutes Zeichen, würde ich sagen.«

Ich antwortete nicht, sondern setzte die langsame Verfolgung fort, ohne den Blick von dem Einhorn zu nehmen. Daß wir dem Geschöpf folgen sollten, bezweifelte ich nicht.

Es hatte eine besondere Art, sich niemals ganz zu zeigen – es schaute nur immer hinter irgend etwas hervor; wenn es sich bewegte, huschte es mit unglaublicher Geschwindigkeit von Deckung zu Deckung, mied offene Flächen, hielt sich in Dickicht und Schatten. Wir folgten dem Wesen immer tiefer in den Wald, der nun überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit der Vegetation hatte, wie man sie normalerweise auf den Hängen Kolvirs findet. Vor allen Gebieten in der Nähe Ambers kam Arden dieser Umgebung am nächsten, zumal der Boden relativ eben war und die Bäume immer höher in den Himmel ragten.

Meiner Schätzung nach waren etwa anderthalb Stunden vergangen, als wir einen klaren Bach erreichten und das Einhorn kehrtmachte und dem Wasserlauf gegen die Strömung folgte. Als wir am Ufer entlangritten, sagte Random: »Hier kommt´s mir langsam wieder bekannt vor.«

»Ja«, sagte ich, »aber nur vage. Ich weiß nicht, wieso.«

»Ich auch nicht.«

Kurze Zeit später erreichten wir einen Hang, der schnell steiler wurde. Die Pferde kamen nur noch langsam voran, doch das Einhorn paßte sich dem verminderten Tempo an. Der Grund wurde felsiger, die Bäume kleiner. Der Bach sprudelte in seinem gewundenen Bett dahin; ich gab es auf, die Windungen und Knicke zu zählen. Endlich näherten wir uns der Spitze des kleinen Berges.

Wir erreichten ebenes Gelände und näherten uns einem Wald, aus dem der Bach kam. An dieser Stelle nahm ich plötzlich etwas wahr, vorn rechts, an einer Stelle, da sich das Land senkte – das eisblaue Meer, das ziemlich tief unter uns lag.

»Wir sind ganz schön hoch«, bemerkte Ganelon. »Dabei sah es so aus, als wären wir im Tiefland, aber . . .«

»Das Einhornwäldchen!« unterbrach ihn Random. »Danach sieht es hier aus! Schaut doch!«

Und er hatte recht. Vor uns lag ein felsbestreutes Areal. In der Mitte ließ eine Quelle den Bach entstehen, dem wir gefolgt waren. Das Wäldchen war größer und grüner und lag an einem Ort, der mir nach meinem inneren Kompaß nicht zu stimmen schien. Doch die Ähnlichkeit mußte mehr als zufällig sein. Das Einhorn erstieg den Felsen unmittelbar neben der Quelle, sah uns an und wandte sich schließlich ab. Vielleicht starrte es auf den Ozean hinaus.

Als wir weiterritten, gewannen das Wäldchen, das Einhorn, die Bäume ringsum, der Bach neben uns plötzlich eine große Klarheit, als strahlte alles einen besonderen Glanz ab, als pulsierte es mit der Intensität der eigenen Farben, während es gleichzeitig zu flimmern begann, schwach, am Rande der Wahrnehmung. Dies löste in mir den Anflug eines Gefühls aus, ähnlich der emotionalen Anspannung vor einem Höllenritt.

Und dann und dann und dann verschwand mit jedem Schritt meines Tieres ein Element aus der Welt um uns. Plötzlich begann eine Anpassung in der Beziehung von Objekten, untergrub meinen Sinn für Tiefe, vernichtete die Perspektive, veränderte die Anordnung der Gegenstände in meinem Gesichtsfeld, so daß alles seine gesamte Außenfläche darbot, ohne gleichzeitig eine vergrößerte Fläche in Anspruch zu nehmen: Winkel verzerrten sich, relative Größen hatten plötzlich etwas Lächerliches. Randoms Pferd wieherte und stieg auf die Hinterhand, mit schreckgeweiteten Augen, apokalyptisch, Gedanken an Guernica wachrufend. Und bestürzt erkannte ich, daß wir selbst von dem Phänomen nicht unberührt geblieben waren, daß Random, der mit seinem Tier kämpfte, und Ganelon, der Feuerdrache noch immer beherrschte, wie alle anderen von der kubistischen Raumvision überwältigt wurden.

Aber Star war ein Veteran manches Höllenritts; auch Feuerdrache hatte schon viel durchgemacht. Wir klammerten uns im Sattel fest und spürten die Bewegungen, die wir auf anderem Wege nicht richtig zu erfassen vermochten. Und Random gelang es endlich, dem Pferd seinen Willen aufzuzwingen, obwohl sich die Umgebung beim Weiterreiten noch mehr veränderte.

Als nächstes verschoben sich die Lichtwerte. Der Himmel wurde schwarz, nicht wie in der Nacht, sondern wie eine glatte, aber nichtreflektierende Fläche. Das gleiche traf auf gewisse Gebiete zwischen den Objekten zu. Das einzige Licht, das in der Welt verblieb, schien von den Gegenständen selbst auszugehen, und auch das wurde allmählich ausgebleicht. Verschiedene Weißschattierungen stiegen von den Ebenen der Existenz auf, und am hellsten von allen, immens, schrecklich anzuschaun, stieg plötzlich das Einhorn auf die Hinterhand, schlug mit den Vorderhufen durch die Luft und füllte etwa neunzig Prozent der ganzen Schöpfung mit dieser Zeitlupenbewegung, die uns meinem Gefühl nach vernichten mußte, wenn wir noch einen einzigen Schritt taten.

Dann war nur noch das Licht da.

Dann absolute Stille.

Schließlich verblaßte auch das Licht, und nichts blieb zurück. Nicht einmal Schwärze. Eine Lücke im Dasein, die einen Sekundenbruchteil oder eine Ewigkeit lang geklafft haben mag . . .

Dann kehrte die Schwärze zurück und das Licht. Nur waren sie nun umgekehrt. Licht füllte die Zwischenräume, umriß Lücken, bei denen es sich um Gegenstände handeln mußte. Der erste Laut, den ich vernahm, war das Plätschern von Wasser, und ich erkannte irgendwie, daß wir neben der Quelle angehalten hatten. Als erstes spürte ich Stars Zittern. Dann roch ich das Meer.

Dann kam das Muster in Sicht – oder ein verzerrtes Negativ davon . . .

Ich beugte mich vor, und weiteres Licht quoll um die Kanten der Dinge. Mit den Knien drängte ich Star sanft zum Weitergehen.

Mit jedem Schritt kehrte nun etwas in die Welt zurück. Oberflächen, Abschattierungen, Farben . . .

Hinter mir hörte ich, wie die anderen ihre Tiere anspornten. Unter mir gab das Muster nichts von seinem Geheimnis preis, doch es gewann einen Zusammenhang, einen Bezug im Rahmen der umfassenden Neuformung der Welt ringsum.

Auf unserem Weg den Hang hinab kehrte das Gefühl für Tiefe zurück. Das Meer, nun deutlich zu unserer Rechten sichtbar, erfuhr eine vermutlich rein optische Trennung vom Himmel, mit dem es offenbar vorübergehend zu einer Art Urmeer des Oben und Unten vereint gewesen war. Im Rückblick beunruhigend, doch im Augenblick unbemerkt. Wir bewegten uns einen steilen, felsigen Hang hinab, der seinen Anfang am Rand des Wäldchens zu nehmen schien, zu dem uns das Einhorn geführt hatte. Etwa hundert Meter unter uns befand sich eine völlig ebene Fläche, die aus festem, gewachsenem Fels zu bestehen schien – ungefähr oval, einige hundert Meter lang. Der Hang, auf dem wir uns befanden, schwang sich nach rechts und beschrieb einen weiten Bogen, eine Klammer, das ebene Oval halb einschließend wie die Tribünen einer Arena. Hinter dem rechten Vorsprung befand sich nichts – das heißt, das Land fiel steil zu jenem seltsamen Meer ab.

Und die Entwicklung ging weiter. Die drei Dimensionen schienen sich endlich wieder zusammenzufügen. Die Sonne war jene riesige Kugel aus geschmolzenem Gold, die wir schon einmal gesehen hatten. Der Himmel war von einem dunkleren Blau, als wir es aus Amber kennen, und trug keine Wolken. Das Meer hatte sich in seinem Blauton angepaßt, unberührt von Segeln oder Inseln. Ich sah keine Vögel und hörte bis auf die Geräusche, die wir selbst verursachten, nichts. Eine unheimliche Stille lag über diesem Ort, diesem Tag. Im Brennpunkt meines plötzlich klaren Sehvermögens offenbarte das Muster endlich seine Spuren auf der Fläche unter uns. Zuerst hatte ich angenommen, es sei in das Gestein eingemeißelt, doch als wir näherkamen, erkannte ich, daß es darin enthalten war – rosagoldene Wirbel, wie Adern in einem exotischen Marmorgestein, natürlich wirkend trotz der offensichtlichen Absicht hinter dem Lauf der Linien.

Ich zog die Zügel an, und die anderen verhielten neben mir ihre Pferde, Random zu meiner Rechten, Ganelon auf der anderen Seite.

Lange betrachteten wir die Erscheinung, ohne ein Wort zu sagen. Ein dunkler Fleck mit ungleichmäßigen Rändern hatte ein Stück des Gebietes unmittelbar unter uns ausgelöscht, vom Außenrand zur Mitte verlaufend.

»Weißt du«, sagte Random schließlich. »Das alles sieht aus, als hätte jemand den Gipfel Kolvirs abrasiert, mit einem Schnitt, der etwa in der Höhe der Verliese angesetzt wurde.«

»Ja«, sagte ich.

»Und wenn wir schon nach Kongruenz suchen – dann wäre das dort etwa die Stelle, wo unser eigenes Muster liegt.«

»Ja«, sagte ich wieder.

»Und der dunkle Fleck liegt nach Süden zu, von wo die Schwarze Straße kommt.«

Langsam nickte ich, als das Verstehen kam und sich zur Gewißheit verhärtete.

»Was bedeutet das aber?« fragte er. »Dies scheint dem wahren Stand der Dinge zu entsprechen, doch abgesehen davon verstehe ich die Bedeutung nicht. Warum hat man uns hergeführt und dieses Ding gezeigt?«

»Es entspricht nicht dem wahren Stand der Dinge«, sagte ich. »Dies ist der wahre Stand der Dinge.«

Ganelon wandte sich in unsere Richtung.

»Auf jener Schatten-Erde, die wir besucht haben – auf der Welt, in der du so viele Jahre verbracht hattest –, hörte ich einmal ein Gedicht über zwei Straßen, die sich in einem Wald gabelten«, sagte er. »Es endete mit den Worten: ›Ich nahm die weniger befahrene, das machte den ganzen Unterschied‹. Als ich dies hörte, mußte ich an etwas denken, das du mir einmal gesagt hattest: ›Alle Straßen führen nach Amber‹. Ich machte mir Gedanken – damals wie jetzt – über den Unterschied, den unsere Entscheidung bringt, trotz der offensichtlichen Unausweichlichkeit des Ausgangs für Menschen eures Blutes.«

»Du weißt es?« fragte ich. »Du verstehst es?«

»Ich glaube schon.«

Er nickte und hob den Arm.

»Das ist das wirkliche Amber dort unten, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich. »Ja, das ist es.«

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