3

Ich musterte Random und dachte daran, was für ein hervorragender Kartenspieler er doch war. Doch sein Gesicht verriet mir nicht mehr als beispielsweise ein beliebiger Karo-Bube, ob er nun log oder nicht – im Großen oder im Detail. Die Sache mit dem Buben war übrigens eine hübsche Ausschmückung. Und seine Geschichte enthielt genügend Dinge dieser Art, um sie irgendwie wahrheitsgemäß erscheinen zu lassen.

»Um mit Ödipus, Hamlet, Lear und all den Burschen zu sprechen«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte das alles schon früher gewußt.«

»Dies war die erste Gelegenheit, dir die Geschichte zusammenhängend zu erzählen«, erwiderte er.

»Sicher«, stimmte ich zu. »Leider macht sie die Dinge nicht klarer, sondern trägt eher dazu bei, das Rätsel noch rätselhafter erscheinen zu lassen. Was keine Kleinigkeit ist. Hier stehen wir nun am Ende einer schwarzen Straße, die bis zum Fuße des Kolvir reicht. Sie durchschneidet alle Schatten, und Wesen sind auf ihr heranmarschiert, um Amber zu belagern. Die Beschaffenheit der Kräfte, die dahinterstehen, kennen wir nicht, doch sind sie offenbar bösartig und scheinen an Stärke zuzunehmen. Ich habe ihretwegen seit einiger Zeit Schuldgefühle, weil diese Phänomene meiner Auffassung nach mit meinem Fluch zu tun haben. Ja, ich habe uns mit einem Fluch belegt. Doch ob das Problem nun damit zu tun hat oder nicht – letztlich löst sich alles zu einer Art greifbarer Erscheinung auf, die man bekämpfen kann. Und genau das werden wir tun. Doch habe ich mir die ganze Woche darüber klar zu werden versucht, welche Rolle Dara spielt. Wer ist sie wirklich? Was ist sie? Warum war sie so daran interessiert, das Muster zu erobern? Wieso ist es ihr gelungen? Und dann ihre letzte Drohung! ›Amber wird vernichtet werden‹, hat sie gesagt. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß dies zur gleichen Zeit passierte wie der Angriff über die schwarze Straße. Ich sehe es nicht als etwas Eigenständiges, sondern als Teil desselben Grundmusters. Und alles scheint irgendwie auf die Tatsache hinauszulaufen, daß es hier in Amber einen Verräter gibt – Caines Tod, die Notizen . . . Irgend jemand bei uns begünstigt entweder einen Feind von außen oder steckt selbst hinter der ganzen Sache. Und jetzt bring das mal alles mit Brands Verschwinden zusammen – durch diesen Burschen.« Ich stieß die Leiche mit dem Fuß an. »Damit sieht es doch so aus, als gehörte Vaters Tod oder Abwesenheit ebenfalls dazu. Doch wenn das der Fall ist, müssen wir daraus auf eine umfassende Verschwörung schließen, bei der über eine Reihe von Jahren ein sorgfältig geplantes Detail auf das andere gesetzt worden ist.«

Random untersuchte einen Schrank in der Ecke und holte eine Flasche und zwei Kelche. Er füllte sie, brachte mir einen und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Stumm tranken wir auf die Nutzlosigkeit.

»Nun«, sagte er, »Ränke zu schmieden ist immerhin die Lieblingsbeschäftigung hier, und jedermann hat viel Zeit, weißt du. Wir sind beide zu jung, um uns an unsere Brüder Osric und Finndo zu erinnern, die im Dienste an Amber gestorben sind. Doch der Eindruck, den ich aus meinem Gespräch mit Benedict gewonnen habe . . .»

»Ja«, sagte ich. »Danach haben sie hinsichtlich des Throns mehr als nur Hoffnungen geäußert. Folglich war es unumgänglich, daß sie für Amber tapfer starben. Davon habe ich auch schon läuten hören. Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht. Genau erfahren werden wir das nie. Dennoch . . . Ja, ich verstehe, was du meinst, aber das ist doch ohnehin klar. Ich bezweifle nicht, daß man es schon früher versucht hat. Einigen aus unserem Kreise ist das durchaus zuzutrauen. Doch wem? Bis wir das wissen, stehen wir unter einem lähmenden Handicap. Jeder offene Zug wird vermutlich bemerkt und verraten werden. Laß dir mal etwas einfallen.«

»Corwin«, sagte er, »ich will ganz ehrlich sein: ich glaube, ich könnte Argumente für fast jeden von uns vortragen, sogar für mich, der ich immerhin in Amber gefangen war. Im Grunde wäre das sogar der beste Schutz für mich. Es hätte mich wirklich entzückt, äußerlich völlig hilflos dazustehen, während ich in Wirklichkeit an den Fäden zog, nach denen die anderen tanzen mußten. Das trifft natürlich auf uns alle zu. Wir alle haben unsere Motive, unsere Wunschvorstellungen. Und mit den Jahren haben wir alle Zeit und Gelegenheit gehabt, gewisse Vorbereitungen zu treffen. Nein, die Suche nach Verdächtigen ist der falsche Weg. Da käme jedermann in Frage. Wir sollten lieber zu bestimmen versuchen, was ein solches Individuum auszeichnen würde – neben den Motiven, neben der Gelegenheit zur Tat. Ich würde sagen, schauen wir uns die angewandten Methoden an.«

»Also gut. Fang an.«

»Einige von uns wissen mehr als andere über die Funktion der Schatten – über die kleinen Tricks, die Grundlagen für das Warum und Wie. Der Unbekannte verfügt außerdem über Verbündete, die er sich irgendwie von weither geholt hat. Dies ist die Kombination, mit der er gegen Amber vorgegangen ist. Leider haben wir keine Möglichkeit, uns eine Person anzuschauen und zu erkennen, ob sie solche besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt. Doch überlegen wir einmal, wo der Betreffende sie sich hätte aneignen können. Möglich, daß er ganz auf sich gestellt in den Schatten etwas erfahren, etwas dazugelernt hat. Oder er hat diese Dinge von Anfang an hier studiert, als Dworkin noch lebte und bereit war, Unterricht zu geben.«

Ich starrte in mein Glas. Es war nicht ausgeschlossen, daß Dworkin auch heute noch am Leben war. Er hatte mir zur Flucht aus den Verliesen von Amber verholfen – wie lange war das jetzt her? Ich hatte bisher niemandem davon erzählt und gedachte es auch jetzt nicht zu tun. Zum einen war Dworkin ziemlich verrückt – offenbar einer der Gründe, warum Vater ihn eingesperrt hatte. Zum anderen hatte er Kräfte zur Schau gestellt, die ich nicht verstand – und das hatte mich zu der Überzeugung gebracht, daß er ziemlich gefährlich sein konnte. Allerdings war er mir durchaus freundlich gesonnen gewesen, obwohl ich mir keine große Mühe gegeben hatte, mich bei ihm einzuschmeicheln. Wenn er noch irgendwo existierte, mochte ich bei einiger Geduld ganz gut mit ihm auskommen.

Aus diesem Grunde hatte ich die ganze Episode als mögliche Geheimwaffe für mich behalten. Und jetzt sah ich keinen Grund, diesen Entschluß zu ändern.

»Brand ist ziemlich oft mit Dworkin zusammen gewesen«, bestätigte ich, als mir klar wurde, worauf er hinauswollte. »Er interessierte sich für diese Dinge.«

»Genau«, erwiderte Random. »Und er wußte offensichtlich mehr darüber als wir übrigen – sonst hätte er die Kontaktaufnahme ohne Trumpf nicht geschafft.«

»Du meinst, er hat sich mit Außenseitern verbündet, ihnen den Weg bereitet und dann feststellen müssen, daß sie ihn nicht mehr brauchten – und in die Gefangenschaft schickten?«

»Nicht unbedingt. Allerdings wäre das eine Möglichkeit. Ich will aber auf eine andere Variante hinaus – wobei ich nicht abstreite, daß ich für ihn eingenommen bin: ich glaube, er kannte sich mit dem Thema ausreichend aus, um zu erkennen, sobald jemand mit den Trümpfen, dem Muster oder den Schatten unmittelbar um Amber etwas Ungewöhnliches anstellte. Doch dabei beging er einen Fehler. Vielleicht unterschätzte er den Bösewicht und forderte ihn direkt heraus, anstatt sich mit Vater oder Dworkin in Verbindung zu setzen. Was dann? Der ehemalige Verbündete überwältigte ihn und setzte ihn in den Turm gefangen. Entweder hatte er eine so hohe Meinung von Brand, daß er ihn nicht töten wollte, wenn es nicht unbedingt erforderlich war, oder er glaubte ihn eines Tages noch brauchen zu können.«

»Aus deinem Munde hört sich auch diese Version glaubhaft an«, sagte ich und hätte am liebsten hinzugefügt: »Und paßt natürlich hübsch zu deiner Geschichte«, um sodann sein Pokergesicht im Auge zu behalten – doch etwas hielt mich zurück. Vor längerer Zeit, als ich mit Bleys zusammen war, hatte ich beim Herumspielen mit den Trümpfen kurz Kontakt mit Brand gehabt. Dabei hatte ich seine Notlage gespürt, seine Gefangenschaft, aber dann war die Verbindung wieder abgebrochen. Insoweit konnte Randoms Geschichte stimmen. Ich sagte also: »Wenn er uns den Schuldigen zeigen kann, müssen wir ihn schon allein deswegen zurückholen.«

»Ich hatte gehofft, daß du das sagen würdest«, erwiderte Random. »Es geht mir gegen den Strich, eine solche Sache unerledigt zu lassen.«

Ich holte die Flasche und schenkte uns nach.

»Doch ehe wir uns näher damit befassen«, sagte ich, »muß ich einen geeigneten Weg finden, die schlimme Nachricht über Caine an den Mann zu bringen. Wo steckt Flora?«

»Ich glaube, unten in der Stadt. Heute früh war sie noch hier. Ich bin sicher, ich kann sie für dich auftreiben.«

»Ja, bitte tu das. Sie ist meines Wissens die einzige, die diese Kerle gesehen hat, als sie damals in ihr Haus in Westchester stürmten. Es wäre gut, wenn sie unsere Geschichte über den unangenehmen Charakter dieser Typen insoweit unterstützen kann. Außerdem möchte ich ihr noch einige andere Fragen stellen.«

Random leerte sein Glas und stand auf.

»Also gut. Ich erledige das sofort. Wohin soll ich sie bringen?«

»Zu mir. Wenn ich nicht dort bin, wartet bitte.«

Er nickte.

Ich stand auf und begleitete ihn in den Flur.

»Hast du den Schlüssel zu diesem Zimmer?« fragte ich.

»An einem Haken drinnen.«

»Dann schließ lieber ab. Wir wollen doch nicht, daß die Sache vorzeitig ans Licht kommt.«

Er schloß ab und gab mir den Schlüssel. Ich begleitete ihn zum ersten Treppenabsatz und verabschiedete mich von ihm. Dann suchte ich meine Räume auf.

Aus dem Safe nahm ich das Juwel des Geschicks, ein Rubinschmuckstück, das Vater und Eric die Wetterkontrolle rings um Amber ermöglicht hatte. Vor seinem Tode hatte mir Eric gesagt, was ich tun mußte, um das Juwel auf mich einzustimmen. Bis jetzt hatte ich noch keine Zeit gehabt, diesen Anweisungen zu folgen, und eigentlich fehlte mir die Zeit immer noch. Doch während meines Gesprächs mit Random war ich zu dem Schluß gekommen, daß ich mir die Zeit einfach nehmen mußte. Ich hatte Dworkins Notizen in der Nähe von Erics Kamin unter einem Stein gefunden. Auch das hatte er mir in seinen letzten Minuten verraten. Ich hätte gern gewußt, wie diese Notizen überhaupt in seinen Besitz gekommen waren, denn sie waren unvollständig. Ich nahm sie aus dem hinteren Teil des Safes und blätterte sie noch einmal durch. Sie entsprachen Erics Anweisungen hinsichtlich der Einstimmung auf das Juwel.

Doch sie ließen erkennen, daß der Edelstein auch noch anders genutzt werden konnte, daß die Kontrolle meteorologischer Erscheinungen eine fast nebensächliche, wenn auch spektakuläre Auswirkung eines Komplexes von Prinzipien war, der dem Muster, den Trümpfen und der physikalischen Integrität des eigentlichen Amber abseits der Schatten zugrunde lag. Leider wurden keine Details aufgeführt. Doch je mehr ich mein Gedächtnis durchforschte, desto realer erschien mir die Grundlage für eine solche Vermutung. Vater hatte das Juwel nur selten getragen; und obwohl er es als Wetterveränderer bezeichnet hatte, war bei den Gelegenheiten, da er das Schmuckstück vorgeführt hatte, das Wetter nicht immer spürbar anders geworden. Und er hatte den Stein oft auf seinen kleinen Reisen mitgenommen. Ich war also gewillt zu glauben, daß tatsächlich mehr dahinter steckte. Eric hatte wahrscheinlich ähnliche Vermutungen gehegt, doch auch er war nicht in der Lage gewesen, die anderen Anwendungsarten herauszufinden. Er hatte lediglich die offensichtlichen Fähigkeiten des Juwels ausgenutzt, als Bleys und ich Amber angriffen; und er hatte es letzte Woche auf gleiche Weise eingesetzt, als die Wesen der schwarzen Straße ihren Angriff wagten. Beidemale hatte ihm das Juwel gut gedient, wenn es ihm auch nicht das Leben hatte retten können. Nun war es ratsam, sich die volle Gewalt über das Juwel zu verschaffen, sagte ich mir. Jeder kleine zusätzliche Vorteil war wichtig. Und es war gut, wenn man sich das Ding tragen sah. Besonders jetzt.

Ich legte die Notizen in den Safe zurück und steckte das Juwel in die Tasche. Dann begab ich mich in die untere Etage des Palastes. Wieder verlieh mir die Umgebung der riesigen Säle das Gefühl, als wäre ich niemals fort gewesen. Dies war mein Zuhause, hier wollte ich leben. Von nun an war ich der Behüter der Stadt. Ich trug nicht die Krone, doch waren die Probleme des Herrschers die meinen geworden. Das war wirklich ironisch. Ich war zurückgekehrt, um den Thron zu beanspruchen, um Eric die Krone zu entreißen, ich wollte den Ruhm, ich wollte herrschen. Doch plötzlich wankte der Boden unter unseren Füßen. Wir hatten ziemlich schnell erkannt, daß sich Eric nicht richtig verhalten hatte. Wenn er Vater wirklich umgebracht hatte, besaß er keinen Anspruch auf die Krone. Wenn nicht, hatte er voreilig gehandelt. Wie dem auch sei – die Krönung hatte nur dazu gedient, sein bereits aufgeblasenes Selbstgefühl weiter zu stärken. Ich selbst, ich strebte nach der Krone und wußte, daß ich ihre Last tragen konnte. Doch es wäre nun ebenso unsinnig gewesen, den Thron zu besteigen, während meine Truppen noch in Amber lagerten, während der Verdacht, Caine ermordet zu haben, in Kürze auf mich fallen würde, während sich mir zugleich die ersten Anzeichen für eine fantastische Verschwörung offenbarten und im übrigen nach wie vor die Möglichkeit bestand, daß Vater noch lebte. Wir hatten seit seinem Verschwinden wohl mehrfach in Verbindung gestanden, und bei einer dieser Gelegenheiten, vor Jahren, hatte er sich mit meiner Thronbesteigung einverstanden erklärt. Doch in der Stadt gab es soviel Lug und Trug, daß ich nicht mehr wußte, was ich glauben sollte. Vater hatte nicht abgedankt. Außerdem hatte ich eine Kopfverletzung erlitten und war mir meiner eigenen Wünsche nur zu klar bewußt. Der Verstand ist ein seltsames Ding. Ich traute nicht mal mir selbst. War es denkbar, daß ich die ganze Sache selbst eingefädelt hatte? Seither war viel geschehen. Der Preis für das Leben als Amberianer ist vermutlich der perverse Umstand, daß man sich selbst nicht mehr trauen kann. Ich überlegte, was Freud wohl darüber gesagt hätte. Es war ihm zwar nicht gelungen, meine Amnesie zu durchbrechen, doch er hatte einige erstaunlich präzise Vermutungen über meinen Vater angestellt – wie er gewesen war, wie unsere Beziehung ausgesehen hatte. Das war mir damals gar nicht so bewußt geworden. Ich wünschte, ich könnte noch ein Gespräch mit dem genialen Gelehrten der Schattenwelt führen.

Ich wanderte durch den marmornen Eßsaal und trat in den darunterliegenden dunklen und engen Korridor. Ich nickte dem Wächter zu und marschierte bis zum Ende, durch die Tür, hinaus auf die Plattform, dann hinab. Die endlose Wendeltreppe, die ins Innere Kolvirs führt. Hinabsteigen. Ab und zu Lichter. Dahinter Schwärze.

Es wollte mir scheinen, als habe sich irgendwann in der nahen Vergangenheit ein Gleichgewicht verschoben, so daß ich nicht mehr selbst handelte, sondern zum Handeln gebracht wurde – daß irgend etwas mich in Trab hielt, mich zum Reagieren zwang. Mich bedrängte. Und jeder Zug führte zum nächsten. Wo hatte das alles begonnen? Vielleicht ging es schon seit Jahren so, und ich begann es gerade erst zu merken. Vielleicht waren wir alle irgendwie Opfer – in einem Ausmaß, und auf eine Weise, die sich keiner von uns klar gemacht hatte. Ein großartiger Stoff für morbide Gedanken! Mehr als alles auf der Welt hatte ich König sein wollen – und wollte es noch immer. Doch je mehr ich erfuhr und je mehr ich über das Erfahrene nachdachte, um so stärker wurde mein Eindruck, daß ich lediglich Figur auf einem riesigen Spielbrett gewesen war. Dabei machte ich mir plötzlich klar, daß ich dieses Gefühl schon seit geraumer Zeit hatte, daß es sich immer stärker bemerkbar machte und mir ganz und gar nicht gefiel. Doch, so tröstete ich mich, es gibt kein irgendwie geartetes Lebewesen, das nicht irgendwelche Fehler macht. Wenn mein Gefühl eine reale Basis hatte, rückte mein ureigenster Pawlow mit jedem Glockenschlag mehr in die Reichweite meiner Fänge. Bald, bald, ich spürte, es mußte bald sein, würde ich dafür sorgen müssen, daß er mir zu nahe kam. Und dann lag es an mir, dafür zu sorgen, daß er weder entwischte noch jemals zurückkehrte.

Herum, herum, immer im Kreis, hinab, hier ein Licht, dort ein Licht, dies meine Gedanken wie ein Faden auf einer Spule, aufrollend oder abrollend, das war nicht genau zu bestimmen. Unter mir der Klang von Metall auf Stein. Die Schwertscheide eines Wächters, der sich erhob. Schwankendes Licht von einer emporgehobenen Laterne.

»Lord Corwin . . .«

»Jamie.«

Unten nahm ich eine Laterne vom Regal. Ich stellte ein Licht hinein, machte kehrt und ging auf den Tunnel zu, wobei ich die Dunkelheit Schritt um Schritt vor mir herschob.

Endlich der Gang, und hinein, dabei die Abzweigungen zählend. Ich mußte den siebenten Seitentunnel nehmen. Echos und Schatten. Dumpfheit und Staub.

Dann am Ziel. Abbiegen. Nicht mehr weit.

Endlich die große, dunkle metallgefaßte Tür. Ich schloß auf und schob sie mühsam auf. Sie quietschte, leistete Widerstand, bewegte sich schließlich einwärts.

Ich stellte die Laterne rechts hinter der Tür ab. Ich brauchte sie nicht mehr, da das Muster ausreichend Licht ausstrahlte für das, was ich im Sinn hatte.

Einen Augenblick lang betrachtete ich das Muster – eine riesige schimmernde Masse gekrümmter Linien, die dem Auge Fallstricke stellten, wenn es versuchte, den Spuren zu folgen; eingebettet in die schimmernde Schwärze des Bodens. Dieses Muster hatte mir Macht über die Schatten geschenkt, es hatte den größten Teil meiner Erinnerungen zurückgeholt. Es würde mich augenblicklich vernichten, wenn ich nicht richtig damit umging. Wie immer meine Dankbarkeit gegenüber dem Muster aussah, sie war nicht ohne Furcht. Das Muster war ein herrlich rätselhaftes Familienerbstück, das sich genau dort befand, wohin es gehörte – im Keller.

Ich bewegte mich in die Ecke, wo das Labyrinth seinen Anfang hatte. Dann sammelte ich meine Gedanken, entspannte die Muskeln und stellte den linken Fuß auf das Muster. Ohne zu zögern, marschierte ich voran und spürte sofort die elektrische Spannung. Blaue Funken zeichneten die Umrisse meiner Stiefel nach. Noch ein Schritt. Diesmal ertönte ein Knistern, und der Widerstand setzte ein. Ich ging durch die erste Kurve und bemühte mich um Eile, wollte ich doch den Ersten Schleier möglichst schnell erreichen. Als es soweit war, bewegte sich mein Haar, und die Funken waren heller und länger geworden.

Ich mußte meine Anstrengungen verstärken. Jeder Schritt erforderte größere Mühe als der letzte. Das Knistern wurde lauter, die Spannung erhöhte sich. Meine Haare stellten sich auf, und ich schüttelte die Funken ab. Ich blickte starr auf die flackernde Feuerlinie und stemmte mich vorwärts.

Plötzlich ließ der Druck nach. Ich taumelte, blieb aber in Bewegung. Ich hatte den Ersten Schleier überwunden, was automatisch ein angenehmes Erfolgsgefühl auslöste. Ich erinnerte mich an das letztemal, als ich diesen Weg zurückgelegt hatte, in Rebma, der Stadt unter dem Meer. Das gerade abgeschlossene Manöver hatte die Rückkehr meiner Erinnerungen eingeleitet. Ja. Ich drängte weiter, und die Funken wurden länger, und die Elektrizität begann zuzunehmen, ließ mein Fleisch kribbeln.

Der Zweite Schleier . . . Die Kurven . . . Der Marsch durch das Muster schien einem stets die letzten Kräfte abzufordern und erzeugte das Gefühl, daß das gesamte Ego in reine Willenskraft umgesetzt wurde. Es war ein Gefühl des unbarmherzigen Vorwärtsstrebens. Im Augenblick war die Bewältigung des Musters das einzige auf der Welt, was mir etwas bedeutete. Ich war immer hier gewesen, hatte immer so gekämpft; ich war niemals fort gewesen, ich würde stets hier sein und meinen Willen gegen das Labyrinth der Macht setzen. Die dazwischenliegende Zeit war verschwunden. Nur die Elektrizität blieb.

Die Funken züngelten mir nun bis zu den Hüften empor. Ich erreichte die Große Kurve und kämpfte mich durch. Mit jedem Schritt wurde ich vernichtet und neugeboren, umhüllt von den Flammen der Schöpfung, verschreckt durch die Kälte am Ende der Entropie.

Hinaus und weiter, kehrtmachend. Drei weitere Biegungen, eine gerade Linie, eine Reihe von Arabesken. Schwindelgefühl, ein vages An- und Abschwellen der Empfindungen, als oszillierte ich aus dem Sein und wieder zurück. Biegung um Biegung um Biegung um Biegung . . . Ein kurzer, scharfer Knick . . . Die Linie, die zum Letzten Schleier führte . . . Vermutlich atmete ich schwer und war in Schweiß gebadet; ich kann mich hinterher nie richtig daran erinnern. Kaum vermochte ich die Füße zu bewegen. Die Funken erreichten meine Schultern. Sie stachen mir in die Augen, und im Blinzeln vermochte ich das Muster kaum noch zu erkennen. An, aus, an, aus . . . Da war es. Ich setzte den rechten Fuß vor und wußte im gleichen Augenblick, wie Benedict gefühlt haben mußte, dessen Beine vom schwarzen Gras festgehalten wurden. Unmittelbar bevor ich ihm den entscheidenden Schlag versetzte. Ich fühlte mich selbst völlig zerschlagen – überall am Leibe. Linker Fuß vorwärts . . . So langsam, daß ich nicht genau wußte, ob sich das Bein überhaupt bewegte. Meine Hände waren blaue Flammen, meine Beine Feuersäulen. Noch ein Schritt. Noch einer. Und noch einer.

Ich kam mir vor wie eine zum Leben erwachte Statue, wie ein auftauender Schneemann, wie ein nachgebender Eisenträger . . . Zwei weitere Schritte . . . Drei . . . Gletscherhaft waren meine Bewegungen, doch ich, der sie steuerte, hatte die ganze Ewigkeit zur Verfügung und eine Beständigkeit des Willens, die seine Anerkennung finden würde . . .

Ich trat durch den Letzten Schleier. Ein enger Bogen folgte. Drei Schritte führten in Dunkelheit und Frieden. Sie waren die schlimmsten von allen.

Sisyphus! war mein erster Gedanke, als ich das Muster verließ. Geschafft! war mein zweiter. Und der dritte: Nie wieder!

Ich gönnte mir den Luxus einiger tiefer Atemzüge und eines kurzen Durchschütteins. Dann nahm ich das Juwel aus der Tasche und hob es in die Höhe. Ich hielt es mir vor die Augen.

Im Inneren rot – ein tiefes Kirschrot, irgendwie rauchig schimmernd. Der Edelstein schien auf dem Wege durch das Muster an Licht, an Glanz gewonnen zu haben. Ich starrte hinein, dachte an Erics Instruktionen, verglich sie mit Dingen, die mir bereits bekannt waren.

Wenn man das Muster durchschritten und diesen Punkt erreicht hat, kann man sich davon an jeden Ort versetzen lassen, den man sich vorzustellen vermag. Es genügt der Wunsch und eine Willensanstrengung. Dementsprechend dachte ich nicht ohne leise Furcht an den nächsten Schritt. Wenn die Wirkung so war wie gewöhnlich, mochte ich mich in eine ungewöhnliche Falle begeben. Doch Eric hatte den Schritt erfolgreich getan. Er war nicht in den Kern eines Juwels irgendwo in den Schatten eingeschlossen worden. Dworkin, der jene Notizen niedergelegt hatte, war ein großer Mann gewesen, und ich hatte ihm vertraut.

Ich sammelte meine Gedanken und steigerte meine Konzentration auf das Innere des Steins.

Im Kern befand sich eine verzerrte Darstellung des Musters, umgeben von flimmernden Lichtpunkten, winzigen Fackeln und Blitzen, verschiedenen Kurven und Strängen. Ich traf meine Entscheidung. Ich richtete meinen Willen aus . . .

Röte und langsame Bewegung. Als versänke ich in einem riesigen zähflüssigen Ozean. Zuerst sehr langsam. Ein Dahintreiben und Verdunkeln. All die hübschen Lichter noch weit, weit vor mir. Allmählich verstärkte sich meine spürbare Bewegung. Lichtflocken, fern, durchbrochen, immer wiederkehrend. Nun offenbar ein wenig schneller. Kein Größenvergleich möglich. Ich war ein Bewußtseinspunkt von unbestimmter Größe. Ich spürte Bewegung, ich nahm die Erscheinung wahr, der ich mich – nun fast beschleunigt – näherte. Die Röte war nahezu vergangen, wie auch der bewußte Gedanke an ein Medium. Der Widerstand ließ nach. Ich raste dahin. All dies schien nur einen winzigen Augenblick gedauert zu haben, schien noch immer den gleichen Augenblick zu beanspruchen. Das Ganze hatte etwas seltsam Zeitloses. Meine Geschwindigkeit in Bezug auf das, was nun mein Ziel zu sein schien, war enorm. Das kleine verdrehte Labyrinth wuchs an, löste sich zu etwas auf, das eine dreidimensionale Variation des Musters selbst zu sein schien. Durchsetzt von Funken aus farbigem Licht, wuchs es vor mir an, entfernt an eine bizarre Galaxis erinnernd, hingeworfen in die Mitte der ewigen Nacht, umgeben von einem schwachen Staubschimmer, dessen Bahnen aus zahlreichen funkelnden Punkten bestanden. Und das Gebilde wuchs an, oder ich schrumpfte ein, oder es rückte vor, oder ich rückte vor, und wir waren nahe, dicht beieinander, und dann füllte es den gesamten Raum aus, von oben bis unten, von hier bis dort, und meine Eigengeschwindigkeit schien noch mehr zuzunehmen, wenn das überhaupt möglich war. Ich wurde gepackt, überwältigt von dem grellen Glanz, und da war eine Lichtbahn, von der ich wußte, daß sie den Anfang bedeutete. Ich war zu nahe – hatte mich tatsächlich schon verirrt –, um die Erscheinung in ihrer Gänze noch zu begreifen, doch das Aufbäumen, das Flackern, das wilde Hin und Her jener Dinge, die ich ringsum davon sehen konnte, brachte mich auf die Frage, ob drei Dimensionen ausreichten, um die sinnverwirrenden Dinge zu erklären, denen ich mich gegenübersah. Fort von meiner galaktischen Analogie trug mich ein Winkel meines Geistes nun in das andere Extrem und ließ mich an den unendlich dimensionierten Gilbert-Raum des Subatomaren denken. Doch letztlich war dies eine Metapher der Verzweiflung. In aller Offenheit – ich verstand überhaupt nichts von alledem. Ich hatte nur das immer stärker werdende Gefühl – ausgelöst durch das Muster? Instinktiv? –, daß ich auch dieses Gewirr überwinden mußte, um jenen neuen Grad der Macht zu erringen, auf den es mir ankam.

Und darin irrte ich nicht. Meine offenkundige Geschwindigkeit veränderte sich nicht, als ich in die Erscheinung hineingewirbelt wurde. Ich wurde herumgezerrt und auf lichtblitzenden Wegen dahingeschleudert, ich flog durch substanzlose Wolken aus Glimmer und Schein. Es gab keine Zonen des Widerstands wie im echten Muster; mein Bewegungsmoment schien auszureichen, um mich hindurchzutragen. Eine blitzschnelle Tour durch die Milchstraße? Ein Ertrinkender, der durch Korallenschluchten gewirbelt wird? Ein schläfriger Spatz, der am Abend des vierten Juli über einen Jahrmarkt flattert? Dies waren meine Gedanken, als ich mir meine Passage in dieser veränderten Weise noch einmal vor Augen führte.

. . . Und hinaus, durch, über und vorbei, in einem rötlichen Licht, das mich beleuchtete, wie ich mich selbst beobachtete, während ich neben dem Muster stehend das Juwel betrachtete. Das Muster darin, in mir, alles in mir, ich darin, die Röte nachlassend, schwächer werdend, erlöschend. Dann nur noch ich, das Schmuckstück, das Muster, allein, die Verbindung zwischen Subjekt und Objekt wiederhergestellt – nur eine Oktave höher, was meines Erachtens der beste Weg ist, die Veränderung zu beschreiben. Eine gewisse Empathie gab es nun tatsächlich. Es war, als hätte ich einen neuen Sinn hinzugewonnen, eine zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit. Es war eine seltsame Empfindung, irgendwie befriedigend.

Begierig, diese Fähigkeit auf die Probe zu stellen, sammelte ich meine Willenskräfte und befahl dem Muster, mich an einen anderen Ort zu transportieren.

Und schon stand ich in dem runden Zimmer auf dem höchsten Turm in Amber. Ich durchquerte das Zimmer und trat auf einen schmalen Balkon hinaus. Der Gegensatz machte sich stark bemerkbar, so dicht nach der übersinnlichen Reise, die hinter mir lag. Einige Sekunden lang stand ich einfach nur da und schaute hinaus.

Das Meer wies eine Vielfalt von Schraffuren auf, der Himmel war zum Teil bewölkt, es näherte sich der Abend. Die Wolken selbst waren ein Muster aus weicher Helligkeit und krassen Schatten. Der Wind wehte zur See hin, so daß ich auf den Salzgeruch vorübergehend verzichten mußte. Dunkle Vögel bildeten Punkte am Himmel, die in großer Entfernung über dem Wasser hin und her schwankten oder verharrten. Unter mir erstreckten sich die Palasthöfe und die Terrassen der Stadt bis zum Rand des Kolvir. Die Menschen auf den Straßen waren winzig, ihre Bewegungen überflüssig. Ich fühlte mich ausgesprochen allein.

Dann berührte ich das Schmuckstück und ließ ein Unwetter aufziehen.

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