Kap. 8

Zwei der Ymris-Krieger mühten sich bereits, das Haupttor zu schließen, als er ins Innere der Stadt hineinhuschte. Die Angeln knirschten und kreischten, Rost rieselte, als die schweren Eichenplatten sich rüttelnd aus den Furchen hoben, in denen sie seit Jahrhunderten geruht hatten. Morgon schlug die beiden Flügel mit einem Gedanken zu, der ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Ein nur allzu vertrauter, todbringender Geist ertastete die Quelle des Kraftstoßes und bemächtigte sich Morgons über die Entfernung hinweg. Die Dunkelheit vor ihm wurde von einem blauweißen Blitz zerrissen, der von so seltsamer Schönheit war, daß er nur dastehen und ihn anstarren konnte. Dann schienen seine Knochen in alle Richtungen auseinanderzufliegen, wäh-rend sein Gehirn wie ein Stern brannte. Verschwommen fühlte er Stein hinter sich und ließ seinen Geist in ihn hineinfließen, leer werden, reglos. Die fremde Kraft entfernte sich. Er sammelte seine Knochen aus der Nacht und gewahrte undeutlich, daß er noch lebte. Einer der Krieger zog ihn vom Boden hoch. Sein Gesicht blutete. Der andere Mann war tot. »Herr —«

»Mir ist nichts geschehen.«

Er schleuderte seine Gedanken aus der Zeitzelle hinaus, in der er stand. Als der nächste Schwall von Energie durch die Nacht tobte, trat er einfach von ihm weg in eine andere Zelle nahe der brennenden Schule. Menschen rannten durch die Straßen den Haupttoren zu: Wachen, bewaffnete Ymris-Krieger, Händler, Kauf leute und Fischer, die ihre Schwerter mit einer grimmigen, ungelenken Entschlossenheit trugen. Kinder standen am Rande des Schulgeländes, gebannt vom Spiel des Lichts, während ihre Gesichter bald rot, bald golden, bald violett aufleuchteten. Dann barst die Mauer eines Hauses hinter ihnen, es regnete glühende Steine, und schreiend stoben sie auseinander.

Morgon zog aus seinen Gedanken eine Erinnerung an den Stoff, aus dem diese fremde Energie gewoben war, und speiste sie mit Kraft aus einer Quelle, die er nie zuvor angezapft hatte.

Er ließ sie durch sich hindurchströmen, ließ sie sich aufbauen, sich von seinen Gedanken und inneren Regungen nähren, bis sie gleich einem Blitzstrahl aus ihm herausschoß, der mit einem hohen, dünnen Summen die Luft durchschnitt. Feurig knisternd zuckte er der Kraftquelle innerhalb der Mauern entgegen, verschwand hinter ihnen, doch explodierte nicht. Der Strahl tauchte wieder auf, ehe er sein Ziel getroffen hatte, schoß mit der gleichen tödlichen Ladung auf Morgon zurück. Den Bruchteil einer Sekunde lang starrte er ungläubig, dann öffnete er sich, um den Kraftstrom wieder in sich aufzunehmen. Er implodierte in seinem Inneren in Finsternis. Ihm folgte nicht einmal einen Herzschlag später ein gewaltiger Schwall von Licht und Feuer, der bis in die untersten Tiefen seines wehrlosen Geistes drang. Er schleuderte ihn flach auf das Kopfsteinpflaster, und während er geblendet nach Luft schnappend dalag, brandete eine neuerliche Woge von Energie in ihn hinein. Er ließ sein Bewußtsein davontreiben, hinunter in die Ritzen zwischen den Steinen, in die dunkle, schweigende Erde unter ihnen. Der Splitter eines Steines, der neben ihm in Stücke barst, riß ihm die Wange auf, doch er fühlte es nicht. Während sein Körper wie festgenagelt auf der Oberfläche der Erde lag, begann er, aus den stummen, gesichtslosen, lebenden Geschöpfen, die in ihr wohnten, eine Stille zu schöpfen, die ihn schützen würde. Er wob die Stille von Maulwürfen und Regenwürmern, von winzigen Schlangen und den bleichen Wurzeln des Grases in seinen Geist. Als er schließlich aufstand, schien die Welt um ihn dunkel, gesprenkelt von kleinen, lautlosen Lichtblitzen. Mit dem blinden Instinkt des Regenwurms wanderte er in die Dunkelheit.

Unter dieser geistigen Maske gelangte er sicher über das freie Gelände in das Gebäude der Schule. Feuer hatte die uralten Kräfte, die noch in den Steinen eingeschlossen waren, entzündet. Kaltglitzernde Flammen huschten über geborstene Wände, speisten sich von der Energie in ihren Herzen. Morgon, dessen Geist noch immer von der Stille der sprachlosen Welt unter seinen Füßen trank, fühlte nichts vom gefährlichen Wellenschlag des Feuers rund um ihn herum. Eine Mauer brach zusammen, als er an ihr vorüberkam; die Steine rollten wie Kohle über seinen Schatten. Er empfand nur eine ferne Unruhe in der Erde, als hätte sich etwas in ihren Tiefen ein wenig verschoben.

Eine zarte Berührung seines Geistes zog unversehens seine Gedanken aus dem Inneren der Erde empor, lockte ihn, ihr zu folgen. Er brach den Bann, den er selbst über sich geworfen hatte, und stand zwinkernd im donnernden, feuerspeienden Tumult. Die unerwartete Berührung wurde gebieterisch und zwingend, und er erkannte, daß der Raum, durch den er schritt, in sich selbst zusammenfiel. Ihm blieb keine Zeit zu fliehen; er überließ seinen Geist den feurigen Steinen, die dröhnend herabstürzten, wurde ein Teil ihres schwerfällig taumelnden Stroms, zersprang mit ihnen und versank mit ihnen in einer starren, staubumhüllten Stille. Und in der Stille wühlte er seinen Körper aus ihnen heraus, sammelte wieder seine Gedanken. In diesem Augenblick sah er Nun, die ihn, nicht greifbar in der flimmernden Luft, beobachtete. Sie sagte nichts, zerschmolz fast im selben Moment, als er sie erblickte, während der glühende Kopf ihrer Pfeife einen Herzschlag lang allein in der Luft hing.

Die Schlacht, die im Herzen der Schule wütete, erschütterte die Erde. Vorsichtig suchte er sich einen Weg dorthin. Am grellen Lichtschein, der durch die schönen, zertrümmerten Fenster fiel, wußte er, daß sie sich dort konzentrierte, wo sie angefangen hatte — in der großen Rotunde, an deren Wänden sich noch immer das Echo des Namens des Gründers brach.

Sein Gespür sagte ihm, daß die Schlacht bisher nur einseitig geschlagen wurde; daß der Gründer mit den Zauberern spielte, daß ihr Leben ihm als Köder diente, Morgon anzulocken. Schon im nächsten Moment bekam Morgon den Beweis dafür, daß seine Annahme richtig gewesen war. Er fühlte, wie der Geist des Gründers über die Flammen strich wie ein schwarzes Suchfeuer. Flüchtig berührte er Morgons Geist; vor ihm gähnte ein vertrauter Abgrund ungeheurer, bedrohlicher Macht. Doch der Gründer versuchte gar nicht, Morgon festzuhalten. Sein Geist zog sich zurück, und Morgon hörte einen Schrei, der ihm das Blut in den Adern gerinnen ließ.

Aloil wurde nicht weit von ihm mit Gewalt aus der Luft gerissen und in seine eigene Gestalt gezwungen. So verzweifelt und wütend er gegen die dunkle Macht, die seinen Geist gefangenhielt, ankämpfte, er konnte sich nicht befreien. Und wieder veränderte sich langsam seine Gestalt. Mächtige, von Wind und Wetter gemeißelte Äste sprangen aus seinen Schultern heraus; sein verzweifeltes Gesicht verschwamm hinter Eichenrinde, und ein dunkler Schlitz klaffte an jener Stelle im Stamm, wo sein Mund gewesen war. Wurzeln gruben sich in die tote Erde; sein Haar verwirrte sich zu blattlosen Ästchen. Eine lebende Eiche stand dort, wo seit sieben Jahrhunderten nichts mehr gewachsen war. Ein Blitzstrahl sauste zuckend auf sie zu, sie bis zu den Wurzeln zu spalten.

Morgon öffnete weit seinen Geist, fing den Blitzstrahl auf, ehe er den Baum treffen konnte. Er schleuderte ihn zurück auf Ghisteslohm und hörte, wie eine der Mauern krachend zerbarst. Dann drang er erbarmungslos in die Festung des Gründers ein und schweißte Ghisteslohms Geist mit dem seinen zusammen, so wie sie beide zuvor in der Schwärze des Erlenstern-Bergs zusammengeschweißt gewesen waren.

Er sog die Kraft in sich hinein, die wütend zuckend seine Gedanken zu zerschmettern suchte, und ließ sie auf dem Grund seines Geistes ausbrennen. Langsam gewann er an Boden,, bis schließlich der Geist des Gründers wieder so vertraut war, als befände er sich hinter seinen eigenen Augen. Er schenkte Erfahrungen, Impulsen und der langen, geheimnisvollen Lebensgeschichte des Gründers keine Beachtung, sondern konzentrierte sich allein auf die Quelle seiner Kraft, um sie bis zur Erschöpfung zu leeren. Er spürte es, als Ghisteslohm gewahrte, was er tat; er spürte es an den gewaltigen, verzweifelten Energiestößen, die ihn beinahe wieder und wieder wegrissen, bis er vergaß, daß noch anderes sein Wesen ausmachte, als ein Wille und ein Geist. Der Machtkampf endete schließlich. Er drang tiefer ein, stöberte Kraft und Energie auf und trank sie in sich hinein, bis der Gründer ihm etwas Unerwartetes überließ: Er gewahrte, daß er das Wissen um das Landrecht von Hed von neuem in sich aufsog.

Seine Umklammerung lockerte sich, zerbrach in einer Woge von Wut und Empörung über die Ironie. Ein chaotisches Gewitter der Raserei schleuderte ihn über den Boden. Benommen versuchte er, sich zu schützen, doch sein Geist konnte nichts als Feuer formen. Wieder schoß die Energie durch ihn hindurch, so daß er gegen brennend heißen Stein geworfen wurde. Jemand zog ihn weg; die Zauberer, die ihn umgaben, lenkten Ghisteslohms Aufmerksamkeit mit einem wütenden Überraschungsangriff von ihm ab, der die inneren Gebäude erzittern ließ.

Talies schlug die Flammen aus, die an seinem Kittel züngelten, und sagte kurz: »Tötet ihn doch einfach.«

»Nein.«

»Ihr starrköpfiger Bauer von Hed, wenn ich diese Schlacht überlebe, dann werde ich die Rätselkunst studieren.« Er drehte plötzlich den Kopf. »In der Stadt wird gekämpft. Ich höre Todesschreie.«

»Dort unten ist ein Heer von Gestaltwandlern. Sie kamen durch das vordere Tor, während wir das hintere bewachten. Ich habe — ich glaube, ich habe Yrth gesehen. Kann er mit Krähen sprechen?«

Der Zauberer nickte. »Gut. Dann wird er wohl an der Seite der Händler kämpfen.«

Er half Morgon auf die Beine. Die Erde schwankte unter ihnen, so daß sie beide übereinanderstürzten. Talies stand zuerst auf, dann rappelte sich Morgon hoch und blieb stehen, den Blick auf die Mauern der Rotunde gerichtet.

»Er wird schwächer dort drinnen.«

»Ja?«

»Ich gehe jetzt hinein.«

»Wie?«

»Ich gehe einfach hinein. Aber ich muß seine Aufmerksamkeit ablenken.«

Er überlegte einen Moment, während er eine Brandwunde an seinem Handgelenk betastete. Sein Geist, der aufmerksam das ganze Gelände der Schule absuchte, verharrte in der alten, zerstörten Bibliothek, in deren Regalen Hunderte von Zauberbüchern gestanden hatten. Die halbverkohlten Seiten waren noch immer mit Kraft geladen; mit Bannformeln, die in ihre Schlösser eingewoben waren, mit unausgesprochenen Namen, mit der Energie jener, die all ihre Erfahrungen mit der Kraft des Geistes auf den Seiten niedergeschrieben hatten. Er erweckte diese schlafenden Kräfte, sammelte ihre Fäden in seinem Geist. Einen Moment lang hätte das Chaos ihn beinahe überwältigt. Laut sprechend spann er ein geisterhaftes Gewebe aus Namen, Wörtern, Sätzen grotesker Bannsprüche, die Schüler gelegt hatten, aus einem Gewirr von Wissen und geistiger Kraft, das sich im Schein der grell flackernden Lichter in seltsame Gestalten formte. Schatten, Steine, die sich bewegten und sprachen, gesichtslose Vögel mit Schwingen von der Farbe des Feuers der Zauberer, kriechende und watschelnde Geschöpfe, die sich aus der verbrannten Erde emporstießen, sandte er in großem Aufmarsch gegen Ghisteslohm. Er weckte die toten Geister der Tiere, die während der Zerstörung getötet worden waren: Fledermäuse, Krähen, Wiesel, Frettchen, Füchse, weiße Wölfe; sie schwärmten durch die Nacht um ihn herum, suchten von ihm ihr Leben zu erhalten, bis er sie der Kraftquelle entgegenschickte. Er hatte gerade begonnen, die Wurzeln toter Bäume aus der Erde zu ziehen, als die vorderste Reihe seines Heeres in die Festung des Gründers eindrang. Der Ansturm dieser vielfältigen Splitter von Kraft und Energie, schwerfällig, beinahe harmlos, dennoch zu komplex, um einfach ignoriert zu werden, zog die Aufmerksamkeit des Gründers auf sich. Eine Stille trat ein, in der der Geist eines Wolfes eine gespenstische Totenklage wimmerte. Lautlos rannte Morgon zum großen runden Saal. Er war beinahe dort, als sein Heer fluchtartig den Rückzug antrat, um ihn herum und über ihn hinweg stürzte, in die Nacht hinausstob, der Stadt entgegen.

Morgon schickte ihnen seinen Geist nach, trieb die seltsamen, mißgestalteten Wesen, die er gemacht hatte, ins Reich der Vergessenheit zurück, ehe sie Lungold in Angst und Schrecken versetzen konnten. Die Anstrengung, die Geister von Fledermäusen und anderen Geschöpfen zu finden, die aus Erdklumpen geschaffen waren, beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Als er endlich fertig war, wirbelte sein Geist wieder von Namen und Wörtern, die er wieder in sich selbst hatte aufnehmen müssen. Er füllte seinen Geist mit Feuer und zerschmolz die Reste von Kraft darin, während er selbst von seiner Kraft und Klarheit trank. Und da gewahrte er, daß er in nahezu völliger Finsternis stand.

Eine unheimliche Stille lag über der Erde. Haufen zertrümmerten Mauerwerks glühten noch rot, doch die Nacht über der Schule war klar und unberührt, und er konnte Sterne sehen. Er stand da und lauschte, doch das einzige Schlachtgetümmel, das er hörte, kam aus den Straßen. Lautlos setzte er sich wieder in Bewegung und betrat den Saal.

Er war so schwarz und still wie die Höhlen des Erlenstern-Bergs. Er machte nur einen fruchtlosen Versuch, gegen die Finsternis anzukämpfen, und gab auf. Einem Impuls folgend holte er das Schwert an seiner Seite aus der Luft und zog es aus der Scheide. Er nahm es bei der Klinge und hielt es hoch, richtete die Augen der Sterne in die Dunkelheit. Er zog Feuer aus der Nacht hinter ihm, fachte es in den Sternen an. Ein rotes Licht brach durch die Finsternis, zeigte ihm Ghisteslohm.

Schweigend sahen sie einander an. Der Gründer wirkte hager und eingefallen im seltsamen Licht. Scharf traten die Knochen unter seiner Haut hervor. Seine Stimme schien matt, weder drohend noch geschlagen.

»Ihr könnt noch immer nicht im Dunklen sehen«, bemerkte er verwundert.

»Ich werde es lernen.«

»Ihr müßt die Dunkelheit trinken. Ihr seid ein Rätsel, Morgon. Ihr verfolgt einen Harfner durch das ganze Reich, um ihn zu töten, weil Ihr sein Spiel haßtet, doch mich tötet Ihr nicht. Ihr hättet mich töten können, solange Ihr meinen Geist in Eurer Gewalt hattet, aber Ihr habt es nicht getan. Ihr solltet es jetzt versuchen. Aber Ihr werdet es nicht tun. „Warum nicht?«

»Ihr wollt mich nicht tot. Warum?«

Der Zauberer brummte. »Ein Rätselkampf. Ich hätte es mir denken können. Wie habt Ihr an jenem Tag auf der Handelsstraße überlebt, daß Ihr fliehen konntet? Ich selbst konnte nur mit knapper Not entkommen.«

Morgon schwieg. Er senkte das Schwert und ließ seine Spitze auf dem Boden ruhen.

»Was sind sie? Die Gestaltwandler? Ihr seid der Erhabene. Ihr müßtet es wissen.«

»Sie waren eine Legende, die man sich hier und dort erzählte, ein Stück Poesie, ein Häufchen nasser Seetang und zerbrochene Muschelschalen. Eine befremdliche Behauptung von einem Fürsten von Ymris, bis Ihr Euer Land verließt, um mich zu finden. Jetzt — jetzt werden sie zum Alptraum. Was wißt Ihr über sie?«

»Sie sind steinalt. Sie können getötet werden. Sie haben ungeheure Kraft, aber sie gebrauchen sie selten. Sie töten Händler und Krieger in den Straßen von Lungold. Ich weiß nicht, was, in Hels Namen, sie sind.«

»Was sehen sie in Euch?«

»Das gleiche, was Ihr in mir seht, vermute ich. Diese Frage werdet Ihr mir beantworten.«

»Zweifellos. Der Weise kennt seinen eigenen Namen.«

»Reizt mich nicht.« Das Licht bebte ein wenig zwischen seinen Händen. »Ihr habt Lungold zerstört, um mir meinen Namen zu verheimlichen. Ihr habt alles Wissen darum verborgen, Ihr bewachtet die Schule in Caithnard —«

»Erspart mir die Geschichte meines Lebens.«

»Das ist es, was ich von Euch will. Meister Ohm. Erhabener. Woher nahmt Ihr den Mut, den Namen des Erhabenen anzunehmen?«

»Kein anderer nahm ihn für sich in Anspruch.«

»Warum?«

Der Zauberer blieb einen Moment lang stumm.

»Ihr könntet Antworten von mir erzwingen«, sagte er schließlich. »Ich könnte meinen Geist auswerfen und die Zauberer von Lungold wieder bannen, so daß Ihr mir nichts anhaben könntet. Ich könnte fliehen; Ihr könntet mich verfolgen. Ihr könntet fliehen; ich könnte Euch verfolgen. Ihr könntet mich töten, was anstrengende Arbeit wäre, und Ihr würdet Euren mächtigsten Beschützer verlieren.«

»Beschützer.« Er ließ die Silben fallen wie drei abgenagte Knochen.

»Ich möchte Euch lebend, ja. Und die Gestaltwandler? Hört auf mich —«

»Ihr braucht es gar nicht erst zu versuchen«, fiel ihm Morgon müde ins Wort. »Ich werde Eure Macht ein für allemal brechen. Es mag seltsam klingen, aber es kümmert mich nicht, ob Ihr lebt oder sterbt. Ihr wenigstens seid mir begreiflich, und das ist mehr, als ich von den Gestaltwandlern oder —«

Er brach ab. Der Zauberer trat einen Schritt zu ihm hin.

»Morgon, Ihr habt die Welt durch meine Augen gesehen, und Ihr besitzt meine Kräfte. Je mehr Ihr in das Landrecht eingreift, desto mehr Menschen werden sich dessen erinnern.«

»Ich habe nicht die geringste Absicht, in das Landrecht einzugreifen! Wofür haltet Ihr mich?«

»Ihr habt schon angefangen.«

Morgon starrte ihn wortlos an.

»Ihr täuscht Euch«, entgegnete er dann leise. »Nichts und nie habe ich durch Eure Augen gesehen. Was, in Hels Namen, seht Ihr, wenn Ihr mich anblickt?«

»Morgon, ich bin der mächtigste Zauberer in diesem Reich. Ich könnte für Euch kämpfen.«

»Irgend etwas hat Euch an jenem Tag auf der Handelsstraße in Angst versetzt. Ihr braucht mich, damit ich für Euch kämpfe. Was ist geschehen? Habt Ihr die Grenzen Eurer Macht im Spiegel eines meergrünen Auges erblickt? Sie wollen mich haben, und Ihr wollt mich ihnen nicht preisgeben. Aber Ihr seid jetzt nicht mehr so sicher, daß Ihr es mit einem Heer von Seetang aufnehmen könnt.«

Ghisteslohm hüllte sich in Schweigen. Sein eingefallenes Gesicht schimmerte im Spiel blutroter Schatten.

»Könnt Ihr es denn?« fragte er. »Wer wird Euch helfen? Der Erhabene?«

In diesem Augenblick spürte Morgon die plötzliche Bewegung seines Geistes, spürte eine Welle von Kraft, die den Saal und das Gelände umschloß, die die Zauberer suchte, sich ihres Geistes zu bemächtigen, sie wiederum zu bannen. Morgon hob das Schwert; die Sterne entzündeten scharfe Lichtstrahlen, die in Ghisteslohms Augen stachen. Er schreckte vor ihnen zurück, und seine Konzentration zerbrach. Dann hob er die Hände, verschlungene Lichtfäden zwischen den Fingern. Das Licht glitt zurück in die Sterne, als hätten sie es aufgesogen. Finsternis kauerte wie ein lebendes Geschöpf im Saal und verdunkelte selbst das Mondlicht. Das Schwert wurde kalt in Morgons Hand. Die Kälte stieg in seine Arme hinauf, in seine Knochen, hinter seine Augen: ein Bann, der seine Bewegung und seine Gedanken lahmte. Seine eigene Erkenntnis dieses Banns verstärkte ihn nur; und als er sich abmühte, eine Bewegung zu machen, wurde er nur fester in Stille gefesselt. Darum gab er sich der Lähmung hin, stand reglos in der Nacht, wohl wissend, daß sie Trug war und daß nur die Bereitschaft, sie anzunehmen, genau wie die Bereitschaft, das Undenkbare anzunehmen, aus ihr herausführen konnte. Er wurde die Stille und die Kälte, die damit einhergingen, und als der Ansturm unermeßlicher Kraft, der sich in irgendeiner düsteren Welt sammelte, ihn endlich traf, hielt sein gelähmter, in Finsternis erstarrter Geist ihn auf wie eine eiserne Wand.

Er hörte Ghisteslohms wütenden, ungläubigen Fluch und schüttelte den Bann ab. Einen Wimpernschlag bevor der Geist des Zauberers verschwinden konnte, bekam er ihn zu fassen. Ein letzter Kraftstoß, der durch seinen Geist fegte, lockerte seinen Zugriff ein wenig, und er gewahrte, daß er selbst nahe am Rande seiner Kräfte war. Doch der Zauberer war erschöpft; selbst sein Trug von Finsternis war zerrissen. Licht funkelte wieder aus den Sternen; die geborstenen Wände rundum leuchteten von geheimer Kraft. Ghisteslohm hob eine Hand, als wollte er aus den brennenden Steinen etwas herausholen, dann ließ er sie schlaff fallen. Morgon nahm seinen Geist in Besitz und sprach seinen Namen.

Der Name schlug Wurzeln in seinem Herzen und in seinen Gedanken. Nicht Kraft sog er jetzt auf, sondern Erinnerungen. Für kurze Zeit blickte er aus Ghisteslohms Geist auf die Welt.

Er erblickte den großen runden Saal, in dem sie standen, in all seiner ursprünglichen Schönheit. Die Fenster leuchteten mit den Feuern der Zauberkunst, die getäfelten Wände rochen nach Zedernholz. Hundert Gesichter blickten ihn an jenem Tag tausend Jahre zuvor an, als er die neuen Lehrsätze der Zauberkunst formulierte. Während er sprach, stahl er im geheimen, selbst aus dem Geist des machtvollsten unter ihnen, alles Wissen um die drei Sterne und alle Erinnerung an sie.

Im Besitz ungeheurer Macht, die ihm nicht Rast noch Ruhe ließ, saß er im Erlenstern-Berg. Er hatte den Geist jedes einzelnen Landherrschers in seiner Gewalt, nicht um seine Handlungen zu bestimmen, sondern um ihn zu erforschen, um die Landinstinkte zu studieren, die er niemals ganz erfassen konnte. Er sah, wie ein Landherrscher aus Herun allein durch den Isig-Paß ritt, wie er näher und näher kam, um eine Rätselfrage von drei Sternen zu stellen. Er verwirrte den Geist des Pferdes, das der Morgol ritt, es bäumte sich schreiend auf, und der Morgol Dhairrhuwyth stürzte einen Felshang hinunter, versuchte verzweifelt, sich an Felsbrocken festzuklammern, die eine schreckliche Warnung ausstießen, während sie ihm donnernd folgten.

Lange vor diesem Tag stand er in ehrfürchtigem Staunen im weiten Thronsaal im Erlenstern-Berg, wo die Legende, die so alt war, daß sie keinen Ursprung hatte, sagte, daß der Erhabene seinen Sitz gefunden hätte. Der Saal war leer. Die ungeschliffenen Edelsteine in den Felsmauern waren trübe und matt. Generationen von Fledermäusen hingen von der Decke. Spinnen hatten Netze so zart und zerbrechlich wie Trugbilder um den Thron gewoben. Er war gekommen, um eine Frage über einen Träumer zu stellen, der tief im Berg Isig schlief. Doch es war niemand da, den er fragen konnte. Er fegte Spinnweben vom Thron und setzte sich, um über diese rätselhafte Leere nachzudenken. Und während das graue Licht zwischen den langsam verrottenden Türen verblich, begann er, Fantasiegespinste zu weben.

Er stand in einem anderen stillen, schönen Raum in einem anderen Berg, und sein Geist nahm die Gestalt eines seltsamen weißen Steins an. Er träumte einen Kindertraum, und er konnte kaum atmen, während er die zarten Bilder betrachtete, die durch ihn hindurchströmten. Eine große Stadt stand auf einer von Winden umwogten Ebene, eine Stadt, die in der Erinnerung des Kindes mit den Winden sang. Das Kind sah sie aus der Ferne. Sein Geist berührte Blätter, Lichtflecken auf Baumrinde, Grashalme; es blickte aus dem schwerfälligen Geist einer Kröte auf sich selbst zurück; sein verwischtes Gesicht spiegelte sich im Auge eines Fisches; sein windzerzaustes Haar neckte einen Vogel, der ein Nest baute. Eine Frage pulste unablässig unter den Träumen, brannte wie Feuer in seinem Herzen, als das Kind seinen Geist auswarf, das Wesen eines einzigen Blattes in sich aufzunehmen. Er stellte die Frage schließlich; das Kind schien sich beim Klang seiner Stimme umzudrehen. Seine Augen waren dunkel und rein und offen wie das Auge eines Falken.

»Was hat euch zerstört?«

Der Himmel über der Ebene wurde grau wie Stein; das Licht auf dem Gesicht des Kindes erlosch. Das Kind stand starr und gespannt, während es lauschte. Die Winde fuhren fauchend über die Ebene und drückten das hohe Gras nieder. Ein Ton baute sich auf, zu mächtig, um gehört zu werden, unerträglich. Ein Stein löste sich aus einer der schimmernden Mauern in der Stadt, sank tief in die Erde. Ein zweiter schlug auf eine Straße. Und in diesem Moment befreite sich der Ton, ein tiefes, vibrierendes, donnerndes Tosen, in dessen Herzen etwas geborgen war, das er erkannte, obwohl er nicht mehr sehen noch hören konnte und der Fisch wie eine weiße Narbe auf dem Wasser trieb und der Vogel aus dem Baum gefegt worden war.

»Was ist es?« flüsterte er und wollte durch Ghisteslohms Geist hindurch, durch den Geist des Kindes hindurch das Ende des Traums ergreifen. Doch als er ihn schon hatte, zerfloß er in wildes Wasser und in finsteren Wind, und das Auge des Kindes wurde weiß wie Stein. Sein Gesicht wurde das Ghisteslohms, dessen Augen tief eingesunken waren vor Erschöpfung, überspült wurden von einem Licht, das bleich war wie Schaum.

Morgon, der sich in tiefer Verwirrung und Bestürzung abmühte, den Faden wiederaufzunehmen, sah aus dem Augenwinkel etwas aufblitzen. Er riß den Kopf herum. Sterne schlugen ihm ins Gesicht; taumelnd verlor er einen Moment lang das Bewußtsein. Er kämpfte sich wieder empor in schimmerndes Licht und fand sich auf dem Boden wieder, Blut im Mund von einer Wunde in seiner Lippe. Er hob den Kopf. Die Spitze seines eigenen Schwerts berührte sein Herz.

Der Gestaltwandler, der vor ihm stand, hatte Augen, die so weiß waren wie die des Kindes. Er lächelte eine Begrüßung, und ein scharfer Anflug von Furcht kräuselte die Oberfläche von Morgons Geist. Ghisteslohms Blick war auf etwas hinter ihm gerichtet. Er drehte den Kopf und sah eine Frau, die zwischen den steinernen Trümmern stand. Ihr stilles, schönes Gesicht wurde flüchtig von einem rotgoldenen Himmel erleuchtet. Morgon hörte das Getöse der Schlacht, die hinter ihr tobte; einer Schlacht, die mit Schwertern und Speeren ausgetragen wurde, mit Zauberei und Waffen aus Menschenknochen, die das Wasser in den Tiefen des Meeres gereinigt und geschliffen hatte.

Die Frau neigte den Kopf.

»Sternenträger.« Kein Spott lag in ihrer Stimme. »Eure Erkenntnis wird allmählich zu weitreichend.«

»Ich bin noch immer unwissend.« Er schluckte. »Was wollt Ihr von mir? Noch immer muß ich diese Frage stellen. Mein Leben oder meinen Tod?«

»Beides. Keines von beiden.« Ihr Blick schweifte durch den Saal zu Ghisteslohm. »Meister Ohm. Was sollen wir mit Euch anfangen? Ihr erwecktet den Sternenträger zum Bewußtsein seiner Macht. Der Weise hütet sich, die Klinge zu schmieden, die ihn töten wird.«

»Wer seid Ihr?« flüsterte der Gründer. »Ich habe die Glut eines Traumes von drei Sternen vor tausend Jahren erstickt. Wo wart Ihr damals?«

»Wir haben gewartet.«

»Was seid Ihr? Ihr habt keine echte Gestalt, Ihr habt keinen Namen —«

»Wir haben einen Namen.«

Die Stimme war noch immer klar und ruhig, doch Morgon hörte einen Ton in ihr, der nicht menschlich war. Es klang, als hätte Stein oder Feuer mit leiser, vernünftiger, zeitloser Stimme gesprochen. Wieder regte sich die Angst in ihm, ein klirrender Winterwind, aus Seide und Eis gesponnen. Er formte seine Angst in ein Rätsel, und seine eigene Stimme klang ihm tonlos in den Ohren.

»Als — als der Erhabene vom Erlenstern-Berg floh, vor wem floh er da?«

Ein Feuerschein von Kraft übergoß die Hälfte ihres Gesichts mit flüssigem Gold. Sie antwortete ihm nicht. Ghisteslohms Lippen öffneten sich; sein tiefer Atemzug klang klar und deutlich durch den Tumult wie das Seufzen der zurückweichenden Brandung.

»Nein!« Er trat einen Schritt zurück. »Nein.«

Morgon gewahrte erst, daß er sich bewegt hatte, als er den plötzlichen Schmerz über seinem Herzen spürte. Seine Hand streckte sich nach dem Zauberer aus.

»Was ist es?« fragte er flehentlich. »Ich kann nichts erkennen!«

Das kalte Metall zwang ihn nach rückwärts. Sein zwingendes Verlangen schoß in einem Feuerstrahl aus den Sternen im Heft des Schwerts, so daß es dem Gestaltwandler aus der Hand sprang. Klirrend schlug es auf dem Boden auf, wo es glühend liegenblieb. Er wollte aufstehen. Der Gestaltwandler packte ihn am Kragen seines Kittels und hob die verbrannte Hand zum Schlag. Morgon starrte in die ausdruckslosen Augen und schickte einen Kraftstoß wie einen Schrei in den Geist des Zauberers. Der Schrei ging in einer kalten, stürmischen See unter. Der Gestaltwandler ließ die Hand sinken. Er zog Morgon auf die Füße und ließ ihn stehen, frei und ungehindert. Verwirrt von dem Ausmaß an Macht und von dem Ausmaß an Zurückhaltung, streckte Morgon einen letzten verzweifelten Fühler in den Geist des Zauberers und hörte nur das Branden des Meeres.

Das Schlachtgetümmel brach durch die verfaulten Mauern. Gestaltwandler drängten Händler, erschöpfte Krieger, die Wachen der Morgol in den Saal. Ihre Klingen aus Knochengebein und Eisen, untergegangenen Schiffen entrissen, droschen erbarmungslos durch das Chaos. Morgon sah, wie zwei der Wachen fielen, noch ehe er überhaupt eine Bewegung machen konnte. Er wollte nach seinem Schwert greifen. Das Knie des Gestaltwandlers traf seine Brust, als er sich niederbeugte. Er sank auf Hände und Knie nieder und wimmerte um einen Atemzug Luft. Der Saal um ihn herum wurde sehr still; er sah nur den Staub und den Schutt unter seinen Fingern. Kreiselnd drehte sich die Stille um ihn, zog ihn wie eine Spirale in ihre Mitte. Wie in einem Traum hörte er in ihrem Mittelpunkt den klaren, tropfenden Klang eines einzigen Harfentons.

Das Lärmen der Schlacht rollte wieder über ihn hinweg. Er hob den Kopf, suchte das Schwert und sah Lyra, die sich zwischen zwei Händlern unter der Tür hindurchdrängte. Ein stechender Schmerz saß in seiner Kehle. Er wollte rufen, schreien, die Schlacht unterbrechen, bis sie wieder fort war, doch er hatte keine Kraft. Sie arbeitete sich näher zu ihm hin. Ihr Gesicht war bleich und erschöpft; dunkle Halbmonde lagen unter ihren Augen. Getrocknetes Blut klebte an ihrem Kittel, in ihrem Haar. Ihre Augen suchten das Schlachtfeld ab, entdeckten ihn plötzlich. Der Speer in ihrer Hand blitzte auf; sie schleuderte ihn ihm entgegen. Er sah ihn kommen, ohne sich zu rühren, ohne zu atmen. Pfeifend zischte er an ihm vorbei, traf den Gestaltwandler und riß ihn von Morgons Seite weg. Er packte sein Schwert und sprang schwankend auf die Beine. Lyra bückte sich, hob den Speer unter einer der gefallenen Wachen auf. Sie wog ihn in ihrer Hand, drehte sich in einer einzigen behenden, präzisen Bewegung und warf.

Der Speer stieg hoch, sauste über die Kämpfenden hinweg, zerriß die Luft in einem Silberstreif auf dem Weg zum Herzen des Gründers. Seine Augen, die die Farbe des Nebels über dem Meer hatten, waren nicht einmal fähig zu zwinkern, während sie dem näher kommenden Speer entgegenblickten. Morgons Gedanken flogen rascher als der Schatten des Speeres. Er sah, wie Lyras Gesicht zu einer Maske hilflosen Entsetzens erstarrte, als sie gewahr wurde, daß der Zauberer gebannt war, wehrlos gegen sie; ihrem todbringenden Wurf haftete keine Ehre an, er verlangte kein Geschick, ließ keine Möglichkeiten offen. Morgon wollte schreien, den Speer mit seiner Stimme knicken, um einen Traum von Wahrheit zu retten, der hinter den Augen eines Kindes, hinter den Augen eines Zauberers verborgen war. Statt dessen flog seine Hand hoch, zog die Harfe auf seinem Rücken aus der Luft. Er spielte sie, noch während er sie formte: die letzte tiefe Saite, deren Schwingungen selbst ein eisernes Schwert unter Klirren erzittern ließen und jede andere Waffe draußen und drinnen im Saal zerschmetterten.

Stille senkte sich wie alter Staub über den Saal. Die Krieger aus Ymris starrten ungläubig auf das zerbrochene Metall in ihren Händen. Lyra blickte noch immer zu jener Stelle in der Luft, wo der Speer, keine zwei Schritte von Ghisteslohm entfernt, zersplittert war. Langsam drehte sie sich um. Es war die einzige Bewegung im Saal. Ihr Blick traf den Morgons; sie schien plötzlich so ermattet, daß sie kaum noch stehen konnte. Die Wachen, die noch am Leben waren, starrten Morgon an. Ihre Gesichter waren geisterhaft bleich. Die Gestaltwandler rührten sich nicht. Ihre Körper schienen plötzlich zu fließen, so als wollten sie im nächsten Moment mit dem Nichts verschmelzen. Selbst die Frau, die er als Eriel kannte, stand reglos, während sie ihn beobachtete und wartete.

In diesem Augenblick wurde ihm nur einen Herzschlag lang offenbar, welche furchtbare, bedrohliche Kraft sie in ihm sahen, die irgendwo in dunstverhangenen Regionen jenseits seiner Erkenntnis lag. Die Tiefe seiner eigenen Unwissenheit entsetzte ihn. Hilflos drehte er die Harfe in den Händen, während er die Gestaltwandler gefangenhielt und noch keine Ahnung hatte, was er mit ihnen tun sollte. Bei dieser Bewegung der Unsicherheit wandelte sich der Ausdruck in Eriels Augen in schlichtes Staunen.

Rasch eilte sie vorwärts, um ihm die Harfe abzunehmen, um ihn mit seinem eigenen Schwert zu töten, um seinen Geist zu verdunkeln und mit dem ewigen Rauschen des Meeres zu füllen wie den Geist Ghisteslohms — er wußte es nicht. Er packte das Schwert und wich zurück. Eine Hand berührte seine Schulter, hielt ihn auf.

Rendel stand neben ihm. Ihr Gesicht war rein und weiß inmitten der Wolke ihres feurigen Haares, als wäre es wie die Gesichter der Erdherren aus Stein gemeißelt. Sie hielt ihn mit leichter Hand, doch sie sah ihn nicht.

»Ihr werdet ihn nicht anrühren«, sagte sie leise zu Eriel.

Die dunklen Augen blickten neugierig in ihr Gesicht.

»Ylons Tochter. Habt Ihr Eure Wahl getroffen?«

Eriel setzte sich wieder in Bewegung, und Morgon spürte, wie die ungeheure, gefesselte Kraft in Rendels Geist sich aus ihren Banden befreite. Er sah, wie die Gestalt, die Eriel angenommen hatte, von ihr abzufallen begann und etwas unglaublich Altes, Wildes enthüllte wie das dunkle Herz der Erde oder des Feuers. Mit aschfahlem Gesicht stand er da, im lähmenden Bann tiefen Staunens, und wußte, daß er unfähig war, sich zu rühren, selbst wenn das, was Rendel in ihre Gestalt zwang, sein eigener Tod war.

Dann donnerte ein Schrei durch seinen Geist, riß ihn aus seiner Faszination. Benommen starrte er hinüber zur anderen Seite der Rotunde. Der alte Zauberer, den er am Stadttor gesehen hatte, fing seinen Blick auf und hielt ihn mit seinen eigenen seltsamen, lichtlodernden Augen fest.

Wieder durchdrang ihn der stumme Schrei: ›Flieh!‹ Er rührte sich nicht. Er würde Rendel nicht verlassen, aber er konnte ihr nicht helfen; er fühlte sich unfähig, auch nur zu denken. Dann bemächtigte sich eine fremde Kraft seines erschöpften Geistes und entriß ihm seine eigene Gestalt. Er schrie, und es war das wütende, schrille Protestgeschrei eines Habichts. Die fremde Kraft hielt ihn, schleuderte ihn wie einen finsteren, ungebändigten Wind aus der brennenden Schule der Zauberer hinaus, hinaus aus dem Festungsring der Stadt in die weite, reglose Einöde der Nacht.

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