Kap. 1

Der Sternenträger und Rendel von An saßen auf den Zinnen des höchsten der sieben Türme von Anuin. Endlos, wie es schien, ergoß sich der weiße Stein abwärts, hinunter zu dem sommergrünen Hügel, auf dem das gewaltige Hauptgebäude stand. Die Stadt, die am Fuß des Hügels ausgebreitet lag, reichte bis zum Meer. Klar und blau dehnte sich über ihnen der Himmel, dessen Stille nur gele-gentlich vom kreisenden Flug eines Habichts gestört wurde. Zwei Stunden saß Morgon ohne jede Bewegung dort. Die Sonne, die am Morgen sein Profil gestreichelt hatte, war weitergewandert, ohne daß er es merkte, und hatte seinen Schat-ten mitgenommen. Er war sich Rendels Nähe bewußt, doch er empfand sie wie das weite Land rundum, wie den leichten Wind und wie die Krähen, die schimmernde schwarze Linien durch die grünen Obstpflanzungen zogen — als etwas Fried-volles und Fernes, dessen Schönheit hin und wieder in seinen Gedanken aufblitzte.

Sein Geist spann endlose Fäden der Mutmaßung und Überlegung, die sich immer wieder in seiner Unwissenheit verfingen. Sterne, Kinder mit steinernen Gesichtern, die feurigen Scherben einer Schale, die er in Astrins Hütte zerschmettert hatte, untergegangene Städte, ein dunkelhaariger Gestaltwandler, ein Harfner, all diese Erinnerungen verwirrten sich unter seiner forschenden Betrachtung zu Rätseln, für die er keine Lösung finden konnte. Er blickte auf sein eigenes Leben zurück, auf die Geschichte des Reiches und stocherte in den Tatsachen herum wie in einem Haufen Scherben, in dem Bemühen, sie zusammenzusetzen. Nichts paßte; nichts hielt; ständig wurde er aus seinen Erinnerungen in die milde Sommerluft hinausgeschleudert.

Steif wie ein Stein bewegte er sich schließlich und strich sich mit der Hand über die Augen. Unstet flackernde Gestalten wie uralte Geschöpfe ohne Namen huschten hinter seinen Augenlidern ins Licht. Wieder entleerte er seinen Geist, ließ Bilder in sein Bewußtsein emporsteigen, bis sie wiederum an den Klippen des Undenkbaren zerschellten.

Der weite blaue Himmel drängte sich in sein Blickfeld und das Gewirr der Straßen und Häuser tief unter ihm. Er konnte nicht mehr denken; er lehnte sich an seinen Schatten. Die Stille, die in dem uralten Steinquader eingeschlossen lag, durchflutete ihn; seine Gedanken, bis zur Sinnlosigkeit strapaziert, wurden wieder ruhig.

Er bemerkte einen weichen Lederschuh und den Schimmer eines blaßgrünen Gewandes. Er drehte den Kopf und sah, daß Rendel mit gekreuzten Beinen auf dem Sims neben ihm saß.

Er neigte sich zu ihr hinüber und zog sie an sich. Er drückte sein Gesicht in ihr langes Haar, in dem der Wind spielte, und sah hinter seinen geschlossenen Lidern die flammenden Strähnen. Eine Zeitlang schwieg er still und hielt sie ganz fest, als spürte er das Herannahen eines Windes, der sie von ihrem hohen, gefährlichen Ruheplatz herabfegen könnte.

Sie hob das Gesicht, um ihn zu küssen, und widerstrebend ließen seine Arme sie los.

»Mir war gar nicht bewußt, daß du hier bist«, sagte er, als sie ihn sprechen ließ.

»Das habe ich gemerkt, nach der ersten Stunde ungefähr. Worüber hast du nachgedacht?«

»Über alles.« Er kratzte ein Stück Mörtel aus einem Riß in der Mauer und schnippte es in die Bäume hinunter. Eine Schar Krähen flatterte schimpfend in die Höhe. »Ich zermartere mir das Gehirn über meine Vergangenheit und komme immer wieder zu der gleichen Schlußfolgerung. Ich weiß nicht, was, in Hels Namen, ich eigentlich tue.«

Sie zog ihre Knie hoch und lehnte sich nach rückwärts an den Stein, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Ihre Augen füllten sich mit Licht und schimmerten wie von Wasser geschliffener Bernstein. Seine Kehle zog sich plötzlich zusammen, übervoll von Worten.

»Du löst Rätsel«, erwiderte sie. »Du hast mir gesagt, daß das das einzige ist, was du tun kannst, blind und taub und stumm, wie du bist, nicht wissend, wohin dein Weg dich führt.«

»Ich weiß.« Er kratzte wieder Mörtel aus dem Mauerriß und schleuderte ihn mit solcher Gewalt von sich, daß er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. »Ich weiß. Aber seit sieben Tagen bin ich nun hier bei dir in Anuin und kann nicht einen Grund oder ein Rätsel finden, das mich aus diesem Haus hinaustreibt. Ich weiß nur, wenn wir noch viel länger hierbleiben, werden wir beide sterben.«

»Das ist schon mal ein Grund«, versetzte sie ernst.

»Ich weiß nicht, warum meinem Leben von den drei Sternen in meinem Gesicht Gefahr droht. Ich weiß nicht, wo der Erhabene ist. Ich weiß nicht, was die Gestaltwandler sind, ich weiß nicht, wie ich einem Grab voller Kinder helfen soll, die auf dem Grund eines Berges zu Stein geworden sind. Ich weiß nur einen Ort, wo ich versuchen kann, Antwort auf diese Fragen zu finden. Und die Aussicht ist nicht verlockend.«

»Wo?«

»In Ghisteslohms Geist.«

Sie sah ihn an, schluckte einmal und senkte dann stirnrunzelnd den Blick zum sonnenwarmen Stein hinunter.

»Nun...« Ihre Stimme zitterte beinahe unmerklich. »Ich habe nicht geglaubt, daß wir ewig hierbleiben können. Aber, Morgon —«

»Du könntest hierbleiben.«

Sie hob den Kopf. Das Licht der Sonne fing sich wieder in ihren Augen, und er konnte den Ausdruck in ihnen nicht lesen. Doch ihre Stimme verriet hartnäckige Entschlossenheit. »Ich werde dich nicht allein lassen. Ich habe selbst den Reichtum von Hel samt all seinen Schweinen um deinetwillen ausgeschlagen. Du mußt lernen, mit mir zu leben.«

»Es ist schwierig genug, überhaupt zu leben«, murmelte er, ohne zu überlegen, und errötete dann. Doch ihr Mund zuckte. Er neigte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Für ein einziges silbernes Schweinehaar würde ich dich mit mir nach Hed nehmen und den Rest meines Lebens damit zubringen, in Ost-Hed Ackergäule zu züchten.«

»Das Schweinehaar kann ich dir bringen.«

»Ich will dich heiraten, Rendel. Wie stelle ich das in diesem Land an?«

»Du kannst mich nicht heiraten«, erwiderte sie ruhig, und seine Hand wurde schlaff.

»Was?«

»Nur der König kann seine Erben verheiraten. Und mein Vater ist nicht hier. Wir müssen das also aufschieben, bis er die Zeit findet, nach Haus zurückzukehren.«

»Aber, Rendel —«

Sie schleuderte einen Krümel Mörtel über die Schwanzfedern einer vorüberfliegenden Krähe hinweg, so daß diese mit einem lauten Krächzen abschwenkte. »Aber, was?« fragte sie düster.

»Ich kann doch nicht — erst dringe ich in das Land deines Vaters ein und störe die Toten auf, begehe in seinem Sitzungssaal beinahe einen Mord, und dann soll ich auch noch dich mit mir fortnehmen und mit dir durch das Reich ziehen, ohne dich zu heiraten! Das geht doch nicht! Was, in Hels Namen, soll dein Vater von mir denken?«

»Das wird er dich schon wissen lassen, wenn er endlich mit dir zusammentrifft. Ich jedenfalls, und das ist hier von größerem Belang, bin der Meinung, daß mein Vater sich lange genug in mein Leben eingemischt hat. Kann sein, daß er unsere Begegnung vorausgesehen hat, vielleicht sogar unsere Liebe zueinander, aber ich finde, er soll nicht in allem seinen Willen haben. Ich werde dich nicht heiraten, nur weil er das auch irgendeinem Traum vorhergesehen hat.«

»Glaubst du, daß dies der Grund für sein befremdliches Gelöbnis hinsichtlich Pevens Turm war?« fragte er neugierig. »Vorherwissen?«

»Du wechselst das Thema.«

Er sah sie einen Moment lang stumm an, während er sich das, was sie erörtert hatten, durch den Kopf gehen ließ.

»Nun«, sagte er dann leise, und ihm war dabei, als überließe er ihre gemeinsame Zukunft dem Spiel der Winde, die in schwindelnder Höhe über den Turm hinstrichen, »wenn du dich weigerst, mich zu heiraten, dann kann ich wohl nichts daran ändern. Und wenn du dich entschieden hast, mit mir zu kommen — wenn du das wirklich willst —, dann werde ich dich nicht daran hindern. So groß ist mein Verlangen nach dir. Aber ich habe trotzdem entsetzliche Angst. Ich glaube, wir hätten mehr Hoffnung auf Überleben, wenn wir kopfüber von diesem Turm stürzten. Und wenigstens wüßten wir dann, wie der Weg aussieht, der vor uns liegt.«

Ihre Hand lag auf den Steinen zwischen ihnen. Sie hob sie und berührte sein Gesicht.

»Du hast einen Namen und eine Bestimmung. Ich kann nur daran glauben, daß du früher oder später auf einen Funken Hoffnung stoßen wirst.«

»Bisher habe ich keinen gesehen. Nur dich. Wirst du mich in Hed heiraten?«

»Nein.«

Wieder schwieg er, während seine Augen die ihren festhielten.

»Warum nicht?«

Rasch wandte sie sich von ihm ab; er spürte einen plötzlichen, unverständlichen Aufruhr in ihr.

»Aus vielen Gründen.«

»Rendel —«

»Nein. Und frage mich nicht noch einmal. Und sieh mich nicht so an.«

»Also gut«, meinte er schließlich. »Ich hatte ganz vergessen«, fügte er hinzu, »daß du so eigensinnig bist.«

»Starrköpfig.«

»Starrköpfig.«

Sie sah ihn wieder an. Ihr Mund verzog sich zu einem widerstrebenden Lächeln. Sie rückte nahe an ihn heran, legte ihren Arm um seine Schultern und schwang ihre Füße über das Sims ins Nichts hinunter.

»Ich liebe dich, Morgon von Hed. Wohin reisen wir zuerst, wenn wir endlich dieses Haus verlassen? Nach Hed?«

»Ja. Nach Hed...« Der Name berührte plötzlich sein Herz, wie ein Zauberwort. »Ich habe zu Hause nichts verloren. Ich möchte einfach hirf. Für ein paar Stunden, nachts. Da wird vielleicht nichts zu fürchten sein.« Das Meer fiel ihm ein, das sie von seiner Heimat trennte, und Kälte umkrallte sein Herz. »Ich kann dich nicht über das Meer mit mir nehmen.«

»Warum nicht?« fragte sie.

»Es ist viel zu gefährlich.«

»Das ist doch unsinnig. Lungold ist auch gefährlich, und dorthin werde ich mit dir ziehen.«

»Das ist etwas anderes. Zum einen ist nie ein Mensch, den ich geliebt habe, je in Lungold zu Tode gekommen. Noch nicht jedenfalls. Zum zweiten —«

»Morgon, ich werde nicht im Meer sterben. Ich kann das Wasser wahrscheinlich so gut beherrschen wie das Feuer.«

»Das weißt du gar nicht mit Sicherheit. Oder?« Er sah sie im Wasser gefangen, dessen Wogen sich in meerbleiche Gesichter und naßglänzende Leiber verwandelten, und seine Stimme bebte vor Angst. »Dir bliebe nicht einmal Zeit, es zu lernen.«

»Morgon —«

»Rendel, ich war auf einem Schiff, das mitten auf dem Meer geborsten ist. Ich will dein Leben nicht auf diese Weise aufs Spiel setzen.«

»Es ist nicht dein Risiko. Es ist meines. Außerdem bin ich von Caithnard bis Kyrth und wieder zurück auf Schiffen gefahren, während ich nach dir suchte, und mir ist nichts zugestoßen.«

»Du könntest in Caithnard bleiben. Nur für ein paar —«

»Ich werde nicht in Caithnard bleiben«, fiel sie ihm heftig ins Wort. »Ich reise mit dir nach Hed. Ich möchte das Land sehen, das du liebst. Wenn es nach dir ginge, würde ich in einem kleinen Bauernhaus in Hed sitzen und Bohnen entschoten und brav auf dich warten, so wie ich beinahe zwei Jahre lang gewartet habe.« »Du entschotest aber keine Bohnen.«

»Nein. Höchstens, wenn du neben mir sitzt und mir hilfst.«

Er hatte ein Bild von sich selbst, wie er, ein magerer, sehniger, zottelhaariger Mann mit einem ausgemergelten, asketischen Gesicht, ein gewaltiges Schwert an seiner Seite und eine gestirnte Harfe über der Schulter, auf der Veranda von Akren saß, auf den Knien eine Schale mit Bohnen. Er lachte plötzlich. Sie lächelte ebenfalls wieder, während sie ihn ansah, und aller Streit war vergessen.

»Das ist das erste Mal seit sieben Tagen.«

»Ja.« Er saß ganz still, seinen Arm um sie, und das Lächeln in seinen Augen erlosch langsam. Er dachte an Hed, unbewehrt und angreifbar inmitten des Meeres, ohne den Schutz auch nur eines Trugbildes des Erhabenen. Er flüsterte: »Ich wünschte, ich könnte Hed mit einem Zauberwall umgeben, so daß nichts von dem Aufruhr des Festlandes es berühren könnte und es die Furcht niemals kennenzulernen brauchte.«

»Sprich mit Duac. Er wird dir ein Heer geben.«

»Ich wage es nicht, ein Heer nach Hed zu bringen. Das würde die Katastrophe herausfordern.«

»Nimm ein paar Geister mit«, schlug sie vor. »Duac wäre froh, sie los zu sein.«

»Geister.« Er hob die Augen von den fernen Wäldern, um sie anzusehen. »In Hed.«

»Sie sind unsichtbar. Keiner würde sie sehen und angreifen können.« Dann schüttelte sie den Kopf über ihre eigenen Worte. »Was rede ich da? Sie würden sämtliche Bauern in Hed in Beunruhigung stürzen.«

»Aber nicht, wenn die Bauern von ihrer Anwesenheit nichts wüßten.« Seine Hände, die die ihren umschlossen, waren plötzlich eiskalt. »Was geht mir da durch den Kopf?« hauchte er.

Sie rückte ein wenig von ihm ab und blickte ihm forschend in die Augen.

»Nimmst du das, was ich gesagt habe, denn ernst?«

»Ich glaube — ich glaube, ja.« Er sah nicht ihr Gesicht, sondern die Gesichter der Toten, voll von ungestilltem Machthunger. »Ich könnte sie bannen. Ich verstehe sie... Ihren Zorn, ihr Verlangen nach Rache, ihre Landliebe. Diese Liebe und all ihre Gier nach Krieg könnten sie nach Hed mitnehmen. Aber dein Vater — wie kann ich etwas einfach aus der Geschichte von An herausreißen und nach Hed führen, wo die Gefahr wartet? Ich kann nicht so willkürlich in das Landrecht von An eingreifen.«

»Duac hat die Erlaubnis gegeben. Und nach dem Interesse zu urteilen, das mein Vater für das Landrecht von An an den Tag legt, könnte er ebensogut selbst ein Geist sein. Aber was ist mit Eliard, Morgon?«

»Eliard?«

»Ich kenne ihn nicht, aber wäre er nicht — würde es ihn nicht vielleicht ein wenig beunruhigen, wenn du ein ganzes Heer von Toten nach Hed brächtest?«

Er dachte an den Landherrscher von Hed, seinen Bruder, an dessen Gesicht er sich kaum noch erinnern konnte.

»Ein wenig«, meinte er leise. »Er muß es inzwischen gewöhnt sein, von mir beunruhigt zu werden, selbst im Schlaf. Ich würde mein Herz unter seinen Füßen begraben, wenn das seine und Heds Sicherheit gewährleisten würde. Ich würde selbst einen Streit mit ihm darüber in Kauf nehmen —«

»Was wird er sagen?«

»Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn ja nicht einmal mehr.« Der Gedanke schmerzte ihn, brachte Wunden zum Bluten, die noch nicht verheilt waren. Aber das ließ er sie nicht sehen; widerstrebend glitt er vom Fenstersims. »Komm mit. Ich möchte mit Duac sprechen.«

»Nehmt sie«, sagte Duac. »Nehmt sie alle.«

Sie hatten ihn im großen Saal vorgefunden, wo er sich die Beschwerden der Bauern und der Boten der Edlen von An anhörte, deren Leben und Besitz die Unrast und die Zänkereien der Toten in Aufruhr gebracht hatten. Als der Saal sich schließlich leerte und Morgon mit ihm sprechen konnte, lauschte er ungläubig.

»Ihr wollt sie tatsächlich haben? Aber Morgon, sie werden den Frieden von Hed zerstören.«

»Nein, das werden sie nicht tun. Ich werde ihnen erklären, weshalb sie da sind —«

»Aber wie? Wie wollt Ihr Euch einer Horde von Toten verständlich machen, die auf Kuhweiden und Dorfangern einen jahrhundertealten Krieg ausfechten?«

»Ich werde ihnen ganz einfach das anbieten, was sie haben wollen. Einen Gegner, den sie bekriegen können. Aber, Duac, wie soll ich das Eurem Vater erklären?«

»Meinem Vater?« Duac ließ den Blick durch den Saal schweifen, dann hinauf zu den Dachbalken und schließlich hinüber in alle vier Ecken. »Ich kann ihn nirgends sehen. Und wenn ich ihn sehe, dann wird er so viel damit zu tun haben, den Lebenden Erklärungen abzugeben, daß keine Zeit bleiben wird, die Köpfe der Toten zu zählen. Wie viele wollt Ihr haben?«

»So viele, wie ich von jenen Königen und Kriegern, die einst Mitgefühl und Erbarmen kannten, unter meinen Bann stellen kann. Sie werden Mitgefühl und Erbarmen brauchen, um Hed zu verstehen. Rood könnte mir helfen —« Er brach unvermittelt ab, und Röte stieg Duac ins Gesicht. »Wo ist Rood? Ich habe ihn seit Tagen nicht gesehen.«

»Er ist seit Tagen nicht mehr hier gewesen.« Duac räusperte sich. »Es fiel Euch nicht auf. Deshalb beschloß ich zu warten, bis Ihr fragtet. Ich habe ihn ausgesandt, Thod zu finden.«

Morgon schwieg. Der Name warf ihn sieben Tage zurück, als stünde er jetzt wie damals in einem Strahl von Sonnenlicht, während sein Schatten vor ihm auf dem gesprungenen Steinboden lag. »Thod«, flüsterte er, und die Zweideutigkeit des Namens wollte ihn nicht mehr loslassen.

»Ich habe ihm Anweisung gegeben, den Harfner hierher zurückzubringen. Ich habe ihm vierzehn Bewaffnete mitgegeben. Ihr habt ihn gehen lassen, doch das entbindet ihn nicht seiner Verpflichtung, den Landherrschern des Reiches Rede und Antwort zu stehen. Ich hatte vor, ihn hier gefangenzulegen, bis die Meister in Caithnard ihn befragen könnten. Ich selbst nämlich will das gar nicht erst versuchen.« Mit zögernder Hand berührte er Morgon. »Ihr hättet nie erfahren, daß er hier ist. Ich bin nur verwundert, daß Rood noch nicht zurückgekehrt ist.«

Farbe kam langsam wieder in Morgons Gesicht.

»Mich wundert das nicht«, entgegnete er. »Ich möchte nicht in Roods Stiefeln stecken. Thod läßt sich von keinem befehlen.«

»Vielleicht.«

»Niemals wird Rood ihn hierher zurückbringen. Ihr habt ihn umsonst in das Chaos der Drei Teile hinausgeschickt.«

»Nun«, meinte Duac resigniert, »Ihr kennt den Harfner besser als ich. Und Rood hätte ihm so und so nachgestellt, ob ich ihn nun darum gebeten hätte oder nicht. Auch er hatte Fragen an den Harfner.«

»Diesem Rätselmeister stellt man die Fragen nicht mit einem Schwert. Das hätte Rood wissen müssen.«

Er hörte den harten Unterton, der sich in seine Stimme geschlichen hatte. Ein wenig heftig drehte er sich um, trat aus dem Licht und setzte sich an einem der Tische nieder.

Duac sagte hilflos: »Verzeiht mir. Es war etwas, was Ihr nicht hättet zu wissen brauchen.«

»Doch, ich muß es wissen. Ich wollte nur nicht denken. Noch nicht.« Er breitete seine Hände auf der satten, goldenen Maserung des Eichentisches aus und dachte wieder an Akren mit seinen sonnenbeschienenen Wänden aus Eichenholz. »Ich reise nach Hause.« Die Worte öffneten ihm das Herz, erfüllten es mit einem stechenden, süßen Verlangen. »Nach Hause. Duac, ich brauche Schiffe. Handelsschiffe.«

»Du willst die Toten über das Wasser führen?« fragte Rendel erstaunt. »Werden sie sich darauf einlassen?«

»Wie sonst sollen sie nach Hed kommen?« gab er zurück. Während er sein Spiegelbild betrachtete, das ihm aus dem glänzenden Holz verschwommen entgegenblickte, überlegte er. »Ich wage es nicht, dich auf einem Schiff mit ihnen reisen zu lassen. Deshalb — deshalb werden wir zusammen nach Caithnard reisen und sie dort erwarten. Gut?«

»Du willst durch Hel zurückreisen?«

»Wir könnten auch fliegen«, meinte er, doch sie schüttelte hastig den Kopf.

»Nein. Ich reite.«

Er musterte sie, aufmerksam geworden durch einen seltsamen Unterton in ihrer Stimme.

»Es wäre doch einfach für dich, die Gestalt einer Krähe anzunehmen.«

»Eine Krähe in der Familie ist genug«, entgegnete sie finster. »Morgon, Bri Corvett könnte dir Schiffe besorgen. Und Leute, die bereit sind, sie zu segeln.«

»Es wird ein kleines Vermögen kosten, sie dazu zu bewegen«, bemerkte Morgon, doch Duac zuckte nur die Achseln.

»Die Toten haben uns bereits ein großes Vermögen gekostet. Sie haben unsere Ernte zerstört und zahllose Tiere getötet. Morgon, wie, in Hels Namen, wollt Ihr sie in Hed beherrschen?«

»Sie werden kein Verlangen haben, mich zu bekämpfen«, gab er schlicht zurück, und Duac schwieg, während er ihn aus klaren, meerfarbenen Augen nachdenklich betrachtete.

»Ich möchte wirklich gern wissen«, sagte er langsam, »was Ihr seid. Ein Mensch aus Hed, der die Toten von An beherrschen kann... Der Sternenträger.«

Morgon sah ihn mit Dankbarkeit an. »Wärt Ihr nicht gewesen, so hätte ich in diesem Saal vielleicht meinen eigenen Namen hassen gelernt.« Er stand auf, in Gedanken bei dem Problem, das es jetzt zu bewältigen galt. »Duac, ich muß die Namen wissen. Ich könnte Tage damit zubringen, die Gräber mit meinem Geist zu durchforschen, aber ich weiß nicht, wen ich dann erwecke. Ich weiß viele der Königsnamen aus den Drei Teilen, aber die Geringeren unter den Toten sind mir unbekannt.«

»Auch mir«, erwiderte Duac.

»Ich weiß, wo wir ihre Namen finden können«, erklärte Rendel seufzend. »Dort, wo ich die meiste Zeit verbrachte, als ich ein Kind war. In der Bibliothek unseres Vaters.«

Sie und Morgon brachten den Rest des Tages und den ganzen Abend dort zu, vergraben zwischen alten Büchern und verstaubten Pergamentrollen, während Duac zum Hafen hinuntersandte und Bri Corvett holen ließ. Als es Mitternacht wurde, hatte Morgon in den Tiefen seines Geistes zahllose Namen von Kriegsherren, ihren Söhnen und weitverzweigten Familien verankert, hatte sich die Legenden von Liebe, Blut und Krieg zueigen gemacht, die die ganze Geschichte von An durchwirkten. Danach verließ er das Haus, schritt allein durch die stille Sommernacht in die Felder hinter dem Haus des Kö-nigs, wo die Gebeine der vielen ruhten, die in den Schlachten um Anuin umgekommen waren. Und dort rief er sie.

Mit seiner Stimme und mit seinem Geist sprach er Namen um Namen, während er jene Fragmente von Wahrheit oder Dichtung wieder auferstehen ließ, derer er sich erinnern konnte. Die Toten erhoben sich beim Klang ihrer Namen, traten aus den Obstpflanzungen und aus den Wäldern, tauchten aus der Erde selbst empor. Manche ritten ihm mit wilden, gespenstischen Schreien entgegen, während ihre Rüstung über den bleichen Gebeinen im Mondlicht wie Feuer blitzte. Andere kamen schweigend; finstere, grimmige Gestalten, die ihre schrecklichen Todeswunden zeigten. Sie wollten ihn ängstigen, doch er blickte ihnen aus Augen entgegen, die bereits alles gesehen hatten, was er fürchten mußte. Sie wollten ihn bekriegen, doch er öffnete ihnen seinen Geist und ließ sie eine Ahnung seiner Kraft und seiner Macht spüren. Er hielt sie in Schach, während sie ihn immer wieder herausforderten, bis sie in langer Reihe, die von einem Ende des Feldes zum anderen reichte, vor ihm standen und ehrfürchtige Scheu und Neugier sie aus ihren Erinnerungen rissen, so daß sie etwas von der Welt sehen konnten, in die sie freigesetzt worden waren.

Dann erklärte er, was er wollte. Er erwartete nicht, daß sie Hed verstehen würden, doch sie verstanden ihn, seinen Zorn, seine Verzweiflung und seine Liebe zum Land. In einem Ritual, das so alt war wie An, schworen sie ihm den Treueeid, und ihre modrigen Schwertklingen blitzten grau im Mondlicht. Dann verschmolzen sie langsam wieder mit der Nacht, mit der Erde, um zu warten, bis er sie erneut rief.

Wieder stand er allein auf einem stillen Feld, den Blick auf eine reglose, dunkle Gestalt gerichtet, die sich nicht entfernte. Er beobachtete sie neugierig; als sie sich noch immer nicht rührte, berührte er vorsichtig ihren Geist. Augenblicklich war sein eigener Geist erfüllt vom lebenden Landrecht von An.

Hart schlug ihm sein Herz gegen die Rippen. Der König von An ging langsam auf ihn zu, ein hochgewachsener Mann in Kutte und Kapuze wie ein Rätselmeister oder ein Geist. Als er näher kam, konnte Morgon seine Züge im Mondlicht erkennen. Die dunklen Brauen in dem müden, bitteren Gesicht saßen über einem Paar Augen, die ihn an Rood erinnerten. Dicht vor ihm blieb der König stehen und musterte ihn schweigend.

Ganz unerwartet lächelte er, und die Bitterkeit in seinen Augen wich staunender Verwunderung.

»Ich habe Euch in meinen Träumen gesehen«, sagte er. »Sternenträger.«

»Mathom.« Seine Kehle war trocken. Er neigte den Kopf vor dem König, den er aus der Nacht von An hervorgerufen hatte. »Ihr müßt — Ihr wundert Euch gewiß, was ich tue.«

»Nein. Ihr habt es ja deutlich kundgetan, als Ihr es dem Heer, das Ihr zusammengerufen habt, erklärtet. Ihr vollbringt erstaunliche Dinge in meinem Land.«

»Ich habe mir Duacs Erlaubnis geholt.«

»Ich bin überzeugt, Duac war dankbar über Euren Vorschlag. Ihr wollt sie zu Schiff nach Hed bringen? Habe ich da richtig gehört?«

»Ich — ich hatte vor, mit Rendel nach Caithnard zu reiten und dort auf die Schiffe zu warten, jetzt aber glaube ich, daß es vielleicht besser ist, wenn ich mit den Toten segle. Es würde den Lebenden ihre Aufgabe erleichtern, wenn ich an ihrer Seite bin.«

»Ihr nehmt Rendel mit Euch nach Hed?«

»Sie — sie läßt nicht mit sich reden.«

Der König brummte. »Eine seltsame Frau.« Seine Augen waren so scharf und neugierig wie die eines Vogels, während sie sich mühten, hinter Morgons Worte zu blicken.

Morgon fragte ihn unvermittelt: »Was von mir habt Ihr in Euren Träumen gesehen?«

»Bruchstücke. Fetzen. Wenig, was Euch helfen wird, und weit mehr, als für mich gut ist. Vor langer Zeit träumte mir, Ihr kämt mit einer Krone in Euren Händen und drei Sternen auf Eurem Gesicht aus einem Turm. Aber der Name träumte mir nicht. Ich sah Euch mit einer schönen jungen Frau, von der ich wußte, daß sie meine Tochter war, aber noch immer blieb mir verborgen, wer Ihr wart. Ich sah.« Er schüttelte den Kopf und wandte den Blick von irgendeinem verwirrenden, gefährlichen Bild.

»Was?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Mathom.« Ihm war plötzlich kalt in der warmen Sommernacht. »Seid vorsichtig. Es sind Dinge in Eurem Geist, die Euch das Leben kosten könnten.«

»Oder mein Landrecht?« Seine magere Hand umschloß Morgons Schulter. »Vielleicht. Das ist der Grund, weshalb ich selten meine Gedanken erkläre. Kommt mit ins Haus. Es wird ein Donnerwetter geben, wenn ich zurückkehre, doch wenn Ihr das geduldig ertragen könnt, dann haben wir später Zeit, miteinander zu reden.« Er setzte sich in Bewegung, doch Morgon folgte ihm nicht. »Was ist?«

Morgon schluckte. »Ich muß Euch etwas sagen. Bevor ich mit Euch in Euren großen Saal gehe. Vor sieben Tagen stürzte ich dort hinein, um einen Harfner zu töten.«

Er hörte, wie der König scharf Atem holte.

»Thod kam hierher.«

»Ich habe ihn nicht getötet.«

»Aus irgendeinem Grund überrascht mich das nicht.« Seine Stimme klang hohl, als käme sie aus der Tiefe einer Gruft. Er zog Morgon mit sich zu dem mächtigen Haus, das weiß im Mondlicht stand. »Berichtet mir.«

Morgon berichtete ihm noch viel mehr, ehe sie den Saal erreichten. Er sprach sogar ein wenig von den vergangenen sieben Tagen, die ihm so kostbar waren, daß er sich manchmal fragte, ob es sie wirklich gegeben hatte. Mathom sagte wenig, ließ nur hin und wieder einen undeutlichen, kehligen Laut hören, der wie das Murmeln einer Amsel klang. Als sie in den Innenhof gelangten, sahen sie schnaubende, schwitzende Pferde, die zu den Stallungen geführt wurden. Ihre Statteldecken, purpurn und blau, trugen die Farben der königlichen Wache. Mathom fluchte leise.

»Rood scheint zurück zu sein. Mit leeren Händen, wütend und ungewaschen, von Geistern gejagt.«

Sie betraten den Saal, der im strahlenden Licht unzähliger Fackeln lag, und Rood, der zusammengesunken über einem Becher Wein saß, starrte seinen Vater fassungslos an. Duac und Rendel waren an seiner Seite. Sie drehten die Köpfe, doch er war als erster auf den Füßen, und seine Stimme übertönte die ihren.

»Wo, in Hels Namen, bist du gewesen?«

»Schrei mich nicht an«, gab der König gereizt zurück. »Wenn du nicht mehr Verstand hast, als in diesem Chaos auf der Jagd nach diesem Harfner herumzuirren, dann bekommst du von mir kein Mitleid.«

Er wandte seinen Blick zu Duac, während Rood, noch immer offenen Mundes, sich wieder in seinen Sessel fallen ließ. Duac blickte den König mit Kälte an, doch seine Stimme war beherrscht.

»So, so. Was hat dich nach Hause zurückgeführt? Fällst da plötzlich aus dem Himmel nieder wie ein böser Zauber! Doch nicht etwa die Bekümmerung über das Unheil, das du durch deine Abwesenheit hier angerichtet hast!«

»Nein«, antwortete Mathom unerschüttert, während er sich Wein eingoß. »Du und Rood habt eure Sache ohne mich sehr gut gemacht.«

»Was haben wir ohne dich sehr gut gemacht?« stieß Rood zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ist dir klar, daß wir am Rande eines Krieges stehen?«

»Ja. Und An hat sich in bemerkenswert kurzer Zeit dafür gerüstet. Selbst du hast dich in weniger als drei Monaten vom Gelehrten zum Krieger gewandelt.«

Rood holte tief Luft, um eine heftige Erwiderung zu geben. Duacs Hand schlug plötzlich hart auf seinen Arm und brachte ihn zum Schweigen.

»Krieg?« Duacs Gesicht hatte alle Farbe verloren. »Mit wem?«

»Wer steht noch unter Waffen?«

»Ymris?« Er wiederholte es ungläubig. »Ymris?«

Mathom trank von seinem Wein. Sein Gesicht sah älter aus als zuvor im Schein des Mondlichts, hager und von Müdigkeit gezeichnet. Er setzte sich neben Rendel nieder.

»Ich habe den Krieg in Ymris gesehen«, sagte er leise. »Die Hälfte der Küstengebiete ist in der Hand der Rebellen. Es ist ein geheimnisvoller, blutiger, erbarmungsloser Krieg, und er wird die Kräfte von Heureu Ymris erschöpfen. Er hat keine Hoffnung, ihn auf sein eigenes Land zu beschränken, wenn jene, gegen die er kämpft, beschließen, den Krieg über die Grenzen von Ymris hinauszutragen. Diesen Verdacht hatte ich schon früher, doch selbst ich konnte von den Drei Teilen nicht verlangen, sich zu bewaffnen, ohne einen Grund anzugeben. Und hätte ich einen Grund angegeben, so hätte das vielleicht einen Angriff noch heraufbeschworen.«

»Du bist absichtlich verschwunden?« flüsterte Duac. »Du hast uns im Stich gelassen, damit wir uns bewaffnen würden?«

»Es war eine extreme Maßnahme«, bekannte Mathom, »aber sie hat gewirkt.«

Er warf wieder einen Blick auf Rood, als dieser den Mund öffnete und mit gesenkter Stimme sprach.

»Wo warst du? Und hast du jetzt vor, eine Weile zu Hause zu bleiben?«

»Ich war hier und dort, bin den Neigungen meiner Neugier gefolgt. Und ja, ich denke, ich werde jetzt hier bleiben. Wenn du es dir verkneifen kannst, mich anzuschreien.«

»Wenn du nicht so starrköpfig wärst, würde ich nicht schreien.«

Mathom machte ein skeptisches Gesicht.

»Du hast sogar den Dickschädel eines Kriegers. Was wolltest du eigentlich mit Thod anfangen, wenn du seiner habhaft geworden wärst?«

Ein kurzes Schweigen trat ein.

»Ich hätte ihn früher oder später zu Schiff nach Caithnard gesandt«, erklärte Duac, »und es den Rätselmeistern überlassen, ihn zu befragen.«

»Die Schule in Caithnard ist kein Gerichtshof.«

Duac sah ihn an, und in seinen Augen blitzte Zorn.

»Dann sag du mir, was du getan hättest? Wenn du statt meiner hier gewesen wärst und erlebt hättest, wie Morgon — wie Morgon allein auf sich gestellt um Gerechtigkeit kämpfen mußte gegen einen Mann, der an kein Gesetz des Reiches gebunden ist, der jeden im Reich verraten hat — was hättest du dann getan?«

»Gerechtigkeit«, wiederholte Mathom leise. Morgon blickte ihn an, während er auf seine Antwort wartete. Er sah den fernen Widerschein von Schmerz in den dunklen, müden Augen. »Er ist der Harfner des Erhabenen. Ich würde es dem Erhabenen überlassen, ihn zu richten.«

»Mathom?« sagte Morgon, den die Frage bedrängte, was der König in seinem Geiste sah.

Doch Mathom antwortete ihm nicht. Auch Rendel sah ihn wartend an. Der König strich ihr leicht über das Haar, doch keiner von beiden sprach.

»Der Erhabene!« sagte Rood. Nichts von der Härte des Kriegers lag mehr in seiner Stimme. Die Worte waren ein Rätsel voller Bitterkeit und Verzweiflung, ein Flehen um eine Antwort. Seine Augen trafen die von Morgon, mit einem vertrauten Aufblitzen von Selbstironie. »Du hast meinen Vater gehört. Ich bin kein Rätselmeister mehr. Dieses Rätsel wirst du beantworten müssen, Rätselmeister.«

»Ja, ich werde es beantworten«, erwiderte er müde. »Es scheint, daß ich keine Wahl habe.«

»Ihr seid viel zu lange hiergeblieben«, bemerkte Mathom.

»Ich weiß. Ich konnte nicht fort. Jetzt werde ich gehen...«: Er warf einen Blick auf Duac. »Morgen? Sind die Schiffe bis morgen bereit?«

Duac nickte. »Bri Corvett sagte mir, daß sie mit der Ebbe um Mitternacht auslaufen werden. Er hat noch eine Menge mehr zu mir gesagt, als ich ihm erklärte, was Ihr wollt. Aber er kennt Männer, die gegen Gold bereit sind, selbst eine Ladung von Toten zu befördern.«

»Morgen«, murmelte Mathom.

Er blickte zuerst auf Morgon und dann auf Rendel, die schweigend in das Licht einer tropfenden Kerze starrte. Ihr Gesicht war trotzig, als bereitete sie sich auf eine Auseinandersetzung vor. Mathom schien hinter seinen schwarzen, unergründlichen Augen seine eigenen Vermutungen anzustellen. Sie hob langsam den Blick, als spürte sie seine Gedanken.

»Ich reise mit Morgon, und ich bitte dich nicht, uns zu verheiraten. Willst du nicht einmal Widerspruch erheben?«

Er schüttelte seufzend den Kopf.

»Ich bin zu alt und zu müde, um zu streiten, und das einzige, was ich für euch beide wünsche, ist, daß ihr irgendwo in diesem von Unrast geschüttelten Reich euren Frieden findet.«

Sie starrte ihn an. Ihr Gesicht begann plötzlich zu beben, und sie streckte die Arme nach ihm aus, während Tränen ihr über die Wangen liefen.

»Oh, warum warst du nur so lange fort?« flüsterte sie, als er sie fest an sich drückte. »Ich brauchte dich.«

Er sprach mit ihr und mit Morgon, bis die Kerzen in ihren Haltern heruntergebrannt waren und die Fenster bleich wurden vom grauen Licht der Morgendämmerung. Sie schliefen fast den ganzen folgenden Tag, und spät am Abend, als die Welt wieder still war, führte Morgon sein Heer von Toten zum Hafen von Anuin.

Sieben Handelsschiffe lagen im Mondlicht vertäut, beladen mit feinen Tuchen und Gewürzen. Morgon, in dessen Geist eine wirre Masse von Namen, Gesichtern und Erinnerungen aus den Gehirnen der Toten brodelte, sah zu, wie die Krieger langsam im dunklen Hafen schattenhaft Gestalt annahmen. Bewaffnet und gepanzert warteten sie schweigend auf ihren Pferden. Die Stadt hinter ihnen lag im Dunklen; die schwarzen Finger der Masten im Hafen hoben sich mit der Dünung, um die Sterne zu berühren, und sanken wieder nieder. In traumhafter Stille hatten sich die Toten unter den Augen Duacs und Bri Corvetts und der schaudernden Seeleute auf den Schiffen versammelt. Gerade wollten sie an Bord gehen, als ein Pferd das Dock heruntergaloppierte und Morgon aus seiner Konzentration riß. Wie benommen starrte er auf Rendel, als diese vom Pferd sprang, konnte nicht verstehen, wieso sie nicht noch schlafend auf ihrem Lager lag. Während sein Geist sich mit ihrer unerwarteten Anwesenheit herumschlug, wurde er langsam wieder in die Nacht der Lebenden zurückgezogen. Nicht weit von ihnen brannte eine einsame Fackel; ihr Licht übergoß Rendels Haar, das sich aus den mit Edelsteinen besetzten Nadeln löste, mit einem feurigen Glanz. Ihr Gesicht konnte er nicht gut sehen.

»Ich komme mit dir nach Hed«, sagte sie.

Er hob die Hand, um ihr Gesicht dem Licht zuzuwenden. Die Verärgerung darin holte ihn in die Gegenwart zurück.

»Wir haben das doch besprochen«, versetzte er. »Nicht auf diesen Schiffen, die voll sind von den Geistern der Toten.«

»Du hast es mit meinem Vater besprochen. Du hast vergessen, mit mir darüber zu sprechen.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, merkte, daß er schwitzte. Bri Corvett stand nicht weit von ihnen über die Reling gelehnt, sein Ohr auf ihre Stimmen gerichtet, sein Auge aufs Wasser.

»Herr«, rief er leise, »wenn wir nicht bald auslaufen, sitzen hier sieben Schiffe voller Toter bis zum Morgen fest.«

»Gut.« Er reckte sich, um die stechenden Knoten der Anspannung in seinem Rücken zu lockern. Rendel verschränkte die Arme. Er fing eine Nadel auf, die ihr aus dem Haar fiel. »Es wäre das beste, wenn du durch Hel nach Caithnard hinaufreitest und dort auf mich wartest.«

»Du wolltest mit mir reiten. Nicht mir einer Ladung von Geistern nach Hed segeln.«

»Ich kann nicht ein Heer von Toten über Land nach Caithnard führen und sie dort aufs Schiff bringen, wo sämtliche Händler —

«

»Darum geht es nicht. Der springende Punkt ist: Ganz gleich, auf welchem Weg du nach Hed reist, ich komme mit dir. Der springende Punkt ist: Du wolltest direkt nach Hed segeln und mich in Caithnard auf dich warten lassen.«

Zornig blickte er sie an. »Das ist nicht wahr«, erwiderte er empört.

»Aber es wäre dir schon noch eingefallen«, gab sie kurz zurück. »Unterwegs wäre es dir bestimmt eingefallen, mich sicher und wohlbehalten wie ein braves Bräutchen in Caithnard warten zu lassen. Ich habe ein Bündel auf meinem Pferd. Ich kann jederzeit abreisen.«

»Nein. Vier Tage lang mit mir und den Toten von An auf hoher See, das kommt nicht in Frage.«

»Doch.«

»Nein.«

»Doch.«

»Nein!«

Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Schatten verdunkelten sein hageres Gesicht, während er sie betrachtete. Das Fackellicht streichelte ihr Gesicht, so wie er es in den vergangenen Tagen gestreichelt hatte. Licht sammelte sich in ihren Augen, und ihm fiel ein, daß sie in die Augen eines Totenschädels geblickt und toten Königen Trotz geboten hatte.

»Nein«, sagte er nochmals mit Härte. »Ich weiß nicht, was für Spuren die Toten auf dem Wasser zurücklassen werden. Ich weiß nicht —«

»Du weißt nicht, was du tust. Du weißt nicht, ob dir irgendwo Sicherheit beschieden ist, ob dir nicht auch in Hed Gefahr droht.«

»Und genau das ist der Grund, weshalb ich dich nicht auf diese Schiffe lassen werde.«

»Und genau das ist der Grund, weshalb ich an deiner Seite sein werde. Mir wenigstens wurde bei der Geburt ein Wissen um das Meer mitgegeben.«

»Und wenn es das Holz unter deinen Füßen zertrümmert und Planken und Gewürze und die Toten in die Wellen schleudert, was willst du dann tun? Du wirst ertrinken, weil ich dich nicht werde retten können, ganz gleich, welche Gestalt ich annehme, und was werde ich dann tun?«

Sie schwieg. Die Toten, die hinter ihr aufgereiht standen, schienen ihn mit dem gleichen unzugänglichen, unversöhnlichen Ausdruck anzusehen. Langsam wandte er sich um. Seine Hände öffneten sich und schlössen sich wieder. Er fing den spöttischen Blick eines der Könige auf und ließ seinen Geist still werden. Ein Name rührte Schatten der Erinnerung hinter den toten Augen auf. Gleich darauf regte sich der Geist des Toten, verschwamm mit der Luft und der Dunkelheit und ging aufs Schiff.

Wieder verlor er alles Zeitgefühl, während die sieben Handelsschiffe sich langsam füllten. Die Stimmen von Jahrhunderten murmelten in ihm und vermischten sich mit dem Plätschern des Wassers und dem Klang der Stimmen von Duac und Rendel, die in irgendeinem fernen Land miteinander sprachen. Endlich gelangte er zum letzten Namen und begann zu sehen.

Die dunklen, stillen Schiffe schaukelten unruhig auf dem Wasser. Kapitäne gaben mit gedämpften Stimmen ihre Befehle, als fürchteten sie, sie könnten die Toten wecken, wenn sie zu laut sprächen. Auf leisen Sohlen huschten Seeleute über die Decks. Rendel und Duac standen allein und schweigend auf dem Pier und ließen Morgon nicht aus den Augen. Er ging zu ihnen. Ein salziger Wind, der vorher nicht geblasen hatte, trocknete den Schweiß auf seinem Gesicht.

»Ich danke Euch«, sagte er zu Duac. »Ich weiß nicht, wie dankbar Eliard sein wird, aber es ist der beste Schutz, den ich mir für Hed denken kann, und das ist mir eine Beruhigung. Sagt Mathom. Sagt ihm —« Er brach ab und suchte nach den rechten Worten.

Duac legte eine Hand auf seine Schulter.

»Er weiß es schon. Seid vorsichtig.«

»Natürlich.« Er drehte den Kopf und traf Rendels Blick. Sie rührte sich nicht, und sie sagte kein Wort, machte ihn so ebenfalls sprachlos, und er verlor sich erneut in Erinnerungen. Schließlich brach er ihr Schweigen, als bräche er einen Bann.

»Wir sehen uns in Caithnard.«

Er küßte sie und wandte sich rasch ab. Mit großen Schritten eilte er auf das Führungsschiff. Die Rampe wurde hinter ihm hochgezogen. Bri Corvett stand an einer offenen Luke.

Als Morgon die Leiter in den lichtlosen Laderaum hinunterstieg, fragte er besorgt: »Wollt Ihr wirklich da unten bei den Toten bleiben?«

Morgon nickte wortlos. Bri schloß die Luke hinter ihm. Er stolperte über Tuchballen und fand schließlich einen Stapel von Gewürzsäcken, auf dem er sich niederließ. Er spürte, wie das Schiff langsam aus dem Hafen glitt, fort von Anuin, dem offenen Meer entgegen. Er saß gegen die Planken des Laderaums gelehnt, hörte das Klatschen des Wassers, das von außen ans Holz schlug. Stumm und unsichtbar umgaben ihn die Toten, und ihre Seelen wurden still, als sie ihrer Vergangenheit davonsegelten. Morgon ertappte sich dabei, wie er versuchte, ihre Gesichter aus dem schwarzen Dunkel herauszuheben. Er zog die Knie hoch, drückte sein Gesicht gegen, die Arme und lauschte dem Wasser. Wenig später hörte er, wie die Luke geöffnet wurde.

Lautlos holte er Atem und blies die Luft wieder aus. Licht flackerte vor seinen geschlossenen Lidern. Jemand stieg die Leiter herab, bahnte sich einen Weg zwischen Säcken und Tuchballen hindurch, setzte sich neben ihm nieder. Würziger Duft von Pfeffer und Ingwer wehte auf. Die Luke wurde wieder geschlossen.

Er hob den Kopf und sagte zu Rendel, die nur ein Schemen war, das er atmete, die nur einen feinen Hauch frischer Meeresluft verströmte: »Willst du denn dein Leben lang mit mir streiten?«

»Ja«, antwortete sie trotzig.

Er ließ den Kopf wieder auf die Knie sinken. Nach einer Weile hob er einen Arm, fand in der Dunkelheit ihr Handgelenk und dann ihre Finger. Er starrte in die Nacht, während er ihre von Narben gezeichnete linke Hand in seinen beiden hielt und an sein Herz drückte.

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