Vier Nächte später trafen sie in Hed ein. Sechs der Handelsschiffe waren nach Westen in den Kanal abgeschwenkt, um in Caithnard zu warten; Bri segelte sein Schiff nach Tol. Morgon, der erschöpft war vom stetigen Horchen auf Unheil und Verhängnis, wurde aus einem leichten Dämmerschlaf gerissen, als der Rumpf des Schiffes leicht gegen das Dock prallte. Schreckhaft fuhr er hoch und hörte, wie Bri mit irgend jemandem schimpfte. Die Luke öffnete sich; Licht blendete ihn. Er roch Erde.
Sein Herz begann plötzlich heftig zu hämmern. Rendel, die in Pelze eingehüllt neben ihm lag, hob schläfrig den Kopf.
»Ihr seid zu Hause«, verkündete Bri, der lächelnd hinter dem Licht stand.
Morgon stand auf und kletterte zum Deck hinauf. Tol war eine Handvoll von Häusern, die verstreut im Schatten der dunklen Küstenfelsen lagen. Die warme, stille Luft roch vertraut nach Kühen und Getreide.
Er wurde sich erst bewußt, daß er gesprochen hatte, als Bri das Licht löschte und ihm antwortete.
»Noch vor Mitternacht. Wir haben es schneller geschafft, als ich dachte.«
Eine Woge rollte träge den Strand hinauf, zerfloß in einem Gespinst silbern schimmernden Schaums, als sie sich brach. Knochenbleich wand sich die Küstenstraße vom Hafen weg, um im Schatten der Felsen zu verschwinden. Morgon blickte zur Höhe der Felsen hinauf, um jene Stelle zu suchen, wo ihr helles Band wieder auftauchte, um Weiden und Felder zu teilen, bis es schließlich an der Schwelle von Akren abriß. Seine Hände an der Reling verkrampften sich; aus blinden Augen blickte er zurück auf die lange, gewundene Straße, die ihn auf einem Schiff voll von Toten nach Hed geführt hatte, und die Küstenstraße nach Akren schien ihm plötzlich nicht viel mehr als ein weiteres kurzes Stück Wegs, das in die Finsternis führte.
Rendel sprach seinen Namen, und seine Hände lockerten sich.
Er hörte das Aufschlagen der Rampe auf dem Dock.
»Ich bin vor Morgengrauen zurück«, sagte er zu Bri. Mit einer raschen Bewegung berührte er die Schulter des Kapitäns. »Danke Euch.«
Er führte Rendel vom Hafen fort, vorbei an den träumenden Fischerhäusern und den morschen, alten Booten, auf denen die Möwen schliefen. Den Weg, der durch die Schatten zum Felsplateau hinaufführte, hatte er noch im Kopf. Sanft gekräuselt lagen die Felder im Mondlicht, umwogten Hügel und Gräben, um sich aus allen Richtungen um Akren zu schließen. Die Nacht war still; als er lauschte, hörte er die trägen, friedlichen Atemzüge der Kühe und das sachte Wimmern eines Hundes, der träumte. Auf Akren brannte ein Licht, über der Veranda, meinte Morgon, doch als sie näher kamen, sah er, daß der Lichtschein aus dem Inneren des Hauses drang. Rendel, die schweigend an seiner Seite ging, ließ ihren Blick über niedrige Mauern schweifen, die die Felder abgrenzten, über Reihen von Bohnenstangen, über halbreifen Weizen. Sie brach ihr Schweigen erst, als sie so nahe an Akren herangekommen waren, daß man die Linien des Daches sehen konnte, die sich schräg vor dem Sternenhimmel abhoben.
»So ein kleines Haus«, sagte sie überrascht.
Er nickte. »Kleiner, als ich es in Erinnerung habe.«
Seine Kehle war wie zugeschnürt. In einem Stubenfenster sah er Bewegung im trüben Kerzenlicht, und er fragte sich, wer so spät in der Nacht im Haus noch aufsaß. Dann traf ihn unerwartet der Geruch nach feuchter Erde und rankendem Wurzelwerk; Erinnerung auf Erinnerung durchdrang ihn mit Trieben und Wurzeln von Landrecht, bis er den Bruchteil einer Sekunde lang seinen Körper gar nicht mehr spürte und sein Geist sich im endlosen Wurzelwerk Heds verästelte.
Er mußte stehenbleiben, weil ihm der Atem stockte. Die Gestalt am Fenster bewegte sich. Das Licht verdunkelnd, starrte sie in die Nacht hinaus: groß, breitschultrig, gesichtslos. Abrupt drehte sie sich um, eilte an den Fenstern der Stube vorbei. Die Türen von Akren flogen krachend auf; ein Hund bellte einmal.
Morgon hörte Schritte. Sie durchquerten den Hof und blieben vor dem schrägen Schatten des Daches stehen.
»Morgon?« Fragend hing der Name in der stillen Luft. Dann wurde aus der Frage ein Ruf, der sämtliche Hunde weckte, als sein Echo über die Felder flog. »Morgon!«
Eliard war bei ihm, noch ehe er eine Bewegung machen konnte. Er hatte nur einen flüchtigen Eindruck von buttergelbem Haar, muskelbepackten Schultern und einem Gesicht, das im Mondlicht eine frappante Ähnlichkeit mit dem ihres Vaters hatte. Dann umschlang Eliard ihn mit beiden Armen und drückte ihm die Luft ab, während er mit den Fäusten hart auf Morgons Schultern schlug.
»Du hast dir Zeit gelassen«, sagte er.
Er weinte. Morgon wollte sprechen, doch seine Kehle war zu trocken; er senkte seine brennenden Augen an Eliards massige Schulter.
»Du Bär«, flüsterte er. »Willst du dich wohl beruhigen?«
Eliard schob ihn von sich weg, begann, ihn zu schütteln.
»Ich hab’ deinen Geist in mir gespürt, so wie ich ihn in meinen Träumen spürte, als du in jenem Berg gefangen warst.« Tränen rannen ihm über das Gesicht. »Morgon, verzeih mir, verzeih mir —«
»Eliard.«
»Ich wußte, daß du in Nöten warst, aber ich habe nichts getan — ich wußte nicht, was ich tun sollte —, und dann bist du gestorben, und die Landherrschaft ging an mich über. Und jetzt bist du wieder da, und ich habe alles, was dir gehört. Morgon, ich schwöre es, wenn es einen Weg gäbe, würde ich mir die Landherrschaft aus der Seele reißen und sie dir zurückgeben.«
Morgons Hände schlössen sich in plötzlicher, grimmiger Umklammerung um seine Arme, und er brach ab.
»Sag das nie wieder zu mir. Nie wieder.«
Eliard starrte ihn wortlos an, und Morgon spürte, während er ihn so hielt, daß er in sich die ganze Kraft und Unschuld von Hed barg.
»Du gehörst hierher«, sagte er ruhiger. »Und mehr als sonstwo brauche ich dich hier in Hed, das Land zu hüten und zu bewahren.«
»Aber Morgon — du gehörst doch hierher. Dies ist deine Heimat, du bist nach Hause gekommen —«
»Ja. Bis zum Morgengrauen.«
»Nein!« Wieder bohrten sich seine Finger in Morgons Schultern. »Ich weiß nicht, wovor du auf der Flucht bist, aber ich werde nicht zulassen, daß du wieder fortgehst. Du bleibst hier; wir können für dich kämpfen, mit Heugabeln und Eggen, wenn es sein muß. Ich leihe mir irgendwo ein Heer aus —«
»Eliard —«
»Sei still! Du magst zupacken können wie ein Schraubstock, aber du kannst mich nicht mehr in Tristans Rosenbüsche werfen. Du bleibst hier, wo du hingehörst.«
»Eliard, willst du wohl aufhören zu brüllen!«
Er schüttelte Eliard ein wenig, und er war so erstaunt über die plötzliche Heftigkeit, daß er schwieg.
Da stürzte wie ein kleiner Wirbelwind Tristan aus dem Haus, umringt von den bellenden, springenden Hunden. Sie sprang an Morgon hoch, ihre Arme umklammerten seinen Hals, und sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Er küßte ihr Haar und ihre Wangen, schob sie dann von sich weg, hob ihr Gesicht mit seinen Händen. Er erkannte es kaum wieder. Es begann zu zucken, als sie ihm in die Augen blickte, und wieder warf sie die Arme um seinen Hals. Dann entdeckte sie Rendel und streckte die Arme nach ihr aus, und die Hunde tobten kläffend um Morgon herum.
In den Fenstern ferner Bauernhäuser flammten ein paar Lichter auf. Einen Moment lang fühlte sich Morgon von Panik gepackt. Dann wurde er einfach still, so still wie das reglose Band der Straße unter seinen Füßen, wie die vom Mondlicht durchflutete Luft. Die Hunde ließen von ihm ab; Tristan und Rendel hörten auf zu sprechen, um ihn anzusehen. Eliard stand ganz ruhig da, unbewußt in Morgons Stille gefangen.
»Was ist?« fragte er voll Unbehagen.
Morgon wartete nur einen Moment, dann trat er zu ihm und legte ihm müde einen Arm um die Schultern.
»Eliard«, sagte er, »allein durch meine Anwesenheit hier bringe ich euch in Gefahr. Gehen wir wenigstens ins Haus.«
»Gut.«
Doch er rührte sich nicht. Sein Gesicht wandte sich von Morgon ab, und sein Blick schweifte zu Rendel, deren Gesicht ein helles, von dunklen Linien und Flecken beschattetes Oval war. Hier und dort blitzten Edelsteine im zerzausten Haar, sprenkelten es mit Feuer. Sie lächelte, und Morgon hörte, wie Eliard schluckte.
»Rendel von An?« fragte er zaghaft, und sie nickte.
»Ja.« Sie streckte ihm die Hand hin, und Eliard nahm sie, als wäre sie aus Spreu und könnte jederzeit vom Wind fortgeblasen werden. Er schien die Sprache verloren zu haben.
Tristan sagte stolz: »Wir sind bis nach Isig und wieder zurück gesegelt, um Morgon zu suchen. Wo warst du? Wo hast du —?« Sie geriet plötzlich ins Stocken. »Woher kommst du jetzt?«
»Aus Anuin«, antwortete Morgon. Er sah die Unsicherheit in ihren dunklen Augen und las ihre Gedanken. »Gehen wir ins Haus«, sagte er nochmals müde. »Dort könnt ihr mich fragen.«
Sie schob ihre Hand in die seine und ging mit ihm ins Haus hinein. Sie ging in die Küche hinunter, um etwas zu essen zu holen, während Eliard Fackeln entzündete und ein Durcheinander von Pferdegeschirren von den Bänken fegte, damit sie sich setzen konnten. Er selbst blieb stehen und blickte auf Morgon hinunter, während er mit dem Fuß verdrießlich gegen die Bank trat.
»Sag mir, warum du nicht bleiben kannst«, bat er dann unvermittelt. »Sag es mir, damit ich es verstehen kann. Wohin mußt du jetzt so dringend?«
»Ich weiß es nicht. Nirgendwohin. Überallhin. Zu verharren ist der Tod.«
Eliard hieb mit seinen Stiefeln Kerben in die Bank.
»Warum?« fragte er heftig, und Morgon legte seine Hände vor sein Gesicht.
»Ich bemühe mich, das herauszufinden«, murmelte er. »Ich bemühe mich, die Lösung des Ungelösten —« Er brach ab, als er den Ausdruck auf Eliards Gesicht sah. »Ich weiß. Wenn ich daheimgeblieben wäre, anstatt nach Caithnard zu gehen, dann säße ich jetzt nicht mitten in der Nacht hier und wünschte, ich könnte die Morgendämmerung mit meinen Händen zurückhalten, und hätte Angst, dir zu sagen, was für Fracht ich mit mir nach Hed gebracht habe.«
Eliard setzte sich langsam und zwinkerte verständnislos.
»Was?«
Tristan kam mit einem riesigen Tablett mit Bier, Milch, frischem Brot und Obst, den kalten Resten einer gebratenen Gans, Butter und Käse die Treppe herauf. Sie stellte es auf einem Hocker ab. Morgon rückte ein Stück, und sie setzte sich neben ihn und schenkte Bier ein. Einen Becher reichte sie Rendel, die etwas zaghaft kostete. Morgon betrachtete sie, während sie einschenkte; ihr Gesicht war schmaler geworden, seine Konturen ausgeprägter.
Stirnrunzelnd blickte sie auf den Schaum auf dem Bier, während sie darauf wartete, daß er zusammensank, damit sie weiter eingießen konnte. Ihr Blick huschte zu ihm, dann senkte sie die Lider, und er sagte leise: »Ich habe Thod in Anuin gefunden. Ich habe ihn nicht getötet.«
Sie stützte den Bierkrug auf das eine Knie, den Becher auf das andere und sah Morgon endlich doch an.
»Ich wollte dich nicht danach fragen.«
Er hob die Hand und strich ihr über die Wange. Er sah, wie ihr Blick die weißen Vesta-Narben auf seiner Handfläche einfing, als er den Arm wieder senkte.
»Es geht mich ja nichts an«, bemerkte Eliard, »aber du hast ihn doch durch das ganze Reich verfolgt.« Ein Schimmer von Hoffnung glomm in seinen Augen. »War er — hat er erklärt —?«
»Er hat nichts erklärt.« Er nahm Tristan den Becher mit dem Bier aus der Hand und trank. Er spürte, wie das Blut wieder in sein Gesicht stieg. Ruhiger fügte er hinzu: »Ich habe Thod durch ganz An verfolgt und ihn schließlich vor zwölf Tagen in Anuin eingeholt. Im Königssaal stand ich vor ihm und sagte ihm, daß ich ihn töten würde. Dann hob ich mein Schwert mit beiden Händen, um eben das zu tun, während er völlig reglos dastand und wartete.«
Er verstummte. Eliards Gesicht war wie erstarrt.
»Und dann?«
»Dann...« Er suchte nach Worten, zog sich in seine Erinnerung zurück. »Ich habe ihn nicht getötet. Es gibt ein altes Rätsel aus Ymris: Wer waren Belu und Bilo, und wodurch waren sie aneinander gebunden? Zwei Fürsten aus Ymris, die im selben Moment geboren waren, und deren Tod der Weissagung zufolge im selben Moment eintreten würde. Sie haßten einander, doch der Bann, der sie fesselte, war solcher Art, daß der eine den anderen nicht töten konnte, ohne sich selbst zu vernichten.«
Eliard betrachtete ihn mit seltsamem Blick.
»Ein Rätsel hat das bewirkt? Ein Rätsel hielt dich davon ab, ihn zu töten?«
Morgon lehnte sich zurück. Einen Moment lang trank er von seinem Bier und sprach nichts. Er fragte sich, ob irgend et-was, das er in seinem Leben getan hatte, Eliard je verständlich gewesen war. Dann beugte sich Eliard vor und umfaßte sachte sein Handgelenk.
»Du hast mir einmal gesagt, ich hätte ein Hirn aus Eichenholz. Vielleicht stimmt das. Aber ich bin froh, daß du ihn nicht getötet hast. Ich hätte es verstanden, wenn du es getan hättest. Doch nie wieder hätte ich sicher sein können, was zu tun du imstande bist und was nicht.« Er ließ Morgon los und reichte ihm eine Gänsekeule. »Iß.«
Morgon sah ihn an und sagte leise: »Du hast das Zeug zu einem Rätselmeister.«
Eliard prustete verächtlich, während sein Gesicht rot anlief. »Keine zehn Pferde würden mich nach Caithnard bringen. Iß!«
Er schnitt Brot und Fleisch und Käse in dünne Scheiben und reichte sie Rendel. Zum erstenmal sah er ihr in die Augen, und sie lächelte. Da wagte er es, zu sprechen.
»Seid Ihr — seid Ihr verheiratet?«
Sie schüttelte den Kopf, während sie kaute. »Nein.«
»Warum seid Ihr dann — seid Ihr hierhergekommen, um zu warten?« Ungläubigkeit lag auf seinem Gesicht, doch seine Stimme war warm. »Ihr wärt uns hochwillkommen.«
»Nein.« Sie sprach mit Eliard, doch Morgon schien es, als gäbe sie ihm Antwort auf seine eigenen Hoffnungen. »Ich habe genug gewartet.«
»Was wollt Ihr dann tun?« fragte Eliard verwirrt. »Wo wollt Ihr leben?« Sein Blick wanderte zu Morgon. »Was hast du vor? Ich meine, wenn du beim Morgengrauen von hier fortgehst? Hast du schon eine Ahnung?«
Morgon nickte. »Eine verschwommene Ahnung, ja. Ich brauche Hilfe. Und ich brauche Antworten. Es wird gemunkelt, daß die letzten der Zauberer sich in Lungold versammeln, um Ghisteslohm zum Kampf zu fordern. Von den Zauberern kann ich Hilfe bekommen. Vom Gründer kann ich einige Antworten bekommen.«
Fassungslos starrte Eliard ihn an. Mit einer plötzlichen Bewegung sprang er auf.
»Warum hast du ihm deine Fragen nicht gestellt, als du im Erlenstern-Berg warst? Damit hättest du dir die Mühe erspart, nach Lungold ziehen zu müssen. Du willst ihm Fragen stellen. Morgon, ich schwöre, ein Korken in einem Bierfaß hat mehr Verstand als du. Was glaubst du wohl, was er tun wird? Meinst du vielleicht, er stellt sich ganz höflich vor dich hin und beantwortet dir deine Fragen?«
»Was soll ich denn tun?«
Jetzt war auch Morgon aufgesprungen. In seiner Stimme mischten sich Zorn und Bekümmerung. Er stellte sich die Frage, ob er hier nur mit Eliard stritt oder mit der unerbittlichen Verbohrtheit der Insel, auf der es plötzlich keinen Platz mehr für ihn gab.
»Soll ich hier sitzen bleiben und warten, bis er an deine Tür klopft, um mich zu holen? Willst du wohl endlich deine Augen aufmachen und mich so sehen, wie ich jetzt bin, statt so, wie du mich in Erinnerung hast? Ich bin gebrandmarkt; ich trage Sterne auf meinem Gesicht und Vesta-Narben auf meinen Händen. Ich kann beinahe jede Gestalt annehmen, für die es einen Namen gibt. Ich habe gekämpft, ich habe getötet, ich beabsichtige, wieder zu töten. Ich trage einen Namen, der älter ist als dieses Reich, und ich habe keine Heimat außer in der Erinnerung. Vor zwei Jahren habe ich eine Rätselfrage gestellt, und jetzt bin ich in einem Irrgarten von Rätseln gefangen, aus dem ich kaum mehr herausfinde. Im Herzen dieses Irrgartens liegt der Krieg. Blick doch einmal in deinem Leben über Hed hinaus. Versuch, mit diesem Bier etwas Furcht zu trinken. Dieses Reich steht am Rande des Krieges. Es gibt keinen Schutz für Hed.«
»Krieg! Was redest du da? Gewiß, in Ymris wird gekämpft, aber Ymris liegt immer im Krieg.«
»Hast du eine Ahnung davon, gegen wen Heureu Ymris kämpft?«
»Nein.«
»Und er selbst auch nicht. Eliard, ich habe das Heer der Rebellen gesehen, als ich’ durch Ymris kam. Männer sind in diesem Heer, die längst gestorben sind und dennoch weiter kämpfen. Nichts Menschliches wohnt in ihren Körpern. Wenn sie es sich einfallen lassen, Hed anzugreifen, welchen Schutz habt ihr dann gegen sie?«
Eliard stieß einen unartikulierten Laut aus. »Den Erhabenen«, erwiderte er dann. Doch plötzlich wich ihm alles Blut aus dem Gesicht. »Morgon«, flüsterte er, und Morgon krampfte die Hände zusammen.
»Ja. Tote Kinder haben mich einen Mann des Friedens genannt, aber ich glaube, ich habe nichts als Chaos gebracht. Eliard, in Anuin habe ich mit Duac darüber beraten, wie Hed zu schützen ist. Er erbot sich, Krieger und einige Schiffe zu entsenden.«
»Und die hast du mitgebracht?«
Er sagte mit ruhiger, fester Stimme: »Das Handelsschiff, das uns nach Tol gebracht hat, führt neben seiner regulären Fracht bewaffnete Könige und Edle, große Krieger der Drei Teile —«
Eliards Finger schlössen sich um seinen Arm.
»Könige?«
»Sie wissen um die Liebe zum Land, und sie wissen um den Krieg. Das Wissen um Hed fehlt ihnen, aber sie werden für es kämpfen. Sie sind —«
»Du hast die Toten von An nach Hed gebracht?« flüsterte Eliard. »Sie sind in Tol?«
»Sechs Schiffe liegen noch in Caithnard und warten —« »Morgon von Hed, hast du völlig den Verstand verloren!« Seine Finger gruben sich bis auf den Knochen in Morgons Arm, und Morgons ganzer Körper spannte sich. Doch mit einer abrupten Bewegung wandte sich Eliard plötzlich von ihm ab. Wie ein schwerer Hammer sauste seine Faust auf das Tablett, so daß Speisen und Geschirr durcheinanderflogen, nur der Milchkrug nicht, den Tristan gerade aufgenommen hatte. Mit bleichem Gesicht saß sie da, den Krug an sich gepreßt, während Eliard brüllend seinem Zorn Luft machte.
»Morgon, ich habe Berichte über das Chaos in An gehört! Wie des Nachts die Tiere zu Tode gehetzt werden und die Ernte auf den Feldern verdirbt, weil keiner wagt, sie einzuholen. Und du verlangst von mir, daß ich das in mein Land lasse! Wie kannst du mich darum auch nur bitten?«
»Eliard, ich brauche nicht zu bitten!« Ihre Blicke verklammerten sich ineinander. Und während Morgon zusah, wie sein Abbild sich in Eliards Augen wandelte, während er spürte, wie etwas Kostbares, nicht Faßbares weiter und weiter von ihm fortglitt, fuhr er erbarmungslos fort: »Wenn ich die Landherrschaft von Hed für mich wollte, könnte ich sie mir wieder nehmen. Als Ghisteslohm sie mir Stück um Stück entriß, erkannte ich, daß die Macht des Landrechts Form und Gestalt hat, und ich kenne die Form des Landrechts von Hed bis zur feinsten Haarwurzel einer Hopfenranke. Wenn ich dir dies aufzwingen wollte, dann könnte ich es, genau wie ich lernte, die alten Toten der Drei Teile zu zwingen, hierher zu kommen —«
Eliard, der keuchend durch den offenen Mund atmete, an die Steine der Feuerstelle gelehnt, schauderte plötzlich.
»Was bist du eigentlich?«
»Ich weiß es nicht.« Morgons Stimme zitterte unkontrolliert. »Es ist Zeit, daß du danach fragst.«
Einen Moment war Stille: die friedliche, ungebrochene Stille der Nacht von Hed. Dann stemmte sich Eliard mit einem Achselzucken von der Herdstelle ab, lief an Morgon vorbei, während er mit den Füßen Scherben aus seinem Weg schleuderte. Er beugte sich zu einem Tisch, die Hände flach auf die Platte gelegt, den Kopf gesenkt. Seine Stimme klang erstickt, als er sprach.
»Morgon, sie sind doch tot.«
Morgon ließ seinen Arm auf den Kaminsims sinken und legte sein Gesicht darauf.
»Dann sind sie den Lebenden in einer Schlacht wenigstens in diesem Punkt voraus.«
»Hättest du nicht einfach mit einem Heer von Lebenden kommen können? Das wäre einfacher gewesen.«
»Wenn du ein Heer von Bewaffneten auf diese Insel führst, dann forderst du einen Angriff heraus und wirst ihn auch bekommen.«
»Bist du da so sicher? Bist du so sicher, daß sie es wagen werden, Hed anzugreifen? Es könnte doch sein, daß du Gespenster siehst.«
»Ja, das könnte sein.« Seine Worte schienen sich in den abgeschliffenen, alten Steinen zu verlieren. »Sicher bin ich mir über gar nichts mehr. Nur Angst habe ich um alles, was ich liebe. Soll ich dir sagen, was ich in all der Zeit, die ich im Erlenstern-Berg gefangen war, nicht von Ghisteslohm lernen konnte? Es ist eine einfache, aber lebenswichtige Kunst. Ich konnte nicht lernen, im Dunklen zu sehen.«
Eliard drehte sich um. Er weinte wieder, als er Morgon vom Herd wegzog.
»Verzeih mir. Morgon, ich mag dich anschreien, aber wenn du mir die Landherrschaft bei den Wurzeln entrissest, würde ich dir dennoch blind vertrauen. Willst du nicht hier bleiben? Bitte, willst du nicht bleiben? Sollen die Zauberer zu dir kommen. Soll Ghistlohm kommen. Wenn du Hed wieder verläßt, wirst du getötet werden.«
»Nein. Ich werde nicht sterben.« Er winkelte einen Arm um Eliards Hals und drückte ihn fest an sich. »Ich bin zu neugierig. Die Toten werden deine Bauern nicht belästigen. Das schwöre ich. Du wirst sie kaum bemerken. Sie sind an mich gebunden. Ich habe ihnen die Geschichte und den Frieden von Hed vor Augen geführt, und sie haben einen Eid geleistet, diesen Frieden zu verteidigen.«
»Du hast sie an dich gebunden?«
»Mathom entließ sie aus seinem Bann, sonst hätte ich es niemals in Betracht gezogen.«
»Wie kannst du die toten Könige von An unter deinen Bann bringen?«
»Ich sehe durch ihre Augen. Ich verstehe sie. Vielleicht allzugut.«
Eliard betrachtete ihn. »Du bist ein Zauberer«, sagte er, doch Morgon schüttelte den Kopf.
»Kein Zauberer außer Ghisteslohm hat je an das Landrecht gerührt. Ich bin ganz einfach mächtig und so verzweifelt, daß ich vor nichts mehr zurückschrecke.«
Er blickte auf Rendel hinunter. Wenn sie auch gegen die gelegentlichen wilden Ausbrüche im Hause ihres Vaters abgehärtet war, so lag in ihren Augen jetzt doch ein Ausdruck qualvoller Spannung. Tristan starrte stumm in den Milchkrug. Morgon strich ihr über das dunkle Haar. Sie hob das Gesicht, das bleich war und wie gefroren.
»Verzeih mir«, flüsterte er. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht nach Hause kommen und einen Streit vom Zaun brechen.«
»Es macht nichts«, erwiderte sie. »Das wenigstens ist etwas, was an dir noch vertraut ist.« Sie stellte den Milchkrug nieder und stand auf. »Ich hole einen Besen.«
»Nein, ich hole ihn.«
Darauf blitzte ein Lächeln in ihren Augen auf. »Gut, du kannst kehren. Ich hole frisches Essen.« Zaghaft berührte sie seine vernarbte Hand. »Und dann erzählst du mir, wie du die Gestalt wechselst.«
Er erzählte es ihnen, nachdem er die Scherben und die verstreuten Speisen aufgekehrt hatte, und sah, wie Eliards Gesicht sich mit ungläubigem Staunen füllte, während er erklärte, was für ein Gefühl es war, langsam zu einem Baum zu werden. Er zerbrach sich den Kopf nach anderen Dingen, die er ihnen erzählen konnte, um sie wenigstens eine Zeitlang die schreckliche Seite seiner langen Wanderung vergessen zu machen. Er schilderte ihnen, wie er in Gestalt einer Vesta die Regionen im Norden durchstreift hatte, wo die Welt nur aus Wind und Schnee und Sternen zu bestehen schien. Er beschrieb ihnen die überwältigende Schönheit des Isig-Passes und berichtete vom Hof des Wolfskönigs, wo die wilden Tiere ein und aus gingen. Er erzählte ihnen von den Nebeln und den trügerischen Sümpfen von Herun. Und während er sprach, entdeckte er in seinem Inneren eine unvermutete Liebe zu den wilden, rauhen und schönen Gegenden des Reiches, so daß er für eine kleine Weile den Schmerz vergaß, der ihn quälte. Und er vergaß auch die Zeit, bis er sah, daß der Mond, der plötzlich durch eines der Fenster hereinschien, unterzugehen begann. Unvermittelt brach er ab und sah, wie Beklommenheit das Lächeln in Eliards Augen verdrängte.
»Ich habe die Toten ‘ganz vergessen.«
Es war offensichtlich, daß Eliard eine heftige Erwiderung hinunterschluckte.
»Es ist noch nicht Morgengrauen«, sagte er. »Der Mond ist noch nicht einmal untergegangen.«
»Ich weiß. Aber die Schiffe werden eines nach dem anderen aus Caithnard nach Tol kommen, sobald ich das Signal gebe. Ich möchte, daß sie Hed schon wieder weit hinter sich gelassen haben, ehe ich fortgehe. Sorge dich nicht. Du wirst die Toten nicht sehen, aber du solltest zur Stelle sein, wenn sie Hed betreten.«
Widerstrebend stand Eliard auf. Sein Gesicht war kreidebleich unter der Sonnenbräune.
»Aber du bleibst an meiner Seite?« »Ja.«
Gemeinsam schritten sie alle die Straße hinunter nach Tol, die blank wie eine Schwertklinge zwischen den dunklen Kornfeldern lag. Morgon, der Hand in Hand mit Rendel ging, spürte die Spannung, die noch immer in ihr war, und die Mattigkeit nach der langen, gefährlichen Seereise. Sie erriet seine Gedanken und lächelte ihm zu, als sie sich Tol näherten.
»Ich habe eine starrköpfige Familie gegen die andere eingetauscht...«
Der Mond, zu drei Vierteln voll, schien schräg am Himmel zu hängen, als spähte er auf Tol hinunter. Jenseits des schwarzen Kanals glitzerten zwei flammende Augen: die Leuchtfeuer, die die Hafenbucht von Caithnard flankierten. Silbrigglänzend lagen die Fischernetze im Sand; Wasser leckte an den kleinen vertäuten Booten, an denen sie auf dem Weg zum Dock vorüberschritten.
Bri Corvett beugte sich weit über die Reling, als sie kamen, und rief leise: »Jetzt?«
»Jetzt«, bestätigte Morgon, und Eliard stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Wenn du nur wüßtest, was du tust!«
Dann glitt die Rampe herunter, und er trat zurück, so nahe an den Rand des Piers, daß er beinahe hinuntergestürzt wäre.
Morgon spürte wieder seinen Geist. Die Starrsinnigkeit, die geistige Unbeweglichkeit, die zum Lebensblut von Hed gehörte, schienen wie eine Barriere am Ende der Rampe herunterzufallen. Sie legten sich fesselnd um Morgons Geist; er durchbrach sie und füllte Eliards Geist mit satten, leuchtenden, ständig wechselnden Bildern aus der Geschichte der Drei Teile, die er dem Gedächtnis der Toten entrissen hatte. Und während sich Eliards Geist langsam öffnete, entströmte etwas dem Schiff und ging in Hed auf.
Eliard fröstelte plötzlich.
»Sie sind ganz still«, murmelte er überrascht.
Morgons Hand schloß sich um seinen Ellbogen.
»Bri segelt jetzt nach Caithnard hinüber und schickt das nächste Schiff. Es kommen noch sechs. Das letzte bringt Bri selbst, und auf ihm werden Rendel und ich wieder abreisen.«
»Nein —«
»Ich komme zurück.«
Eliard schwieg. Vom Schiff her kamen das Ächzen von Tauen und Planken und Bri Corvetts leise, scharfe Befehle. Das Schiff stieß vom Dock ab, die dunklen Segel voll gehißt, um den flauen Wind einzufangen. Riesig und schwarz schob es sich lautlos durch das mondglitzernde Wasser in die Nacht hinein, hinterließ eine schimmernde Spur, die immer weiter auseinanderlief und langsam verschwand.
»Niemals«, sagte Eliard, während er aufs Wasser hinausblickte, »wirst du hierher zurückkommen, um zu bleiben.«
Noch sechs Schiffe glitten ebenso langsam, ebenso still durch die Nacht. Einmal, kurz bevor der Mond unterging, sah Morgon auf dem Wasser die Schatten von waffenbehängten, gekrönten Gestalten. Bleich und müde versank der Mond am Sternenhimmel; das letzte Schiff legte an. Tristan stand an Morgon gelehnt und trat von einem Fuß auf den anderen; er drückte sie an sich, um ihr warm zu machen. Wie ein verwischter Schatten hob sich Rendel vor dem sternenschimmernden Wasser ab; ihr Gesicht war eine dunkle Silhouette zwischen den Leuchtfeuern. Morgons Augen wanderten zum Schiff. Die Toten gingen von Bord; der dunkle Schlund des Laderaums würde geöffnet bleiben, ‘um ihn von Hed fortzubringen. Tausend Dinge, die er Eliard sagen wollte, schössen ihm plötzlich durch den Kopf, doch nichts davon besaß die Macht, das Schiff auszulöschen. Und dann standen sie wieder allein am Pier; die Toten hatten sich über Hed verstreut, und Morgon blieb nichts mehr zu tun. Er mußte aufbrechen.
Er drehte sich nach Eliard um. In dieser letzten, endlosen Stunde vor dem Morgengrauen war der Himmel sehr finster geworden. Ein leichter Wind strich seufzend über die Wellen. Er konnte Eliards Gesicht nicht sehen, spürte nur seine Nähe und die Nähe des Landes, das hinter ihm lag. Leise, mit wehem Herzen, vor Augen ein Bild des Landes, wie es golden in der Sommersonne lag, sagte er: »Ich werde nach Hed zurückfinden. Irgendwie. Irgendwann.«
Eliard berührte sein Gesicht mit einer sanften Zärtlichkeit, die ihn an ihren Vater erinnerte. Tristan hing noch immer an ihm; Morgon drückte sie an sich, küßte sie auf das dunkle Haar. Dann trat er zurück, stand plötzlich allein in der Nacht und spürte, wie das Holz unter seinen Füßen beim Anprall des Wassers erzitterte.
Er drehte sich um und schritt blind die Rampe hinauf, um wieder hinunterzusteigen in den schwarzen Rumpf des Schiffes.