Kap. 16

Ein Schrei, der kein Schrei war, sondern eine Windesstimme, löste sich aus Morgon. Der Erhabene wandelte sich unter seinen Händen zu Feuer und dann zu einer Erinnerung. Das Brüllen, das aus ihm hervorge-brochen war, raste in donnerndem Widerhall durch den Turm — ein gewaltiger, tiefer Ton, der unentwegt anschwoll, bis die Steine rundum zu beben begannen. Winde rüttelten am Turm. Im Chaos der wilden, wunderbaren Stimmen, die ihn umtob-ten, konnte Morgon seine eigene Stimme nicht ausmachen. Er griff nach seiner Harfe. Die Sterne auf ihr waren nacht-schwarz geworden. Er ließ seine Hand oder den messerschar-fen Hauch eines Windes über die Saiten gleiten, und sie zerris-sen. Als die tiefe Saite mit einem klagenden Ton riß, barsten Stein und Trugbild von Stein, die ihn umgaben, und stürzten zur Erde nieder.

Winde, die die Farben von Stein, Feuer, Gold und Nacht hatten, drehten sich kreiselnd um ihn und jagten davon. Der Turm brach mit donnerndem Brüllen zu einer riesigen steinernen Gruft zusammen. Morgon wurde ins hohe Gras geschleudert, wo er auf Händen und Knien liegenblieb. Weder die Kräfte Ghisteslohms noch die Eriels konnte er irgendwo ausmachen. Es war, als hätte der Erhabene sie in jenem letzten Augenblick für immer an seinen Tod gebunden. Schneeflocken wirbelten um ihn, schmolzen, sobald sie die Erde berührten. Der Himmel war totenbleich.

Das,Wissen um das Land, das er in sich trug, spaltete sich in seinem Geist in ein Gestöber von Fragmenten. Er hörte die Stille der Graswurzeln unter seinen Händen; aus den starren Augen eines Toten von An, der am Rande der Ebene stand, blickte er auf die Trümmer des Turms der Winde. Ein mächtiger Baum sank im Regen aus einem nassen Berghang im Hinterland langsam zur Seite; er spürte, wie seine Wurzeln sich stöhnend aus der Erde lösten, als er stürzte. Ein Trompeter in Astrins Heer hob sein goldblitzendes Instrument an den Mund. Die Empfindungen und Gedanken der Landherrscher verflochten sich in Morgons Geist, waren voller Schmerz und Angst, wenn auch die Landherrscher selbst nicht wußten, warum. Das ganze Reich schien sich dort im Gras unter seinen Händen zu formen, schien an ihm zu ziehen, bis sein Geist sich von den kalten, einsamen Einöden bis zum reichgeschmückten Hof von Anuin spannte. Er war Stein und Wasser, ein sterbendes Feld, ein Vogel, der gegen den Wind kämpfte, ein König, der verwundet und verzweifelt am Strand unterhalb der Ebene der Winde lag; er war in den Vesta, in den Geistern der Toten und tausend zart gesponnenen Geheimnissen, in scheuen Hexen und sprechenden Schweinen, in einsam emporragenden Türmen, für die er in seinem Geist Raum schaffen mußte.

Der Trompeter setzte sein Hörn an die Lippen und blies. Im selben Moment donnerte ein Großer Schrei aus den Mündern der Krieger von An über die Ebene. Die Geräusche, der Ansturm von Wissen und Erkenntnis, der tiefe Schmerz über den Verlust, den das Reich erlitten hatte, überwältigten Morgon plötzlich. Wieder schrie er auf, während er sich auf die Erde niederfallen ließ und das Gesicht im nassen Gras vergrub.

Kraftstöße fuhren durch ihn hindurch und erschütterten die Bindungen, die er mit der Erde geknüpft hatte. Er erkannte, daß der Tod des Erhabenen alle Kräfte der Erdherren freigesetzt hatte. Er spürte ihren Geist, der so alt und so wild war wie Feuer und Meer, schön und todbringend, darauf gerichtet, ihn zu vernichten. Er wußte nicht, wie er sie bekämpfen sollte. Ohne sich zu bewegen, sah er sie mit dem Auge seines Geistes, wie sie aus dem Meer emporstiegen und über die Ebene der Winde schwärmten, wogend wie eine Flutwelle in den Gestalten von Menschen und Tieren. Und ihr Geist eilte ihnen witternd voraus. Immer wieder drangen sie in ihn ein, entwurzelten Wissen in seinem Geist, zerrissen Bindungen, die zu seinem Erbe gehörten. Sein Wissen um Bäume in den Eichenwäldern, um Vesta, um Ackergäule in Hed, um die Bauern in Ruhn begann Funken um Funken zu verlöschen.

Er empfand es als eine andere Art von Verlust, schrecklich und bestürzend. Er versuchte, dagegen anzugehen, während er zusah, wie die Woge sich näher wälzte, doch es war nicht anders, als wollte er die Flut daran hindern, ihm Sandkörnchen aus den Händen zu spülen.

Astrins und Mathoms Heere stürmten von Norden nach Süden über die Ebene. Leuchtend wie sterbende Herbstblätter hoben sich ihre Kriegsfarben vom bleichen Winterhimmel ab. Sie würden alle vernichtet werden, selbst die Toten. Morgon wußte es. Kein lebendes Bewußtsein, keine Erinnerung von Toten konnte unter dem Ansturm der Macht überleben, die sich auch von seinen Kräften speiste. Mathom ritt an der Spitze seiner Krieger; in den Bäumen schickte sich Har an, die Vesta auf die Ebene hinauszuschicken. Danans Bergleute, flankiert von den Wachen der Morgol, setzten sich in Bewegung, um Astrins Heer zu folgen. Er wußte nicht, wie er ihnen helfen sollte. Dann sah er, daß im Südosten, am Rand der Ebene, Eliard und die Bauern von Hed, nur mit Hämmern und Äxten und grimmiger Entschlossenheit bewaffnet, auf die Ebene hinausmarschierten, um ihn zu retten.

Er hob den Kopf. Ein fremder Geist senkte sich über den seinen, und die Bilder, die er wahrgenommen hatte, verschwammen. Das ganze Reich schien sich zu verfinstern; Teile seines Lebens entglitten ihm. Er versuchte, sie festzuhalten, die Hände ins Gras gekrallt, während das schreckliche Gefühl ihn überkam, daß alle Hoffnung, die der Erhabene in ihn gesetzt hatte, umsonst gewesen war. Da öffnete sich in einem geheimen Winkel seines Geistes eine Tür. Er sah Tristan auf die Veranda von Akren hinaustreten. Sie fröstelte ein wenig im kalten Wind, und die Augen, die zum Festland blickten, waren dunkel und voller Furcht.

Mit der ganzen unerschütterlichen Hartnäckigkeit, die die kleine Insel ihm mitgeben konnte, schob er sich hoch, zuerst auf die Knie, dann auf die Füße. Ein Windstoß schlug ihm fauchend ins Gesicht; er konnte kaum das Gleichgewicht halten unter seinem wütenden Ansturm. Er stand mitten im Herzen des Chaos. Rund um ihn herum stürmten Lebendige und Tote auf der einen Seite, Erdherren auf der anderen, dem tödlichen Zusammenstoß entgegen; das Wissen um das Landrecht des Reiches wurde ihm Stück um Stück entrissen; er hatte die Winde befreit. Sie tobten brüllend über das Reich, sprachen von Wäldern, deren Bäume unter ihrer Gewalt zu knicken drohten, von zertrümmerten Dörfern und abgedeckten Dächern. Das Meer stieg, es würde Heureu töten, wenn er — Morgon — nicht handelte. Eliard würde sterben, wenn er ihn nicht zurückhalten konnte. Er versuchte, Eliards Geist zu erreichen, doch während er suchend über die Ebene schweifte, verfing er sich nur in einem Netz anderer Gedanken.

Wie eine Flutwelle, die Gras und Büsche entwurzelt, entrissen sie ihm Wissen und Macht. Es schien kein Entrinnen vor ihnen zu geben; kein Bild des Friedens wollte sich in seinem Geist formen, sie abzuwehren. Dann sah er vor sich etwas glitzern. Es war seine zerbrochene Harfe, die im Gras lag. Ihre Saiten, von den Winden gespielt, blitzten stumm.

Ein mächtiger, unverfälschter Zorn, der nicht sein eigener war, durchloderte ihn plötzlich und verbrannte alle Fesseln, die seinen Geist gefangenhielten, zu nichts. Danach war sein Geist so klar wie der Glanz der Sonne. Er fand Rendel neben sich, die ihn einen flüchtigen Moment lang mit ihrem Zorn befreit hatte, und er hätte vor ihr auf die Knie fallen mögen dafür, daß sie noch lebte, dafür, daß sie an seiner Seite war. In jenem Augenblick, den sie ihm geschenkt hatte, erkannte er, was er tun mußte.

Dann prallten die Kräfte des Reiches vor ihm aufeinander. Skelette von Toten, schimmernde Kettenhemden und blitzende Schilde von Lebenden, Vesta, so weiß wie der Schnee, der vom Himmel herabfiel, die Wachen der Morgol mit ihren schlanken Speeren aus Silber und Eschenholz trafen auf die Erdherren, die voll erbarmungsloser, unmenschlicher Macht waren.

Zum erstenmal hörte er den jammervollen Schrei einer Vesta im Tode, ein klagender Ruf nach ihren Gefährten. Er spürte, wie die Namen der Toten aus seinem Geist gelöscht wurden wie Kerzen vom Wind. Männer und Frauen kämpften mit Speeren und Schwertern, mit Pickeln und Äxten gegen einen Feind, der keinen Augenblick ein und dieselbe Gestalt beibehielt, sondern mit ständiger fließender Wandlung seiner äußeren Erscheinung den Gegner in Verzweiflung und Tod stürzte. Morgon fühlte, wie sie starben, Teile seiner selbst. Danans Bergleute brachen zusammen wie mächtige Bäume. Die Bauern von Hed, die sich einem Feind gegenübersahen, der alle ihre Vorstellungen sprengte, da nichts in der friedlichen Geschichte ihrer Insel sie je hatte ahnen lassen, daß es solche Wesen gab, schienen zu verwirrt, um sich auch nur zu verteidigen. Ihre Leben wurden Morgon wie in ihm verwurzelte Pflanzen entrissen. Die ganze Ebene schien wie ein brüllendes, sich aufbäumendes Tier, und ein Teil seiner selbst kämpfte ohne Hoffnung auf Überleben gegen den finsteren, hinterhältigen Feind, den man nicht fassen konnte und der den Tod des Reiches beschlossen hatte. In den kurzen Augenblicken der Schlacht spürte er den ersten der Landherrscher sterben.

Er fühlte den Kampf in Heureus Geist, als dieser, verwundet und hilflos, versuchte, den wütenden Aufruhr in seinem Land zu begreifen. Sein Körper war nicht kräftig genug für solche Qual. Er starb allein, in den Ohren das Tosen der Brandung und die Schreie der Sterbenden auf der Ebene der Winde. Morgon spürte, wie die Lebenskraft aus dem König in die Erde von Ymris zurückströmte. Und auf dem Schlachtfeld wurde Astrin, der um sein Leben kämpfte, plötzlich von einem überwältigenden Schmerz heimgesucht, und alle Landinstinkte erwachten in ihm.

Sein Schmerz ließ den von Morgon um den Erhabenen, um Heureu, um das Reich wieder aufleben, das seiner Hege anvertraut war und in ihm starb. Sein Geist öffnete sich mit einem klagenden Harfenton, der auch ein Ruf war — ein Ruf an einen Südwind, der heulend über das Hinterland fegte. Ton um Ton rief er die entfesselten Winde zur Ebene der Winde zurück.

Klirrend vor Kälte kamen sie aus den nördlichen Einöden zu ihm; regenschwer aus dem Hinterland; von Salz- und Schneeduft geschwängert vorn Meer; nach feuchter Erde riechend aus Hed. Sie rasten. Sie drückten das Gras von einem Ende der Ebene zum anderen zur Erde nieder. Sie schleuderten seinen Körper in die Luft und entwurzelten Eichen am Rande der Ebene. Sie beweinten die Finsternis seines Schmerzes, zerrissen die Luft mit ihrem schrillen, wimmernden Klagen. Sie stoben die Heere vor sich auseinander wie Spreu. Reiterlose Pferde jagten vor ihnen her. Tote zerschmolzen in Erinnerung; Schilde wirbelten wie Blätter durch die Luft; Männer und Frauen lagen auf der Erde und versuchten kriechend, den Winden zu entkommen. Selbst die Erdherren wurden in ihrem Ansturm aufgehalten; gleich, welche Gestalt sie annahmen, gegen die Winde konnten sie nichts ausrichten.

Morgons Geist war in Harfentöne gebrochen. Verbissen kämpfte er darum, sie in eine Ordnung zu zwingen. Der dröhnende Nordwind sandte seinen tiefen Ton durch ihn hindurch, und Morgon ließ ihn in seinem Geist anschwellen, bis dieser wie eine Harfensaite vibrierte. Da gab der Wind ihn schließlich frei. Er zog eine andere Stimme in sich hinein, die dünne, feurige Stimme eines Windes aus dem fernsten Hinterland. Mit einem süßen, schrecklichen Ton durchglühte sie seinen Geist. Er glühte mit ihr und nahm sie in sich auf. Ein dritter Wind, der über das Meer tobte, jagte ein wildes Lied durch ihn hindurch. Er sang mit ihm, wandelte die Stimme in ihm, in den Winden, in Sanftheit. Die stürmischen Wogen, die gegen die Küsten von Hed brandeten, legten sich langsam. Ein anderer Wind wob sein Lied durch seinen Geist. Er war aus der Winterstille des Isig-Passes gesponnen und den Harfenklängen, die noch immer in der Finsternis des Erlenstern-Bergs widerklangen. Er flocht die Stille und die Finsternis in sein eigenes Lied.

Der geistigen Kräfte der Erdherren war er kaum gewahr, während er um die Herrschaft der Winde rang. Die Macht der Winde erfüllte ihn, kämpfte mit ihm und schützte ihn doch auch. Kein Geist auf der Ebene hätte ihn anrühren können, durchdrungen wie er war von den Stürmen und Winden. Ein fernes Auge in seinem Geist war auf das Reich gerichtet, dem er verbunden war. Krieger flohen in die Grenzwälder. Sie mußten ihre Waffen zurücklassen. Nicht einmal die Verwundeten konnten sie mitnehmen. Bis nach Caithnard, Caerweddin und Hed war das Fauchen und Brüllen und Wimmern seines Kampfes mit den Winden zu hören. Die Zauberer hatten die Ebene verlassen; er spürte das Vergehen ihrer Kräfte, als sie Verwirrung und Angst in sich hineinließen. Das graue Licht der Abenddämmerung wob Schleier über die Ebene, und dann kam die Nacht, und er rang mit den kalten, zähen Winden der Dunkelheit, die mit Wolfsstimmen heulten.

Er legte die Winde in Fesseln und zwang ihnen seine Macht auf. Er hätte einen Ostwind auf den innersten Punkt der Steingruft neben sich loslassen können, um die Trümmer über die ganze Ebene zu verstreuen. Er hätte eine Schneeflocke von der Erde aufheben oder eine der gefallenen Wachen, die unter einer dünnen Schneedecke lagen, umdrehen können, um ihr Gesicht zu sehen.

Rund um die Ebene brannten die ganze Nacht Hunderte von Feuern; Männer und Frauen des Reiches warteten schlaflos im Schein der Flammen, während er mit den verrinnenden Stunden um die Entscheidung über ihr Schicksal rang. Sie versorgten ihre Verwundeten und fragten sich, ob sie den Übergang der Macht vom Erhabenen auf seinen Erben überleben würden.

Endlich kam der Morgen.

Wie ein einsames Auge starrte er durch weißen Nebel auf ihn herab. Er zog sich in sich selbst zurück, in den Händen die gefesselten Winde. Er war allein auf einer stillen Ebene. Die Erdherren hatten ihr Schlachtfeld ostwärts verlegt, zogen jetzt durch Ruhn. Einen Moment lang stand er reglos da und fragte sich, ob er eine einzige Nacht oder ein Jahrhundert von Nächten durchlebt hatte. Dann zog er seinen Geist von der Nacht ab und sandte ihn aus, den Weg der Erdherren zu erkunden.

Sie waren quer durch Ruhn geflohen. Städte und Bauernhöfe, Dörfer und Häuser von Edelleuten lagen in Trümmern; Felder, Wälder und Obstpflanzungen waren vernichtet. Menschen und Tiere, die in den Sog ihrer geistigen Kräfte gerieten, waren getötet worden. Während sein Geist über das verwüstete Land schweifte, rührte sich in ihm eine Harfenweise. Die Winde in seiner Hand erwachten bei den Klängen, erhoben sich in gefährlichem Zorn, rissen ihn aus seinem Körper, bis er halb Mensch, halb Wind war, ein Harfner, der auf einer Harfe ohne Saiten ein Todeslied spielte.

Da ließ er all die Kräfte aufstehen, die unter den herrlichen alten Städten überall in Ymris begraben lagen. Er hatte sie im Geist des Erhabenen gespürt, und jetzt wußte er endlich, warum die Erdherren um den Besitz ihrer alten Städte gekämpft hatten. Sie waren alle Gräber, zertrümmerte Denkmäler ihrer Toten. Jahrtausende hatten die Kräfte unter der Erde geschlafen. Doch wie die Geister der Toten von An konnten auch die Geister der toten Erdherren durch Erinnerung geweckt werden, und Morgon, dessen Geist tief unter die Steine drang, riß sie mit seinem Schmerz gewaltsam aus ihrem Schlaf. Er sah sie nicht. Doch auf der Ebene der Winde und auf der Ebene von Königsmund, in den Ruinenstädten von Ruhn und Ost-Umber schwoll eine Kraft, die über den steinernen Trümmern hing wie die unheimliche, bedrohlich knisternde Spannung vor dem ersten krachenden Donner eines Gewitters. Überall in Ymris war diese Spannung zu spüren. Keiner sprach; alle warteten.

Morgon wehte über die Ebene der Winde. Ein Heer von toten Erdherren folgte ihm, schwebte über Ymris hinweg, auf der Suche nach den lebenden Erdherren, um einen Krieg zu beenden. Winde stöberten die Erdherren aus Stein und Blatt auf, in deren Gestalten sie Zuflucht gesucht hatten; die Toten trieben sie stumm und erbarmungslos aus dem Land, das sie einst geliebt hatten. Sie jagten durch das Hinterland, durch regennasse, dunkle Wälder, über kahle Hügel, über die eisstarren Seen von Lungold. Von den Winden geführt und von den Toten gefolgt, blieb Morgon ihnen unerbittlich auf den Fersen und hetzte sie über die Schwelle des Winters. So erbarmungslos, wie einst sie ihn gejagt hatten, trieb er sie jetzt dem Erlenstern-Berg zu.

Noch ein letztes Mal versuchten sie, ihn niederzukämpfen, als er sie ins Innere des Berges zwang. Doch die Toten erhoben sich um ihn wie Stein, und die Winde fielen sie wütend an. Er hätte sie vernichten, ihnen alle Macht entreißen können, so wie sie das bei ihm versucht hatten. Doch etwas von ihrer Schönheit hatte sich in Rendel bewahrt. Es ließ ihn ahnen, was sie hätten sein können, und er brachte es nicht über sich, sie zu töten. Er rührte nicht einmal ihre geistigen Kräfte an. Er trieb sie in den Erlenstern-Berg, wo sie sich vor ihm in die Gestalt von Wasser und Edelstein flüchteten. Er verschloß den ganzen Berg — alle Schächte und verborgenen Quellen, die Oberfläche der Erde und den Grund aus Fels und Stein — mit seinem Namen. Und die Toten band er in Bäume und Stein, Licht und Wind rund um den Berg, ihn zu bewachen. Dann ließ er die Winde spielen, und sie überzogen von Norden her das ganze Reich mit Winter.

Danach kehrte er von Erinnerungen getrieben auf die Ebene der Winde zurück. Sie war vollkommen mit Schnee bedeckt. Unter den Bäumen rundherum stiegen zahllose Rauchfahnen in die Luft. Niemand hatte die Ebene verlassen. Männer, Frauen und Tiere waren geblieben, seine Rückkehr zu erwarten. Sie hatten ihre Toten begraben und Nachschub kommen lassen; sie waren gerüstet, den Winter hier auf dieser Ebene zu verbringen, die sie gefesselt hielt.

Neben der Ruine des Turms trat Morgon in seiner natürlichen Gestalt aus den Winden. Er hörte die Stimme der Morgol, die mit Goh sprach. Er sah Har, der den Knochen am gebrochenen Lauf einer Vesta prüfte. Er wußte nicht, ob Eliard noch am Leben war. Langsam hob er den Kopf und blickte auf das riesige steinerne Grab und trat in seinen Schmerz hinein. Er drückte sein Gesicht an einen der kalten, schönen Steine und umspannte ihn mit den Armen, während ihn danach verlangte, die ganze Gruft zu umschließen, in sein Herz aufzunehmen. Er fühlte sich plötzlich gefesselt, als wäre er der Geist eines Toten, und als wäre seine ganze Vergangenheit unter diesen Steinen begraben.

Während er dort in seiner Trauer stand, kamen langsam die ersten Menschen über die Ebene geschritten. Er sah sie, ohne zu denken, mit dem Auge seines Geistes: winzige Gestalten, die über die leere, schneebedeckte Ebene schwärmten. Als er sich schließlich umdrehte, sah er, daß sie ihn in einem Kreis tiefen Schweigens umgaben.

Sie waren, daß spürte er, so zu ihm hingezogen worden, wie er immer zu Thod hingezogen worden war: ohne Grund, ohne Frage, einfach aus Instinkt. Die Landherrscher des Reiches und die vier Zauberer standen ruhig an seiner Seite. Sie wußten nicht, was sie sagen sollten, während er dort in all seiner Macht und all seinem Schmerz vor ihnen stand. Sie wußten nur, daß er diesem uralten Land endlich Frieden gebracht hatte.

Er blickte auf all die Gesichter, die ihm so vertraut waren. Sie waren gezeichnet von der Trauer um den Erhabenen und die Gefallenen. Als er Eliard unter ihnen entdeckte, spürte er, wie sich in seinem Herzen etwas schmerzhaft zusammenzog. Nie zuvor hatte er Eliards Züge so gesehen — farblos und starr wie die winterliche Erde. Viele seiner Bauern waren gefallen und nach Hed zurückgebracht worden, um dort im froststarren Land begraben zu werden. Der Winter würde hart werden für die Lebenden, und Morgon wußte nicht, wie er seinen Bruder trösten sollte. Doch noch während Eliard Morgon stumm ansah, leuchtete in seinen Augen etwas auf, das nie ein Teil des stets gleichbleibenden Erbes der Fürsten von Hed gewesen war — ein Funken von Wissen um das Geheimnisvolle.

Morgons Blick wanderte zu Astrin. Er schien noch immer wie betäubt von Heureus Tod und dem Bewußtsein der weitreichenden Macht, die auf ihn übergegangen war.

»Es tut mir leid«, sagte Morgon. Die Worte klangen so dünn und nichtssagend, wie der Schnee es war, der die massigen Steine hinter ihm überzog. »Ich spürte seinen Tod. Aber ich konnte — ich konnte ihm nicht helfen. Ich spürte so viel Tod.«

Das eine weiße Auge schien bei dem Wort tief in ihn hineinzublicken.

»Ihr lebt«, flüsterte Astrin, »Erhabener. Ihr habt überlebt, um Euch endlich selbst Euren Namen zu geben, und Ihr habt diesem Morgen Frieden gebracht.«

»Frieden.« Er fühlte die eisige Kälte der Steine hinter sich.

»Morgon«, sagte Danan leise, »als wir den Turm einstürzen sahen, glaubte keiner von uns, daß er den nächsten Tag noch sehen würde.«

»Und so viele haben ihn nicht mehr gesehen. So viele von Euren Bergleuten sind gefallen.«

»So viele sind nicht gefallen. Ich habe einen mächtigen Berg voller Bäume. Ihr habt ihn uns zurückgegeben. Ihr habt uns eine Heimat geschenkt, in die wir zurückkehren können.«

»Wir haben den Übergang der Macht vom Erhabenen auf seinen Erben erlebt«, bemerkte Har. »Wir haben einen Preis dafür bezahlt, das miterleben zu dürfen, aber — wir haben überlebt.« Seine Augen leuchteten milde im reinen, kalten Licht. Er zog seinen Umhang fester um seine Schultern — ein knorriger, alter König, in dessen Herz die frühesten Erinnerungen an das Reich wohnten. »Ihr habt einen großen Kampf geführt, und Ihr habt gesiegt. Grämt Euch nicht um den Erhabenen. Er war alt, dem Ende seiner Macht nahe. Er hinterließ Euch ein vom Krieg zerrissenes Reich, ein schreckliches Erbe, und seine ganze Hoffnung. Ihr habt ihn nicht enttäuscht. Jetzt können wir alle in Frieden heimwärts ziehen und brauchen den Fremden an unserer Türschwelle nicht mehr zu fürchten. Wenn die Tür sich unerwartet den Winterstürmen öffnet und wir vom warmen Feuer aufblicken, um den Erhabenen in unserem Haus zu finden, dann werdet Ihr es sein. Dieses Geschenk hat er uns hinterlassen.«

Morgon schwieg. Wieder nagte der Schmerz an ihm wie eine züngelnde Flamme trotz all ihrer Worte. Da spürte er in einem von ihnen einen gleichartigen Schmerz, den keine Worte stillen konnten. Er suchte ihn und fand ihn in Mathom, der müde dastand, wie beschattet vom Tod.

Morgon trat einen Schritt auf ihn zu.

»Wer?«

»Duac«, antwortete der König. Er holte tief Atem, während er dunkel wie der Geist eines Toten im weißen Schnee stand. »Er weigerte sich, in An zu bleiben — die einzige Auseinandersetzung, bei der ich je verloren habe. Mein Landerbe mit den Augen des Meeres.«

Morgon blieb stumm, während er sich fragte, wie viele seiner Bindungen zerrissen worden waren, wie viele Tode er nicht gespürt hatte. Aus einer Erinnerung heraus sagte er unvermittelt: »Ihr wußtet, daß der Erhabene hier sterben würde.«

»Er gab sich zu erkennen«, erwiderte Mathom. »Ich brauchte das nicht zu träumen. Begrabt ihn hier, wo er seinen Tod suchte. Laßt ihn ruhen.«

»Ich kann nicht«, flüsterte Morgon. »Ich war sein Tod. Er wußte es. Die ganze Zeit wußte er es. Ich war sein Schicksal, so wie er das meine war. Unsere Leben waren in einem einzigen, beständigen Rätselkampf verknüpft. Er schmiedete das Schwert, das ihn tötete, und ich habe es ihm hierher gebracht. Wenn ich gedacht hätte — wenn ich gewußt hätte.«

»Was hättet Ihr getan? Er besaß nicht die Kraft, diesen Krieg zu gewinnen. Er wußte, daß Ihr ihn gewinnen würdet, wenn er Euch seine Macht übertrug. Diesen Kampf zumindest hat er gewonnen. Nehmt es an.«

»Ich kann nicht — noch nicht.« Er legte eine Hand auf die Steine. Dann hob er den Kopf und suchte am Himmel etwas, das er in seinem Geist nicht finden konnte. Doch das Antlitz des Himmels war bleich und starr.

»Wo ist Rendel?«

»Eine Zeitlang war sie bei mir«, antwortete die Morgol. Ihr Gesicht war so still wie der Wintermorgen. »Dann verschwand sie. Um Euch zu suchen, glaubte ich. Aber vielleicht braucht auch sie Zeit für ihren Schmerz.« Sie lächelte ihn an und berührte sein Herz. »Morgon, er ist tot. Aber für kurze Zeit habt Ihr ihm etwas gegeben, das er lieben konnte.«

»Und Ihr auch«, flüsterte er.

Danach wandte er sich ab, um irgendwo im Inneren seines Reiches seinen eigenen Trost zu finden. Er wurde zu Luft oder Schnee, manchmal blieb er auch er selbst. Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß er keine Fußstapfen im Schnee hinterließ, denen einer hätte folgen können.

In vielen Gestalten streifte er durch das Land und knüpfte die zerrissenen Bindungen neu, bis es keinen Baum, kein Insekt, keinen Menschen im ganzen Reich gab, den er nicht kannte. Nur eine Frau gewahrte sein Geist nie. Die Winde, die in ihrer grenzenlosen Neugier alles erforschten, berichteten ihm von Edelleuten und Kriegern, die, heimatlos geworden, an Astrins Hof Zuflucht suchten, von Händlern, die mit den stürmischen Meeren kämpften, um Getreide von An und Herun und Bier aus Hed in das vom Krieg verheerte Land zu bringen. Sie ließen es ihn wissen, als die Vesta nach Osterland heimkehrten, und sie erzählten ihm, daß der König von An seine Toten wieder in die Erde der Drei Teile eingebunden hatte. Sie lauschten den Zauberern, die in Caithnard den Wiederaufbau der großen Schule in Lungold berieten, während die Rätselmeister das letzte der ungelösten Rätsel auf ihren Listen lösten. Er spürte, daß Har an seiner Feuerstelle mit den Wölfen zu seinen Füßen auf ihn wartete. Er fühlte den Blick der Morgol, die dann und wann über die Mauern ihres Hauses und die Hügelketten ihres Landes hinweg nach ihm und Rendel Ausschau hielt.

Er versuchte, seinen Schmerz zu stillen, indem er endlose Tage lang in der Einöde saß wie ein verwittertes Geflecht alter Wurzeln und Schritt um Schritt die Spiele zusammensetzte, die der Harfner gespielt hatte, und er verstand sie. Doch das Verstehen tröstete ihn nicht. Er versuchte, auf einer Harfe zu spielen, die so unermeßlich war wie der Nachthimmel und von Sternen übersät, doch auch das brachte ihm keinen Frieden. Rastlosigkeit trieb ihn von kalten, kahlen Gipfeln hinunter in stille Wälder und selbst an die Feuer von Gasthäusern und Bauernhäusern, wo er mit Freundlichkeit als ein Fremder aufgenommen wurde, der Schutz vor der Kälte suchte. Er wußte nicht, wonach sein Herz verlangte; warum der Geist des Harfners keine Ruhe fand.

Eines Tages grub er sich aus einer Schneewehe in der nördlichen Einöde, fühlte sich nach Süden getrieben, ohne zu wissen, warum. Er wandelte sich auf seinem Weg quer durch das Reich unzählige Male in immer andere Gestalten, doch in keiner fand er Frieden. Er begegnete dem Frühling auf seinem Weg nach Norden, und die Unrast in ihm wurde noch drängender. Die Winde, die aus Westen und Süden wehten, rochen nach frisch gepflügter Erde und Sonnenschein. Sie schlugen sanftere Töne auf seiner Windharfe an. Doch in ihm waren keine sanften Gefühle. In Bärengestalt trottete er durch Wälder, schwang sich in Falkengestalt zum Mittagshimmel hinauf. Drei Tage lang hockte er auf dem Bug eines Handelsschiffes, das schwankend auf den Wellen des Meeres ritt, bis die Seeleute, denen seine starren Seevogelaugen unheimlich wurden, ihn fortscheuchten. Fliegend, kriechend, mit einer Horde von Wildpferden galoppierend, folgte er der Küste von Ymris, bis er Meremont erreichte. Dort trieben seine Erinnerungen ihn zur Ebene der Winde.

Auf der Ebene fand er die Gestalt eines Fürsten von Hed mit Händen, die von Narben gezeichnet waren, und drei Sternen im Gesicht. Um ihn heru,m hallte das Getümmel einer Schlacht wider; Steine stürzten ein und lösten sich auf. Das Gras vibrierte wie die zerrissenen Saiten einer Harfe. Ein Lichtstrahl der untergehenden Sonne brannte in seinen Augen. Er wandte sich von ihm ab und sah Rendel.

Sie war in Hed, am Strand oberhalb von Tol. Sie hockte auf einem Felsen und schleuderte zersprungene Muschelschalen ins Meer, vom Gischt der Brandung umsprüht. Ihr Antlitz schien ein Spiegel der Gefühle, die in seinem Herzen waren, eine Mischung aus Ratlosigkeit und Traurigkeit. Es zog an ihm wie eine Hand. Er flog über das Wasser und nahm vor ihr seine natürliche Gestalt an.

Sprachlos, eine Muschel in der Hand, blickte sie zu ihm auf. Auch er fand keine Worte. Er fragte sich, ob er in den nördlichen Einöden alle Sprache vergessen hatte. Stumm setzte er sich neben sie, von dem Verlangen getrieben, in ihrer Nähe zu sein. Er nahm die Muschel aus ihrer Hand und warf sie in die Wellen.

»Du hast mich aus den Tiefen der nördlichen Einöden hierhergezogen«, sagte er. »Ich war — ich weiß nicht, was ich war. Etwas Eiskaltes.«

Sie strich ihm eine Strähne zottigen Haars aus den Augen.

»Ich war neugierig, ob du hierherkommen würdest. Ich dachte mir, du würdest schon kommen, wenn du soweit wärst.«

In ihrer Stimme lag eine Resignation, die er nicht verstand.

»Wie hätte ich kommen können? Ich wußte ja nicht, wo du warst. Du bist von der Ebene der Winde einfach verschwunden.«

Einen Moment lang starrte sie ihn verwundert an.

»Ich dachte, du wüßtest alles. Du bist der Erhabene. Du weißt sogar schon, was ich als nächstes sagen werde.«

»Nein, das weiß ich nicht«, widersprach er. Er bohrte ein Stück gesprungene Muschelschale aus einem Spalt und schleuderte es ins Wasser. »Du bist nicht in meinen Geist gebunden. Ich wäre längst zu dir gekommen, wenn ich nur gewußt hätte, wo, in Hels Namen, ich dich suchen soll.«

Sie schwieg, während sie ihn forschend ansah. Er erwiderte schließlich ihren Blick, seufzte leicht und legte seinen Arm um ihre Schultern. Ihr Haar roch nach Salz; ihr Gesicht begann, sich unter der Sonne zu bräunen.

»Ich bin von einem Geist besessen«, sagte er. »Ich glaube, mein Herz wurde in diesem steinernen Grab verschüttet.«

»Ich weiß.«

Sie küßte ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter. Eine Woge wälzte sich zu ihren Füßen hinauf und glitt wieder zurück. Der Hafen von Tol wurde wieder aufgebaut; mächtige Fichtenstämme aus den nördlichen Gebieten lagen am Strand. Sie blickte über das Meer hinweg nach Caithnard, über das sich schon die abendlichen Schatten senkten.

»Die Schule der Rätselmeister ist wieder offen«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Wenn du alles weißt, worüber sollen wir dann in Zukunft sprechen?«

»Ich weiß nicht. Über nichts wohl.«

Er sah ein Schiff, das von Tol aus übers Meer fuhr. Es trug einen Fürsten von Hed und einen Harfner. Das Schiff legte in Caithnard an. Beide, der Fürst von Hed und der Harfner, gingen von Bord, um eine lange Reise anzutreten. Wann sie wohl enden würde, fragte er sich.

Er zog Rendel näher an sich, seine Wange an ihrem Haar. Er hatte es geliebt, in diesem Widerschein des letzten Lichts auf seiner Harfe zu spielen, doch die gestirnte Harfe war zerbrochen, ihre Saiten vom Schmerz zerrissen. Er berührte eine Muschel, die am Fels klebte, und ihm fiel ein, daß er ihre Gestalt niemals angenommen hatte. Träge plätschernd schlug das Meer gegen die Felsen. Und in diesem Augenblick war er nahe daran, die letzten Klänge eines Liedes zu hören, das er einst geliebt hatte.

»Was hast du mit den Erdherren getan?«

»Ich habe sie nicht getötet«, antwortete er leise. »Ich habe ihnen nicht einmal ihre Kräfte genommen. Ich habe sie im Erlenstern-Berg eingeschlossen.«

Er spürte, wie sie einen lautlosen Seufzer ausstieß.

»Ich hatte Angst zu fragen«, flüsterte sie’.

»Ich konnte sie nicht vernichten. Wie hätte ich das tun können? Sie waren ein Teil von dir — und von Thod. Sie sind gebannt, bis sie sterben oder bis ich sterbe — je nachdem, was zuerst eintritt.« Mit müdem Blick sah er auf die nächsten Jahrtausende. »Rätsel. War dies wirklich das letzte? Enden alle Rätsel in einem Turm ohne Tür? Mir ist, als hätte ich diesen Turm Stein um Stein, Rätsel um Rätsel aufgebaut, und als ich den letzten Stein einfügte, da zerstörte ich ihn.«

»Ich weiß es nicht. Als Duac fiel, war ich so tieftraurig. Mir war, als hätte man mir etwas aus dem Herzen gerissen. Es schien mir so ungerecht, daß er in diesem Krieg fallen mußte, da er doch der vernünftigste und geduldigste von uns war. Diese Wunde ist verheilt. Aber der Harfner. Ich ertappe mich dabei, daß ich erwarte, durch das Rauschen des Wassers, durch das Blitzen des Lichts sein Spiel zu hören. Ich weiß nicht, warum wir ihn nicht ruhen lassen können.«

Morgon zog ihr Haar aus den Fingern des Windes und glättete es. Er tauchte irgendwo in den ständigen Strom seiner Gedanken ein, der unmittelbar unter der Oberfläche seines Bewußtseins floß. Er hörte Tristan mit Eliard sprechen, während sie in Akren den Tisch deckte. In Hel sahen Nun und Raith von Hel bei der Geburt eines Schweins zu. In Lungold barg Iff Bücher aus der abgebrannten Bibliothek der Zauberer. In Kronstadt sprach Lyra mit einem jungen Edlen aus Herun und vertraute ihm Dinge über die Schlacht in Lungold an, die sie keinem ändern gesagt hatte. Auf der Ebene der Winde wurden die zersprungenen Teile eines Schwerts langsam vom Gras überwuchert.

Er roch, wie das Zwielicht des Abends Hed einhüllte, das junge Gras, die umgepflügte Erde, die sonnenwarmen Blätter der Bäume. Wieder zog die Erinnerung an ein Lied, das kein Lied war, an seinen Gedanken, und beinahe wäre es ihm gelungen, seine Melodie zu vernehmen. Rendel schien es zu hören. Sie lehnte sich an ihn, und ihr Gesicht wurde friedlich im letzten warmen Licht.

Er sagte: »In Hel kommt gerade ein sprechendes Schwein zur Welt. Nun und der Herr von Hel sind dabei.«

Sie lächelte plötzlich. »Das erste seit drei Jahrtausenden. — Morgon, während ich auf dich wartete, mußte ich etwas tun, deshalb erforschte ich das Meer. Und da habe ich etwas gefunden, das dir gehört. Es ist jetzt in Akren.«

»Was?«

»Weißt du es nicht?«

»Nein. Soll ich deine Gedanken lesen?«

»Nein. Niemals. Wie könnte ich dann mit dir streiten?«

Sein Gesichtsausdruck änderte sich plötzlich, und ihr Lächeln vertiefte sich.

»Pevens Krone?«

»Eliard sagt, sie wäre es. Ich habe sie ja nie zuvor gesehen. Sie war ganz von Seetang überwachsen. Nur der eine große Stein war klar wie ein Auge. Das Meer ist wunderschön. Vielleicht werde ich in ihm leben.«

»Und ich lebe in der Einöde«, meinte er. »Einmal alle hundert Jahre tauchst du aus dem Meer empor, und ich komme zu dir oder ich ziehe dich mit meinem Harfenspiel in die Winde hinein.«

Da endlich hörte er es — im Seufzen der Wellen, in dem Fels, auf dem sie saßen, uralt und voller Wärme. Zaghaft öffnete sich sein Herz diesem Gefühl, das er seit Jahren nicht mehr gekannt hatte.

»Was ist?«

Sie lächelte noch immer. In ihren Augen, die ihn ansahen, spiegelte sich der Glanz der versinkenden Sonne. Lange Zeit lauschte er still. Er nahm ihre Hand und stand auf. An seiner Seite schritt sie zur Küstenstraße über den Felsen. Die letzten Sonnenstrahlen ergossen sich über die grünen Felder. Die Straße vor ihnen schien schnurgerade ins Licht zu führen. Er blieb stehen, und während sein Herz aufging wie ein Samenkorn, hörte er in ganz Hed, im ganzen Reich eine vertraute Stille, die aus dem Herzen aller Dinge kam.

Die Stimme verwob sich tief in Morgons Geist und fand dort einen Ruheplatz. Ob es eine Erinnerung war oder ein Teil seines Erbes oder ein Rätsel, das keine Lösung hatte, wußte er nicht. Er zog Rendel nah an sich, ausnahmsweise mit der Unwissenheit zufrieden.

Sie schritten die Straße entlang nach Akren. Rendel begann, ihm mit heiterer, ruhiger Stimme von Perlen und leuchtenden Fischen und vom Gesang des Wassers in der Tiefe des Meeres zu erzählen. Langsam ging die Sonne unter; der Abend schritt durch das Reich, begleitete Morgon und Rendel, ein Fremder mit silbernem Haar, die Nacht im Rücken, das Gesicht stets dem Morgen zugewandt.

Und ein zitternder, unerwarteter Friede senkte seine Wurzeln in Morgons Herz.

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