Zwei

Nachdem das Minenfeld der Syndiks überwunden war, hatte jedes Allianz-Schiff auf seinem eigenen Vektor Fahrt aufgenommen. Einen Moment lang hatte der Anblick Geary an die chaotische Ankunft in Corvus erinnert, unmittelbar nachdem er das Kommando über die Flotte übernommen hatte. Damals war die Flotte in etliche kleine Gruppen zerfallen, die alle nichts Wichtigeres zu tun hatten, als ein paar viel zu schwach bewaffnete Syndik-Kriegsschiffe zu attackieren. Doch diesmal war es etwas anderes, denn diesmal befolgten die Allianz-Schiffe seine Befehle und bewegten sich auf vorgegebenen Vektoren bei vorgegebener Geschwindigkeit, um einen koor-dinierten Angriff auf jedes gegnerische Schiff zu starten, das sie erreichen konnten. Selbst die Offiziere, die Gearys Vorgehensweise üblicherweise nicht mochten, sollten damit kein Problem haben, waren doch mehr als genug Ziele für alle vorhanden.

Nachdem die Befehle ausgegeben waren, reagierte die Flotte so, wie Geary es erwartete. Die Syndik-Verfolger waren bislang noch nicht hinter ihnen aufgetaucht, und Geary verspürte den einschläfernden Effekt, der durch die immensen Entfernungen innerhalb eines Sternensystems verursacht wurden. Obwohl seine Schiffe auf 0,1 Licht beschleunigten, würden sie mehr als eineinhalb Stunden benötigen, um jene zehn Lichtminuten zu überwinden, die sie von der großen Formation aus feindlichen beschädigten Kriegsschiffen und Reparaturschiffen trennten. Es drohte aber noch mehr Zeit in Anspruch zu nehmen, da sich der Gegner von den Allianz-Schiffen fort bewegte, wenn auch nicht annähernd schnell genug, um ihnen zu entkommen.

»Geschätzte Zeit bis zum Kontakt 1,7 Stunden«, grummelte Desjani. »Sie laufen vor uns davon, aber wir werden sie eingeholt haben, lange bevor diese beiden Schlachtschiffe uns erreichen.«

»Wir müssen sicherstellen, dass die zwei gestoppt werden, bevor die sich einen Weg zu unseren Hilfsschiffen bahnen können.« Auf Gearys Display zogen die Flugbahnen der Allianz-Zerstörer und der Leichten Kreuzer vor denen der schweren Kriegsschiffe durch das All und hatten dabei nicht nur die größte Syndik-Formation zum Ziel, sondern auch kleinere Gruppen und einzelne Schiffe. »Wir sollten wohl eher von zwei Stunden ausgehen, bevor wir den Gegner eingeholt haben. Wir werden von Glück reden können, wenn unsere Verfolger bis dahin noch nicht eingetroffen sind.«

»Meinen Sie, es sind weitere Verstärkungen hier eingetroffen, nachdem wir das System verlassen haben?«, überlegte Desjani.

»Gute Frage. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Flotte, die wir beim letzten Mal hier im System zu sehen bekamen, dem entspricht, was die Syndiks uns hinterhergeschickt haben. Aber zumindest sieht es so aus, dass die Schiffe, die sich jetzt hier aufhalten, zum Kampf entschlossen sind.« Geary beobachtete, wie einige der beschädigten Kriegsschiffe, die auf dem Weg zu den inneren Planeten gewesen waren, ihre Vektoren änderten und den beiden Schlachtschiffen entge-genflogen, um eine kleine Eingreiftruppe zu bilden. Angesichts der Zahl der gegnerischen Schiffe und ihres reparaturbedürftigen Zustands konnte Geary nur den Kopf schütteln.

Er wusste, wie sie sich fühlen mussten — zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen und eigentlich gar nicht gefechtsbereit.

Seine eigene Flotte hatte sich mit einer ganz ähnlichen Situation konfrontiert gesehen, als sie das letzte Mal in Lakota gewesen waren.

Von den fast achtzig Schlachtschiffen und Schlachtkreuzern der Syndiks, denen die Allianz-Flotte im Lakota-System gegenübergestanden hatte, waren in dem anschließenden Gefecht mindestens sechs Schlachtschiffe und zehn Kreuzer zerstört worden. Die Allianz-Sensoren hatten zudem die Zerstörung von zwanzig Schweren Kreuzern sowie von Dutzenden Leichten Kreuzern und Jägern registriert. Zahlreiche Syndik-Schiffe waren darüber hinaus schwer beschädigt worden, was der Audacious, der Indefatigable und der Defiant zu verdanken war, die bis zum letzten Atemzug gekämpft hatten. Die in dieser Ab-wehrschlacht beschädigten Schiffe waren von den Syndiks hier zurückgelassen worden, als der Rest der Flotte die Verfolgung der flüchtenden Allianz-Schiffe aufgenommen hatte.

Zu der großen Formation jener Schiffe, die dringend repariert werden mussten, zählten unter anderem vier Schlachtschiffe, sieben Schlachtkreuzer sowie dreizehn Schwere Kreuzer. Zu diesem Verband versuchten jetzt nicht nur die beiden gefechtstüchtigen Schlachtschiffe der Wachformation, sondern noch ein weiteres Schlachtschiff, zwei Schlachtkreuzer und drei Schwere Kreuzer zu gelangen, die allesamt etliche Treffer hatten einstecken müssen. Um sie herum schwirrten Dutzende Leichte Kreuzer sowie Jäger, die eigentlich auf dem Weg in die Reparaturdocks gewesen waren und die nun versuchten, sich der kleinen Widerstandsbewegung ihrer Kameraden anzuschließen.

Er ließ die Kursvektoren durchrechnen und kam zu dem Ergebnis, dass durch den Zusammenschluss dieser Schiffe eine zwar schwache, aber nichtsdestotrotz gefährliche Flotte entstünde. Angesichts der zu überwindenden Entfernungen und der Schäden an ihren Antriebsaggregaten konnten diese Schiffe jedoch nur in mehreren kleinen Wellen eintreffen, solange sie sich nicht zurückzogen und den Versuch unternahmen, sich mit mehr Abstand zur Allianz-Flotte zu formieren. Dadurch aber würden sie Gearys Schiffen freie Bahn lassen, um den großen Verband in Stücke zu reißen. Zwar würden die Syndiks damit ein wenig Zeil schinden können, doch die würde nicht ausreichen, um der Vernichtung zu entgehen, es sei denn, die Verfolgerflotte tauchte früher im System auf, als es Geary recht sein konnte.

Zwei Schlepper hatten sich nur drei Lichtminuten vom Sprungpunkt entfernt mit einem zerschossenen Schweren Kreuzer abgemüht, der das Pech gehabt haben musste, länger als alle anderen darauf zu warten, dass er endlich abge-schleppt wurde. Da es nun keine Hoffnung mehr gab, vor den Allianz-Schiffen zu entkommen, gaben die Besatzungen in aller Eile ihre schwerfälligen Schlepper auf, die in hektischem Tempo Rettungskapseln ausspuckten. Auch aus dem Schweren Kreuzer wurden Rettungskapseln ausgestoßen, mit denen die Bergungscrew die Flucht ergriff.

Die Allianz-Zerstörer Jinto und Herebra erreichten die Schlepper als Erste und zerschossen sie aus nächster Nähe mit ihren Höllenspeeren, bevor sie den Kurs änderten und ihr nächstes Ziel anflogen. Direkt hinter ihnen zogen die Contus und die Savik sowie die Leichten Kreuzer Tierce, Ward und Lunge oberhalb und an Backbord an dem aufgegebenen Schweren Kreuzer vorbei, der von Höllenspeeren durchbohrt wurde und in mehrere große Trümmerstücke zerbrach. »Mal sehen, ob sie das auch noch bergen wollen«, meinte Geary.

»Und noch einer«, merkte Desjani mit strahlender Miene an, als ein einzelner Leichter Kreuzer, der von seiner Crew aufgegeben worden war, ebenfalls unter dem Beschuss durch ein halbes Dutzend Allianz-Zerstörer kollabierte.

Plötzlich kam Geary eine Idee, und er gab den Befehl:

»Ocrea, sammeln Sie ein paar Rettungskapseln von diesem Schweren Kreuzer ein. Ich will wissen, was uns die Crew da-rüber verraten kann, wie lange es gedauert hat, bis die anderen Schiffe sich an unsere Verfolgung gegeben haben. Und ich will wissen, was sie uns sonst noch Nützliches erzählen können.« Als Schwerer Kreuzer verfügte die Ocrea zwar nicht über Verhöreinrichtungen wie die an Bord der Dauntless, aber er hatte jetzt keine Zeit, die Gefangenen auf ein größeres Schiff zu bringen, um sie dort zu verhören. Es war zu hoffen, dass die Syndiks von dem plötzlichen Auftauchen der Allianz-Flotte und der Zerstörung ihrer Schiffe so unter Schock standen, dass sie alles ausplauderten, was sie wussten.

Inzwischen war der Zeitpunkt gekommen, um den Einsatzplan an die Reaktionen der Syndiks anzupassen. Die in erster Linie defensiven Maßnahmen des Gegners hatten es ihm sogar noch leichter gemacht. Da einige Syndik-Schiffe sich zu einer größeren Formation zusammenschlossen, konnten auch die Allianz-Schiffe geschlossen vorgehen, die zuvor gesondert jedes einzelne Ziel hätten ansteuern sollen. Geary stutzte beim Blick auf sein Display, da die feindliche Flotte der beschädigten Kriegsschiffe auf einmal den Namen »Verlustflotte« trug.

Ihm war bekannt, dass die taktischen Systeme feindlichen Formationen automatisch Namen gaben, doch es wunderte ihn, dass das System gerade diese Bezeichnung gewählt hatte, anstatt sie einfach allgemein »Flotte Alpha« zu nennen. Irgendwie hatte es für ihn immer etwas Beunruhigendes, wenn automatisierte Hilfssysteme eine Spur zu menschlich agierten.

Er würde nichts Ausgefallenes versuchen, was unnötig viele Flugmanöver erforderte. Es genügte, die Unterformationen zu lockeren größeren Gruppen zusammenzuführen, die direkt über die größte Syndik-Flotte — die Verlustflotte — hinweg-fliegen konnten, um anschließend die nicht ganz so sehr in Mitleidenschaft gezogenen Kriegsschiffe zu beschießen, die sich zu formieren versuchten. Danach würden sie sich die beiden Schlachtschiffe vornehmen können, die sich von der Wachflotte abgespalten hatten. »Was halten Sie davon?«, fragte er an Desjani gewandt.

"Mit angespannter Miene begutachtete sie seinen Plan.

• Eine Reihe von Salven gegen die Verlustflotte, um die Waffen der Syndik-Kriegsschiffe auszuschalten, die noch funktionstüchtig sind? Sie wollen sie nicht sofort zerstören?«

»Erst wenn unsere Hilfsschiffe die Vorräte der Reparaturschiffe geplündert haben. Ich will nicht riskieren, dass uns die Trümmer der zerschossenen Kriegsschiffe in den Weg kommen. Wir können ihnen immer noch den Rest geben, wenn wir haben, was wir wollen, und wir die Flotte hinter uns zurücklassen. Dann sind vier unserer Schlachtschiffe bei den Hilfsschiffen.«

Desjani nickte. »Selbst die Dritte Schlachtschiffdivision sollte in der Lage sein, feindliche Schiffe außer Gefecht zu setzen, deren Systeme komplett ausgefallen sind. Aber Sie müssen ein paar Schlachtschiffe oder Schlachtkreuzer mehr bei der Formation belassen, zu der die Hilfsschiffe gehören.«

»Warum? Ja, die Warrior hat man erneut zusammengeschossen, aber die Orion und die Majestic können sich zur Wehr setzen, und die Conqueror ist ebenfalls in guter Verfassung. Ich rechne die Conqueror mit dazu, weil sie zur gleichen Division gehört. Diese vier Schlachtschiffe sollten in der Lage sein, mit allem zurechtzukommen, was sich irgendwie durch den Rest der Flotte mogeln könnte.«

Desjani machte eine neutrale Miene, und auch ihr Tonfall verriet nichts. »Das ist richtig, sofern die Orion, die Majestic und die Conqueror nicht irgendwelche Schwierigkeiten damit haben, das Feuer auf den Feind zu eröffnen.«

Mit anderen Worten: Die Befehlshaber dieser Schiffe könnten einen Grund finden, sich vor einer Konfrontation zu drücken. Er musste zugeben, dass Desjanis diplomatisch formulierte Aussage durchaus begründet war. Captain Casia von der Conqueror hatte nichts geleistet, das es rechtfertigte, auch nur das mindeste Vertrauen in ihn zu setzen. Neben Commander Yin, die die Orion befehligte, seit Captain Numos seines Postens enthoben und in Haft genommen worden war, wirkte Casia sogar wie das Musterbeispiel eines Gefechtsoffiziers.

Und der derzeitige Befehlshaber der Majestic, der seinen Posten auch nur bekommen hatte, weil Captain Faresa als Verbündeter von Numos ebenfalls vom Dienst suspendiert worden war, hatte sich bislang als so völlig profillos erwiesen, dass Geary Mühe hatte, sich das Gesicht des Mannes einzuprägen.

Unter idealen Umständen hätte er die drei längst ausgetauscht, aber wenn eine Flotte um ihr Leben rannte, da sie sich auf feindlichem Territorium befand, lagen ganz sicher keine idealen Umstände vor — erst recht, wenn die Flottenpolitik Gearys Kommando an einem seidenen Faden hängen ließ und er es sich nicht leisten konnte, zu sehr von oben herab zu agieren. Einige Offiziere würden als Folge solcher Entscheidungen nur noch vehementer gegen ihn agieren, während sich bei anderen der Eindruck festigen würde, Geary sei auf dem besten Weg, in die Rolle des Diktators zu schlüpfen, was manche von ihnen erhofften, andere dagegen befürchteten.

Er legte die Stirn in Falten. »Ich möchte nicht auf mehrere größere Schiffe verzichten, nur weil die drei Schlachtschiffe Probleme verursachen könnten.«

»Wenn im Wrack der Audacious tatsächlich unsere Leute gefangengehalten werden«, betonte Desjani, »dann werden alle verfügbaren Shuttles benötigt, um sie von dem Schiff zu holen. Außerdem werden dann Schiffe gebraucht, die geräu-mig genug sind, um die befreiten Gefangenen zumindest vo-rübergehend an Bord zu nehmen.«

»Gutes Argument.« Damit blieb aber immer noch das Problem von zwei Schiffskommandanten, denen es nicht gefallen würde, bei den Hilfsschiffen zu bleiben und sich nicht an den Kämpfen beteiligen zu können. Kommandanten, die einen Weg finden würden, seinen ausdrücklichen Befehl zu ignorieren. Wenn sie das taten, um sich ins Kampfgetümmel zu stürzen, würden die meisten anderen Befehlshaber ihnen das nicht einmal übel nehmen, und sie würden auch nicht Geary den Rücken stärken, wenn er den Befehlsverweigerern die Hölle heiß machte, weil sie ihre Aufgabe als Eskorte für die Hilfsschiffe vernachlässigt hatten. Die Doktrin des Angriffs um jeden Preis war diesen Leuten in Fleisch und Blut überge-gangen und ließ sich so leicht nicht austreiben. Er warf einen Blick nach hinten, wo Co-Präsidentin Rione saß und dem Geschehen mit ausdrucksloser Miene folgte. »Madam Co-Präsidentin, ich würde Sie gern um einen Ratschlag bitten, wie man einen Befehl formulieren könnte, um…«

»Ich habe Sie gehört«, unterbrach Rione ihn. »Vielen Dank, dass Sie so gnädig sind, mich in Ihre Diskussion einzubeziehen.« Sie ließ eine Pause folgen, die gerade lang genug war, um ihre Worte wirken zu lassen. »Sie schicken diese Schiffe los, um sicherzustellen, dass unsere Leute, die vor Kurzem in Gefangenschaft geraten sind, befreit und in Sicherheit gebracht werden. Wenn ein Syndik-Kriegsschiff in die Nähe des Wracks der Audacious gelangt, könnte diese Rettungsmaßnahme ge-stört werden und sogar dazu führen, dass einige dieser Gefangenen gelötet werden. Welche Rechtfertigung benötigen Sie noch? Was kann für ein Schiff ehrenvoller sein als der Auftrag, für eine sichere Rettung unserer Leute zu sorgen?«

Geary nickte. »Sehr treffend formuliert, Madam Co-Präsidentin.« Damit blieb die Frage unbeantwortet, wen er losschicken sollte. Er ließ seinen Blick über das Display wandern und versuchte zu entscheiden, wem er vertrauen konnte und wer nicht über alle Maßen daran Anstoß nehmen würde, wenn ihm diese eigentlich ehrenvolle Aufgabe übertragen wurde, auch wenn sie ihn nicht an vorderster Front agieren ließ. Ihm war bereits die Meinung zu Ohren gekommen, er würde bestimmte Offiziere bevorzugt behandeln, und es half ihm nicht, wenn er diesen Eindruck noch verstärkte, auch wenn der in vieler Hinsicht sogar der Wahrheit entsprach. Er konnte verschiedene Commander besser leiden als andere, weil sie fähig und zugleich aggressiv waren, intelligent und tapfer, und weil ihre Loyalität der Allianz galt und sie nicht aus politischem Kalkül heraus handelten, um ihre Karriere voranzu-treiben. Beispielsweise Captain Cresida…

Deren Schlachtkreuzer Furious gehörte zusammen mit der Implacable zu den letzten Uberlebenden der Fünften Schlachtkreuzerdivision. Sie benötigte genau zwei Schiffe. »Ich schicke Cresida hin. Ihr Schiff und die Implacable.«

Desjani zuckte kurz mit den Augenbrauen. »Sie ist es gewöhnt, sich im dicksten Kampfgetümmel aufzuhalten.«

»Ganz genau. Sie hat unter Beweis gestellt, dass sie fähig ist, diese Aufgabe zu erledigen.«

»Da bin ich aber froh, dass ich nicht diejenige bin, die ihr das verkünden wird, Sir«, meinte sie ironisch.

»Wir sind fast eine Lichtminute von der Furious entfernt.

Das dürfte genügen, um vor der Druckwelle sicher zu sein«, gab Geary zurück und brachte Desjani damit zum Grinsen.

Er veränderte seinen Plan, ließ ihn von Desjani überprüfen, ob er auch nichts übersehen hatte, dann schickte er die Änderungen los. »Captain Oesida, ich übertrage der Furious und der Implacable die wichtigste Aufgabe der Flotte. Ich möchte, dass Sie sicherstellen, dass unsere Gefangenen und unsere Hilfsschiffe bestens beschützt werden.«

»Sagen Sie ihr, Sie zählen auf sie«, raunte Desjani so leise, dass er sie fast nicht gehört hätte. Als sie seine verwunderte Miene sah, fügte sie an: »Es stimmt. Sagen Sie es ihr, Sir.«

Die eingeworfene Bemerkung hatte nur ein paar Sekunden in Anspruch genommen, und Geary ergänzte die Übermittlung: »Ich zähle auf Sie, Captain Cresida.« Es kam ihm absolut schamlos vor, so etwas bei Oesida einzusetzen, aber es entsprach der Wahrheit, das musste er Desjani zugestehen.

Cresidas Antwort traf nach etwas mehr als zwei Minuten ein, was aber nur an der Entfernung zwischen den beiden Schiffen lag. Zu Gearys Erstaunen klang Cresida nicht wütend, sondern erfreut und entschlossen. »Jawohl, Sir. Die Furious und die Implacable werden die gefangenen Kameraden nicht enttäuschen — und Sie auch nicht, Sir.«

Geary warf Desjani einen Seitenblick zu, die ganz auf ihr Display konzentriert zu sein schien. Sie hatte ihm fast von der ersten Minute an auf eine solche Weise Ratschläge gegeben, wie ihm jetzt bewusst wurde. Vielleicht war sie ja der Meinung, dass die lebenden Sterne ihn tatsächlich geschickt hatten — aber wenn es etwas gab, von dem sie glaubte, er müsse das wissen, dann sagte sie es ihm und wiederholte es, bis er endlich auf sie aufmerksam wurde. Genauso wichtig war jedoch auch, dass Desjani nicht blindlings seine Pläne akzeptierte, sondern darauf hinwies, wenn es etwas gab, das ihrer Meinung nach geändert werden musste. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie jemals ein Vorhaben ohne zu hinterfragen akzeptiert hatte und ob ihr bedingungsloser Glaube an seine Mission sie auch nur ein einziges Mal davon abgehalten hatte, ihre Meinung zu äußern, wenn sie fand, dass etwas anders angegangen werden sollte. »Danke, Captain Desjani.«

Sie sah zu ihm und lächelte flüchtig. »Mit Captain Cresida muss man so umgehen, Sir.«

»Geben Sie mir nur weiter Ratschläge, wenn ich sie be-nötige.«

Diesmal machte sie eine überraschte Miene. »Das gehört zu meinen Aufgaben, Sir, auch wenn ich sagen muss, dass Sie wesentlich besser darauf reagieren als Admiral Block.«

Er überprüfte die Zeit. Noch immer kein Zeichen von ihren Verfolgern, und nach wie vor dauerte es noch über eine Stunde, ehe sie die Verlustflotte erreichten. Ganz gleich, was geschah, es würde auf jeden Fall ein langer Tag werden.

»Captain!«, rief plötzlich ein Wachhabender Desjani zu.

»Wir haben Rettungskapseln entdeckt, die von den Reparaturschiffen in der Verlustflotte ausgestoßen werden.«

»Was?«, riefen er und Desjani gleichzeitig und sahen auf ihr Display. Tatsächlich war dort ein ganzer Schwarm an Rettungskapseln zu erkennen, der die Reparaturschiffe verließ.

»Die verlassen jetzt schon ihre Schiffe?«

Desjani betrachtete skeptisch die Anzeige. Offenbar versuchte sie dahinterzukommen, welchen Trick die Syndiks ihnen damit zu spielen versuchten. »Haben die etwa durchschaut, wie dringend wir die Vorräte benötigen, die die Reparaturschiffe an Bord haben? Werden die alles in die Luft sprengen, bevor wir irgendetwas plündern können?«

Ehe Geary darauf antworten konnte, leuchtete seine interne Komm-Leitung auf. Es war Lieutenant Iger von der ge-heimdienstlichen Abteilung. Dass er sich während eines Gefechts meldete, war höchst ungewöhnlich, ging es bei seiner Arbeit doch darum, über längere Zeiträume hinweg Daten zu sammeln und zu analysieren, während alles von taktischer Bedeutung automatisch auf den Displays vor Geary und den anderen Commandern erschien. »Ja, Lieutenant?«

Iger, dessen Kopf in einem kleinen Fenster zu sehen war, verneigte sich leicht. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie ausgerechnet jetzt störe, Sir, aber…«

»Reden Sie, Lieutenant. Was gibt es?«

Der Geheimdienstoffizier wirkte erschrocken, dann fuhr er hastig fort: »Wir haben die Bestätigung, dass es sich um standardmäßige Reparaturschiffe der Syndiks handelt.«

Geary wartete, aber so wie die Ingenieure auf den Hilfsschiffen ging wohl auch dieser Mann davon aus, dass ein Stichwort genügte, ihn wissen zu lassen, was gemeint war. »Und was heißt das? Warum verlassen sie jetzt schon ihre Schiffe?«

»Weil sie nicht zum Militär gehören, Sir.«

»Nicht?«

Desjani, die die Unterhaltung mitbekommen hatte, warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Richtig, Sir«, erwiderte Iger. »Die logistische Versorgung wird bei den Syndiks nicht vom Militär geleistet. Darum kümmert sich ein separates Direktorat, das die Aufträge aus-schreibt und an Privatunternehmen vergibt. Unsere Flotte hat diese Reparaturschiffe bislang nie zu Gesicht bekommen, weil sie gar nicht dort unterwegs sein sollten, wo sie Kriegsschiffen der Allianz begegnen könnten.«

»Das sind Zivilisten?«, hakte Geary nach.

»Ja, Sir«, bestätigte der Geheimdienstoffizier. »Natürlich solche mit Bezug zum Militär, und damit stellen sie völlig legitime Ziele dar. Aber an Bord befindet sich kein Militär, die Leute sind nicht für ein Gefecht ausgebildet, sie sind nicht in der Lage sich zu verteidigen. Darum verlassen sie die Schiffe.

Die Leute und ihre Arbeitgeber werden nicht dafür bezahlt, sich an Kampfhandlungen zu beteiligen. Soweit wir wissen, droht den Besatzungen sogar Arger, wenn ihr Verhalten zur Folge hat, dass die Reparaturschiffe stärker beschädigt werden als nötig. Darum ergreifen sie jetzt die Flucht.«

»Augenblick mal. Die wollen damit sicherstellen, dass die Schiffe möglichst unversehrt bleiben?« Iger nickte eifrig. »Ist das sicher?«

»Ja, Sir. Das wissen wir aus Aufzeichnungen, die in unseren Besitz gelangt sind, und aus Verhören. Das Flottenpersonal hat für diese Zivilisten nicht viel übrig, weil man der Ansicht ist, dass sie von ihnen nicht angemessen unterstützt werden.

Außerdem werden die Privatunternehmen deutlich besser bezahlt, was wohl in erster Linie den Unmut beim militärischen Personal hervorruft.«

»Nicht zu fassen«, murmelte Geary und überlegte kurz.

»Dann haben die auf den Reparaturschiffen keine Sprengfallen oder Ähnliches für uns hinterlassen?«

Iger zögerte, da er erkennbar nachdachte, dann unterhielt er sich kurz mit jemandem, der sich mit ihm in der Abteilung aufhielt, und nickte schließlich. »Das halte ich für unwahrscheinlich, Sir. Diese Leute würden ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn ihr Unternehmen glaubt, sie hätten den Schaden an einem Schiff zu verantworten. Man kann davon ausgehen, dass sie alle Systeme runtergefahren haben und die Schiffe treiben lassen, weil sie hoffen, dass wir sie ganz ignorieren oder im Vorbeiflug nur ein paar Schüsse auf sie abgeben.

»Die werden sehr enttäuscht sein. Vielen Dank, Lieutenant.

Sie und Ihre Leute haben hervorragende Arbeit geleistet.«

Als das Bild Lieutenant Igers verschwand, wandte sich Geary an Desjani und Rione zugleich, dann wiederholte er, was er soeben erfahren hatte. »Sie haben solche Reparaturschiffe noch nie gesehen?«, fragte er Desjani.


Sie schüttelte den Kopf. »Nur in Informationsunterlagen über die verschiedenen Schiffstypen der Syndiks. Begegnet bin ich noch nie einem, und ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich jemals in einer Simulation damit zu tun hatte.«

Er sah Rione an. »Ergibt das, was Lieutenant Iger gesagt hat, für Sie einen Sinn?«

»Für mich als Zivilperson?«, fragte sie spitz.

»Ja.« Wichtiger noch: als Zivilperson nach einem Jahrhundert Krieg. Gearys letzter Kontakt mit Zivilisten lag gut hundert Jahre zurück, in einer Zeit, bevor der Krieg gegen die Syndiks begonnen hatte. Er hatte gesehen, was nach einem Jahrhundert Krieg aus den Offizieren und Matrosen der Flotte geworden war. Es musste auch Auswirkungen auf Zivilpersonen gehabt haben.

Rione musterte ihn und schien zu überlegen, welchen Grund er für seine Frage hatte. »Sicher. So sehr sie sich den Sieg ihrer Militärstreitmacht wünschen und so sehr sie den Feind inzwischen hassen, sind Zivilisten nach wie vor nicht bereit, in eine Schlacht zu ziehen. Selbst wenn ein paar Individuen an Bord sein sollten, die Widerstand leisten wollen, würden sie von der Masse der Kollegen mitgezerrt, die einfach nur mit dem Leben davonkommen wollen.« Rione entging Desjanis Gesichtsausdruck nicht. »Sie sind aber deshalb keine Feiglinge«, machte sie in frostigem Tonfall klar. »Wer nicht für den Kampf ausgebildet und geistig abgehärtet ist, der kann sich nicht erheben und so kämpfen, wie Militärs das können.

Sie sind aber klug genug, um zu wissen, dass sie gegen uns keine Chance haben.«

Desjani zuckte mit den Schultern und sah Geary an. »Diese Syndik-Kriegsschiffe, die unsere Flotte abfangen wollen, haben auch keine Chance, und doch sind sie auf dem Weg hierher.«


Geary schüttelte den Kopf. »Wenn diese Leute auf den Schiffen bleiben, ohne dass sie eine Gefechtsausbildung erfahren haben, können sie damit überhaupt nichts erreichen.

Sie und ich, wir würden zumindest dafür sorgen, dass die Schiffe dem Feind nicht unversehrt in die Hände fallen, wenn wir den Verdacht hätten, dass er es darauf abgesehen hat. Aber sinnlos zu sterben, würde unserer Sache nicht dienen.« Mit dem Kinn deutete er auf Richtung Display, das die beiden herannahenden Kriegsschiffe zeigte, die noch Stunden entfernt waren. »Der Syndik-Kommandant schmeißt diese Schiffe mit ihren Besatzungen weg, weil er das kann. Weil die Besatzungen jedem sinnlosen Befehl folgen, auch wenn der ihnen den sicheren Tod bringt. Mögen die Lebenden Sterne mir beistehen, wenn ich jemals entscheiden sollte, Leben zu vergeuden, nur weil ich das kann.«

Desjani legte die Stirn in Falten und kniff ein wenig die Augen zusammen. Für jemanden, der so erzogen worden war, dass er glaubte, seine Ehre verlange von ihm den Kampf bis zum Tod, musste das ein schwieriges Konzept sein. Immerhin war es genau das, was sie tun würde, wenn die Umstände es von ihr erforderten. Aber diese Verpflichtung war sie bereits eingegangen, noch bevor sie zur Flotte gegangen war, und seitdem lebte sie damit. »Ja, Sir«, entgegnete sie schließlich. »Ich versiehe, was Sie meinen. Wir erwarten Gehorsam von unseren Untergebenen, und im Gegenzug verdienen sie unseren Respekt für ihre Bereitschaft, einen Befehl auch dann zu befolgen, wenn er ihren Tod bedeutet.«

»Ganz genau.« Sie hatte es besser formuliert, als er es hin-bekommen hätte. Er erinnerte sich daran, wie Desjani ihm einmal erzählt hatte, dass man ihr eine Anstellung in der Literaturagentur ihres Onkels angeboten hatte, bevor sie zur Flotte gegangen war. Unwillkürlich fragte er sich, was wohl aus ihr hätte werden können, wäre sie nicht mitten in einem Krieg geboren worden, der zu der Zeit schon seit Jahrzehnten lobte.

Als sich Rione erneut zu Wort meldete, klang sie neugie-rig: »Eines verstehe ich hier nicht. Sie haben gesehen, wie die Syndiks in aller Eile die Kriegsschiffe verließen, die wir bereits passiert haben, aber das schienen Sie in keiner Weise als uneh-renhaft zu empfinden — ganz im Gegensatz zu den Zivilisten, die in diesem Moment von ihren Schiffen fliehen. Wieso?«

Desjani verzog den Mund, drehte sich aber weder zu Rione um, noch gab sie ihr eine Antwort. Schließlich sprang Geary ein. »Weil die Besatzungen der Kriegsschiffe bis zum letzten Augenblick gewartet haben, ehe sie von Bord gingen.«

Co-Präsidentin Rione musterte ihn einen Moment lang, als überlege sie, ob seine Worte ernst gemeint waren. »Obwohl die Evakuierung unvermeidbar war, ist es ehrenhafter, dass sie noch gewartet haben, anstatt ihr Schiff in dem Moment zu verlassen, da bereits klar war, dass sie uns nicht entkommen konnten? Verstehe ich das richtig?«

»Nun… ja.« Geary schaute zu Desjani, aber die schien nicht daran interessiert zu sein, ihm dabei zu helfen, Victoria Rione irgendetwas zu erklären. »Es könnte ja noch etwas Unerwartetes geschehen. Vielleicht ändern wir den Kurs. Vielleicht taucht hinter uns aus dem Sprungpunkt eine schlagkräftige Syndik-Flotte auf, oder aus dem Hypernet-Portal kommt Verstärkung, die uns dazu veranlasst, die Flucht zu ergreifen.

Womöglich gibt es für den Verfolger einen Grund, den Angriff in letzter Sekunde abzubrechen, weil es ihnen gelungen ist, doch noch ein Waffensystem wieder in Gang zu setzen, weshalb sie sich nun wehren können. Alles Mögliche kann passieren, und deshalb wartet man für alle Fälle bis zur letzten Sekunde.«


»Für den Fall, dass ein Wunder geschieht?«, fragte Rione.

»Sozusagen, ja. Denn manchmal geschehen Wunder. Manchmal, wenn man weiterkämpft oder weiter zum Kampfbereit ist, auch wenn es keine Hoffnung mehr zu geben scheint.«

Sie studierte ihn eine Weile, dann senkte sie für einen Moment den Blick. »Ja«, sagte Rione schließlich. »Manchmal geschehen Wunder. Wenn man nicht aufgibt, solange noch ein Funke Hoffnung besteht. Das verstehe ich. Aber wann ist der Punkt erreicht, an dem diese Hoffnung auf ein Wunder sich von inspirierter Motivation zu selbstmörderischem Irrsinn wandelt?«

Wie sollte er darauf antworten? »Das kommt ganz drauf an«, entgegnete er ausweichend.

Co-Präsidentin Rione richtete ihren Blick wieder auf ihn.

»Dann ist es die Aufgabe des Befehlshabers, die Situation einzuschätzen und zu entscheiden, ob es vernünftig oder irrsin-nig ist, weiter auf ein Wunder zu warten?«

Er mochte es nicht, in solchen Begriffen zu denken, musste jedoch nach kurzem Zögern zugeben: »Ja, vermutlich ist das so.«

Riones Lächeln wirkte halb spöttisch. »So wie die Rückkehr nach Lakota, anstatt zu versuchen, sich den Weg durch Ixion freizukämpfen? Ich hoffe, Ihr Urteilsvermögen bleibt auch in Zukunft so ungetrübt, Captain Geary. Sie scheinen einen Riecher dafür zu haben, wo ein Wunder auf Sie wartet.«

Er nickte nur, da er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Schließlich drehte er sich nach vorn und bemerkte dabei Desjanis leicht verdutzten Gesichtsausdruck. »Was ist los?«

Captain Desjani schüttelte den Kopf. »Nichts, Sir.«

»Von wegen. Gibt es irgendwas, das ich wissen sollte?«

»Nein, Sir«, beteuerte sie, doch dann verzog sie den Mundwinkel und antwortete mit leiser Stimme. »Ich bin nur…

überrascht, dass ich mal einer Meinung mit Co-Präsidentin Rione bin.«

»Sie sind beide verrückt.«

Desjani grinste.

»Aktueller Stand zu den Syndik-Kriegsschiffen in der Verlustflotte«, verkündete der Ops-Wachhabende.

Geary warf einen Blick auf sein Display. Von den vier Schlachtschiffen, an denen umfangreiche Reparaturen notwendig waren, ließ nur eines Anzeichen erkennen, dass die Waffensysteme hochgefahren wurden. Die anderen hatten wohl so schwere Schäden erlitten oder aber die Systeme waren im Zuge der Arbeiten so weit zerlegt worden, dass sie nicht schnell genug aktiviert werden konnten. Von den sieben Schlachtkreuzern in der Formation war nur bei zweien fest-stellbar, dass einige Höllenspeer-Batterien in Betrieb genommen wurden. Den zwölf Schweren Kreuzern erging es nicht viel besser; lediglich fünf ließen Waffenaktivitäten erkennen.

Einer der Schlachtkreuzer, dessen Antriebssystem nicht ganz so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden war, beschleunigte qualvoll langsam, um sich von der Stelle zu bewegen.

»Flieht der?«, fragte sich Desjani und ließ die Finger über die Kontrollen sausen, während sie etwas nachprüfte. »Nicht bei diesem Vektor. Er versucht, sich den anderen Schiffen anzuschließen, die sich vor der Flotte formieren.«

Die Syndiks hofften wohl immer noch, dass ein Wunder geschah, das die Allianz-Flotte davon abhalten würde, alles in Stücke zu schießen, was sich in Reichweite ihrer Waffen befand.

Ein Alarm blinkte auf Gearys Display und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Schirm zurück. »Das automatische Gefechtssystem empfiehlt, die Verlustflotte mit Blöcken zu be-werfen.«


»Kinetische Projektile als Waffen gegen Schiffe? Die sind zwar alle so schwer beschädigt, dass sie kaum noch manövrieren können, aber es sind ja nur minimale Kurskorrekturen notwendig, um Blöcken auszuweichen, die aus so großer Entfernung abgefeuert werden.« Desjani verzog das Gesicht und warf selbst auch einen Blick auf diese Empfehlung. »Wir müssten schon eine Menge Blöcke aus unserem Bestand holen, um ein Muster zu bilden, das gute Chancen auf wenigstens ein paar Treffer hat.«

»Das scheint es mir nicht wert zu sein«, fand Geary. »Hey, was ist mit der Audacious?«

»Das empfohlene Muster würde die Audacious verschonen, sofern die keine Kursänderung vornimmt. Genau das passiert aber, wenn einer der Schlepper sie von ihrem momentanen Kurs abbringt und sie genau in die Flugbahn eines Blocks zieht.« Desjani schüttelte den Kopf. »Und was ist, wenn die Trümmer eines Kriegsschiffs mit dem Reparaturschiff kol-lidieren, das wir gerade plündern wollen? Nur eine KI kann glauben, dass das ein guter Vorschlag ist. Ich würde dem Gefechtssystem sagen, dass es die Möglichkeit ignorieren soll. Wenn Sie ihm Empfehlung zur Kenntnis genommen sagen, wird das System immer wieder diese Empfehlung an-zeigen und Sie mit aktualisierten Warnungen bombardieren.«

»Gute Idee.« Er tippte den entsprechenden Befehl ein und hoffte darauf, dass diese manuelle Eingabe auch tatsächlich berücksichtigt wurde. Immerhin hatten automatisierte Systeme manchmal die Angewohnheit, Befehle einfach zu ignorieren und Meldungen immer wieder anzuzeigen, die sie eigentlich längst hätten vergessen sollen. Wieder so ein Fall, wo ein Schiffssystem für seinen Geschmack eine Spur zu menschlich agierte. »Irgendeine Ahnung, was dieses riesige Loch in der Audacious verursacht haben könnte? Sieht aus, als wäre im Schiff etwas explodiert.«

Desjani warf nur einen flüchtigen Blick auf das Display.

• Das war der Null-Feld-Projektor, der sich selbst zerstört hat.

Die Syndiks besitzen diese Technologie nicht, deshalb verfügt das System über eine Selbstzerstörungsautomatik. Im Grunde genommen so wie bei den Hypernet-Schlüsseln der Allianz.

Bei denen wollen wir auch nicht, dass sie dem Feind in die Hände fallen.«

»Ist es schon mal zu einer Selbstzerstörung gekommen, wenn die gar nicht stattfinden sollte?«

»Nicht dass ich wiisste. Die Waffenabteilung hat uns versichert, dass das nicht passieren kann, deshalb machen wir uns da auch keine Sorgen.« Desjani sagte das mit todernster Stimme, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen, weil sie wusste, wie absurd ihre Aussage war. Zwar sollten Angaben der Waffenabteilung die Realität wiedergeben, aber jeder Matrose wusste aus Erfahrung, dass er sie besser als Fantastereien behandelte, solange der praktische Umgang mit den Waffen nicht einen Beweis für die Behauptung erbrachte.

Geary konnte nur mit Mühe verhindern, nicht laut zu lachen. »Natürlich nicht.« Auf seinem Display leuchtete die Mitteilung auf, dass Colonel Carabalis Plan eingegangen war.

Er überflog ihn und warf zwischendurch immer wieder einen kurzen prüfenden Blick auf sein Display, damit er nicht irgendetwas Unerwartetes übersah.

Der Plan für die Marines war denkbar einfach gehalten und griff auf Teams von allen vier Schlachtschiffen zurück, die die Hilfsschiffe begleiteten, die wiederum auf direktem Weg zur Verlustflotte waren, in deren Mitte sich die Audacious befand.

Die meisten dieser Marines hatten das Allianz-Schiff zum Ziel und benutzten für ihren Einsatz alle Shuttles, die auf den Schlachtschiffen und auf Captain Cresidas Schlachtkreuzern zur Verfügung standen. Außerdem sollte jedes Enterteam der Hilfsschiffe von einem kleinen Trupp Marines begleitet werden, der nach Sprengfallen suchte und Ausschau hielt, ob sich nicht doch ein fanatischer Syndik an Bord befand, der für seine Überzeugung sterben und möglichst viele Gegner mit in den Tod nehmen wollte.

Plötzlich hielt er inne. »Mir war gar nicht aufgefallen, dass die Syndiks die Audacious evakuiert haben«, sagte er zu Desjani.

Sie überprüfte ihr eigenes Display, um zurückliegende Informationen aufzurufen, dann nickte sie. »Sie haben das Schiff verlassen, als die anderen Syndiks die Reparaturschiffe aufgaben. Darum ist das nicht aufgefallen. Aber wenn Sie sich die Aufzeichnungen ansehen, können Sie es deutlich erkennen. Die Anzeigen der Audacious haben sich aber nicht verändert, also haben sie zumindest nicht die Atmosphäre entweichen lassen.«

»Wollen wir hoffen, dass dadurch die ganze Sache einfacher wird.« Er kennzeichnete den Plan als genehmigt und schickte ihn zurück. Auch wenn er den Marines gesagt hatte, sie müssten seine ausdrückliche Zustimmung nicht abwarten, waren die Soldaten prinzipiell glücklicher, wenn Entscheidungen Schwarz auf Weiß ergingen.

Zehn Minuten später — Geary hielt nach wie vor Ausschau nach der sie verfolgenden Streitmacht und spürte, wie sich durch die wachsende Anspannung Druck in seinem Kopf auf-baute — ging eine andere Warnung ein, diesmal eine Mitteilung von höchster Priorität. Nur mit Mühe unterdrückte er ein Aufstöhnen, als er die Ident-Markierung des Absenders sah. Captain Casia von der Conqueror, eine der größten Nerven-sägen unter den Senioroffizieren, und ausgerechnet mit ihm sollte er sich jetzt abgeben. Andererseits konnte es sich ja tatsächlich um etwas Wichtiges handeln. Da die Meldung von Casia kam, war das zwar äußerst unwahrscheinlich, dennoch konnte er den Mann nicht einfach ignorieren. Er nahm die Meldung an, und prompt tauchte ein Fenster auf, das Casias irritierte Miene zeigte. »Captain Geary«, begann er mit bedeu-tungsschwangerer Stimme, »ich wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass Marines, die meinem Schiff zugeteilt sind, bei einer Rettungsaktion mutmaßlicher Allianz-Gefangener mitmachen sollen, die von den Syndiks auf dem Wrack der Audacious festgehalten werden.«

Geary warf einen Blick auf die Position der Conqueror. Zehn Lichtsekunden entfernt. Keine allzu lästige Verzögerung, auch wenn die Unterhaltung selbst vermutlich dafür umso entnervender sein würde. »Das ist korrekt, Captain Casia«, gab er formal zurück und wartete ab, mit welchem Problem der Mann ihn diesmal behelligen wollte.

»Mir wurde auch mitgeteilt, dass die beteiligten Marines nicht unter Aufsicht des Flottenkommandos aktiv werden«, knurrte Casia.

Er sah den Captain verdutzt an. »Das trifft nicht zu, Captain Casia. Ich habe das Kommando über Colonel Carabali, die wiederum die Marines meinen Befehlen entsprechend ein-setzt.«

Zwanzig Sekunden später wirkte Casias Miene noch irritierter. »Vielleicht wurde die Aufsicht über die Marines vor dem Krieg lascher gehandhabt, aber ich rede von dem routinemäßigen Vorgehen, dass Flottenoffiziere die jeweiligen Marines beaufsichtigen, die einen Entervorgang durchführen.«

»Was?« Die Kommando- und Kontrollsysteme erlaubten hochrangigen Offizieren, alles mitverfolgen zu können, was jeder einzelne Marine bei einem Einsatz tat — eine Möglichkeit, die Geary je nach Gelegenheit als durchaus nützlich empfand, die aber üblicherweise nur ablenkte und damit zu ge-fährlich war. Er schaltete die Komm-Leitung stumm und drehte sich leicht, um Desjani anzusehen. »Captain Desjani, stimmt es, dass Flottenoffiziere routinemäßig den Marines über die Schulter schauen, wenn die ein Schiff entern?«

Sie verdrehte ungläubig die Augen. »Wer hat denn das jetzt zum Thema gemacht?«

»Captain Casia.«

»Ja, das passt zu ihm, Sir«, fügte sie hastig an, als sei ihr gerade erst wieder eingefallen, dass sie mit ihrem Floltenkom-mandanten redete. Sie seufzte, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und antwortete dann mit monotoner Stimme:

»Diese Routine, Marines beim Entern eines Kriegsschiffs zu überwachen, existierte schon, als ich zur Flotte kam.«

»Zu welchem Zweck?«

»Man fürchtet, dass Marines auf einem fremden Schiff auf irgendeinen fälschen Knopf drücken und das ganze Schiff oder zumindest irgendwelche wichtigen Systeme hochgehen lassen.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass die Marines den ausdrücklichen Befehl haben, irgendwelche Knöpfe nur dann zu drücken, wenn sie genau wissen, was sie da tun?«, fragte er.

Sie reagierte mit einem Schulterzucken. »Natürlich haben sie den ausdrücklichen Bef ehl, nichts anzufassen, was sie nicht kennen, Sir. Aber es ändert nichts daran, dass sie nun mal Marines sind.«

In dem Punkt musste er ihr zustimmen. Tausende von Jahren technologischer Entwicklung hatten noch keinen Ausrüs-tungsgegenstand hervorgebracht, der so narrensicher war, dass ein Marine oder ein Matrose nichts falsch machen oder ihn nicht kleinkriegen konnte. Das war auch einer der Haupt-gründe, warum kein Chief Petty Officer der Flotte und kein Marines-Sergeant um seinen Job fürchten musste, da die wesentliche Aufgabe dieser Dienstgrade darin bestand, die Untergebenen bei jeder sich passenden Gelegenheit anzu-brüllen: »Fasst nichts an, solange ich euch das nicht ausdrücklich gesagt habe!« Da aber die Marines ihre Sergeants hatten, war Geary nicht klar, welchen Zweck ein Flottenoffizier er-füllen sollte, wenn man die Marines über die mitgeführten Kameras überwachen konnte. »Über welchen Dienstgrad reden wir hier? Für diejenigen, die die Marines beaufsichtigen sollen?«

»Die Befehlshaber der Schiffe«, gab sie im gleichen Tonfall zurück.

»Sie machen Witze.«

»Nein, Sir.«

»Und wer soll das Schiff befehligen, während der Commander den Marines hinterherläuft?«

Desjani verzog den Mund zu einem verbitterten Lächeln.

»Die Frage hatte ich Admiral Bloch auch gestellt, als ich das letzte Mal den Befehl erhielt, einem Marine über die Schulter zu schauen, als der mit seinem Trupp ein Syndik-Kriegsschiff enterte. Admiral Bloch erwiderte, er sei fest davon überzeugt, dass ein Offizier mit meinen Fähigkeiten und meiner Erfahrung mühelos in der Lage ist, beides gleichzeitig zu erledigen.«

Nicht zum ersten Mal verspürte Geary eine schuldbewusste Erleichterung darüber, dass Admiral Bloch ums Leben gekommen war, bevor er tatsächlich als dessen Untergebener hatte dienen müssen. »Ich glaube die Antwort bereits zu wissen, trotzdem: Wüssten Sie persönlich einen einzigen guten Grund, warum man das machen sollte?«

Wieder kam ein Schulterzucken. »Vermutlich gibt es irgendwelche Gründe, die dafür sprechen, aber es gibt ganz sicher mehr Gründe, es nicht zu tun. Freiwillig würde ich nie auf die Idee kommen, Sir.«

»Das dachte ich mir bereits. Ich würde es auch nicht wollen.« Er drehte sich weg, hob die Stummschaltung auf und sah Casia ernst, aber unverbindlich an. »Vielen Dank, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben. Ich werde die Marines davon in Kenntnis setzen, dass sie mit einem Flottenoffizier Rücksprache nehmen, bevor sie irgendwelche Maßnahmen ergreifen, die die Sicherheit des Schiffs gefährden könnten, das sie entern werden.«

Wieder vergingen zwanzig Sekunden, dann nahm Casias Gesicht neben dem irritierten Ausdruck auch noch eine deutliche Rötung an. »Es gibt gute Gründe für die aktuelle Vorgehensweise, Captain Geary. Wenn wir nicht die in Kriegszeiten gewonnenen Erfahrungen berücksichtigen, könnte das tödliche Folgen für die Gefangenen haben, die wir eigentlich befreien wollen.«

Spitzer hätte diese Bemerkung nicht ausfallen können, überlegte Geary. In gewisser Weise hatte Casia recht, denn ihm fehlte die langjährige Kriegserfahrung, die alle anderen besaßen. Auf der anderen Seite stimmte es nicht, da Geary bislang nichts Falsches gelernt hatte. Wenn er eines sicher wusste, dann war das die Tatsache, dass es nicht Aufgabe der Senioroffiziere sein konnte, einem Junioroffizier ständig über die Schulter zu schauen, während der versuchte, seine Arbeit zu erledigen. Er selbst hatte als Junioroffizier lange genug einschlägige Erfahrungsammeln können. »Vielen Dank für diese Information, Captain Casia«, erwiderte er schließlich ruhig.

»Ich werde mich umfassend damit beschäftigen und alle Maßnahmen ergreifen, die ich für notwendig halte.« Vielleicht war Erfahrung aus Friedenszeilen nicht mit der aus Kriegszeiten zu vergleichen, aber zumindest hatte Geary gelernt, wie man die Worte »Halt die Klappe« auf eine völlig professionelle und höfliche Art formulierte.

Casias Miene, die keine halbe Minute später erkennbar wurde, ließ keinen Zweifel zu, dass er die Absicht hinter Gearys Worten ganz genau verstanden hatte. »Nach dem Desaster, das diese Flotte bei ihrem letzten Aufenthalt in diesem System erlebt hat, halte ich…«

Geary machte von seiner Autorität als Flottenkommandant Gebrauch und fiel dem Mann ins Wort. Wenn er ihm noch länger zuhörte, würde er noch verrückt werden, und er wollte nicht, dass Wut sein Urteilsvermögen einschränkte. Während er wünschte, er könnte den Captain genauso zum Verstummen bringen wie das Gefechtssystem mit seinem unsinnigen Vorschlag, sprach er energisch: »Wenn Sie noch vor dem Gefecht Ihren Posten verlieren wollen, Captain Casia, dann müssen Sie nur Ihre letzte Bemerkung wiederholen. Sie können aber auch Ruhe geben und weiter Ihre Arbeit erledigen.

Sollten Sie nach dem anstehenden Kampf ein persönliches Gespräch wünschen, um über die Kommandostruktur dieser Flotte und Ihren Platz innerhalb dieser Struktur zu diskutieren, dann lade ich Sie gern dazu ein. Sie können mir glauben, dass die Marines angemessen überwacht werden und dass Ihre Bedenken zu den Akten genommen wurden. Ende der Übertragung«, fügte er überflüssigerweise hinzu und schloss die Verbindung zur Conqueror. Captain Desjani gelang es sehr gut, so zu tun, als sei ihr gar nicht bewusst, dass ihr vorgesetzter Offizier unzufrieden war.

Die Wachhabenden auf der Brücke der Dauntless folgten ihrem Beispiel, wenn auch nicht in jedem Fall ganz so erfolgreich wie sie selbst. Sie konnten zwar nichts von der Unterhaltung mitbekommen haben, die Geary innerhalb des schall-geschützten Felds geführt hatte, das ihm die nötige Privat-sphäre bei Gesprächen mit anderen Schiffen gab, aber jeder Junioroffizier beherrschte schon nach kurzer Zeit die unverzichtbare Kunst, die Laune eines vorgesetzten Offiziers an-hand seiner Mimik und Gesten zu erkennen.

Geary schmorte noch einen Moment lang vor sich hin, dann atmete er tief durch und rief Colonel Carabali, die ihn argwöhnisch betrachtete. »Colonel, ich nehme an, es wäre eine unwillkommene Ablenkung, wenn Befehlshaber der Flotte Ihren Leuten auf Schritt und Tritt folgen, während die die Audacious entern.«

»Das nehmen Sie richtig an, Captain Geary«, bestätigte Carabali.

»Dann darf ich davon ausgehen, dass Ihre Senior- und Junioroffiziere in der Lage sind, die Marines davon abzuhalten, irgendwelche Knöpfe zu drücken und versehentlich die Audacious in die Luft zu jagen.«

»Ja, Sir.«

»Und ich gehe davon aus, dass jeder Marine, der eine Information oder eine Anweisung vom Flottenpersonal benötigt, wie er irgendwas an Bord eroberter Schiffe zu bedienen hat, in der Lage ist, den Mund aufzumachen und zu fragen.«

»Ja, Sir.«

»Mit anderen Worten, ich kann davon ausgehen, dass Ihre Marines über die nötige Erfahrung, Ausbildung und Intelligenz verfügen, um ihre Aufgaben zu erledigen, ohne dabei von Senioroffizieren der Flotte beaufsichtigt zu werden.« Ja Sir.

»Gut.« Qeary fühlte, wie er sich entspannte, während Carabali ihn so argwöhnisch betrachtete, als würde sie damit rechnen, dass er sie mit seinen Fragen in irgendeinen Hinterhalt locken wollte. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir dabei behilflich sein könnten, den Beweis für die von mir genannten Annahmen zu erbringen. Wenn Ihre Marines die Audacious einnehmen können, ohne irgendetwas in die Luft zu jagen und ohne die Atmosphäre ins All entweichen zu lassen, dann kann ich ein handfestes Beispiel dafür vorbringen, dass sie ihre Arbeit problemlos erledigen können, ohne dass ihnen Flottenoffiziere dabei im Nacken sitzen müssen.«

Colonel Carabali nickte. »Natürlich, Sir. Es wird keine Probleme geben.«

»Kommen Sie, Colonel, bei jedem Einsatz gibt es irgendwelche Probleme. Sorgen Sie nur dafür, dass die sich in Grenzen halten.«

Schließlich grinste sie und salutierte. »Jawohl, Sir. Ich werde meine Leute wissen lassen, dass Sie vollstes Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben, und ich werde ihnen noch einmal einimp-fen, sich im Zweifelsfall an Sie zu wenden.«

»Und sie sollen auf keinen Knopf drücken, der ihnen unbekannt ist«, fügte Geary fast reflexartig an.

»Auf jeden Fall, Sir. Da wir ein Schiff entern wollen, auf dem sich vermutlich zahlreiche unserer Leute als Kriegsgefangene befinden, habe ich meine Truppenführer angewiesen, ihre Marines zu äußerster Feuerdisziplin anzuhalten. Sie werden auf niemanden schießen, solange sie nicht absolut sicher sind, dass sie einen Feind vor sich haben.«

»Gute Idee.«

»Außerdem habe ich nur Leute genommen, die sich freiwillig gemeldet haben«, fügte sie an, »da die Gefahr besteht, dass die Syndiks den Schiffsantrieb mit Sprengfällen versehen haben, um ihn hochgehen zu lassen, sobald unsere Eingreiftruppe an Bord ist.«

Bei dem Gedanken musste er unwillkürlich mit den Zähnen knirschen. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich die Bereitschaft Ihrer Leute zu schätzen weiß, sich trotz dieses Risikos zu diesem Einsatz bereit zu erklären, Colonel. Ich habe die Syndiks allerdings gewarnt, so etwas gar nicht zu versuchen, und ihnen auch die entsprechenden Konsequen-zen deutlich gemacht. Mit ihren Rettungskapseln können sie unseren Schiffen nicht entkommen.«

Colone Carabali grinste ihn breit an. »Vielen Dank, Sir.«

»Ich habe zu danken, Colonel. Lassen Sie es mich wissen, wenn es irgendeine bedeutsame Planänderung gibt.« Ihr Bild verschwand, und Geary lehnte sich seufzend zurück.

»Eine weitere Krise abgewendet?«, fragte Rione.

»Zumindest in den Griff bekommen«, erwiderte Geary.

»Haben Sie irgendetwas gehört, das ich wissen sollte?«

Sie zog die Augenbrauen hoch, da sie wusste, er bezog sich auf ihre Spione innerhalb der Flotte. »Nichts, das nicht noch warten konnte.« Sie zögerte, dann stand sie auf und kam näher, unter vier Augen mit ihm weiterzureden: »Nur ein paar meiner Informanten haben mich bislang mit aktuellen Berichten auf dem Laufenden haken können. Sie sagen über-einstimmend, dass diejenigen in der Flotte, die gegen dich eingestellt sind, von der Entscheidung völlig überrumpelt wurden, auf der Stelle nach Lakota zurückzukehren. Deine Widersacher warten momentan offenbar ab, was geschehen wird, bevor sie ihren nächsten Zug planen.«

»Danke. Und was glaubst du? Welches Gefühl hast du bei der Sache?«

»Du willst einen Ratschlag von mir?«, fragte Rione frostig.

»Warum fragst du nicht weiterhin den Captain deines Flaggschiffs?«

Oh, Vorfahren, steht mir bei! »Ich frage sie die Dinge, die die Operation der Flotte betreffen. Ist daran irgendwas verkehrt?«

»Natürlich nicht«, gab sie in einem Tonfall zurück, der genau das Gegenteil aussagte, dann beantwortete sie prompt seine erste Frage. »Deine Feinde in der Flotte sind in Lauer-stellung. Solange die Situation in diesem System hier nicht gelöst ist, halten sie den Mund, weil sie fürchten, dass sie sonst diejenigen sind, die einen Weg aus einer riskanten Falle der Syndiks finden müssen.«

Geary nickte, sagte ihr aber nicht, was ihm durch den Kopf ging. Wenn ich scheitere, dann haben sie das, was sie benötigen, um mich ab Flottenbefehlshaber abzusetzen. Natürlich wird von der Flotte nicht mehr viel übrig sein, wenn ich erst mal gescheitert bin. Aber offenbar möchte keiner von ihnen den Versuch wagen, sich die Syndiks in diesem System vorzunehmen.

Sein Blick kehrte zum Display zurück, wo er nach etwas suchte, das jetzt eigentlich längst zu sehen sein sollte. Noch immer war die Verfolgerflotte nicht durch den von Ixion herführenden Sprungpunkt aufgetaucht. Beunruhigt trommelte er mit den Fingern auf die Armlehne seines Sessels. Wo blieben ihre Verfolger? Sie hielten sich jetzt schon über zwei Stunden im System auf, und jede weitere Minute war ein Geschenk. Aber er misstraute Geschenken, die ihm aus nicht nachvollziehbaren Gründen gemacht wurden. Zwar hatte er Rione gegenüber die Hoffnung geäußert, drei Stunden Vorsprung vor den Syndiks zu haben, und er hatte auch da-hingehend gebetet, doch er war die ganze Zeit über von weniger als zwei Stunden ausgegangen. Selbst wenn er großzügig kalkulierte, dass die Syndik-Flotte eine Weile brauchte, um das Wendemanöver zu organisieren, nachdem sie bei Ixion entdeckt hatte, wohin die Allianz-Schiffe entkommen waren, hätte inzwischen wenigstens eine kleine Vorhut eintreffen müssen.

Eine weitere Nachricht von höchster Priorität traf ein, diesmal von der Ocrea, die dreißig Lichtsekunden entfernt war.

Das würde die Unterhaltung zwar in die Länge ziehen, aber es bewegte sich noch in einem erträglichen Rahmen. Geary wunderte sich, warum sich der Schwere Kreuzer bei ihm meldete, doch dann fiel ihm ein, dass er das Schiff gebeten hatte, einige fliehende Syndiks an Bord zu holen und zu verhören. »Geary hier. Haben die Syndiks was erzählt?«

Der Captain der Ocrea nickte. »Einer von ihnen. Die meisten haben nur den üblichen Unsinn heruntergeleiert, dass es eine Ehre für sie ist, Bürger der Syndikatwelten zu sein. Aber wir konnten einen Senior-Unteroffizier finden, der offenbar der Ansicht ist, dass unsere Flotte nicht besiegt werden kann und dass jeder, der genau das versucht, gegen den Willen der Lebenden Sterne verstößt. Also hat er alles ausgeplaudert, was er weiß, weil er glaubt, dass er nur so Wiedergutmachung da-für leisten kann, dass er bei dem Angriff auf uns mitgeholfen hat.« Er machte eine Pause und wartete Gearys Reaktion ab.

»Der Mann hat eine gesunde Einstellung«, entgegnete er.

Eine Minute später stimmte der Captain der Ocrea ihm zu:

»Das finde ich auch, Sir. Dieser Syndik-Matrose weiß zwar nicht viel, aber er konnte uns verraten, dass wir vor unserem Sprung nach Ixion das Flaggschiff außer Gefecht gesetzt haben. Der höchstrangige CEO des Schiffs hat den Angriff nicht überlebt, und damit begannen die beiden ihm unterstellten, aber gleichrangigen CEOs sich zu streiten, wer von ihnen das Kommando über die Streitmacht bekommen sollte, die uns nach Ixion folgen würde. Unser Informant kann sich nicht genau erinnern, wie lange das gedauert hat, aber er sagt, es müssen mindestens vier Stunden gewesen sein. Vielleicht sind sogar mehr als fünf Stunden verstrichen, während die Syndik-Flotte hier festsaß und auf eine Entscheidung wartete.«

Wieder ließ der Mann eine Pause folgen.


»Mindestens vier Stunden?«, wiederholte Geary. Er hatte das Feuer auf das Zentrum der Formation in der Hoffnung konzentriert, eben diese Wirkung zu erzielen, aber erst jetzt erfuhr er, dass er damit tatsächlich Erfolg gehabt hatte. »Und der Matrose ist sich da ganz sicher?«

»Ja, Sir. Bedauerlicherweise kann er uns über die Stärke der Verfolgerflotte nichts weiter sagen, als dass sie groß ist. Die einzige andere nützliche Information ist die, dass von den schwer beschädigten Schiffen, die hier zurückgelassen wurden, Personal zur Verfolgerflotte abgestellt wurde. Er ist der Meinung, dass damit Verluste an Bord der Schiffe ausgeglichen werden sollen, aber er glaubt auch, dass die Schiffe insgesamt unterbesetzt sind, wenn man das erfahrene Personal zählt. Wie es scheint, haben die Syndiks in letzter Zeit übermäßig viele Leute verloren, die über bessere Ausbildung und mehr Erfahrung verfügen. So viele, dass sie vorerst nicht genug Nachschub haben.« Diesmal lächelte der Captain der Ocrea sehr erfreut.

»Hervorragende Arbeit«, erwiderte Geary lobend. »Glauben Sie, es würde sich lohnen, irgendwelche Ihrer Gefangenen auf ein Schiff zu bringen, auf dem bessere Verhörmöglichkeiten vorhanden sind?«

»Das möchte ich bezweifeln, Sir. Selbst der eine, der alles verraten hat, weiß nicht mehr als das, was ich Ihnen gesagt habe. Meiner Meinung nach sind sie es nicht wert, dass wir sie bei uns behalten.« Dem Captain der Ocrea schien ein unerwarteter Gedanke durch den Kopf zu gehen. »Ich schätze, wir könnten sie in ihre Rettungskapseln setzen und zurück ins All schicken. Das haben wir doch in letzter Zeit mit anderen auch gemacht, nicht wahr?«

Geary nickte und versuchte, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Es war noch nicht lange her, da hätte dieser Captain, so wie jeder Offizier in der Flotte, Syndik-Gefan gene einfach aus der Luftschleuse ins All gestoßen, sobald sie nutzlos geworden waren. Dass er von sich aus auf die Idee gekommen war, die Syndiks menschlich zu behandeln, war ein sehr gutes Zeichen dafür, dass das Prinzip der Ehre allmählich seine frühere Bedeutung zurückerlangte. »Das hört sich nach einem guten Plan an.«

Der andere Offizier lächelte ihn an. »Irgendwelche Mitteilungen von den Lebenden Sternen, die wir ihm mit auf den Weg geben können, damit er sie für uns verbreitet?«

Fast hätte Geary zugestimmt, aber dann hielt er inne. Auf eine unerklärliche Weise kam ihm das verkehrt vor, so als nähme er eine Warnung wahr, die er aber weder hören noch sehen konnte. »Das ist womöglich keine so gute Idee. Seine eigenen Gedanken kann er ruhig verbreiten, aber ich möchte nicht die Lebenden Sterne verärgern, indem ich mir anmaße, für sie zu sprechen.«

Der Captain wurde jäh ernst. »Ich hatte kein Sakrileg vorschlagen wollen, Sir.«

»Ich weiß. Aber was wir denken, könnte aus deren Sicht nicht richtig sein. Lieber gehe ich auf Nummer sicher.«

»Stimmt«, bestätigte der Befehlshaber der Ocrea, »momentan scheinen wir in ihrer Gunst zu stehen, und das sollte nach Möglichkeit auch so bleiben. Vielen Dank, Sir. Innerhalb der nächsten zehn Minuten werden wir die Rettungskapseln wieder losschicken.«

»Tun Sie das. Und nochmals vielen Dank für die hervorragende Arbeit.«

Als sich das Fenster schloss, das den Captain der Ocrea zeigte, wandte sich Geary an Rione und Desjani, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen, die er um seine eigene Interpretation ergänzte. »Von den überlebenden CEOs wollte jeder derjenige sein, der für sich in Anspruch nehmen konnte, unsere Flotte bei Ixion vernichtend zu schlagen, was dazu führte, dass sie Stunden mit der Diskussion zugebracht haben, wer von Ihnen das Sagen haben sollte. Co-Präsidentin Rione, verfügen die Syndiks nicht über ein System wie unseres des Dienstalters, (las darüber entscheidet, wer der höherrangige Offizier ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »CEO-Positionen bestimmen sich aus einer Mischung von zivilen und militärischen Faktoren.

Wie hoch ein CEO anzusiedeln ist, hängt von seinem Dienst-niveau ab, aber auch von seinem politischen Einfluss.«

»Das heißt, ihre Kommandostruktur ähnelt…« Er warf Desjani einen entschuldigenden Blick zu. »Sie ähnelt dem, was in dieser Flotte üblich war? Ich hätte gedacht, dass bei den Syndiks viel rigorosere Strukturen herrschen. Ihr ganzes Verhalten lässt auf so etwas schließen.«

»Bis zu einem gewissen Punkt ist das so«, erklärte Rione geduldig, die sichtlich ihren Spaß an Desjanis Unbehagen hatte. »Jeder unterhalb des Dienstgrads eines CEO sollte tun-lichst die Befehle ausführen, die ihm erteilt werden. Ist aber jemand zum CEO aufgestiegen, werden prompt die Messer gezückt. Die CEOs untereinander ringen ständig darum, den besseren Auftrag zu ergattern, und sie fallen sich gegenseitig solange in den Rücken, bis sie es in den Exekutivrat geschafft haben.«

»Klingt ja fast wie bei unseren eigenen Politikern«, murmelte Desjani scheinbar zu sich selbst, war aber laut genug, um von Rione gehört zu werden.

Die lächelte nur frostig, ohne den Blick von Geary abzuwenden. »Derjenige CEO, der für sich in Anspruch nehmen kann, Sie getötet zu haben, hat damit quasi einen Freifahrtschein zum Exekutivrat in der Tasche. Kein Wunder, dass die beiden CEOs unserer Verfolgerflotte kostbare Zeit damit vergeudet haben, sich um das Kommando zu streiten. Auch wenn dieser Matrose das so geschildert hat, werden sich die beiden sehr wahrscheinlich nicht tatsächlich gestritten haben. Vielmehr dürfte jeder von ihnen versucht haben, die befehlshabenden Offiziere der Flotte davon zu überzeugen, dass die bestehenden Regeln und Befehle so zu deuten sind, dass nur er das Kommando über die Flotte übernehmen kann. Und dir befehlshabenden Offiziere werden panisch darauf versessen gewesen sein, bloß keinen der beiden ohne eine gute büro-kratische Rechtfertigung zum Kommandanten zu machen, weil sie nur dann später erklären können, dass ihnen keine andere Wahl geblieben war.«

»Also nicht so wie bei dieser Flotte«, stellte er fest. Die Allianz-Flotte hatte nach dem Tod von Admiral Bloch einen neuen Befehlshaber gesucht, während die Syndiks sich auf das zu einigen versucht hatten, was die Vorschriften besagen.

Hätte die Flotte sich einfach an die Vorschriften gehalten, dann wäre sein eigener Status als Befehlshaber nie infrage gestellt worden, da er bereits vor einem Jahrhundert »posthum« zum Captain befördert worden war — also deutlich früher als jeder andere Captain in dieser Flotte. Aber er konnte sich gut vorstellen, dass die anderen Schiffskommandanten, die Angst davor hatten, gegen die Regeln zu verstoßen, mehr als nur das Zünglein an der Waage gewesen wären. »Wir halten Glück, und das hat uns mindestens vier Stunden Vorsprung vor den Syndik-Verfolgern eingebracht, möglicherweise sogar deutlich mehr.«

»Wir haben nicht bloß Glück gehabt, Sir«, widersprach Desjani ihm. »Sie haben unsere erste Angriffswelle auf die feindliche Formation auf die Stelle konzentriert, an der Sie das Flaggschiff vermutet hatten.«

Rione warf ein: »Vergessen Sie nicht, dass der unterlegene CEO diese Flotte hier befehligt. Das könnte Einfluss darauf haben, wie die Syndiks jetzt auf unsere Anwesenheit reagieren.«

»Gutes Argument«, entgegnete Geary. »Aber wie wird sich das auf den hier zurückgelassenen CEO auswirken?«

»Egal was passiert, die Schuld liegt allein bei dem CEO, der das Kommando über die Verfolgerflotte übernommen hat. Er wollte das Kommando, um das Lob einzustreichen, aber jetzt befindet er sich in einer Lage, die ihm eine Blamage beschert.

Wenn diese Streitmacht nach Lakota zurückkehrt, dann wird Ihr CEO alles daransetzen, uns einen vernichtenden Schlag zuzufügen, der alles wettmachen soll, was Sie hier angerichtet haben.«

Mindestens noch vier Stunden. Gearys angespannte Rücken-muskeln wurden ein wenig lockerer.

Seine Flotte konnte bei vier Stunden Vorsprung eine Menge Schaden anrichten.

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