4

Am frühen Morgen stand Michael Wireman am Fenster und schaute über Philadelphia.

Die Gebäude — nicht alle, aber die meisten — waren sauber, gescheuert mit einer Art Vibrationsbürste, die den Schmutz vom Gemäuer löst. Die Straßen befanden sich in wunderbarem Zustand. Es war charakteristisch für die Fremden, so ordnungsliebend und reinlich zu sein. Es stimmte mit ihrer gesamten Kultur überein. Ein Platz für alles, und alles auf seinem Platz.

Mit feinem Lächeln überlegte er, ob er diese Fremden auch bewundern würde, wären sie nicht so bedacht auf Reinlichkeit, was eigentlich unwichtig war. Denn eine moderne Zivilisation, ausgestattet mit vielen Arten von Antibiotika, automatisch sterilisierten Nahrungsmitteln und Getränken und all den übrigen Produkten fortgeschrittener Medizin könnte es sich leisten, sich buchstäblich im Schmutz zu wälzen. Es gab keinen praktischen Grund, das nicht zu tun. Von einer bestimmten Warte aus gesehen war es sogar Verschwendung, soviel Arbeitszeit und Geld von wichtigeren Aufgabengebieten abzuzweigen.

Und dennoch, dachte Michael Wireman, wären sie nicht so, würden sie dann überhaupt die Erde beherrschen?

Michael Wireman fühlte sich viel besser nach dem heißen Bad und in sauberer Wäsche. Aber er war noch immer müde und wußte, diese Müdigkeit würde erst dann vergehen, wenn er zu dieser Menge da unten gehörte: ein Mann mit Freunden und einem Zuhause. Er hatte es aufgegeben, Vergleiche mit der mythischen Erde seiner Träume anzustellen.

Es klopfte an der Tür. »Herein«, sagte er und drehte sich zögernd um. »Bitte?«

Der selbstsichere, schlanke Mann mittleren Alters mit leicht ergrautem schwarzem Haar hielt eine umfangreiche Mappe in der Hand. »Michael Wireman?«

»Ja.« Michael Wireman schaute ihn prüfend an. Das war der erste klassifizierte Erdenbürger, den er sah.

»Ich heiße Hobart, Mr. Wireman«, sagte der Mann, ohne ihm die Hand zu reichen, und schob eine kleine, etwa hüfthohe Maschine auf Laufrollen ins Zimmer. Die Maschine befand sich in einem beigen Gehäuse. An der Vorderseite prangten Skalen, Schalter und Steckbuchsen, das Zubehör hing auf Haken zu beiden Seiten.

»Doktor Hobart?« fragte Michael Wireman.

»Richtig«, antwortete Hobart munter. »Aber machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich habe nicht die Absicht, Sie zu fesseln und Ihr Gehirn herauszuschneiden.«

»Das hätte ich auch nicht erwartet«, gab Michael Wireman zurück.

Hobarts schwarze Brauen hoben sich. »Oh, entschuldigen Sie.« Er lächelte abbittend. »Manchmal ist es schwer zu beurteilen, wieviel ein jeder über den Klassifizierungsvorgang weiß.«

Michael Wireman lächelte in sich hinein, als er daran dachte, daß er für kurze Zeit all das sein konnte, was ihn freute. Seine Vergangenheit war jetzt unbedeutend. Ganz gleichgültig, was der Arzt jetzt von ihm dachte — später würde der Test dem Arzt sagen, was er zu denken hatte.

Er deutete auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich, Doktor.«

Hobart machte es sich bequem. »Erzählen Sie mir ein wenig über sich, Mr. Wireman. Welches Hobby haben Sie?« Hobarts blaue Augen blickten gefährlich klug.

»Hobby?«

»Was tun Sie am liebsten, Mr. Wireman?«

»Nichts.« Es war eine ehrliche Antwort.

»Überhaupt nichts, Mr. Wireman?«

»Ganz richtig.«

Hobarts Brauen hoben sich. »Nun, ich glaube, dann fangen wir mit dem Test an.« Er öffnete die Mappe. Ganze Bündel Papiere lagen drinnen. »Füllen Sie vielleicht einmal einige dieser Formulare aus, während ich den Apparat herrichte.« Er reichte Michael Wireman einige der vorgedruckten Blätter und einen Bleistift. »Setzen Sie sich irgendwohin, beantworten Sie die biographischen Fragen und gehen Sie dann zum Test über. Bezeichnen Sie nur die Richtung, in der Sie glauben, daß sich der letzte Gang eines jeden Wagens einstellen läßt. Es ist ganz einfach — verlangt nur ein wenig mechanisches Verständnis.«

»Einfach. Ja.« Michael Wireman schaute auf die Blätter. »Was der Apparat davon hält, in Verbindung mit meinen anderen Fähigkeiten, das zählt, nicht wahr?«

»Ganz richtig, Mr. Wireman. Keine Angst, in einigen Stunden sind wir fertig.«

Michael Wireman hatte eine trockene Kehle bekommen. Hobart war nur ein Mann mit einigen Papieren und einer Maschine. Aber die nächsten wenigen Stunden waren wichtig — lebenswichtig — und dieser Mann, diese Papiere, diese Maschine waren zusammen das, was er sein Leben lang gesucht hatte.

»Guter Gott!« rief Hobart aus. Er hielt die Biographie in den Händen.

Michael Wireman schaute ungeduldig auf. Er arbeitete wie rasend an den Test-Formularen. Es waren sehr viele, und er wollte so schnell wie möglich fertig werden.

»Sie sind mit jenem Wireman verwandt. Ich dachte, Sie hätten nur zufällig denselben Namen.«

»Das stimmt schon«, bestätigte Michael Wireman und widmete sich wieder den Formularen.

»Einen Augenblick«, sagte Hobart mit vielleicht unbeabsichtigtem Nachdruck. »Das da hat Zeit, glaube ich«, beantwortete er den mißbilligenden Blick Michael Wiremans. »Wie kamen Sie hierher?« drängte Hobart. »Ich wußte nicht, wer Sie sind.«

»Sie hatten meinen Akt. Da steht alles drinnen.«

Hobart schien zum erstenmal vollkommen ratlos zu sein. Er blickte auf die Mappe und sagte dann mit sonderbarem Gesichtsausdruck: »Meist lese ich das gar nicht mehr.« Er hatte sich sehr schnell wieder gefaßt. »Persönliche Aussprache finde ich auf jeden Fall besser.«

»Ich möchte lieber nicht darüber sprechen«, sagte Michael Wireman.

»Ist es schmerzvoll für Sie?«

»Es ist persönlich.«

»Ach so …«

Von Zeit zu Zeit las Hobart vom Apparat Nebenergebnisse ab, nach denen er die nächste Test-Serie richtete. Hobart hatte eine Art, die Skalen zu überblicken, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. Das brachte Michael Wireman ganz aus der Fassung. Schweißperlen standen über seiner Oberlippe und tropften ihm auf die Brust.

Hobart schaute aufmerksam auf die Skalen. »Mr. Wireman.«

»Ja?«

»Machen wir eine kurze Pause.« War seine Stimme zu sanft? Waren seine Augen zu wissend?

»Ich möchte weitermachen.«

»Ruhen wir uns aus.«

»Nun gut.« Da war nichts zu machen, wenn Hobart aufhören wollte.

»Schön.« Er sah zufrieden aus. »Mich würde interessieren, wie Ihr Leben bei den Guerilla-Kämpfern aussah. Wir hören nicht sehr oft eine objektive Meinung.«

Die Betonung war nicht zu überhören. Spottete Hobart?

»Was wollen Sie wissen?« fragte Michael Wireman scharf.

Hobart seufzte geduldig. »Haben Sie das Gefühl, daß ich Sie nicht mag?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich ein Guerilla-Kämpfer bin.«

»Aber das sind Sie doch nicht, nicht wahr?«

»Nein! Aber Sie werden es mir nicht leichtmachen, bis ich klassifiziert bin.«

»Oh?«

»Sie können mich nicht leiden, Doktor. Ich passe nicht, noch nicht. Es könnte sich herausstellen, daß ich nichts und alles bin.«

Hobart überlegte mit ernster Miene. »Sie könnten recht haben. Ich muß zugeben, daß ich mich in Ihrer Gegenwart nicht wohl fühle. Ich muß immer daran denken, daß Sie mit Franz Hammil bei jenem Gefecht waren.«

»Hammil«, sagte Michael Wireman ärgerlich. »Den Vorteil eines Überraschungsangriffs hat er nicht mehr und ist deshalb auch nicht zu fürchten. Hätte Joe Newsted die Fähigkeit, Leute zu begeistern, dann wäre wirklich etwas los, da oben in den Bergen, was Ihr Blut zum Stocken bringen könnte.«

»Oh?«

»Hammil braucht Newsted, denn allein wäre er bald am Ende. Hammil ist sich dessen nicht ganz bewußt, aber er ist schlau genug, Newsted zu halten.«

»Und Newsted?«

»Niemand mag Newsted. Genauso mag niemand Hammil, aber er hypnotisiert einen. Man hat das Gefühl, bei ihm müsse etwas dahinterstecken. Newsted könnte nicht einmal einen Idioten für sich gewinnen. So muß er sich an Hammil halten, um über Wasser zu bleiben. Krüppel führen Krüppel, da oben in den Bergen, aber sie tun es nicht aus Liebe zueinander.«

Hobart warf einen Blick auf die Skalen.

»Läuft ein Tonband in dem Ding?« fragte Michael Wireman scharf.

»Beachten Sie das nicht.«

»Nicht beachten?«

»Mr. Wireman, sind Sie hier, um sich testen zu lassen, ja oder nein?«

»Sie mögen mich nicht, nicht wahr?«

»Nein.« Hobart schien erleichtert zu sein. »Diesen Beschluß habe ich nun gefaßt. Ich glaube, ich hasse Sie sogar ein wenig, Mr. Wireman. Ihnen gefällt das nicht, was mir gefällt. Ich verstehe Ihre Gedanken nicht, und was am wichtigsten ist: niemals kann ich zu mir sagen ›Alles, was dieser Mann tun kann, kann ich auch.’«

»So verstehen wir uns also.«

»Nein, Mr. Wireman. Vielleicht sind wir zu einem Übereinkommen gelangt, aber wir verstehen einander nicht. Erzählen Sie mir jetzt etwas über Newsted. Sie bewundern Newsted bis zu einem gewissen Grad, nicht wahr?«

»Nein.«

»Sie bewundern seine einzigartige Intelligenz. Erzählen Sie mir etwas. Was könnte Newsted unternehmen, um Hammil zu stürzen?«

»Unternehmen? Er könnte sich Hammils Waffen aneignen. Dann könnte er Hammil töten lassen. Aber nach einem Tag oder nach zwei Tagen würde irgend jemand ihn ermorden. Er ist keine Führernatur. Er ist nicht vom Schlag eines Hammil. Newsted kann nicht einmal etwas vollkommen Verständliches sagen, ohne daß es unglaubwürdig klingt.«

»Sagen wir, er könnte es. Sagen wir, Newsted hätte Anhänger. Was dann? Wie käme er zu Hammils Gewehren, präzise?«

»Er würde Hammil verlassen und einige ausgesuchte Männer mit sich nehmen. Er würde andere Banditen aufsuchen und diese mit Waffenversprechungen seiner eigenen Truppe anschließen. Er würde sich einen geschickten Angriffsplan zurechtlegen und Hammil überraschen. So, das wäre alles.«

»Und was dann? Was täte Newsted weiter?«

»Er würde alle in den Bergen verstreuten Gruppen vereinigen. Er würde sich mehr Gewehre beschaffen und leichte automatische Kanonen und eure Garnisonen vernichten, die in den Vorbergen stationiert sind. Damit hätte er eine motorisierte Ausrüstung. Dann, mit entsprechender Luftunterstützung, könnte er so ziemlich alles machen, wenn eure Truppen hier nicht verstärkt werden.«

»Wäre das tatsächlich so?«

Wireman lachte auf. »Aber er kommt ja nicht dazu, sogar wenn er hier genug Anhänger hätte. Die Leute, die die Gewehre und die Luftunterstützung stellen, würden mit ihm nicht verhandeln.«

»Eine sehr interessante Analyse, Mr. Wireman. Glauben Sie wirklich, daß die Besatzungstruppen so leicht überwältigt werden könnten?«

»Schauen Sie, Besatzungstruppen sind dazu da, wichtige Stellungen zu halten, bis Verstärkung kommt. In diesem Fall müßte der Feind hier durchhalten, bis Truppen vom nächsten Stützpunkt herbeigeschafft werden. Sogar per Ultraantrieb würde das Monate in Anspruch nehmen. Nun, man kann mit ziemlicher Sicherheit rechnen, daß Garnisonen so ausgerüstet sind, daß sie die erforderliche Zeit überbrücken können. Aber was geschieht, wenn die Verstärkung nie eintrifft? Was passiert, wenn sie von einer feindlichen Armee vernichtet oder so lange aufgehalten wird, bis die Besatzungstruppen hier aufgerieben sind und ein C.S.O.-Stützpunkt errichtet ist?« Seine Stimme wurde immer lauter und heftiger.

»Ihr Leute hier seid weich geworden in diesen Friedenszeiten. Ihr stellt euch vor, die Freiheitskämpfer werden einander töten, in den Bergen, oder an Krankheiten zugrunde gehen, oder zu gebrechlich werden, um etwas unternehmen zu können. Aber was dann, wenn sie moderne Waffen bekommen und einen Mann — nur einen einzigen guten Mann, der sie anführt, der den Stein ins Rollen bringt? Wer kann dann das Ende voraussehen? Die Besatzungstruppen können sie jetzt in Schach halten, weil sie nie auf ausgedehnter Front angreifen. Aber was dann, wenn sie es tun? Was dann, wenn Tausende Männer zur selben Zeit von den Bergen strömen — wie viele bewegliche Patrouillen habt ihr? Wie viele Gebiete können zur selben Zeit verteidigt werden? Nein, sie werden sich in ihre Festungen zurückziehen und in einen Belagerungszustand treten müssen. Dann wird ihnen nichts anderes übrigbleiben, als auf Hilfe zu warten, die möglicherweise nie kommt.« Michael Wireman hatte die Hände zu Fäusten geballt. Und er war aufgesprungen. Unglaublich, wie sehr er sich hatte hinreißen lassen.

Der Arzt starrte ihn sonderbar an.

»Das ist alles nur theoretisch, natürlich«, meinte er mild.

»Ja, natürlich«, antwortete Michael Wireman, ein wenig verwirrt.

»Ich bin fasziniert von Ihnen, Mr. Wireman, wußten Sie das? Ich bin fasziniert von dem, was Sie sagten.«

»Kampfesruhm? Die Sensation, Menschen niederzuschießen?« fragte Michael Wireman.

»Guter Gott, nein! Nein — nein, es ist etwas, was über jugendliches Phantasieren hinausgeht, hoffe ich.« Er hatte sich nach vor gebeugt, anscheinend, ohne sich dessen bewußt zu sein. »Sie können sich das nicht vorstellen, nicht wahr, was es bedeutet, einen Plan fürs Leben zu machen und diesen zu verfolgen? Einen Kurs zu nehmen und dem Ziel entgegenzuschreiten: Sicherheit, Position, Ansehen? Wie zufriedenstellend es ist zu sehen, daß der Plan Formen annimmt, daß man genau in der gewünschten Richtung geht, daß man von anderen, weniger Vorsorglichen beneidet wird?«

Michael Wireman schaute ihn verständnislos an. Wenn er überhaupt etwas fühlte, so war es Erstaunen über jemanden, der sich seines eigenen Wertes so unsicher war, daß er plante, sein Schicksal zu überlisten, welches es auch sein mochte.

Hobart seufzte. »Ich dachte mir, daß Sie mich nicht verstehen würden. Aber nehmen Sie mein Wort: Menschen machen solche Pläne, und diejenigen, die alles am besten ausklügeln, sind die erfolgreichsten Menschen ihrer Generation. Sie haben ihr Leben in der Hand und wissen das. Sie haben keine Ahnung, welche Befriedigung das für einen Menschen sein kann — und dann Ihnen zuzuhören, wie sie lässig an den Grundfesten der Welt rütteln; genau beschreiben, auf welche Weise die Ozeane entwässert und unsere stattlichen Schiffe auf dem auftauchenden Grund zerschellen werden …« Hobarts Stimme wurde immer leiser.

»Haben Sie Angst, Doktor?« fragte Michael Wireman.

»Angst?« Hobart war blaß. »Angst?« Mit verzerrtem Gesicht stand er plötzlich auf. »Spotten Sie nicht, Wireman! Ich bin ein besserer Mensch als Sie. Ich habe immer mein Ziel vor mir gesehen und auf dem Weg dahin nie einen schwerwiegenden Fehler begangen. Man respektiert mich, es geht mir gut, auf meinem Gebiet bin ich bekannt.«

»Eine natürliche Folge — schließlich wurden Sie ja getestet.« Das war, wie Michael Wireman glaubte, nur eine forsche Bemerkung gewesen. Er wußte nicht, weshalb Hobart sich deswegen so aufregte. Erstaunt sah er, daß Hobart, wie von einer Tarantel gestochen, auffuhr.

»Verdammt noch mal, ja, sie klassifizierten mich! Vor dreißig Jahren! Und wo wäre ich heute, was hätte ich gemacht, hätten sie mich nicht getestet? Aber bin ich, in diesen dreißig Jahren, innerlich überhaupt nicht gewachsen? Tauge ich noch immer am besten zum Psychiater? Ich hatte eine gute Stimme, einst. Ein ausgezeichnet aufgeführter Don Giovanni bewegt mich mehr als irgendeiner meiner beruflichen Erfolge, und ich kann keinen Mann auf der Bühne sehen, ohne zu wünschen, ich wäre an seiner Stelle! Ich male am Wochenende. Ich beschäftige mich mit Bildhauerarbeiten. Ich habe —« Er schnitt verächtliche Grimassen. »– Hobbies. Weil es jetzt zu spät ist. Ich bin geschult. Ich könnte nicht wieder mit etwas Neuem beginnen. Der Test ergab, vor dreißig Jahren, daß ich Psychiater werden sollte, weil ich dafür besser geeignet war als für alles andere. Der Test stimmte — ich mache diese Arbeit jetzt, ich hatte Tausende von Fällen, die ich bis zum Ziel verfolgte, und weiß es. Er stimmte, und jetzt kann ich nicht wiederum klassifiziert werden; denn was hätte ich davon, wenn der Test ergäbe, ich sollte Gesang studieren, jetzt — mit fünfzig Jahren. Wie kann eine Zivilisation funktionieren, müßte sie ständig neue Spezialisten heranbilden?

Aber was kann ich dagegen tun, wenn ich mir immer Gedanken mache, was ich wäre, was ich täte, was mich noch erlösen könnte — wäre die Welt anders?

Angst vor dem, was Sie sagten? Natürlich habe ich Angst! Ich bin aber gleichermaßen begeistert, Wireman — ganz schrecklich begeistert!«

Michael Wireman starrte ihn an. »Sie sind also nicht glücklich?«

»Ich weiß nicht, bin ich es oder nicht!« Er drehte sich zum Tisch um, auf dem die ausgefüllten Formulare lagen.

Aber jetzt ließ Michael Wireman nicht locker. »Warten Sie«, sagte er unbeholfen. »Warten Sie. Sie können mich nicht einfach so stehenlassen. Ich bin hier, weil ich klassifiziert werden will. Ich bin hier, um meinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Sie können nicht einfach Zweifel in mir wecken und dann …«

Hobart hatte sich wieder Michael Wireman zugewandt. Sein Blick war nachdenklich, vielleicht traurig. »Über Sie bin ich mir nicht im klaren, Wireman. Ein Mensch, der in keine Gesellschaft paßt, muß logischerweise fallen oder wird bestenfalls zum Parasiten. Aber es könnten Zeiten herrschen, in denen das anders wäre. Gegebene Umstände könnten das bestimmen. In dem Menschen könnte etwas stecken! Ich kann es nicht erklären. Mein Apparat und die Fragebogen sind nicht in der Lage, mir das zu sagen. Ein Test kann nicht etwas messen, was seine eigene Grundlage entkräften würde.«

»Was ist mit meinem Test, Doktor?« fragte Michael Wireman, plötzlich von Furcht ergriffen.

»Nicht bestanden, Wireman. Sie konnten nirgends eingereiht werden. Das war vorauszusehen, schon vom Anfang an. Und ich glaube, auch Sie zweifelten an einem Erfolg. Sie wollen der Gesellschaft nicht angehören, Sie glauben, irgendwohin passen zu müssen. Schauen Sie, ich weiß nicht, welcher Mensch Sie sind. Sie verzehren sich vielleicht nach einem passenden Platz, aber es gibt keinen für Sie. Sie sind überdurchschnittlich intelligent, was nicht ungewöhnlich ist, und haben sonst nichts, was ich verwerten könnte. Die Maschine sagt, Sie eigneten sich für jedes Arbeitsgebiet gleich wenig, und was hat die Gesellschaft von einem solchen Mitglied?«

Michael Wireman hörte erregt und schweigend zu.

»Aber eine Maschine gibt nur eine Antwort aus einer Anzahl möglicher Antworten, mit denen ihr Erzeuger sie gefüttert hat. Ist die genaue Antwort nicht dabei, tut sie eben ihr Bestes mit dem ihr zur Verfügung Stehenden — genau wie ein Mensch. Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen und die vorliegende Antwort akzeptieren, nur weil es eben eine Antwort ist.

Was die Maschine wirklich über Sie aussagt, ist, daß ihr Erzeuger Sie nicht besser verstehen würde. Kein Mitglied der Gesellschaft, von der diese Maschine gebaut wurde, versteht Sie. Auch ich nicht, der ich kein Fremder bin, sondern nur ein etwas geänderter Erdenmensch, nach all diesen Jahren.«

Hobart schüttelte wiederum den Kopf. »Sie sind ein Außenseiter in dieser Welt. Und ich muß Ihnen sagen, Wireman, nach diesen Zahlen hier sind Sie ein genausowenig zivilisierter Mensch wie Franz Hammil.«

»Aber ich möchte dazugehören!« schrie Michael Wireman heraus.

»Ich bin überzeugt, daß Sie das glauben. Ebenso sicher hat es einmal eine Zeit gegeben, in der Sie sich wünschten, ein guter Centaurer zu sein. Aber Sie liefen davon, wie Sie von Hammil davongelaufen sind, und wie Sie am besten von hier weglaufen sollten.«

»Sagen Sie das als Beamter der feindlichen Verwaltung?« Michael Wireman wurde übel. Hobart erschien ihm jetzt verachtenswert — ein Verräter, der seine Treulosigkeiten hinter der Maske seines Berufes beging.

»Nein«, sagte Hobart. »Das ist meine Meinung. Wenn Sie hierbleiben, werden Sie wahrscheinlich wahnsinnig werden. Sie müssen wieder weg, Michael Wireman — Sie müssen weitersuchen!«

Wieder? Aber Michael Wireman war zum Umfallen müde. Er wollte nicht weitermachen. Er wollte nur aufhören. »Ich habe das Laufen satt!« schrie er.

»Sie haben keine andere Wahl«, bohrte Hobart. »Weder ich noch die Fremden können Ihr Problem für Sie lösen. Wir verstehen es nicht. Wenn Sie hierbleiben, werden wir herumprobieren und versuchen, etwas für Sie zu finden. Letzten Endes jedoch wird es uns zu dumm werden, denn Sie werden uns nicht helfen bei unserem ehrlichen Wunsch, ein Plätzchen für Sie zu finden. Wir werden beschließen, daß Sie unverbesserlich sind, und Sie verurteilen. Sie müssen verstehen, daß übermenschliche Geduld, übermenschliche Einsicht nur bei Gott liegen — von Ihren Mitmenschen dürfen Sie keine Hilfe erwarten.«

»Ich will nicht laufen!« Konnte dieser hochmütige Mensch das nicht verstehen? Konnte er nicht sehen, wie müde Michael Wireman war?

»Nein? Wollen Sie sich wirklich hinlegen und kommen lassen, was kommt?«

»Das ist mir gleichgültig! Ich habe genug von dem, was Menschen mir angetan haben, genug von dem, was sie sind! Wohin soll ich gehen? Was gibt es noch? Wer ist meiner Treue wert? Welch lausige Rasse ist das, in die ich da hineingeboren wurde?« Er packte Hobarts Hemd.

»Nicht nur eine lausige Rasse, Wireman«, sagte Hobart. »Da sind auch noch die Fremden. Vielleicht gibt es im ganzen Universum kein Volk, das Ihnen paßt. Was halten Sie davon?«

»Bringen Sie mich weg von hier!« flüsterte er heiser mit verschleiertem Blick. »Bringen Sie mich hinunter und aus der Stadt. Ich habe es, Hobart! Ich …« Er wußte, daß er hysterisch handelte, erfaßte es aber nur vage. Er wollte hinaus. Er brauchte jemanden, der ihm den Käfig öffnete, in den er hineingeboren war.

»Wachen!«, flüsterte Hobart erregt. Ein beinah vergnügtes Schimmern stand in seinen Augen.

»Wieviele?«

»Ich weiß es nicht.«

»Die auf mich warten?«

»Nein. Gewöhnliche Wachen, im Gebäude verstreut. Routine. Sie sind offiziell nicht angekündigt.«

»Werde an ihnen vorbeikommen. Haben Sie einen Wagen? Wo ist er?«

»Garage, unten.«

Den widerstandslosen Arzt mit einer Hand festhaltend, durchsuchte Michael Wireman dessen Taschen und fand die Schlüssel. »Danke.«

»Bewaffnete Wachen«, betonte der Arzt. Es war unmöglich zu sagen, ob er Wireman drohte oder ihn warnte.

»Ich werde durchkommen. Warum auch nicht?« In diesem Augenblick kannte seine Verachtung für das gesamte Universum keine Grenzen.

»Sie planen nicht, Wireman«, klagte der Arzt. »Man wird Sie fangen. Nehmen Sie sich in acht. Sie reagieren nur. Das ist nicht gut.«

»Aber es fühlt sich gut, Hobart. Ich fühle mich wunderbar.«

Er griff nach dem Hals des Arztes. »Für eine Weile muß ich Sie bewußtlos machen. Karotis-Druck. Sie werden bald wieder zu sich kommen. Das ist eines der Dinge, die ich lernte, bei Feinden anzuwenden.«

Hobarts Augen strahlten. »Zerschlagen Sie den Apparat«, flüsterte er, während sich der Sauerstoffstrom zum Gehirn bereits verringerte. »Drinnen ist ein Band … Ihre Pläne … Glück … Faszinierend …«

Michael Wireman ließ ihn auf das Sofa fallen. Er war sich vollkommen im klaren, daß er nicht dachte. Alles, was ihm Entscheidungen ersparte, war ihm jetzt willkommen. Er versetzte dem Apparat einen Fußtritt und zerschmetterte ihn. Dann holte er das Band hervor, zündete es an und beobachtete, wie es sich Schlangenhaft krümmte. Ohne einen Blick zurück, ohne Pause oder Plan lief er zur Tür hinaus, so angespannt und erregt, daß er sich kaum zurückhalten konnte, wie ein Wolf zu heulen.

In einiger Entfernung, am sonst menschenleeren Korridor, von der Tür halb abgewandt, stand ein feindlicher Soldat zwischen Michael Wireman und der Welt.

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