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Vierundfünfzig Jahre früher und vier Lichtjahre von der Erde entfernt läutete das Telefon in der Hauptküche des Royal Cheiron Hotels. Ein Küchenjunge hob ab. Thomas Harmon, der oberste Küchenchef, nahm gar keine Notiz davon. Er kostete gerade eine Sauce, die ein Koch zubereitet hatte. Zwanzig Jahre war er schon hier, hatte es vom Küchenjungen bis zu seiner gegenwärtigen Position gebracht, und er war nicht mehr jung gewesen, als er begonnen hatte. Sein Geschmackssinn jedoch hatte sich immer verbessert, während alle anderen Sinne langsam nachließen und an Kraft verloren. Er war ein guter Chef — nicht ganz so gut wie sein Ruf, vielleicht, aber gut.

Der Koch schaute ihn ängstlich aus gold-braun gesprenkelten Augen an. Bereits in diesen wenigen Jahrhunderten, die seit der Gründung der Kolonie auf Centaurus vergangen waren, war dieses Merkmal zur Unterscheidung von den Menschen auf der Erde aufgetreten.

Harmon nickte bedächtig. »Gut«, sagte er, »aber ich würde noch ein wenig Jonesgrass dazugeben.« Jonesgrass entsprach nicht ganz dem Geschmack von Thymian, aber Thymian wuchs nicht auf Cheiron, das war Alpha Centaurus IV. Jonesgrass mußte eben auch recht sein. »Aber nur ein ganz klein wenig, Steff.«

Steff nickte respektvoll und erleichtert. »Ganz wenig. In Ordnung, Mr. Harmon. Danke sehr.« Harmon brummte freundlich und ging zum nächsten Koch.

»Entschuldigen Sie, bitte, Mr. Harmon.« Es war der Küchenjunge, der das Telefon abgehoben hatte. Harmon drehte sich abrupt um.

»Ja, Junge?« Sein Ton war schärfer als beabsichtigt. Aber Unterbrechungen störten ihn. Er erinnerte sich nun wieder an das Läuten des Telefons, was ihn noch mehr ärgerte. Er wußte ziemlich sicher, wer es war, der da mitten in seiner Arbeitszeit anrief.

»Tut mir leid, Mr. Harmon«, sagte der Küchenjunge eingeschüchtert. Harmon lächelte vor sich hin. Das würde dem Jungen nicht schaden. Jedem guten Chef stand ein Schreckgespenst zur Seite, und das hatte seinen guten Grund. Die Angestellten wußten die Stellung des Chefs zu schätzen, und das gab ihnen Selbstvertrauen, wenn sie selbst einmal eine solche Position innehatten. Es bezwang auch unruhige Gemüter, ehe sie noch Gelegenheit hatten, mitten in der Arbeit eine Eselei zu begehen.

»Nun?«

»Es ist — es ist ein Gespräch für Sie, Sir. Sie sagen, es sei wichtig.«

»Zweifellos«, grollte er und ging zum Telefon. Er hatte richtig vermutet. Es war Harnes, der Protokollchef von Präsident Wireman.

»Herr Kanzler?« fragte Harnes.

»Ja. Was gibt’s, Harnes?«

»Präsident Wireman hat mich ersucht, alle Mitglieder des Kabinetts zu informieren, daß er für sieben Uhr eine dringende Sitzung einberuft. Ich weiß, bis dahin ist nicht mehr viel Zeit, aber der Präsident bat mich zu betonen, daß es wichtig sei.«

»Was ist es diesmal, Harnes? Eine weitere Resolution für den Centaurischen Kongreß?«

»Ich weiß es wirklich nicht, Sir. Darf ich dem Präsidenten sagen, daß Sie kommen werden?«

Harmon runzelte die Stirn. »Ja — ja, ich werde dort sein. Denn schließlich habe ich ja geschworen, die Interessen der Regierung im Exil zu wahren.« Er legte den Hörer auf. Dann rief er seinen obersten Assistenten zu sich, teilte ihm kurz mit, daß er ihn für das Dinner vertreten müsse, und ging in seine Wohnung, um sich umzuziehen.

Seiner Position entsprechend war die Wohnung schön gelegen und das Schlafzimmer äußerst komfortabel eingerichtet. Angrenzend befand sich ein luxuriöser Salon, den Harmon kaum benützte. Zehn Jahre war er nun schon Witwer, ein Mann mit Gewohnheiten. Er brauchte nicht mehr als ein Zimmer.

Er nahm einen Anzug heraus, den der Hoteldiener heute morgen in den Schrank gehängt hatte, und legte ihn aufs Bett. Langsam kleidete er sich an, freute sich über den weichen, teuren, perfekt geschneiderten Stoff und betrachtete sein Spiegelbild. Schlank, mit einem kleinen Schmerbäuchlein und den grauen Schläfen, hätte man ihn leicht für den Besitzer des Royal Cheiron und nicht für ein Mitglied des. Personals halten können.

Über das Zimmertelefon bat er, seinen Wagen vor dem Seiteneingang vorzufahren.


* * *

Langsam fuhr er in den Teil von Cheiron City, in dem Präsident Wireman wohnte. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf den fahlblauen Himmel mit der kräftigen gelben Sonne und dem matten, kleineren Mond. Am Anfang hatte ihn das Ungewohnte daran in seinen Bann gezogen. Er hatte hingestarrt wie ein Hinterwäldler auf einen Wolkenkratzer. Das Gefühl des Neuen hatte sich dann freilich abgeschwächt, aber müde war er dieses Anblicks nie geworden.

Er kam nun durch enge Straßen und dachte daran, wie weit weg die Erde und ihr Sonnensystem nun waren, an die wirklich unvorstellbare Entfernung.

Vor vierhundert Jahren war dies der erste Stern gewesen, auf den Menschen ihren Fuß gesetzt hatten — der erste, und wie sich herausgestellt hat, der einzige. Innerhalb von vierhundert Jahren gelang es, die Reisezeit hierher von zehn Jahren auf fünf zu reduzieren. Das war aber auch schon alles. Sie arbeiteten gerade an Versuchen mit Ultratriebwerken, als die Feinde die Erde überschwemmten. Jetzt hatten sie ja das Richtige gefunden, aber zu spät. Centaurus war heute der Brennpunkt der Menschenrasse und die Erde nur ein Hinterland unter der Herrschaft einer sich ausbreitenden fremden Macht.

Sein Wagen brummte gleichmäßig vor sich hin, als er um die Ecke bog und vor dem Haus hielt, in dem Wireman wohnte. Während er sein Auto hinter der Limousine des Finanzministers Stanley parkte, sah er Verteidigungsminister Genovese in einem Taxi ankommen. Harmon überquerte die Straße und traf Genovese in der schäbigen Halle.

»Wie geht es Ihnen, John?« fragte Harmon.

»Hallo, Tom. Gut, und Ihnen?« Dann folgte der übliche Händedruck und leichte Konversation, während sie auf den Fahrstuhl warteten.

»Wie geht es Ihrer Frau, John?«

»Ausgezeichnet, Tom, ausgezeichnet.«

»Und die Geschäfte?«

»Könnten nicht besser gehen. Momentan bemühe ich mich um einen großen Auftrag. Wenn es gelingt, wird die Provision davon ausreichen, um Johnnie über die Schulzeit hinwegzubringen.«

»Nun, das sind erfreuliche Neuigkeiten. Hoffentlich bekommen Sie den Auftrag. Wohin werden Sie Johnnie geben? Ich hörte, die Universität hier sei sehr gut.«

»Ja. Aber er möchte nach KenLi, das ist in Areban, jene mit der guten Ingenieurschule. Das ist zwar schrecklich weit weg; er könnte nur zu Weihnachten und in den Sommerferien heimkommen. Aber wenn er unbedingt dorthin möchte … Er ist ja groß genug, um zu wissen, was er will. Natürlich, da ist noch ein Mädchen im Spiel, das die Kunstakademie dort besucht. Vielleicht war das ausschlaggebend für ihn.« Genovese kicherte.

Sie stiegen in den Aufzug und fuhren zur Wohnung Präsident Wiremans. Der Gang war eng und schlecht beleuchtet. Genovese drückte die Klingel.

Harnes öffnete, machte die Tür weit auf und preßte sich an die Wand des schmalen Korridors, um sie vorbeizulassen.

»Herr Kanzler. Herr Verteidigungsminister. Die restlichen Mitglieder des Kabinetts sind bereits im Wohnzimmer. Präsident Wireman wird sofort kommen.«

»Danke, Harnes«, sagte Genovese und trat beiseite, um Harmon den Vortritt zu lassen. Immer, wenn sie hierherkamen, wirkte sich das plötzliche Gefühl von Würde auf ihre Manieren und Sprechweise aus. Sie gingen in das Wohnzimmer mit dem alten Teppich, der abgenützten Einrichtung und den schlecht gefederten Polstermöbeln.

Mein guter Takawara, dachte Harmon, als die Anwesenden sich von ihren Plätzen erhoben, um ihnen die Hände zu schütteln und Begrüßungsworte zu murmeln. Er hatte alle hier gern gehabt. Er war wirklich der beste meiner Assistenten. Was nur mit ihm geschehen sein mag, an jenem Tag, an dem alles durcheinanderging und wir uns mit knapper Not den Weg durch die feindlichen Raumschiffe erkämpfen konnten … ?

Wir waren alle so viel jünger damals. Wir waren so erleichtert, daß es wenigstens dem Präsidenten und seinem Kabinett gelungen war zu entkommen. Wir hätten auf die anderen gewartet, wenn es möglich gewesen wäre, aber wir dachten, wenigstens die wichtigsten Personen gerettet zu haben. Wir irrten uns. Wir ließen die einzigen von Bedeutung zurück, und das waren unsere Takawaras.

Stanley hatte ihm einen Platz auf der Couch reserviert. Harmon dankte. »Wie geht es Ihnen, Herr Minister?« Stanley war ungefähr in seinem Alter und trug einen Anzug, der vielleicht etwas konservativer war, aber qualitätsmäßig seinem gleichkam. Sie hatten denselben Schneider, und Harmons Konto war auf der Bank, die Stanley leitete.

»Recht gut, danke, Herr Kanzler.« Wenn sie sich normalerweise trafen, nannte Stanley ihn Tom. »Und Ihnen?«

»Auch ganz gut.« Er schaute sich um und dachte darüber nach, daß diese Fragen »Wie geht es Ihnen?« und so weiter mit der Zeit wirklich wörtlich und nicht als Höflichkeitsfloskeln zu nehmen waren. Da war Yellin, paradoxerweise Minister für Gesundheits- und Wohlfahrtswesen, der über seinen Stock gebeugt dasaß, mit rotgeränderten Augen ins Leere starrte, schäbige Kleidungsstücke und billige schwarze Schuhe anhatte. Neben ihm saß Duplessis, der sein Bruder hätte sein können — ein wenig jünger, ein wenig aktiver, aber wirklich nur ein wenig.

Harnes kam aus dem Korridor, der zum Schlafzimmer führte. »Meine Herren, der Präsident der Erde und des Sonnensystems.« Alle standen auf — ein Zimmer voll alter Männer.

Ralph Wireman, der hereinkam, schaute nicht jünger aus.


* * *

Er war mager, mit hängenden Schultern. Harmon bemerkte das abgetragene Aussehen seines Anzugs. Der schlaffe, ausgebeulte Stoff war so fadenscheinig geworden, daß er weder durch Reinigung noch durch Bügeln in eine Form zu bringen war.

Er sah müde aus. Das schwarze Haar war schütter und weiß geworden. Tiefe Furchen hatten sich in seine hohlen Wangen gegraben. Die Nase war schärfer hervorgetreten, die Lippen waren bläulich. Seine charakteristische Energie war vollkommen verschwunden, hatte sich in Zähigkeit und hartnäckige Entschlossenheit verwandelt.

Das letztemal hatte Harmon in seinen Augen noch einen Kern von Lebenskraft entdeckt. Aber heute abend war auch dieser letzte Funke verschwunden.

»Meine Herren.« Er atmete röchelnd.

»Guten Abend, Herr Präsident«, sagte Harmon und wünschte, er wäre nicht gekommen.

»Guten Abend, Tom.«

Im Chor sagten nun alle übrigen: »Guten Abend« und setzten sich wieder hin. Harnes blieb aufmerksam neben dem Stuhl des Präsidenten stehen.

Was es nur heute wieder sein mag? dachte Harmon. Als sie nach Cheiron gekommen waren, hatten diese Sitzungen noch Leben in sich gehabt, sie waren noch zweckmäßig gewesen: Konferenzen mit der Regierung von Cheiron, Sitzungen mit den Beamten der Centaurus-System-Organisation, Finanzen mußten geregelt werden. Sie hatten viel zu tun gehabt. Aber alle diese organisatorischen Angelegenheiten waren mit der Zeit geregelt. Die Einladungen, zum Centaurischen Kongreß zu sprechen, nahmen ein Ende. Beschlüsse wurden wohl gefaßt und niedergeschrieben, vom Centaurischen Kongreß jedoch nicht einmal mehr gelesen. Nach und nach waren sie alle müde geworden.

Früher hatte noch Hoffnung bestanden. Sie hatten sogar daran gedacht, die Centaurer würden Krieg mit den Eindringlingen führen und die Erde befreien. Aber deren Interessen hatten sich der eigenen Einflußsphäre zugewandt. Ihre Erinnerungen an die Erde, vierhundert Jahre zurückliegend, waren legendär geworden. Sie dachten wohl manchmal an die entfernte, altertümliche kleine Welt, wollten es aber nicht riskieren, im Falle einer Niederlage die Wut und Zerstörung der eigenen Welt durch die Sieger herbeizuführen.

Die Regierung war im Exil zwanzig Jahre älter geworden.

Harmon schaute wieder zu Wireman und fragte sich, ob nun endlich alles vorüber sei für heute abend.

Aber Wireman rückte nicht sofort mit der Sprache heraus. Er hielt sich an das alte System und wartete auf die üblichen einleitenden Berichte, die wie damals in Genf erstattet wurden, als noch ein Heer von Angestellten Überblicke und Kritiken der Vorfälle einer Woche anfertigte.

»Edward?« hauchte Wireman.

Stanley stand auf. Seine ausgetrockneten Wangen zuckten. »Nichts Neues. Die Centaurische Regierung hat das übliche monatliche Tröpfchen unserer Vermögenswerte freigegeben. Ich stellte wie immer den Antrag auf Erhöhung der Summe und bekam die übliche Antwort, daß die Forderungen der feindlichen Regierung auf Herausgabe von Vermögenswerten der Erde hier noch überprüft werden müßten.«

Wireman nickte gequält. »Karl?«

Hartmann, der Oberstaatsanwalt, stand auf, als Stanley sich niedergesetzt hatte. »Die letzte Forderung der Eindringlinge wird vom Obersten Gerichtshof behandelt. Ich führte die üblichen Präzedenzfälle an, die eine Erfüllung dieser Forderung nicht gestatten.«

»Ich glaube, das ist klar«, sagte Wireman. »Die Centaurus-System-Organisation sympathisiert mit uns. Aber es wäre dumm von ihnen, zu unserem Wohl einen Krieg mit unserem Feind einzugehen. Sollten vielleicht einmal die Interessen der Centaurer und der Eindringlinge so weit auseinandergehen, daß dadurch ein Krieg verursacht wird, dann können wir damit rechnen, daß das Oberste Gericht plötzlich Präzedenzfälle entdeckt, die endgültig für uns sprechen.«

Immer dieselbe Tretmühle, dachte Harmon. Wir leben und üben unsere Funktionen weiterhin aus. Oder vielleicht tun wir das gar nicht mehr.

Hartmann hatte wieder Platz genommen, und nun streckte sich Wireman ein wenig.

Jetzt kommt es, dachte Harmon erwartungsvoll.

»Meine Herren.« Wiremans Stimme klang sehr alt und sehr müde. »Wir nähern uns einer unerwarteten Krise.« Er schaute zu Harmon, hilfesuchend, aber Harmon wußte noch immer nicht, welche Art von Hilfe er benötigte. Er blickte deshalb zu Boden, und nach kurzer Pause nahm Wireman den dünnen Faden wieder auf. »Wir wissen — wir haben es schon immer gewußt —, daß die System-Organisation uns helfen würde, sollte sie eine Möglichkeit dazu finden, ohne offen darin verwickelt zu sein. Dieser Fall ist eingetreten.«

Harmon hob rasch den Kopf.

»Wie Sie wissen«, setzte Wireman fort, »haben wir den Befreiungs-Fonds all die Jahre hindurch unterhalten, um eine Verbindung mit den Widerstandsgruppen auf der Erde nicht abreißen zu lassen. Diese Tatsache war immer von größter Wichtigkeit für mich, wenn auch die Kosten für den notwendigen ultraschnellen Aufklärer den Fonds arg belasteten. Ohne diese wenigen Kontakte über Funk, die das Raumschiff von Zeit zu Zeit herstellte, wären wir von unserer Heimat und unserem Volk komplett abgeschnitten. Bis jetzt hatten wir nicht mehr unternehmen können. Diese Gruppen, mit denen wir Kontakt hatten, waren klein, unfähig und hoffnungslos über das Land verstreut. Aber kürzlich ist eine große, bestens organisierte und gut geführte Gruppe aufgetaucht. Ich beziehe mich natürlich auf jene, die vom früheren Leutnant Hammil angeführt wird. Seinem Ansuchen um den Rang eines Generals habe ich stattgegeben.

Trotzdem hegte ich nie große Hoffnungen. General Hammils Gruppe konnte nur in Verbindung mit Hilfe von außen von Nutzen sein, einer Hilfe, die wir nicht geben konnten und auch keine andere Regierung, wollte sie nicht einen Krieg mit dem feindlichen Imperium riskieren. Aber gestern kam ich darauf, daß wir das erste Mal seit unserer Ankunft hier in der Lage sind, einen positiven Schritt für die Befreiung der Erde zu unternehmen. Kurz gefaßt: Die Areban Automatic Weapons Company, der Hauptlieferant der Centaurischen Armee, hat kürzlich den Auftrag zur Erzeugung eines neuen Typs automatischer Gewehre erhalten. In der Folge dürfen Waffen der alten Ausführung nicht mehr geliefert werden. Die Firma hat aber noch ein großes Lager und keine Absatzmöglichkeit innerhalb der Grenzen des C. S. O. Ein Vertreter der Firma trat mit dem Vorschlag an mich heran, uns die Waffen samt genügend Munition zu liefern, zahlbar zu einer Zeit, wenn eine befreite Erde dazu in der Lage ist. Kurzum, meine Herren, wir können vielleicht bald wieder frei sein.«

Harmon hatte ihn noch nie so erschöpft und hoffnungslos gesehen wie nach dieser Ansprache.

Yellin atmete tief und hörbar. Mit dem Stock kratzte er über den Teppich. Für einen Augenblick waren alle wie gelähmt. Dann redeten alle auf einmal durcheinander. Wireman sagte: »Tom, ich hätte gern mit Ihnen und John privat gesprochen.« Harnes half Wireman aus dem Stuhl, und Harmon sah, daß auch Genovese nachdenklich aufstand. »Tut mir leid, aber wir werden in die Küche gehen müssen«, sagte Wireman entschuldigend. »Mrs. Wireman ist im Schlafzimmer.«


* * *

Die kleine Küche wirkte bedrückend mit dem Zementboden, dem rostigen Ausguß und den abgeschabten Schränken. Wireman schaute Genovese halb betreten, halb amüsiert an. »Nun können Sie mir sagen, daß ich wahnsinnig bin, John.«

Genovese nagte an der Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Es wird nicht gehen, Herr Präsident. Niemals. Automatische Gewehre gegen ein ganzes feindliches Reich. Wir könnten einige Erfolge durch einen Überraschungsangriff erzielen. Die Eindringlinge könnten einen Großteil ihrer Kampftruppen anderswo eingesetzt haben. Aber was passiert, wenn diese Trappen zurückgeholt werden? Nein, niemals!«

Wireman schaute zu Harmon. »Ist das auch Ihre Meinung, Tom?«

Harmon nickte.

Von irgendwoher zauberte Wireman ein Lächeln auf sein erschöpftes Gesicht. »Ihr habt recht, natürlich. Nach einem Monat oder zwei würden Verstärkungstruppen auf der Erde sein, und das wäre unser Ende. Und dennoch, glaubt ihr an das Märchen dieses neuen Waffenauftrags? An den plötzlichen Überschuß an Waffen? An eine idiotische Firma, die ihre Erzeugnisse in ein Rattenloch wirft?«

Harmon grunzte. Er richtete sich auf. »Nein, nein, bei Gott! Natürlich nicht! Tut mir leid, Ralph. Ich komme aus der Praxis, glaube ich. Die Centaurische Regierung rührt sich endlich!«

Wireman lächelte zustimmend. »So denke ich mir das auch. Offiziell sind sie nicht verwickelt. Aber sie geben uns die Möglichkeit eines Starts, und kommen wir gut voran, werden wir sicherlich schwere Waffen und motorisierte Ausrüstungen zu Gesicht bekommen.«

Dann sank er wieder in müde, hoffnungslose Verzweiflung zurück.

Harmon konnte das nicht begreifen. Wenn er diese Küche betrachtete und überhaupt den Zustand der ganzen Wohnung, so kam ihm zu Bewußtsein, in welchen Verhältnissen Wireman die vergangenen zwanzig Jahre gelebt und immer auf diesen Tag gewartet haben mußte. Er hatte versucht durchzuhalten, mit dem wenigen zur Verfügung stehenden Geld auszukommen, wobei er anderen Männern seines Alters zusehen mußte, wie diese gute Positionen innehatten und komfortabel lebten, während er ein Symbol zu verkörpern hatte, verurteilt war, Präsident der Erde und des Sonnensystems zu sein. Alle übrigen konnten in der Öffentlichkeit zugeben, daß die Erde für sie nicht mehr bestand, aber irgend jemand mußte die Fiktion erhalten, daß die Regierung im Exil noch immer ihr Volk vertrat — und Wireman war dieser Mann. Warum also war er heute niedergeschlagener als sonst?

»Tom …«

»Ja, Ralph?«

»Tom, und Sie, John …« Wireman sagte es fast flehend. »Ihr werdet mich vor dem restlichen Kabinett unterstützen, nicht wahr?«

»Sie unterstützen? Natürlich, Ralph.« Harmon runzelte verdutzt die Stirn.

Wireman seufzte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, wie um Spinnengewebe wegzuwischen. »Danke«, flüsterte er.

Harmon schaute zu Genovese und hob die Augenbrauen. Genovese zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf. Auch er wußte nicht, was er davon halten sollte.

»Gut, meine Herren, ich glaube, wir gehen jetzt wieder zu den anderen zurück.« Wireman riß sich zusammen und stand langsam auf.

Das Gespräch der übrigen Mitglieder der Kabinetts verstummte. Harmon verharrte ganz ruhig und war gespannt, was Wireman sagen würde.

»Meine Herren«, begann Wireman. »Ich nehme an, Sie alle hatten Zeit, über die Tragweite meiner Ankündigung nachzudenken.«

Harmon bezweifelte das. Er hatte gesehen, wie eingerostet sein eigener Verstand war. Aber alle nickten. Er wünschte mit jeder Faser seines Herzens, Takawara bei sich zu haben. Er wünschte, dieser Fall wäre vor zehn Jahren eingetreten. Er wünschte, sie hätten Zeit gehabt, alle diese klugen, jungen Leute mitzunehmen, die heute am Gipfelpunkt ihrer Leistungsfähigkeit angelangt wären.

»Endlich haben wir die Chance«, setzte Wireman fort. »Wir dürfen sie nicht versäumen. Unsere ganze Energie, unsere ganzen Bemühungen müssen wir nun einsetzen. Es wird administrative Arbeit geben, ein endgültiges Programm muß aufgestellt und ausgeführt werden. Wir werden auch mit der Centaurischen Regierung wieder Kontakt aufnehmen müssen. Wenn der Aufstand auf der Erde einmal begonnen hat, müssen wir jeden Augenblick bereit sein, selbst zur Erde zurückzukehren. Bedenkt man die Transportschwierigkeiten, so wäre es sogar ratsam, irgendwo im Weltenraum zu warten.«

Harmon hörte Stanley, der neben ihm saß, überrascht und verärgert brummen. Als er die übrigen Anwesenden betrachtete, sah er, wie sich der Ausdruck in den meisten Gesichtern veränderte.

»Einen Augenblick, Herr Präsident!« sagte Stanley gereizt und erhob sich.

Harmon beobachtete Wiremans Augen und verstand nun, was den Präsidenten so sehr bedrückt hatte.

»Ja, Edward?« sagte er seufzend.

»Wenn ich recht verstanden habe, verlangen Sie von uns vollen Einsatz bei diesem Projekt. Stimmt das?«

»Sie sind Mitglied meines Kabinetts. Sie haben geschworen, der Regierung zu dienen, Edward.« Wireman sagte das ganz ruhig.

Stanley gestikulierte nervös. »Nun … Ja, ich habe es geschworen. Aber ich habe auch eine Position hier, eine sehr wichtige Position.

Ich trage Verantwortungen … Verdammt, Ralph. Ich bin der Manager der größten Bank der Stadt!«

»Ja. Soll das heißen, Sie können diese Nebenbeschäftigung nicht sofort aufgeben, oder halten Sie Ihre Tätigkeit als Bankier für wichtiger als Ihre Verpflichtungen der Erde gegenüber?«

Karl Hartmann sprang auf. »Ich glaube, Minister Stanley will damit sagen, daß er hier Fuß gefaßt hat. Schließlich, Herr Präsident, sind in der Zwischenzeit zwanzig Jahre vergangen. Es ist schwer, plötzlich alles aufzugeben. Ich, zum Beispiel, habe hier mein Büro, mein Heim. Mein Sohn ist mit einem centaurischen Mädchen verheiratet, sie haben Kinder …« Er steigerte sich immer mehr in seine Aufregung hinein. »Schließlich — schließlich hatte ich nichts, als ich herkam. Ich arbeite, Ralph. Ich arbeite schwer. Ich mußte von vorne anfangen und nochmals Prüfungen ablegen, in meinem Alter. Jetzt gelte ich hier als ziemlich guter Jurist. Was sollte ich auf der Erde machen? Ein drittes Mal Prüfungen ablegen? Als erstes wird es eine Neuwahl geben. Glauben Sie, daß ich im Kabinett des nächsten Präsidenten sein werde?«

Harmon dachte an seine eigenen schweren Jahre, in denen er sich emporarbeiten mußte, und hörte, wie die meisten Hartmann zustimmten. Mein Gott, dachte er. Nie haben wir uns das vor Augen gehalten, nie daran gedacht, wie wir uns fühlen würden, sollte dieser Tag einmal kommen.

»Das ist eine sehr interessante Einstellung, Herr Hartmann«, erwiderte Wireman kurz. »Ich glaube nicht, daß sie von allen Anwesenden geteilt wird. Zum Beispiel würde ich gerne hören, was John dazu zu sagen hat.«

Genovese blickte zu Boden. Es gelang Wireman nicht, ihm in die Augen zu schauen. Dann atmete er tief ein.

»Ed Stanley fragte, ob wir uns ausschließlich diesem Projekt widmen müßten, Herr Präsident. Sie erwähnten seine Nebenbeschäftigung. Ich glaube, hier ist der Haken.« Seine Stimme klang leise und ruhig. »Nun, Herr Präsident, vor langer Zeit habe ich Ihnen etwas versprochen. Nicht, daß ich es vergessen hätte, aber jetzt müssen wir auch noch etwas anderes in Betracht ziehen. Karl hat seinen Standpunkt ganz richtig vorgebracht. Ich bin Werkzeugmaschinen-Händler, bearbeite ein großes Gebiet, bringe wenigstens sechs Monate im Jahr auf der Straße zu, verdiene gut. Und nun kommt die Hauptsache: Tag für Tag bin ich Händler auf Cheiron, außer ein- oder zweimal im Monat. Dann nämlich komme ich auf wenige Stunden hierher, wenn ich in der Stadt bin. Nun frage ich: welche ist die Nebenbeschäftigung’?

Verstehen Sie mich bitte richtig. Ich bin nicht ohne patriotisches Gefühl. Ich habe auch noch Verwandte auf der Erde. Wäre ich dort, ich würde ein Gewehr nehmen und alles in meiner Macht Stehende tun. Aber …«

»Schande!« schrie Yellin. »Schande! Nie hätte ich erwartet, in diesem Raum solchen Verrat zu hören!« Er zitterte vor Zorn.

Duplessis fiel ein: »Solange ihr hier Regierung spielen konntet, wart ihr zufrieden. Aber jetzt, wo es Arbeit gibt, überlaßt ihr sie uns — uns, über die ihr gespottet habt. Ihr, in euren komischen ausländischen Kleidern, mit dem barbarischen Akzent. Geht nur, geht zurück zu euren Banken und Büros, zu eurem Händler-Dasein! Geht zurück zu euren Fleischtöpfen! Wir brauchen euch nicht! Jene, die sich an ihre Heimat erinnern und auf diesen Tag gewartet haben, werden die Arbeit für euch tun — alt wie wir sind!«

Das Zimmer war voll zorniger Männer, sowohl auf der einen Seite, als auch auf der anderen.

»Meine Herren!« Wiremans zusammengepreßte Lippen waren kaum zu sehen, aber er hatte seine Stimme gut unter Kontrolle. Er wandte sich an Harmon. »Unser Kanzler hat noch nicht gesprochen.«

Harmon fühlte die zwingenden Augen auf sich gerichtet. Bewegungslos in ihren Stühlen sitzend, blickten sie sich an. Harmon dachte an die ersten Tage auf Cheiron. Nola war krank und lag nachts allein in ihrem Zimmer, während er zur Arbeit ging. Dann war sie gestorben, und er hatte trotzdem weitergeschuftet, weil er nicht hungern oder müßig dasitzen wollte. Nun hatte er Position, Wohnung und einen guten Ruf.

Es würde schwierig werden, das Kabinett zusammenzuhalten. Sie hatten eine Chance. Nützten sie diese nicht, war es vielleicht zu Ende mit ihren Hoffnungen auf eine freie Erde. Und dennoch: unter den gegebenen Umständen mußte ein Plan ja fehlschlagen. Diese kleine Gruppe geteilt, voller Bitterkeit, müde. Was sollte man da tun?

»Ich habe die Absicht, beim Präsidenten zu bleiben und für ihn zu arbeiten«, sagte er nach langer Überlegung und wußte, daß er wahrscheinlich einen schrecklichen Irrtum beging. »Ich versprach es.« Die Versuchung, das Gegenteil zu sagen, war sehr stark gewesen. Hartmann hatte ja recht. Sogar wenn der Plan gelänge, gäbe es für sie auf der Erde nichts, was man mit dem hier vergleichen könnte.

Wireman hob den Kopf. »Sehr gut, meine Herren, Sie haben gehört, was Tom gesagt hat. Nun, wer von Ihnen stimmt für den Vorschlag, General Hammil mit Waffen auszurüsten?« Erwartungsvoll schaute er sich um. Harmon ebenfalls — und zuckte zusammen. Dann seufzte er leise.

Eine eindeutige Mehrheit dagegen. Die Teilung schien genau so zu verlaufen, daß man erkennen konnte, wem es gelungen war, auf Cheiron Karriere zu machen, und wem nicht. Er war nun auf der Seite des alten Yellin und der anderen Einsiedler gelandet, mit denen er zwanzig Jahre lang nicht verkehrt hatte, und mußte jene Männer bekämpfen, die er verstanden hatte und die seine Freunde waren. Immer mehr wurde ihm bewußt, daß nicht einmal das geschlossene Kabinett ausgereicht hätte, diese Arbeit zu bewältigen. Jetzt gab es für ihn gar keinen Zweifel, daß sie auf alle Fälle unterliegen würden.

Er mußte es jedoch wenigstens versuchen. Er hatte es Wireman vor langer Zeit geschworen.

Dann sagte Wireman: »Gut. Tom, ich bitte Sie, aus Mr. Yellins Gruppe ein neues Kabinett zu bilden. Von den übrigen Herren erbitte ich den Rücktritt.« Sein Gesicht war aschgrau. »Ich habe keine andere Wahl.«

In panischer Angst erkannte Harmon, daß er sein Versprechen nicht würde halten können.

Eisiges Schweigen lag über dem Raum, bis Harmon herausplatzte: »Ralph! Das können Sie nicht machen!«

»Ich muß, Tom. Ich muß Leute haben, auf die ich mich verlassen kann.«

»Sie können nicht ein Kabinett aus sechs Mitgliedern bilden. Alle, wie wir hier versammelt sind, müssen zusammenarbeiten. Sechs Menschen können es einfach nicht schaffen, nicht sechs Menschen, die so müde sind wie wir. Das ist ja beinah — ja, es ist Selbstmord, und ein sicherer Fehlschlag obendrein.«

»Wir müssen es tun. Es ist für die Erde, für die Freiheit der Erde, und das ist wichtiger als die Tatsache, daß wir uns überarbeiten werden.«

Harmon schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte: »Zwanzig Jahre haben wir nun zusammengehalten, zwanzig hoffnungslose Jahre. Die Chance eines Erfolgs teilt uns nun.«

»Tom, haben Sie Ihre Meinung geändert?«

»Ralph. Seien Sie vernünftig!«

»Ich bin vernünftig. Und ich glaube, vernünftiger als Sie. Nun gut. Mr. Yellin, ich bitte Sie, eine neue Regierung zu bilden.«


* * *

Hintereinander marschierten sie schweigend den engen Korridor hinaus: Hartmann, Stanley, Genovese und der Rest. Harmon bildete den Abschluß. Er versuchte, nicht zuzuhören, was Wireman mit den anderen im Wohnzimmer besprach. Staatsangelegenheiten gingen ihn nichts mehr an. Als Harnes seinen Arm berührte, brauchte er einige Zeit, um zu reagieren. Dann sagte er: »Ja?« Er erinnerte sich nicht, was Harnes gesagt hatte.

Der Protokollchef wiederholte: »Entschuldigen Sie, Sir. Ihr letztes Gehalt — soll ich es wie üblich dem Befreiungsfonds zuweisen?«

Harmon nickte rasch. »Ja, ja, und das …« Er nahm die Brieftasche heraus und übergab Harnes fast das ganze Bargeld, das er bei sich hatte. »Fügen Sie das hinzu.«

»Ja, Sir. Sir, wissen Sie, er muß die Chance ergreifen, ob er will oder nicht.«

»Ich weiß. Auf Wiedersehen, Harnes.«

»Auf Wiedersehen, Sir.«

»Kommen Sie gelegentlich zum Dinner.«

»Danke, Sir. Aber er tut mir leid, unter diesen Umständen geht das jetzt nicht.«

»Nein — nein, ich glaube nicht.« Er trat auf den überfüllten Gang hinaus, und Harnes schloß die braune Tür hinter ihm. Als der Aufzug kam, konnten nicht alle einsteigen. »Geht nur«, murmelte Harmon, »ich werde warten.«

Er nahm den nächsten und stand allein steif in einer Ecke. Er fühlte sich so hilflos und niedrig, weil es ihm letzten Endes nicht gelungen war, sich über seine menschliche Natur zu erheben. Er hatte sich besser eingeschätzt. Was sollte er nun von sich halten?

Es war hoffnungslos, von dem Tag an, an dem wir die Erde verließen, dachte er. Wir hatten uns eingebildet, mehr als nur uns selbst zu retten: wir glaubten, ein Symbol zu verkörpern, auf das unser leidendes Volk seine Hoffnungen setzen, könne. Wir glaubten, ein Leitstern im Dunkel der Nacht zu sein. Aber wir irrten uns. Die Leute warten, ja, aber sie können nicht ewig warten. Sie müssen ihr Leben leben. Der Feind im Land ist gegenwärtiger als der Präsident auf Cheiron. Der Feind ist immer jung, immer da, immer leistungsfähig. Der Präsident wird älter, das Versprechen einer Rückkehr wird nicht eingehalten. Das Vertrauen läßt nach, letzten Endes bestimmt jeder einzelne sein eigenes Schicksal, und damit geht der Glaube an höhere Dinge endgültig verloren.

Ich bin sicher, unten auf der Erde glauben sie nicht mehr an uns, genauso wie wir nicht mehr an uns selbst glauben. Im Unterbewußtsein haben wir das schon immer gewußt. Deshalb hat es die Fähigsten und Tatkräftigsten von uns schon weggezogen, als wir auf dieser Welt hier ankamen. Nur die Alten blieben dabei. Sie hatten keine andere Wahl, als zu hoffen, dieses Ding in sich zu nähren, das nicht länger mehr Hoffnung, sondern Verzweiflung heißt.

So wird es auch auf der Erde sein. Nur die Verkrüppelten und Unfähigen haben uns nicht vergessen. Der Krieg ist verloren, die Zeiten haben sich geändert. Wir sind weg, und wir wissen es. Die Freiheit ist weg, das weiß die Erde. Es gibt keine Hoffnung, weder für uns, noch für die Erde. Der Feind hat immer junge Leute, während wir hier niemanden haben, der uns ersetzen könnte.

Der Aufzug hielt, Harmon stieg aus und durchquerte die Halle. Dann bemerkte er, daß jemand in einem der verschlissenen Stühle saß.

Es war ein großer, strammer, irgendwie sanft aussehender Junge. Harmon wußte, daß er Mitte der Zwanzig sein mußte, obwohl es kaum zu glauben war. Er rekonstruierte: zwanzig Jahre lebten sie nun hier auf Centaurus, vier Jahre verbrachten sie im Raumschiff, und der Junge war vielleicht ein Jahr alt, als sie an Bord eilten. Er war jetzt also fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt.

In sich zusammengesunken saß er im harten Stuhl und starrte auf das Fleckchen Boden zwischen seinen Füßen. Die Mundwinkel zuckten. Einmal weiteten sich seine Augen, dann kniff er sie wieder zusammen. Was immer er dachte, drückte sich auf seinem Gesicht aus, und offensichtlich überstürzten sich seine Gedanken.

Etwas muß bei ihm nicht stimmen, dachte Harmon, erschrocken über die Disziplinlosigkeit dieses Verstands. Irgendwo, irgendwie hatte er versagt, Kontakt mit der Welt aufzunehmen.

»Hallo, Michael«, sagte er, und Präsident Wiremans Sohn schaute auf.


* * *

Er hatte dasselbe stumpfe braune Haar wie seine Mutter, ihre braunen Augen und ihr spitzes Kinn. Das einzige, was er von seinem Vater geerbt haben dürfte, war die Form seiner Ohren — die berühmte Krughenkel-Form, die Wireman eine persönliche Form gegeben hatte, beim Sohn aber etwas lächerlich wirkte.

»Hallo, Mr. Harmon.« Der Junge — es gelang Harmon nicht, einen Mann in ihm zu sehen — hatte eine farblose, unsichere Stimme. Er schaute ihn mit einer Art scheuer Freundlichkeit an. »Ist die Sitzung zu Ende? Ich sah Mr. Stanley und Mr. Genovese weggehen.«

»Du hast nicht mit ihnen gesprochen?«

Michael schüttelte unbehaglich den Kopf. »Nein.«

Vielleicht hatten sie ihn ignoriert. Ein Gespräch mit ihm war nämlich alles andere als angenehm. Auch Harmon wäre schweigend vorbeigegangen — schuldbewußt vielleicht? — wäre dies nicht die letzte Möglichkeit eines Zusammentreffens gewesen.

»Ja, Michael, die Sitzung ist aus. Aber Mr. Yellin und einige andere sind noch da.«

»Oh, dann ist es wohl besser, ich gehe noch nicht hinauf.«

Während Regierungssitzungen war er nie zu Hause. Als kleiner Bub, natürlich, hatte er nichts dabei verloren gehabt, und in den folgenden Jahren war seine Abwesenheit zur Gewohnheit geworden.

Harmon, der mit den Wiremans gesellschaftlich nie verkehrte, hatte folglich auch sehr wenig von dem Jungen gesehen. Während der ersten Jahre im Exil war für Wireman und sein Kabinett so viel zu tun gewesen, daß er natürlich ganz im Hintergrund geblieben war. Harmon wußte nicht, wie er jetzt zu seinen Eltern stand. Aber er hatte den Eindruck, daß Michael seinen Vater enttäuschte und daß sich seine Kindheit größtenteils um die Mutter abgespielt hatte. Er erinnerte sich noch, wie Michael sich an Bord des Raumschiffes von einem Baby zu einem Jungen entwickelt hatte. Damals war er aufgeweckt und lebhaft gewesen — zu lebhaft vielleicht, denn ständig wollte er die ohnedies so kostbare Zeit seines Vaters in Anspruch nehmen. Sicherlich, das hatte sich geändert, oder war geändert worden.

Jetzt sprach er mit centaurischem Akzent, und nichts wies auf seinen wirklichen Ursprung hin. Sogar die Kleidungsstücke trug er auf centaurische Art.

»Gibt es etwas Neues?« fragte Michael Wireman.

Harmon dachte über eine Antwort nach. »Nun, vielleicht werdet ihr bald zur Erde zurückkehren.«

»Sie meinen, die Centaurer wollen endlich etwas unternehmen?«

»Sagen wir es so: sie werden helfen, euch selbst zu helfen.«

Michael schaute ihn erstaunt an. »Werden Sie nicht bei uns sein?«

»Nein, Michael, tut mir leid.«

»Wollen Sie nicht mit uns kommen, Mr. Harmon?«

»Ich …« Harmon schüttelte den Kopf.

»Geht Ihnen die Erde nicht ab? Wollen Sie sie nicht wiedersehen?« Das Erstaunen in Michaels Stimme hatte sich in reine Ungläubigkeit verwandelt.

»Um ehrlich zu sein, Michael …«

»Sind Sie gerne hier? Mögen Sie diese Leute und ihre Art?« Einmal in Schwung, ließ der Junge Harmon gar nicht zu Wort kommen. Er schien enthusiastisch und aufgeregt zu sein. Das war offensichtlich ein Thema, an dem er mehr als jeder andere interessiert war.

»Ihre Art?«

»Sie wissen, was ich meine. Sie sind grob, sie sind unhöflich … Sie sind so ganz anders als die Menschen auf der Erde.«

Harmon atmete tief ein. »Weißt du so viel über die Erdenbürger, Michael?«

Er wurde rot. »Nun, natürlich erinnere ich mich nicht an die Erde.« Er beruhigte sich einen Augenblick. Dann jedoch erhitzte er sich in erhöhtem Maße. »Aber meine Mutter hat mir viel erzählt. Sie hat mir Fotografien gezeigt: von all den großen Gebäuden, den Museen, den Bibliotheken, dem Triumphbogen, von Genf, von Rom …«

»Nun ja … Aber die Gebäude waren nicht größer als hier. Und es gibt einige ziemlich gute Museen in der Stadt.«

»Ich weiß. Aber hier geht niemand in Museen.«

»Nun ja …« Harmon gab sich geschlagen. Welche Wirklichkeit konnte auch einen lebenslangen Traum ersetzen? Welche Worte, welche Überredungskünste konnten neben einem Gefühl bestehen?

»Glaubst du wirklich, daß zwischen Centaurern und Erdenmenschen ein solcher Unterschied ist?«

»Das muß sein!« rief Michael Wireman aus. »Betrachten Sie nur ihre Geschichte. Sie kamen hierher, weil für sie auf der Erde kein Platz war. Sie waren entweder Versager oder Opportunisten. Anstatt zu versuchen, verantwortungsbewußte Mitglieder einer zivilisierten Welt zu werden, liefen sie davon.

Was kann man von einer Gesellschaft erwarten, die sich aus Abkömmlingen solcher Leute zusammensetzt? Sie arbeiten, natürlich arbeiten sie, aber jeder schaut nur auf sein eigenes Wohl, ohne an seine Nächsten zu denken. Ist das ein Leben? Nur an sich selbst zu denken, die Welt mit lärmenden Maschinen anzufüllen und sonst nichts?

Was haben sie geerbt? Welche Ideale haben sie? Welche Erziehung? Ja, einige sind nett. Einige kann man gernhaben. Einige sehen sogar ein, daß gewisse Dinge besser sein könnten — aber sie gehen in der Masse unter.«

Michael Wiremans Gesicht glühte. Er schien nun darauf zu warten, daß Harmon mit ihm diskutierte. Wollte er vielleicht von seinen Überzeugungen abgebracht werden?

Thomas Harmon schüttelte leicht den Kopf. Was sollte man mit diesem Einzelgänger anfangen?

Und was soll ich machen? Ihm einige Zauberworte sagen und ihn damit ändern?

Auf Grund seines Einfühlungsvermögens verstand Harmon plötzlich, was diese Persönlichkeit geformt hatte. Der Druck überwältigender Ereignisse hatte es verursacht, hatte nicht nur ihn geformt, sondern jedermann überwältigt, der für seine Erziehung verantwortlich war. Niederlage, nie eingestandene Niederlage, hatte ihn zu dem gemacht, was er war.

»Michael …«

Harmon unterbrach sich. Wollte er eben die Zauberworte sagen? Was waren eigentlich Zauberworte? In der Welt der Menschen gab es keine Zauberei. Da gab es Geschichte, Aufzeichnungen vergangener politischer Ereignisse. Dann gab es Psychologie, die innere Politik jedes einzelnen. Sozialwissenschaft: das Studium politischer Auswirkungen. Das alles weiß man von den Menschen; was man mit Menschen gemacht hat, was man mit ihnen noch tun kann. Und Politik, so hatte man ihm schon immer eingedrillt, war die Kunst des Möglichen. Was war möglich für Michael Wireman? Für Ralph Wireman? Für Thomas Harmon?

»Michael …«

»Ja, Mr. Harmon?«

Was mache ich nur? Warum will ich unbedingt die Zauberantwort für uns alle finden, die es nicht gibt? Obwohl wir die alle gut gebrauchen könnten.

»Michael …«, zum drittenmal.

»Wollen Sie sich setzen, Mr. Harmon?« fragte der Junge besorgt.

»Nein. Nein, nein, Michael. Es geht mir schon gut …« Er zitterte. Er konnte es nicht verhindern, sich abzuquälen, irgendeine Lösung dieser unlösbaren Probleme zu finden.

Und dann, ganz plötzlich, sagte er: »Michael, würdest du mit mir hinaufgehen? Sofort?«

»Hinauf?«

»Ich — ich hatte einen Gedanken. Vielleicht hilft er deinem Vater … und mir, ein bestimmtes Problem zu lösen.«

Harmon drehte sich um und eilte zum Aufzug, angetrieben vom Wunsch, den Gedanken in die Tat umzusetzen, ehe er, noch Zeit für Zweifel oder ein Umkehren hätte. Er konnte seiner Erregung nur mühsam Herr werden. Er hatte seinem Verstand ein Problem vorgelegt, und sein Verstand hatte ihm eine Antwort darauf gegeben.

Vielleicht tun sie es, dachte Harmon. Mit dem Jungen tun sie es vielleicht wirklich. Ein neues Symbol, gestützt von einem Zaubernamen. Wireman würde zustimmen, besonders, wenn Harmon dann zurückkäme. Harmon konnte es bei Yellin aushalten. Er konnte alles ertragen, alles aufgeben, war die Möglichkeit eines Erfolgs vorhanden. Nein, er durfte nicht daran zweifeln, sich wieder quälen lassen. Der Junge mußte die Lösung sein!

Erfolg, auf monarchistischen Grundsätzen aufgebaut, in diesem Jahrhundert? Harmon schnaufte. Eine lächerliche Idee. Aber das Volk, könnte es nicht im neuen Wireman die verjüngte Ausgabe des alten sehen? Und traf dies nicht auch zu, in gewissem Maß? Sie brauchten nur Zeit, ein wenig Zeit und ein begeistertes Volk, bis C.S.O.-Truppen und -Raumschiffe eingetroffen waren und der alte Wireman. Sicherlich würde der Junge alles in seiner Macht Stehende tun wollen, um zu helfen.

Weder Fische, noch Geflügel, noch ein guter Braten, sondern ein Paar neuer Schultern für Wiremans Last. Jugend, Energie waren notwendig, und über allem stand zweifellos der Wunsch … Ja, ja, das war ganz sicher die beste Lösung innerhalb der Möglichkeiten.

»Schnell, Michael!«

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