3

Ein Offizier, schmuck und gebieterisch in seiner schwarzen mit Silberborten verzierten Uniform, schaute neugierig aus seinem Panzerwagen. »Ergibst du dich, Junge?«

Michael Wireman nickte.

Der Offizier gab dem Lenker einen Wink, der Wagen fuhr an den Straßenrand, und sechs gepanzerte Lastkraftwagen brausten vorüber. Dann sprach er kurz in ein Mikrophon, worauf ein Panzerwagen am Schluß der Kolonne plötzlich beschleunigte, die Lastkraftwagen überholte und die Führung übernahm. Die Patrouille verschwand in Richtung Kommandoposten.

Der Offizier lehnte sich im Sitz zurück, blickte stirnrunzelnd auf Michael Wireman, wobei er dessen Gesicht und Kleidung begutachtete, und sagte endlich ungeduldig: »Sie können die Hände heruntergeben. Nun — was ist los?«

Hinter dem Rücken knetete Michael Wireman seine Hände. »Ich ergebe mich.«

»Das sehe ich. Aber warum?« Es stellte sich heraus, daß er ehrlich verdutzt war. Wie neunundneunzig Prozent der Feinde, die sich auf der Erde befanden, war auch er ganz offensichtlich zu jung, um den Krieg mitgemacht zu haben. Er war Schwierigkeiten nicht gewöhnt. Er wußte, daß Widerstandskämpfer in den Wäldern lebten, aber auch mit denen hatte er noch nie Unannehmlichkeiten gehabt.

Paradoxerweise war ihm auch nie der Gedanke gekommen, einer dieser Leute würde sich ergeben.

Verspätet, während er auf Antwort wartete, kam ihm in den Sinn, daß dies alles ein Trick sein könnte. Beunruhigt beobachtete er die Wälder zu beiden Seiten. Aber eine Falle hätte sich wohl schon längst als eine solche herausgestellt. Irritiert schnauzte er: »Nun?«

Es gelang Michael Wireman nicht, seine komplizierte seelische Verfassung in Worten auszudrücken. Er hatte impulsiv gehandelt, und nun war er da. »Ich hatte genug«, sagte er monoton. »Ich gebe auf.«

»Öffnen Sie Ihren Mund«, sagte der Offizier plötzlich. »Ich möchte Ihre Zähne sehen.« Grimmig starrte er auf Michael Wireman. »Los! Tun Sie es!«

Michael Wireman öffnete den Mund. Der Offizier jedoch griff schnell zu und befühlte den Stoff seines Schutzanzugs. Anscheinend zog er irgendwelche Schlüsse aus alledem, und zu spät erkannte Michael Wireman den Grund. Der Offizier betrachtete ihn aufmerksam.

»Sie waren nicht sehr lange in den Wäldern. Und was Sie da anhaben, stammt nicht von der Erde. Woher kommen Sie?«

Michael Wireman fand noch immer keine Worte. Er war erschrocken darüber, daß er nicht überlegt hatte, was seine freiwillige Auslieferung alles nach sich ziehen könnte. Aber jetzt gab es kein Zurück.

»Ich bin von Cheiron«, gab er zu. »Vor zehn Tagen landete ich in den Bergen.«

»Ein centaurischer Spion also.«

»Ein freier Erdenbürger«, gab Michael Wireman zurück.

Der feindliche Offizier mußte erst einige Zeit nachdenken, ehe er begriff.

»Oho!« rief er dann aus und lehnte sich wieder zurück. »Von der Regierung im Exil?«

Michael Wireman nickte.

»Und Sie ergeben sich.« Der Offizier spielte mit dem Schalter des Funkgeräts. »Das ist sehr interessant.« Er betätigte den Schalter. »Geben Sie mir das regionale Hauptquartier«, sagte er. »Hier spricht Leutnant Boros.« Während er wartete, trommelte er mit den Fingern der freien Hand auf einem Knie und ließ Michael Wireman nicht aus den Augen.

»Hauptquartier? Leutnant Boros. Patrouille auf Route 209 zur Unterstützung des Kommandopostens. Ich bringe einen Gefangenen.« Es folgte eine Pause. »Nein, Sir. Leutnant Laram hätte mich über einen Kontakt mit der Haupttruppe informiert. Der hier war allein, hat sich freiwillig ergeben und ist bereit auszusagen. Ja, Sir. Werde ihn sofort bringen.«

Er legte das Mikrophon zurück und öffnete die rückwärtige Wagentür. Er stieg aus, nahm das Seitengewehr in die Hand und zwängte sich auf den hinteren Sitz. Mit eisiger Miene deutete er auf den freigewordenen Platz neben dem teilnahmslos dreinschauenden Fahrer. Leutnant Boros sah jetzt gar nicht mehr wie ein Soldat in Friedenszeiten aus.

»Steig ein, Verräter«, sagte er.

Michael Wireman spürte, wie ihm das Blut in den Wangen brannte.


* * *

Der verhörende Offizier war wesentlich älter als Leutnant Boros, hätte aber dem Aussehen nach leicht dessen Bruder sein können. Es müßte doch auch dicke, kleine Feinde geben, dachte Michael Wireman. Aber es schien, als hätten alle hohle Wangen, Adlernasen, kurzes, gekraustes Haar und große, sehnige Körper. Mit ihren dunklen Gesichtern und tiefliegenden braunen Augen bildeten sie eine einzige große Familie. Gerade diese Einheit unterschied sich so wesentlich von den Erdenbürgern, denen sie ähnelten: jeder war vom andern in gleicher Weise abhängig, sie wiesen ebenbürtige Leistungsfähigkeit auf, perfekte Bruderschaft.

Das Gefühl von Hilflosigkeit in Michael Wireman wurde noch verstärkt, als er sah, mit welcher Schnelligkeit sein Akt, fernfotokopiert von der Zentralstelle in Genf, in die Hände des Offiziers gelangt war.

»Michael Wireman«, las der verhörende Offizier mit sanfter Stimme aus der geöffneten Mappe. »Michael Wireman«, wiederholte er, als interessiere ihn das am meisten. »Ihr Vater ist Präsident der Exil-Regierung.«

Michael Wireman nickte. Das Zimmer war kahl, ohne Einrichtung oder Dekoration, auf der sein Blick hätte ruhen können. Da waren zwei Stühle und dazwischen ein Tisch. Michael Wireman hatte keine andere Wahl, als den Offizier anzuschauen.

»Vor zehn Tagen kamen Sie hier an?«

»Mit Hilfe eines Raumschiffs, natürlich.«

»Ja.«

Der Offizier schaute auf. »Dieses Raumschiff gehört wohl den C.S.O.-Streitkräften?«

Michael Wireman wehrte ab. »Es gehörte nicht der C.S.O.« Er hielt es für wichtig, diesen heiklen Punkt klarzustellen.

Der Offizier lächelte ironisch. »Ist es nicht faszinierend, wie man ein internationales Gesetz umgehen kann?«

»Ich nehme an, ja«, antwortete Michael Wireman, und aus irgendeinem Grund wechselte der Offizier das Thema.

»Sprechen wir einmal über Sie«, begann er. Er durchblätterte die Mappe. »Sie verließen die Erde im Alter von einem Jahr, als Ihre Familie nach Cheiron flüchtete. Sie wuchsen auf Cheiron auf, unter Centaurern. Diese stammen zwar von Erdenbürgern ab, sind aber schon seit Generationen unabhängig; in ihrem Bereich wurden sie reich und mächtig, und ihre Bindungen zur Erde sind mehr als dürftig. Waren Sie dort glücklich?«

»Glücklich genug.«

»Wirklich? Ich hätte gedacht, Sie wären ausschließlich mit Ihren Hoffnungen beschäftigt gewesen, vielleicht doch einmal zur Erde zurückkehren zu können.«

»Sie sind sehr klug«, flüsterte Michael Wireman.

»Sie haben nichts Anziehendes an sich«, fuhr der Offizier fort. »Sie haben sonderbar aussehende Ohren und sind unbeholfen. Sie sind nicht so überaus geistreich, um damit beeindrucken zu können. Sagen Sie mir noch einmal, Michael, waren Sie glücklich.?«

Michael Wireman schüttelte den Kopf.

»Nun gut«, sagte der Offizier mild. »Als man beschloß, Sie herzuschicken, war das die Erfüllung Ihrer Träume, nicht wahr? Endlich konnten Sie dorthin gehen, wohin Sie gehörten.«

Einen Augenblick lang war es ruhig. »Ich freute mich darüber«, sagte Michael Wireman langsam.

Der Offizier betrachtete Michael Wiremans Gesicht. »Ja, das glaube ich Ihnen.« Eine Weile blätterte er in den Akten und sagte dann: »Aber jetzt sind Sie unglücklich. Innerhalb von zehn Tagen hat sich Freude in Elend verwandelt. Wurden Sie von Hammils Leuten nicht akzeptiert?« Er blickte auf. »Oder entsprach Hammil nicht Ihren Vorstellungen?«

Michael Wireman antwortete nicht. Er sah, wie der Offizier lächelte.

»Sie mögen Hammil nicht, oder seine Methoden«, sagte er dann. »Das Aussehen der Freiheitskämpfer gefiel Ihnen nicht, wie?«

»Nein.« Welchen Sinn hatte es, jetzt noch etwas zu verschweigen.

»Und ich wette, Sie sagten ihnen genauso wenig zu. Sie können froh sein, daß Sie noch am Leben sind, wissen Sie das?«

»Ich weiß. Sicher freut er sich, daß ich weg bin.«

»Ja. Sagen Sie mal: glaubt er, Ihrer Meinung nach, Diktator über die ganze Erde werden zu können?«

»Ja.«

Der Offizier nickte bedächtig. »Gar nicht so unvorstellbar«, murmelte er. »Aber darauf kommen wir noch zurück. Sie sind vorläufig interessanter.«

Michael Wireman begann zu verstehen, wieder zu spät, daß diese Fremden niemals ohne Grund, eine Frage stellten. Er fürchtete sich davor, welche Schlüsse der Offizier ziehen würde.

Dieser schüttelte den Kopf. »Sie passen nicht, Michael Wireman. Sie passen nicht auf Cheiron; da hinauf in die Berge gehören Sie auch nicht. Ich mache mir Gedanken … Ihr Vater muß sehr beschäftigt sein …«

Michael Wireman biß sich in die Unterlippe.

»Sie passen nicht in Ihre Familie … Sie passen nirgends hinein, nicht wahr, Michael?«

Michael Wireman hatte nichts zu sagen.

»Dennoch … Würden Sie so schnell aufgeben?« Der Offizier schien Freude an seiner Arbeit zu haben. »Schauen wir einmal, wie sich die Teile ineinanderfügen …

Ein Raumschiff. Nun. Ein ganzes, großes Raumschiff zur Verfügung der Regierung im Exil. Das ist doch eigenartig. Und der Sohn des Präsidenten wird damit zur Erde zurückgeschickt. Nun gut, betrachten wir einmal das ganze Bild.«

Der Offizier beugte sich lässig vor.

»Vor zwanzig Jahren hielt sich die C.S.O. aus dem Krieg heraus. Jetzt liegen die Dinge anders. Jetzt beginnen unsere Interessen miteinander in Konflikt zu geraten. Sie sind mächtiger geworden, und ihr nächster, natürlicher Ausdehnungsbereich ist einer, den auch wir wollen. Ein Krieg käme also gelegen. Deshalb wird die Regierung im Exil — die Regierung im Exil, wohlgemerkt, nicht die C.S.O. — plötzlich reich. Reich genug, um heimlich ein Raumschiff in das Sonnensystem entsenden zu können.

Warum machen sie das? Nun gut: die Erde ist dieser Tage ein ruhiger, kleiner Platz ziemlich weit weg von unseren Grenzen. Der Krieg ist für uns vorüber. Wir haben das Gebiet nicht übermäßig besetzt. Sollte sich hier also jemand finden, der unsere anwesenden Streitkräfte angreift und überwältigt, während eine C.S.O.-Flotte kommt und eine Blockade errichtet, eine verhältnismäßig billige Blockade, um unsere Verstärkungen so lange aufzuhalten, bis es zu spät wäre … Nun, dann hätte die C.S.O. eine Bresche in unsere Verteidigung geschlagen, praktisch ohne wesentlichen Aufwand.

Für den Fall, daß wir von diesen Plänen Kenntnis erhielten, hätte sich dann nicht die C.S.O. die Finger verbrannt. Nein, Sie haben ja den Deckmantel der fanatischen alten Regierung im Exil, und die C.S.O. hätte womöglich noch zu uns gehalten, warum nicht? Offiziell wären wir befriedigt gewesen, und die C.S.O. hätte praktisch nichts verloren außer einem bereits eingetriebenen Bolzen. Wie denken Sie darüber, Michael?«

Michael Wireman schwieg und beobachtete den Offizier genau.

»Dieser Fall könnte ohne weiteres noch eintreten«, sagte der Offizier. »Berührt Sie der Gedanke gar nicht, daß man Ihre Leute Ihrer Positionen entheben könnte, Michael? Möglicherweise einsperrt oder bestenfalls davon leben läßt, was sie sich mit ihrer Hände Arbeit verdienen können? Wie alt ist Ihr Vater, Michael? Und Ihre Mutter ist krank, nicht wahr?«

»Nur weiter.«

»Weiter? Ich sehe, es interessiert Sie sehr wenig, was hätte passieren können, beziehungsweise, was noch geschehen könnte. Kehren wir also zu dem vielen, plötzlich erworbenen Geld zurück, das die Regierung im Exil hat, und was sie damit macht.

Sagen wir — nun, sagen wir, die Regierung im Exil findet C.S.O.-Waffen, die zum Verkauf angeboten werden. Sagen wir, man wirft sie Hammil herunter. Sagen wir, ein unfähiger Bursche mit wertvollem Zunamen wird militärisch geschult, in einen umgefärbten C.S.O.-Schutzanzug gesteckt und mit den Gewehren heruntergeschickt, damit Hammil einen Vertreter der alten Regierung um sich hat. Nur daß Hammil kein Anhängsel will. Aber vielleicht hattet ihr keine Vorstellung von der Situation hier, wie?«

Michael Wireman schaute stur geradeaus.

»Junge«, sagte der Offizier eindringlich. »Ist denn niemand auf diese Idee gekommen? Nicht einmal ihr Vater? Sie kannten Hammil nicht. Hätten sie da nicht wenigstens überlegen sollen, daß die C.S.O. eigene Interessen vertreten könnte? Die C.S.O. braucht euch nicht mehr. Sie könnte jetzt genausogut direkt an die Sache herangehen. Die C.S.O. hat Pläne für die Erde nach dem Krieg, und diese sehen bestimmt nicht vor, der alten Regierung zu neuen Ehren zu verhelfen. Niemand braucht euch.«

Der Offizier fügte sanft hinzu: »Das fanden Sie heraus, nicht wahr?«

Michael Wireman nickte, den Blick in die Ferne gerichtet. »Heute morgen stiegen wir vom Berg, um den Kommandoposten anzugreifen.«

»Ja?«

»Ich wollte es nicht glauben. Ich war sicher, Hammil würde zuallererst die übrigen Bandenführer auslöschen und die Überlebenden in seine Truppe aufnehmen. Ich denke, Hammil hätte mich gern tot gesehen. Aber ich fiel nicht. Wir nahmen den Kommandoposten ein, und dann sah ich, weshalb er es getan hatte. Hammil kannte den Offizier dort. Er war seinerzeit mit seinem Klassifizierungstest beauftragt.«

»Oh?« Der Offizier schaute ihn scharf an. »Sie wissen Bescheid, nicht wahr?«

Dieser eine Blick bestätigte ihm, was er über Michael Wireman wußte. »War Ihnen das Test-System vor heute morgen bekannt?« fragte er sanft.

»Nein. Was hat das damit zu tun?«

Weder Groll, noch böse Absicht lagen im Blick des Offiziers. »Michael Wireman, irgendwann, heute, müssen Sie erkannt haben, wie wertvoll Sie für uns sind. Sie sind politisch nicht ungebildet. Wir wußten, die C.S.O. würde eines Tages auf irgendeine Weise gegen uns vorgehen. Aber jetzt wissen wir, wo und wie. Jetzt ist es wahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß Hammil unser Gegner ist, daß man uns die Erde nie und nimmer wird entreißen können. Die nächste Generation wird sich kaum erinnern, daß die Erdenbürger einmal eine eigene Rasse waren. Sie werden sich uns vollkommen anpassen. Was immer jetzt geschehen mag, die Erde wird nie wieder die Erde sein, die Sie lieben.

Mit sich haben Sie uns Ihre Kinderträume übergeben, Michael Wireman, und warum? Weil Hammil ein egoistischer Mörder ist? Weil wir, im Falle einer Niederlage, die Erde nicht an Ihre Leute verlieren würden? Ihre höchsten Bestrebungen haben Sie zugunsten so geringfügiger Dinge aufgegeben?«

»Nein! Ist Ihnen nicht klargeworden, weshalb ein Mensch sogar sein Geburtsrecht aufgeben würde?«

Michael Wireman fand keine Antwort.

»Sie wollen sich anpassen«, sagte der Offizier. »Sie wollen akzeptiert werden. Von uns wollen Sie das haben, was Ihnen weder Ihr Vater, noch Hammil geben konnte. Und wir können es. Deshalb haben Sie sich ergeben.«

Michael Wireman leugnete es nicht.

Der Offizier lächelte ihn gütig an. »Ist in Ordnung, Michael«, sagte er. »Wir sind froh, Sie zu haben.«

Als Michael Wireman daraufkam, daß er es wirklich so zu meinen schien, verließ ihn seine Selbstbeherrschung vollkommen. Er begann zu weinen.

Der Offizier hatte seine Aufgabe ausgezeichnet und taktvoll erledigt. Michael Wireman fühlte sich, als hätte man ihm viele Steine vom Herzen genommen.

Der Offizier versah den Akt mit einer letzten Eintragung und schloß ihn. »Ich werde veranlassen, daß Sie sich ordentlich waschen können und eine bequeme Schlafstätte erhalten. Am Morgen werden wir Sie dann testen, ja? Am Nachmittag gehören Sie schon zu uns.« Man sah, daß er dies alles nur noch der Ordnung halber sagte, denn dieser Teil war uninteressant für ihn. Er hatte den Fall Michael Wireman gelöst und wollte gehen.

»Danke, Sir«, sagte Michael Wireman mit heiserer Stimme.

Загрузка...