Nach zwei weiteren Jahren

Blau

Nikodemus spürte einen Albenstern. Er wusste, dass sie einen Zeitsprung gemacht hatten. Es war Wahnsinn, in einen Albenpfad einzudringen. Das war von den Alben nicht vorgesehen gewesen. Er musste heraus, sofort! Je länger sie blieben, desto mehr Zeit verstrich. Ein Lidschlag ein Jahr. Ein Wort ein Jahrzehnt.

Er nahm all seine Macht zusammen. Er öffnete das Tor nicht einfach, er riss es auf.

Seine Magie bezwang es. Schnörkellos. Direkt. Sofort trat er über die Schwelle. Ollowain mit der Königin in den Armen war so dicht hinter ihm, dass er ihm gegen die Rute stieß.

Wasser! Überall!

Panik überkam ihn. Blaues Licht umgab sie. Er sank! Nikodemus schrie! Etwas war vor seiner Schnauze. Durchsichtig. Gallertartig. Es klammerte sich an sein Gesicht! Er griff danach und wollte es fortreißen, doch Ollowain fiel ihm in den Arm. »Nicht!«

Wieso konnte er den Elfen hören? Nikodemus stemmte sich mit aller Macht gegen den Griff des Elfen. Er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Sie waren tief im Wasser.

Helles Licht stand weit über ihnen. Das Wasser war warm.

Die Atemblase schützt dich, Nikodemus. Reiß sie nicht fort, dann wirst du ertrinken.

Nikodemus verdrehte die Augen und starrte auf das Ding, dass seine Schnauze umgab. Es war halb durchsichtig. Es pulsierte. »Das ist ein Tier!«

Beruhige dich, sagte Ollowain. Es ist ein magisches Geschöpf. Durch Zauber erschaffen. Nicht aus einem Ei oder einem lebendigen Leib geboren. Ich kenne sie. Es gab sie auch schon vor sehr langer Zeit. Es ist ein Schutzzauber der Alben, damit Lungenatmer wie wir, die versehentlich durch einen Albenstern im Meer treten, nicht ertrinken.

Ganz egal, ob es ein Zauber der Alben war, dachte Nikodemus, da klammerte sich ein glibberiges Tier um seine Schnauze! Was für ein erbärmlicher Zauber war das denn!

Hätten die Alben sich nichts Besseres ausdenken können? Schließlich hatten sie ganze Welten erschaffen!

Wieso können wir im Wasser sprechen?

Auch das sind diese Kreaturen. Wir sprechen nicht wirklich. Sie sondern ein Sekret ab. Eine Droge. Ich kann deine Gedanken wie gesprochene Worte hören.

Das war ein Traum, entschied Nikodemus. Ganz sicher ein Traum! Er wollte nicht, dass irgendwelche Tiere ein Sekret in ihn absonderten. Während er das dachte, sanken sie tiefer. Das Blau wurde dunkler.

Ein sehr überzeugender Traum, dachte der Lutin. Aber nicht mehr. Er musste ohnmächtig geworden sein. Beim Übergang ins Goldene Netz. Wenn er erwachte, hätte es ihn in eine ferne Zukunft verschlagen.

Ein Seehund erschien vor ihm und glotzte ihn an. Er schwamm um ihn herum, begaffte auch Ollowain und Emerelle und verschwand dann wieder im tiefen Blau.

Nikodemus trat mit den Füßen. Er war nie ein sonderlich guter Schwimmer gewesen.

Das Ding auf seiner Schnauze drückte. Er war versucht, es abzureißen. Aber wenn es kein Traum war ...

Seine Augen brannten. Kam das vom Salz im Meerwasser?

Das war eine Selkie.

Eine was ... Woher kennst du das alles? Wir sind in Eleborns Reich. Wir sind dem Geisterhund entkommen. Dank dir, Nikodemus. Al ein die mächtigsten Zauberweber können ein Tor auf einem Albenpfad öf nen, weit ab von jedem Albenstern. Ich muss gestehen, ich habe dich bisher unterschätzt.

Nikodemus hatte noch nie von einem Lutin gehört, der in das Reich unter den Wogen gereist war. Das musste einen Grund haben! Es war nicht gut, hier zu sein. Zumindest für einen Lutin. Er blickte zu Emerelle. Sie lag noch immer in Ollowains Arm. Man hätte die beiden für Liebende halten können, wäre da nicht Emerelles Gesichtsausdruck. Viel mehr als ihre Augen und ihre Stirn sah er nicht. Der Rest war auch bei der Königin von einem durchscheinenden Gallertgeschöpf verdeckt. Emerelle wirkte zu Tode erschöpft. Und älter. Nikodemus hatte gesehen, dass der Geisterhund etwas aus ihr herausgezerrt hatte. Lag sie im Sterben?

Geht es ihr gut?

Nein. Aber ich bin zuversichtlich, dass bald Hilfe kommt. Eleborn besitzt einen Albenstein. Der Fürst unter den Wogen ist sehr mächtig. Er wird ihr helfen können. Du hast eine gute Wahl getroffen, als du uns hierher gebracht hast.

Nikodemus bemühte sich, nicht daran zu denken, dass er einfach nur aus dem erstbesten Albenstern getreten war. Er blickte hinauf. Das Licht über ihnen war fast verschwunden. Dafür konnte er jetzt erkennen, dass das Ding auf seiner Schnauze von einem leichten, grüngelben Schimmer umgeben wurde.

Nikodemus versuchte angewidert, an etwas anderes zu denken. Aber immer wieder musste er auf dieses Ding starren. Man konnte sogar sehen, wie sich Flüssigkeiten in ihm bewegten!

Was sind Seikies?

Seikies sind Gestaltwandler. Manche sagen, sie seien die Kinder Eleborns. Man kann ihnen als Otter oder Seehund begegnen. Oder als ausnehmend hübsche Frauen, die uns Elfen sehr ähnlich sind.

Mit diesen Gedankenreden war es seltsam. Man spürte mehr, als gesagt wurde.

Erinnerungen, die hinter den Worten standen, tauchten als Bilder in Nikodemus’ Gedanken auf. Ollowain kannte die Seikies gut. Er war mehr als einer begegnet, und Emerelle würde nicht wissen wollen, was ihr weißer Ritter und diese Meeresgeschöpfe miteinander getan hatten. Eine ganze Flut von Bildern brach auf den Lutin herein. Er sah Ollowain auf großen Festen, an Spieltischen. Immer wieder an Spieltischen. Er spielte das Falrach-Spiel. Offensichtlich um Geld. Nikodemus folgte den Gedankenbildern. Geld durch Spielen zu verdienen, fand er außerordentlich interessant! Bisher war ihm das Falrach-Spiel immer nur viel zu kompliziert und verworren erschienen. Als Kind hatte er ein paar Mal versucht, es zu erlernen, und war kläglich gescheitert.

Plötzlich sah er einen Drachen. So deutlich, so lebendig, dass er sich erschrocken aus den Gedanken des Elfen zurückzog. Nicht schnell genug! Er hatte Teil an der Erinnerung des alles verzehrenden Schmerzes, als Falrach das Fleisch auf den Knochen geschmolzen war. Jeden Nerv hatte er gespürt.

Das ist der Nachteil, wenn man in anderer Leute Gedanken ist. Jetzt war Ollowain bei ihm.

Nikodemus versuchte sich dagegen zu sperren. Aber wie vertrieb man jemanden aus seinem Kopf?

Es gilt als unhöflich, tiefer in die Gedanken anderer einzudringen, mein kleiner Freund. Es ist sehr leicht. Aber es verstößt gegen die Etikette. Ich gestehe, ich habe dich durch meine Erinnerungen geführt. Ich wollte, dass du diese Erinnerung mit mir teilst, den letzten Augenblick meines Lebens als Falrach. Vielleicht magst du mich von nun an ja mit meinem Namen als Falrach ansprechen? Er ist mir angenehmer. Und ich hoffe, du hast gut verstanden, welche Gefahren darin liegen, Streifzüge durch die Gedanken und Erinnerungen anderer zu machen. Hier, im Reich unter den Wogen, schätzt man das gar nicht. Manch al zu Neugieriger wurde schon ermordet, weil er Dinge gesehen hatte, die ihn nichts angehen.

Ich kannte diese Regeln nicht…

Jetzt kennst du sie. Und sei noch einmal eindringlich gewarnt. Das Reich unter den Wogen ist anders als alles, was du kennst. Ein Leben gilt hier wenig, wenn du einen Fehler machst. Und Unwissenheit wird dich nicht davor schützen, die Folgen deiner Taten zu erfahren.

Nikodemus wollte gar nichts mehr denken. Aber wie stellte man seine Gedanken ab?

Falrach ... Ja, er würde ihn jetzt so nennen! Falrach trieb mit ihm zusammen in einer leichten Strömung. Der Lutin hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr tiefer sanken. Er konnte über sich keine Sonnenscheibe mehr sehen. Und unter sich keinen Grund. Sie trieben durch endloses Blau. Ohne einen Anhaltspunkt für Entfernungen. Ohne die Möglichkeit abzuschätzen, wie viel Zeit verstrich. Es machte ihm Angst!

Du musst dich entspannen, Nikodemus. Es kann auch angenehm sein. Versenke dich in dich selbst.

Wie sollte das denn gehen! Falrach hatte leicht reden ... Denken ...

Darf ich in deinen Erinnerungen wandern?

Nikodemus kamen sofort einige Ereignisse in den Sinn, die er auf keinen Fall mit dem Elfen teilen wollte!

Mich interessiert dieses Fuchsmädchen Liza nicht. Du solltest nicht an das denken, was ich nicht wissen soll. Du überhäufst mich in diesem Augenblick mit den Bildern, die du eigentlich vor mir verbergen möchtest. Ich kann mich dem dann nur entziehen, wenn ich ganz aus deinen Gedanken weiche.

Ich mag diese Art nicht, miteinander zu reden!

Du sol test dich besser daran gewöhnen, Nikodemus, so ist es hier, und du wirst nichts daran ändern.

Der Lutin fühlte sich plötzlich verloren. Sicher lag es auch daran, inmitten dieses unendlichen Blaus zu schweben. Er war nichts. Bedeutungslos. Von der Welt abgeschnitten. Ein Sandkorn. So ein Unsinn, schalt er sich in Gedanken. Ich bin Nikodemus Glops, der Bruder des Elija Glops, der ganz Albenmark auf den Kopf gestellt hat und dafür sorgte, dass die Kobolde endlich die Anerkennung bekommen, die sie schon immer verdient hatten.

Du bist mehr als irgendjemandes Bruder.

Ich dachte, es ist unhöflich, sich ungefragt in fremde Gedanken einzumischen.

Ja, du hast Recht. Und dennoch erlaube mir, dir einen Rat zu geben. Messe deinen Wert nicht an deinem Bruder. Was du bist oder nicht, liegt allein in dem begründet, was du tust und was nicht.

Das hörte sich an wie das Gerede seines alten Lehrers Meister Gromjan. Die Wirklichkeit war anders. Er wusste besser, wie viele Leute sich plötzlich für ihn interessierten, weil er Elijas kleiner Bruder war.

Etwas in der Tiefe des Blaus erweckte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Etwas Dunkleres bewegte sich dort und kam schnell näher. Ein sehr großer Fisch. Er glitt in einigem Abstand an ihnen vorbei, zog eine weite Kurve und kehrte zurück. Ein wenig näher, diesmal. Die Unterseite des Fischs war hell. Sein Rücken gestreift, in einem dunklen und einem helleren Blau. Er besaß eine mächtige, dreieckige Rückfinne. Und kalte, dunkle Augen. Ihnen fehlte jeder Glanz. Seine Kiefer klafften weit auf, während er in langsam enger werdenden Kreisen schwamm. Nikodemus entdeckte noch einen Schatten. Und kurz darauf noch einen dritten. Diese Fische waren zu groß. Fast so groß wie ein Troll.

Was sol en wir tun?

Nichts!

Der Lutin spürte, dass Falrach nicht so gelassen war, wie er mit seiner knappen Antwort Glauben machen wollte. Wir müssen sie bekämpfen!

Womit? Ich bin unbewaf net, Nikodemus. Und wir werden ihnen auch nicht davonschwimmen können. Wir sol ten ruhig bleiben. Sie können unsere Furcht riechen.

Wie sollen sie uns riechen? Wir sind im Wasser!

Vielleicht schmecken sie auch unsere Furcht. Das weiß ich nicht. Aber ich weiß ganz sicher, dass wir ihnen schmackhafter erscheinen werden, wenn wir Angst haben. Vielleicht haben wir auch Glück, und der Seehund kehrt bald zurück. Dann sind sie Boten und keine Jäger.

Wir könnten hinauf zum Albenstern schwimmen und fliehen, dachte Nikodemus.

So weit werden wir nicht kommen.

Der Lutin fluchte. Sie konnten doch nicht einfach aufgeben und darauf warten, ob es diesen verdammten Fischen einfiel, sie zu verspeisen!

Das stimmt, mein Freund, wir könnten auch etwas Sinnvol es tun. Kanntest du Ollowain?

Von jemandem, der allem Anschein nach Ollowain war, eine solche Frage gestellt zu bekommen, war schon einigermaßen befremdlich. Aber dass der Schwertmeister, gelinde gesagt, seltsam war, wusste er ja. Ich kannte ihn in der Zeit, als er Echsendung für die Lagerfeuer meiner Sippe gesammelt hat.

Ollowain, Falrach, Klaves unter all diesen Namen war er dem Elfen schon begegnet.

Und jedes Mal hatte er sich ganz anders verhalten. Nikodemus blickte zu den großen Fischen. Jetzt waren es schon fünf, die weite Kreise um sie zogen. Sein Gefährte hatte Recht, sie würden ihnen nicht entkommen. Ihre Hoffnung bestand darin, dass Emerelle aus ihrer Ohnmacht erwachte und half. Aber vielleicht war sie auch schon tot. Ihre Gedanken jedenfalls vermochte er nicht zu berühren.

Wenn es ans Sterben ging, konnte man auch an etwas Lustiges denken. Und lustig war die Geschichte um Klaves allemal. Er dachte an das Eselskostüm, in das sie den Elfen eingenäht hatten und daran, wie unglaublich naiv er gewesen war.

Alptraum

Skanga erwachte aus unruhigem Schlaf. Ihre Träume waren verworren gewesen.

Zuletzt hatte sie das Gefühl gehabt, eine eiskalte Hand habe sie im Nacken gepackt.

Die Schamanin richtete sich auf ihrem Lager auf. Sie war in ihre Höhle in den Bergen der Snaiwamark zurückgekehrt. Nur für einige Tage. Sie musste Burg Elfenlicht entfliehen. Sie hasste die Betriebsamkeit dort. Das Durcheinander. Dass man nirgends allein war.

Skanga trat an den Eingang ihrer Höhle. Eisiger Wind schnitt in ihr altes Fleisch. Sie begrüßte ihn. Sie fühlte sich lebendiger in der Kälte. Und sie mochte es, auf das karge, harte Land hinabzublicken. Die dunklen Felsen, die durch die endlose Schneelandschaft stießen. Die Wiesen und Wälder des Herzlands konnte sie nicht leiden. Sie sahen selbst im Winter noch lieblich aus. Die Snaiwamark war ganz anders.

Hart, spröde, abweisend. Wer sie das erste Mal erblickte, der ahnte, dass die Schwachen hier sehr schnell starben. Aber wer hier zu leben vermochte, den erfüllte dieses Land mit Stolz. Deshalb hatte ihr Volk in all den Jahrhunderten der Vertreibung nie aufgehört, von der Snaiwamark zu träumen und sich abends an den Feuern Geschichten über ihre verlorene Heimat zu erzählen. Skanga war stolz darauf, sie hierher zurückgebracht zu haben.

Sie atmete die kalte Luft ein. Jeder Atemzug brachte einen wohligen Schauer mit sich.

Sie wusste, dass die Erzfeindin zurückgekehrt war. Sie wusste nicht, wo sie steckte, aber sie war wieder in Albenmark. Ihr Traum konnte keine andere Bedeutung haben.

Sie hatte nie Albträume! Nie erwachte sie von Angst erfüllt aus dem Schlaf!

Als die drei Shi-Handan nicht zurückkehrten, hatte Skanga zunächst Sorgen gehabt.

Doch als Jahr um Jahr verstrich, ohne dass sie von Emerelle hörte, begann trüge rische Hoffnung in ihr zu keimen. Vielleicht waren sie alle in einem großen Kampf gestorben. Irgendwo in der Wildnis, wo es keine Zeugen gab. Sie hatte Emerelle auf jede erdenkliche Art gesucht und nichts gefunden.

Jetzt war sie zurück. Die verfluchte Elfenschlampe. Skanga konnte es spüren. Emerelle war da. Diesmal würde sie keine Mörder auf die Elfe ansetzen. Sie würde es ganz anders angehen! Sie wusste, wohin Emerelle kommen würde. Und dort sollte sie eine tödliche Falle erwarten. Sie selbst musste zugegen sein, wusste Skanga jetzt. Die Elfe war zu mächtig. Man musste ihr mit der Kraft eines Albensteins begegnen.

Traurig blickte Skanga über das weite Land. Elija Glops hatte ihr den Vorsitz über den Kronrat überlassen. Dass er freiwillig ein Stück seiner Macht aufgab, war beunruhigend. Das entsprach nicht seinem Wesen. Auch auf ihn musste sie aufpassen.

Gilmarak hatte den Lutin für die vielen Jahre seiner treuen Dienste belohnen wollen und ihn zum Fürsten von Tanthalia gemacht. Die Lutin waren unstete Wanderer. Über ein Fürstentum zu herrschen, widersprach ihrer Natur. Daraus würde nichts Gutes erwachsen.

Es war besser, wenn sie heute noch zur Burg Elfenlicht zurückkehrte, dachte Skanga ärgerlich. Sie sollte versuchen herauszufinden, wo Emerelle war. Vielleicht sogar mit Hilfe der Silberschale ...

Die Schläferin

Vater, die Fremde. Es ist etwas Entsetzliches geschehen. Du musst mitkommen. Sofort! Sie muss fort! Am besten setzen wir sie an einem einsamen Strand aus!

Nie hatte Eleborn Ailis so sehr außer sich erlebt. Für gewöhnlich war seine Tochter eher ruhig.

Was ist denn geschehen? Er erwartete die schöne Nailyn und hatte nicht sonderlich viel Lust, die abgelegene Korallengrotte zu verlassen.

Du musst, Vater! Es gibt Hunderte Tote. Sie muss weg!

Der Fürst legte den Kopf schief. Tote? Dann bring mich zu ihr.

Ailis schwamm mit kräftigen Stößen voraus. Sie war hübsch geworden, dachte Eleborn bei sich. Allerdings mochte er nicht recht glauben, was sie erzählte. Ihr Gast war an einem abgelegenen Ort untergebracht. Eine kleine Lagune, von Korallen eingeschlossen. Niemand würde sich dorthin verirren. Schon gar nicht Hunderte!

Was genau hast du eigentlich gesehen, Ailis?

Ich ging am Strand entlang. Ich war neugierig, die Fremde zu sehen. Als ich zur Lagune kam, erschien es mir seltsam stil dort. Es waren keine Papageientaucher mehr in den Felsen. Keine Robben … Und als ich hinab ins Wasser sah. So etwas habe ich noch nie gesehen …Es war entsetzlich. Alles war vol er Toter! Hunderte kleinere Fische trieben an der Wasseroberfläche.

Die verschwundenen Papageientaucher. Zwei Delfine. Einige Pelikane. Die ganze Lagune war vol er Kadaver.

Eleborn hielt inne. Und sie? Hast du sie gesehen?

Nein, Vater. Das war unmöglich. Die ganze Wasseroberfläche war vol er Toter. Und ich bin sofort zu dir geeilt.

Hat es außer dir sonst noch jemand gesehen, Ailis?

Nein, ich glaube nicht. Außer uns ist doch kaum jemand hier.

Bitte, lass mich allein, meine Tochter. Ich muss zu der Fremden. Ich muss sehen, ob sie noch lebt. Aber du kannst doch nicht…

Vertrau darauf, dass ich ein wenig schwerer zu töten bin als ein Papageientaucher. Ailis war eine fügsame Tochter. Sie versuchte nicht weiter, ihn zurückzuhalten. Sie ließ ihn schwimmen. Der farbenprächtigen Mauer entgegen, dem lebendigen Meereswall. Den Korallen, von denen die Lagune umringt war, zu der man auf sein Geheiß Emerelle gebracht hatte. Er hatte sie sofort erkannt, noch bevor Ollowain etwas sagte. Sie sah abgehärmt aus. Sie ruhte in tiefem Schlaf, aus dem sie nichts zu erwecken vermochte. So war es wohl auch damals gewesen, als man sie aus Vahan Calyd fortgebracht hatte. Wenn die Welt brannte, dann schlief sie.

Ein Tunnel zwischen den Korallen war der einzige Zugang zur Lagune. Jedenfalls von See her. Gedankenverloren betrachtete er die Seeanemonen mit ihren farbenfrohen, fleischigen Fangarmen. Sie ernteten das Meer. Er mochte sie. Ihr Spektakel. Ihre Unermüdlichkeit. Er war wie sie.

Langsam schwamm er auf den Tunnel zu. Er spürte den Tod im Wasser. Es schmeckte nach ihm. Nach vielfältigem Tod. Die Anemonen am Eingang des Tunnels starben.

Auch die winzigen Tierchen, die, kaum sichtbar für das Auge, im warmen Wasser lebten, starben!

Eine Flut winziger Lichtpartikel ergoss sich durch den Tunnel in die Lagune. Eine fremde Macht tastete nach ihm. Er fuhr zurück. Ein paar schnelle Stöße brachten ihn vom Eingang der Lagune fort. Er hatte die Berührung des Todes gespürt, obgleich er noch nicht zugegriffen hatte. Er hatte zugelassen, dass er sich entzog. Er war immer noch nah.

Was ging da vor sich? War das Emerelles Werk? Was tat sie? Was war mit ihr geschehen? Fünf Tage war sie schon hier. Und Ollowain erzählte nicht, was geschehen war. Nicht einmal der verdammte kleine Lutin erzählte etwas. Keine Erklärungen.

Kein Wort dazu, wo sie all die Jahre gewesen war, als Albenmark sie gebraucht hätte.

Kein Wort, warum sie schlief und schlafend tötete!

Der Tod einer Legende

»Dieser weiße Ritter ist eine Plage!«

Balduin musste sich über das Gesicht des Königs beugen, um ihn überhaupt verstehen zu können. Der Gestank, der von den frisch geöffneten Eiterbeulen ausging, war überwältigend. Balduin atmete durch den Mund und versuchte, sich dem Ekel zu verschließen. Dennoch musste er immer wieder vom Bett zurückweichen, um den Würgereiz niederzukämpfen.

»Erzähl mir vom Ritter!«

»Er hat mehrere Refugien für Krieger gegründet. Wir schätzen, dass etwa fünfzehn Ritter den Aschenbaum gewählt haben. Und fast hundert einfache Krieger, Bauern und Handwerker. Es heißt, dass er die Grenze zu Drusna verlassen hat und nun nach Süden reist.«

»Und das Volk?«

Balduin leckte sich die Lippen. Kurz erwog er, was gefährlicher war, eine Lüge oder die Wahrheit. Cabezan hatte zu viele Spitzel, die ihm Bericht erstatteten. Der Hofmeister sah zu Tankret, der wie immer am Bettende stand. Der Krieger war in die Jahre gekommen, aber immer noch ein exzellenter Kämpfer. Balduin wusste, dass es dem Mistkerl eine Freude sein würde, ihm den Kopf abzuschneiden, wenn der König es befahl. Der Hofmeister entschied sich für die Wahrheit.

»Das Volk liebt ihn. Es gibt unzählige Geschichten über ihn. Angefangen damit, dass er ein illegitimer Sohn von Euch ist, mein König, bis hin zu völlig märchenhaftem Unsinn, er sei Tjureds Sohn und geschickt, um das Königreich in ein neues, glorreiches Zeitalter zu führen. Viele glauben auch ... « Er zögerte noch einmal kurz. »Viele glauben, dass er Euch eines Tages vom Thron stoßen wird.«

»Sag ruhig, dass er mich ermorden wird.« Cabezan hus tete. Sein ganzer Körper verkrampfte sich dabei. Er war nur noch Haut und Knochen.

Die Wunde in seiner Leiste öffnete sich, und dünnes Blut rann hinab auf das weiße Bettlaken. Auch unter der Achsel trat Blut hervor. Balduin wusste, dass der Pestarzt am Morgen zwei große Beulen voll mit dunklem Eiter aufgeschnitten hatte. Jeder andere Mensch wäre längst tot. Obwohl er nicht an die alten Götter glaubte und an die Wunder, die die Tjuredkirche versprach, war Balduin zutiefst überzeugt, dass Cabezan von einer geheimnisvollen, dunklen Macht durchdrungen war. Niemand konnte sagen, wie oft der König schon von der Pest befallen worden war. Sie kam selbst, wenn sie sonst nirgends im Königreich Unheil brachte. So wie jetzt. Er war der Erste, der an der Pest erkrankt war! Deshalb hatte auch der größte Teil der Dienerschaft und Wachen fluchtartig den Palast verlassen. Die armen Narren! Balduin kannte seinen König gut genug, um zu wissen, dass er unter diesen Verrätern, wie er sie nennen würde, ein grausames Gemetzel veranstalten würde, sobald er wieder zu Kräften kam.

»Das ist das Geschwätz des Volkes, mein König. Ihr wisst gut, dass sich viele Euren Tod wünschen. Doch was den weißen Ritter angeht, so scheint er noch nie gegen Euch gesprochen zu haben. Im Gegenteil. Er war an der Grenze zu Drusna eine große Hilfe.

Allein das Gerücht, dass er in der Nähe ist, hebt die Moral unserer Krieger und versetzt die Barbaren in Angst und Schrecken. Er wurde noch nie im Zweikampf besiegt. Und wenn er spricht, so heißt es, höre man die Stimme Gottes durch seinen Mund.«

»Unsinn!« Cabezan krümmte sich zusammen und hustete so anhaltend, dass in Balduin Hoffnung aufkeimte, der alte Tyrann werde endlich sterben.

Als der Anfall vorüber war, lag der König wie tot. Seine Finger waren in das Laken gekrallt. Kalter Schweiß stand ihm auf dem Gesicht. Seine Brust hob und senkte sich kaum, so flach ging sein Atem.

Balduin hob den Blick. Rings um das Bett des Königs waren seit Tagen Kleider aufgehängt. Vor allem Kinderkleider. Eines fiel ihm besonders auf. Es war dunkelblau und mit silbernen Rosenblättern bestickt. Balduin fragte sich, welchem Wahn der Herrscher nun wieder nachhing. Der Anblick der Kleider machte ihm mehr zu schaffen als das Bewusstsein, vor einem Pestkranken mit frisch geöffneten Eiterbeulen zu stehen. Was hatte er damit vor? Waren es die Kleider der Kinder, die er zu sich ins Bad kommen ließ?

»Hübsche Kleider ...« Er lachte. »Ich habe mir Flöhe zugelegt. Aber keine Sorge, ich werde sie mit den Kleidern in Kisten sperren lassen.« Er lachte erneut, bis sein Lachen in einen Hustenkrampf überging, bei dem dunkler Auswurf von seinen Lippen perlte.

»Balduin.« Cabezan schaffte es kaum, den Namen zu hauchen.

»Ja, mein König.«

»Der Ritter ... Seine Rüstung. Was weißt du darüber?«

Der Hofmeister ahnte, worauf das hinauslaufen würde. »Ja, ich habe die Geschichten auch gehört. Sie ist ungewöhnlich, diese Rüstung. Sie sieht ganz anders aus als die Rüstungen von irgendwelchen anderen Rittern. Sie wird nie schmutzig. Er trägt einen Helm, der wie ein Kopf aus Silber erscheint. Er wurde noch nie in einer Schlacht verletzt. Sein Schwert hingegen vermag jedes Kettenhemd zu durchdringen. Und manche sagen, dass sogar sein Pferd verwunschen ist und er mit ihm redet, wenn er sich allein wähnt. Ich glaube all diesen Unsinn nicht, mein König. Ja, er hat eine ungewöhnliche Rüstung, das lässt sich wohl nicht leugnen. Aber dieses Gerede über eine Zauberrüstung ist abergläubiges Geschwätz. Bitte, bedenkt, was man sich über ihn und sein Pferd erzählt. Das ist der blanke Unsinn! Ich glaube nicht, dass ein Mann wie er mit seinem Pferd spricht.«

»Er predigt... und er hat Refugien gegründet.« Cabezan sprach langsam und mit langen Pausen. Jedes Wort erschöpfte ihn. »Wer hat ihn zum Priester gemacht? Er verhöhnt die Kirche. Er ist ein Ketzer.«

Ja, sinnierte Balduin, das war sein König! Dies wäre unbestreitbar die einfachste und billigste Lösung, an die Rüstung zu kommen. Den Ritter zum Ketzer zu machen und ihn verbrennen zu lassen. Und es wäre auch noch die Kirche, die sich den Unmut des einfachen Volkes zuziehen würde. So grässlich sein Körper auch aussah, Cabezans Verstand war noch immer von tödlicher Klarheit. »Ich muss Euch enttäuschen, mein König. Die Kirche wird sich nicht gegen den Ritter stellen. Sie sieht in ihm schon fast einen lebenden Heiligen. Er hat Priester gerettet, die von den Heiden in Drusna gefangen genommen waren. Er kann über die Heiligen Schriften reden wie kaum ein anderer Tjuredpriester. Manche glauben, er sei ein Sohn des legendären Wanderpriesters Jules. Und dass dieser höchst angesehene Kirchenmann ihn selbst in die heiligen Lehren Tjureds unterwiesen habe. Die Kirche wird nichts gegen ihn unternehmen. Im Gegenteil, Gerüchten zufolge ist er auf das Konzil in Aniscans eingeladen, um dort vor den höchsten Kirchenfürsten zu sprechen.«

Cabezan schnitt eine Grimasse. Zu mehr reichte seine Kraft nicht.

»Dann ein Meuchler ... Wir zerstören seine Legende ... Sein Tod muss aufsehenerregend sein.«

»Bitte, mein König. Dieser Ritter ist ein Gewinn für Fargon. Wir haben ihm in den Kämpfen in Drusna viel zu verdanken. Ihr könnt ihn doch nicht...«

»Schreib mir nicht vor, was ich kann!« Cabezan richtete sich halb auf seinem Lager auf.

Seine Augen waren noch immer voller Kraft und Bosheit. Allein sein Blick besaß die Macht, Balduin erschrocken einen Schritt zurückweichen zu lassen.

»Ich kenne jemanden, der ihn töten kann«, sagte Tankret ruhig. »Aber er ist teuer. Er war früher ein Jahrmarktskünstler und Seiltänzer. Bis er entdeckte, um wie viel einträglicher Geschäfte mit dem Tod sind. Ich verspreche dir, er wird diesem Ritterchen ein Ende bereiten, von dem man noch genau so lange spricht wie vom Tod des Guillaume.«

»Dann soll er auf dem Konzil sterben«, sagte der König und ließ sich in seine Kissen zurücksinken.

Die Insel

»(...) 1. Tag. Endlich haben sie das Glibberding von meiner Schnauze genommen, und ich habe wieder festen Boden unter den Füßen. Zwei Tage musste ich unter Eleborns Gefolge verbringen, bis sie mich endlich zu der Insel gebracht haben. Eleborn hat den seltsamsten Fürstenhof, den ich je gesehen habe. Ich glaube, zu lange im Wasser zu leben, verwässert den Verstand. Sie sind einfach nur seltsam! Eleborn ist mächtig wie ein König, aber er hat keinen Palast. Es gibt nur ein paar unterseeische Höhlen, in denen ich auch kurz untergebracht war.

Eleborn ist dort nicht. Ich glaube, sie wollten mich verspotten. Als ich nach Häusern und Palästen fragte, haben sie gesagt, Häuser brauchte man, um sich vor Regen zu schützen, aber hier würden sie einen nicht davor bewahren, nass zu werden.

Falrach überrascht mich. Er fühlt sich sehr wohl unter den Wassertretern. Und er gaukelt ihnen vor, dass er Olowain sei. Naja, vielleicht ist er das ja auch. Man wird einfach nicht schlau aus ihm! Er verführt Eleborn dazu, mit ihm das Falrach-Spiel zu spielen. Um Gold! Ich hab mir das angesehen. Falrach ist zweimal nach langen Spielen besiegt worden. Und dann, als es um einen wirklich hohen Einsatz ging - der Irre hat sich verpflichtet, drei Jahre lang Eleborns Leibwächter zu sein, wenn er verliert -, da hat er den König in einem über sieben Stunden dauernden Spiel besiegt. Eleborn ist überzeugt, dass es nur eine sehr knappe Niederlage war, aber ich habe einen ganz anderen Verdacht. Ich habe das Gefühl, Falrach hat anfangs absichtlich verloren, um dann den König in die Fal e zu locken und auszunehmen. So etwas hätte Olowain sicher niemals getan. Ich verstehe allerdings nicht, wie man so ein Spiel spielen kann, während man einander in den Gedanken liest. Hier ist al es merkwürdig!

(...) 3. Tag. Es hat große Aufregung gegeben. Sie haben Emerelle in eine Lagune gebracht. Sie schläft noch immer. Diese Lagune war ein schöner Ort. Ich habe sie mir angesehen. Vol er bunter Fische und Meeresblumen. Jetzt ist dort al es tot. Sie haben mit Netzen die Kadaver herausgeholt. Niemand wagt sich in die Nähe der Königin. Al es, was in die Lagune schwimmt, stirbt! (...)

7. Tag. Ich hasse Fisch! Ich kann ihn nicht mehr sehen. Jeden Tag bringen sie mir Fisch! Und auch noch roh. Bestenfal s ist er in ein paar grüne Blätter eingewickelt. Irgendein Meereskraut.

Sie geben sich ja Mühe, dass er hübsch aussieht, aber er ist roh! Ich kann keinen Fisch mehr sehen. Ailis kann das einfach nicht begreifen. Sie ist ja auch selbst ein halber Fisch. Wenn sie mich auf der Insel besucht, dann nimmt sie Elfengestalt an. Aber ich bin ihr einmal heimlich gefolgt und konnte sehen, wie sie in eine Seehundshaut kriecht, wenn sie ins Wasser zurückkehrt. Sie wird kleiner und verwandelt sich tatsächlich in einen Seehund. Kein Wunder, dass sie gerne rohen Fisch frisst! (...)

9. Tag. Ailis hat mich wieder besucht. Sie hat mir entrüstet erklärt, dass ihr Vater Olowain beim Falrach-Spiel betrügt. Er habe ihm schon mehrere Beutel mit Goldstücken überlas sen, doch überal in Albenmark ist Geld abgeschafft. Gold und Silber sind durch ein Dekret des Kronrats für wertlos erklärt worden. Ich kann kaum glauben, dass mein Bruder so weit gegangen ist. Er hat immer gegen die Vermögen der Reichen gewettert. Aber sie gänzlich abzuschaffen. Ich würde ihn gerne wiedersehen. Ailis kann nicht sehr viel über das Leben an Land berichten. Sie kann nur erzählen, was sie bei plaudernden Fischern auf See erlauschte. Es scheinen auch viel weniger Handelsschiffe als früher zu fahren. Leider gibt es auf der Insel keinen einzigen Albenpfad und ich habe nicht den Mut noch einmal ins Wasser zu steigen.

Sonst wäre ich schon längst geflohen! (...)«

Aus: Die Tagebücher des Nikodemus Glops, Band IV, Auf Verbotenen

Wegen - meine Reisen mit dem Troll Madra und Anderen, s. 43 FF.

Eleborns Reich

Kein Orakel in Albenmark kann dir deine Frage beantworten. Die Stimme durchdrang sie.

Die Stimme des Orakels. Sie war tief in ihr. Firaz hatte sie verspottet. Sie hatte ihr niemals verziehen, dass sie sie und ihre Schwester verbannt hatte. Aber sie war ein Orakel. Sie musste Fragen beantworten und durfte nicht lügen.

Kein Orakel in Albenmark kann dir deine Frage beantworten. Darin verborgen lag die ganze Wahrheit. Die Antwort war sehr klar, wenn man sie nur richtig betrachtete. Sie musste Albenmark verlassen. Sie musste in die Andere Welt zu Samur.

Emerelle schlug die Augen auf. Etwas umklammerte Mund und Nase. Sie kämpfte einen Anflug von Panik nieder. Sie war im Wasser. Klares, flaches Wasser. Über ihr ein weiter, hellblauer Himmel.

Sie drehte sich.

Sie schwebte inmitten eines Korallenbeckens. Aber um sie herum war alles tot.

Anemonen und bunte Korallenstöcke waren abgestorben. Einige bunte Fische trieben leblos an der Wasseroberfläche. Was für ein seltsamer Ort!

Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie hierhergekommen war. Die Shi-Handan ...

Emerelle tastete über ihren Leib. Der Albenstein lag auf ihrer Brust. Sie war nackt. Jede Spur des grauen Lehms war von ihrem Körper gewaschen. Langsam drehte sie sich im Wasser. Sie entdeckte einen engen Tunnel, der aus der kleinen Lagune zum offenen Meer führte.

Die Elfe lächelte. Eine kreisrunde Lagune. Ein Tunnel hinaus. Es war, wie in ein neues Leben geboren zu werden. War das Absicht?

Sie schwamm zu dem Durchgang. Scharfkantige Korallenstöcke ragten in den Tunnel.

Vorsichtig tastete sie sich hindurch. Kaum war sie der Enge entronnen, umgab sie ein unermessliches Farbenspektakel. Jenseits der Lagune boten sich die Korallen in all ihrer Pracht dar. Schwärme bunter Fische bevölkerten das Riff. Der hässliche Kopf eine Muräne lugte aus einer Felsspalte. Die schlangengleiche Räuberin beäugte sie misstrauisch.

Emerelle schwamm mit kräftigen Stößen ins offene Wasser hinaus. Sie genoss es, ihren Körper zu spüren. Das Wasser war angenehm. Es streichelte sie.

Sie tauchte am Riff entlang in die Tiefe. Walgesang durchdrang sie. Er berührte etwas tief in ihr. Sie schlang die Arme eng um ihren Körper und zog die Beine an. Langsam sank sie tiefer. Sie schloss die Augen und gab sich ganz dem melancholischen Lied der Wale hin.

Sanft berührte sie weichen Sand. Sie verharrte in der Hocke. Lauschte. Lange.

Als sie die Augen schließlich öffnete, war es dunkel. Die Sonne war verschwunden.

Seltsames, blaugrünes Licht schwebte im Wasser. Es bewegte sich mit der Strömung. Neugierig schwamm sie dem Licht entgegen. Bald war sie umgeben von dem Leuchten. Ihre Bewegungen er-zeugten kleine Lichtwirbel, die sie umspielten. Sie folgte dem Leuchten weiter hinaus auf das Meer. Selbstverloren betrachtete sie die immer neuen Formen, die das Wasser dem Licht gab.

Kein Orakel in Albenmark kann dir deine Frage beantworten.

Plötzlich drängte der Orakelspruch wieder in ihre Erinnerung. Sie hatte kein Recht, sich einfach treiben zu lassen. Sie musste herausfinden, wo sie war. Wie viel Zeit war seit dem Angriff der Shi-Handan verstrichen? Was ist mit Falrach geschehen? Und mit dem Lutin? Warum war sie allein?

Sehnsüchtig blickte sie nach dem blauen Licht. Sie wollte mit ihm im Wasser tanzen.

Sich treiben lassen und frei sein. Sie würde niemals frei sein, dachte sie traurig. Es war ihre Entscheidung ... Ihr Herz war unfrei.

Die Elfe schloss die Augen. Sie verschloss ihre Sinne. Lauschte nur noch mit dem Geist.

Das Wasser war von Leben erfüllt. Sie berührte die Gedanken einer Gruppe großer Rochen, die schwerelos durch das Wasser segelten. War eins mit einem Schwärm Rotrücken, die sich in völliger Harmonie miteinander bewegten. Tausende Fische, wie ein Leib.

Sie spürte die Wale weit draußen im Meer im tiefen Wasser. Fast hätte sie sich erneut ihren Gesang geöffnet. Plötzlich aber war da Todesangst. Ein Streifenhai jagte einen Trompetenfisch. Tod.

Emerelles Geist tastete weiter. Da waren andere Geschöpfe. Deren Gedanken ihr ähnlicher waren. Eine Frau. Sie betrachtete Falrach. Sie machte ihm schöne Augen. Ein Fest.

Eine Bewegung. Ganz nah. Emerelle öffnete die Augen. Ein langer, mit bleichen Saugnäpfen bewehrter Arm tastete in ihre Richtung. Sie sah den gebogenen Schnabel, dort wo das Knäuel von Armen zusammenstieß. Sie sah den Oktopus an und griff nach seinen verwickelten Gedanken.

Er wusste, dass sie zu groß war, um sie zu fressen. Er überlegte, ob sie Aas war, weil sie bewegungslos trieb wie ein Kadaver.

Sie sandte ihm einen Gedanken an Fangzähne, die seinen Leib zerrissen. Eilig verschwand der Oktopus und ließ eine schwarze Wolke hinter sich, die seine Fangarme an den Rändern zu Spiralen verwirbelten.

Emerelle folgte dem Gedanken der Frau. Sie war Falrach jetzt sehr nahe. Sie berührte ihn. Sie wollte ihn! Emerelle rang die Versuchung nieder, sich in die Gedanken der Frau einzumischen. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihr Angst zu machen.

Die Elfe schwamm. Mit kräftigen Stößen. Sie wusste jetzt, wo sie war. Sie spürte Eleborns Macht. Er hatte seinen Hof um sich versammelt, um eines jener ausschweifenden Feste zu feiern, um die sich so viele Geschichten rankten.

Musik erklang. Getragen vom Wasser, erschien sie fremd. Sie drang nicht nur ins Ohr, sie berührte den ganzen Leib und brachte ihn zum Vibrieren. Es war eine erregende, sinnliche Erfahrung. Fast wie eine Berührung im Liebesspiel.

Schleier aus blauem Licht wogten durch das Wasser, gefangen im Rhythmus der Musik. Emerelle folgte ihnen. Sie strebten einem Abgrund entgegen. Einer tiefen Spalte im Meeresboden, deren Wände über und über mit Korallen bedeckt waren.

Die Tänzer schwebten schwerelos im Wasser. Ihre Körper waren bemalt. Manche trugen Masken. Sie waren umgeben von dem blauen Leuchten. Jede ihrer Bewegungen schnitt eine helle Bahn durch das lebende Licht. Die meisten tanzten für sich allein.

Paare waren selten. Sie bewegten sich in perfekter Harmonie.

Emerelle entdeckte Falrach. Auch er war nackt wie all die anderen. Muster aus stilisierten Blüten bedeckten seinen Leib. Eine Elfe drehte sich dicht neben ihm im Tanz. Ihr langes schwarzes Haar, durchwoben von blauem Leuchten, liebkoste ihn.

Störe sie nicht!

Sie fuhr herum. Aus der Tiefe des Abgrunds erhob sich eine weißhaarige Gestalt.

Eleborn! Auch er war nackt. Störe mein Fest nicht, Emerelle.

Wer ist sie?

Nailyn, meine Geliebte.

Das passte, dachte Emerelle wütend. Er war schon immer völlig verdreht gewesen.

Was tut sie da mit Falrach?

Sie tanzen nur. Kannst du ihn nicht freigeben? Nur für eine Nacht. Ich kann Nailyn ziehen lassen. Und weil es so ist, wird sie immerzu mir zurückkehren. Was fürchtest du? Dass er bei einer anderen die Wärme findet, die du nicht zu geben vermagst?

Du kennst mich nicht!

In der Tat. Er eröffnete ihr eine Flut von Bildern. Sterbende Fische und Vögel. Winzige Lichtpunkte, die durch das Wasser gleiten. Und inmitten des Todes sie. Schwebend.

Das Licht mit ihrem Leib verschlingend. Diese Emerel e kannte ich noch nicht. Hast du genug gemordet? Hast du dir zurückgeholt, was du verloren hattest?

Er packte sie beim Arm und zog sie fort von dem Fest.

Ich wusste nicht… Bitte verzeih. Ich …

Und du glaubst, damit sei es gut. Die Lagune, in der du schliefst, war ein wunderbarer Ort.

Ein Platz zum Träumen. Deine Träume haben ihn zerstört, und ich frage mich, ob deine Träume womöglich zuletzt ganz Albenmark vernichten werden.

Du weißt, dass das nicht stimmt, Eleborn.

Weiß ich es? Ich dachte dich zu kennen, Emerelle. Doch wie mir scheint, kennst du dich selbst nicht. Ich wünsche, dass du mein Reich verlässt. Morgen schon. Du kannst dei nen Schwertkämpfer und deinen Fuchsmann mit dir nehmen. Diese Nacht jedoch gehört Falrach. Ich verzeihe dir nicht. Seine Freiheit in dieser Nacht ist der Preis, den ich für das einfordere, was du getan hast.

Lass uns an Land gehen. Ich mag es nicht, wenn du in meinen Gedanken und Erinnerungen lesen kannst.

Meine Gedanken stehen dir genauso offen.

Was interessieren mich die Erinnerungen eines Lüstlings!

Vielleicht könntest du von mir lernen, das Leben zu genießen.

Das ist wohl genau so wahrscheinlich wie, dass du eines Tages für Albenmark streitest.

Das ist bereits geschehen, empörte sich Eleborn.

Wir beide wissen, dass du nur halbherzig gegen die Trolle gekämpft hast.

Schweigend schwammen sie dem Ufer entgegen. »Was willst du von mir, Emerelle?

Ich habe dir Zuflucht gewährt. Du wurdest versorgt. Deine Wunden sind geheilt.

Erwarte nicht, dass ich mit dir in deine Kriege ziehe.«

Eine andere Welt

Emerelle sah Eleborn seinen Widerwillen an, als er das Wasser verließ. Auch er trug einen Albenstein, so wie sie. Kein Geschöpf in den Ozeanen Albenmarks kam ihm an Macht gleich. Er glaubte, dass seine Kraft aus dem Wasser geboren war. An Land fühlte er sich stets unwohl. Dabei erinnerte sich Emerelle noch gut an jene Tage, in denen er wie sie war. Eleborn entstammte einem der ältesten Elfengeschlechter Albenmarks. Auch er hatte im Krieg gegen die Devanthar gekämpft. Er war schwer verwundet worden. Verbrannt. Emerelle hatte ihn gesehen und hatte nicht geglaubt, dass er überleben würde. Doch das Wunder geschah. Er brauchte sehr lange, um sich zu erholen. Danach war er ins Wasser gegangen. Er hatte ihr einmal erzählt, dass er, obwohl seine Haut ohne Narben wieder nachgewachsen war, den Schmerz und die Hitze der Verbrennungen noch immer tief in seinem Fleisch spürte. Sich im Wasser aufzuhalten, brachte ihm Linderung. Und die Alben, die ihn als einen Treuen in schweren Zeiten schätzten, schenkten ihm die Seikies und einen eigenen Albenstein. So wurde Eleborn der Herrscher unter den Wogen. Dort war er fortan geblieben. Er hatte sein Leben genossen, das fast verloren gewesen war. Seine Feste waren bald berühmt und berüchtigt für ihren Prunk und ihre Ausschweifungen.

Mit einem mürrischen Seufzen ließ sich Eleborn am silberweißen Strand nieder. Er streckte die Beine, so dass die Meeresdünung seine Zehen liebkoste. Ein Stück entfernt tanzte blaues Licht im Wasser. Kurz glaubte Emerelle, auch den Schatten einer Selkie zu sehen, doch sicher war sie sich nicht.

»Nun, was willst du von mir hören in dieser Welt, in der Lügen leichter zu verbergen sind als in meinem Reich.«

Emerelle tastete über Nase und Lippen. Das seltsame Geschöpf, das sich an ihr Gesicht geklammert hatte, um ihr Atem zu spenden, war abgefallen, ohne dass sie es bemerkt hatte. »Ich möchte wissen, was in der Zeit geschehen ist, die ich auf den Albenpfaden verloren war.«

»Wo soll ich anfangen? Seit deinem Kampf auf der Shalyn Falah und dem Sieg der Trolle sind mehr als elf Jahre vergangen.«

»Erzähle mir vom Trollkönig. Wie macht er sich auf dem Thron? Wie behandelt er die Völker Albenmarks? Ist er ein gerechter Herrscher oder grausam?«

Eleborn berichtete ihr von den neuen Gesetzen der Trolle. Davon, wie die Reichen ausgeplündert worden waren, und dass der Geldhandel durch Tauschhandel ersetzt worden war. Er erzählte, dass es sein Gefühl war, dass es den einfachen Bauern und Handwerkern besser ging als je zuvor. Und dass jeder vor den Kronrat in Burg Elfenlicht treten durfte, auch wenn man lange warten musste, bis man erhört wurde. Auch vom Krieg der Kentauren und den geheimnisvollen Karawanen in die Snaiwamark wusste er zu erzählen. Und davon, dass seit zwei Jahren sehr viele vollbeladene Schiffe von den fernsten Küsten Albenmarks die Walbucht ansteuerten, um dann mit leeren Frachträumen in ihre Heimathäfen zurückzukehren.

Die beiden saßen nebeneinander auf dem Strand und blickten auf das leuchtende Meer. Emerelle zeichnete gedankenverloren mit einem Stock Muster in den Sand und versuchte die Pläne der Trolle zu ergründen. »Was glaubst du, was sie in die Snaiwamark bringen?«

»Ich hatte damit gerechnet, dass die Schiffe mit exotischen Speisen beladen sind. Oder mit Pelzen, schönen Schmucksteinen, Kuriositäten. Al erlei Merkwürdigkeiten, an denen nur Trolle Gefallen finden. Ich war sehr überrascht, als ich ein gesunkenes Schiff besuchte und mir die Fracht angesehen habe. Das Schiff war voller Gold und Silber.«

Auch Emerelle war überrascht. Trolle hassten verhüttete Metalle. Sie hatten ihnen noch nie etwas bedeutet. »Vielleicht war es nur dieses eine Schiff?«

Eleborn schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube nicht. Du solltest sehen, wie tief die Snaiwamarkfahrer im Wasser liegen. Sie tragen samt und sonders schwere Fracht.

Ich glaube, es ist ihrem König sehr ernst damit, den Geldhandel abzuschaffen. Mir scheint es so, als würde alles gemünzte Gold und Silber in ihre Höhlen geschafft.

Damit ist es für immer verloren, denn wer könnte es schon aus den Trollfestungen zurückholen. So sorgen sie dafür, dass unsere Welt im Tauschhandel verharrt, ob wir wollen oder nicht. Und ganz unabhängig davon, ob ein Troll herrscht oder du, Emerelle. Sie schaffen unumkehrbare Tatsachen.«

Emerelle strich die Zeichnung vor sich im Sand glatt. Das Verhalten der Trolle war eine Überraschung. Aber wenn sie glaubten, ihre Burgen seien sicher, irrten sie.

Eigentlich hätten sie es besser wissen müssen. Sie hatte ihnen schon einmal all ihre schmutzigen Felsennester abgenommen.

»Denkst du an Krieg?«

Emerelle blieb ihm eine Antwort schuldig. Sie glättete immer noch den Sand. Es war eine angenehme, warme Nacht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal am Meer im Sand gesessen hatte. Ihr Leben ließ ihr nie die Muße dazu. Ein wenig beneidete sie Eleborn.

»Du weißt, wie ausgeblutet die großen Adelshäuser unseres Volkes sind, Emerelle. Es gibt zu wenige Kinder. Zu viele Seelen gehen verloren, indem sie ins Mondlicht gehen.

Was gewinnen wir in einem Krieg, der auf lange Sicht unser Volk vernichtet?«

Sie wusste nur zu gut, dass sie nicht darauf hoffen durfte, an der Spitze einer Streitmacht stolzer Elfenritter ins Herzland zu ziehen und die Trolle zu vertreiben.

Und selbst wenn sie über eine solche Streitmacht verfügt hätte, wüsste sie nicht, ob sie einen Krieg führen wollte. Sie dachte wehmütig an ihre ersten Tage in der Snaiwamark, kurz nachdem sie den Thron aufgegeben hatte. Damals war sie sich noch nicht darüber im Klaren gewesen, wie groß der Unterschied zwischen Ollowain und Falrach war. Sie wollte Ollowain. Ihm gehörte ihr Herz. Sie wusste das genauso sicher, wie sie inzwischen wusste, dass er auf immer verloren war. Nur eine Kraft gab es, die ihn vielleicht zurückbringen könnte.

»Ich will keine Schlachten mehr«, sagte sie schließlich. »Ich suche etwas ganz anderes.

Glaubst du, es gibt noch Alben in unserer Welt?«

Eleborn sah sie fragend an. »Sprichst du von der Silbernacht?«

Emerelle hatte nicht an jenes Fest im Alten Wald gedacht, bei dem sie am letzten Herbsttag eines jeden Jahres die Stimmen der Alben zu hören vermochte. Oder waren es andere Stimmen? Wer wusste das schon? Bevor Falrach zu ihr in die alte Veste zurückkehrte und die Shi-Handan angriffen, hatte sie lange über Firaz’ Orakelspruch nachgedacht. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr kam Emerelle zu der Überzeugung, dass Firaz ihr einen klaren Hinweis darauf gegeben hatte, dass es noch Alben in Albenmark gab. Oder war es doch nur ihr Wunschdenken?

»Hast du dich jemals gefragt, ob sie wirklich alle gegangen sind?«

»Seit die Drachenkriege vorüber sind, hat niemand mehr einen Alben gesehen. Oder vielleicht schon länger ... Wie kommst du darauf, dass sie nicht alle gegangen sein könnten? Warst du nicht auf dem Entrückungsfest?«

»Doch ... Aber ich muss gestehen, ich konnte nicht erfassen, was in jener Nacht geschah. Meine Erinnerungen sind durcheinander. Dieses Fest war wie kein anderes, das ich je erlebt habe. All meine Sinne wurden mit so vielem zu gleicher Zeit überwältigt, dass meine Erinnerung an diese Nacht nicht klar ist. Es sind Dinge geschehen, die ich nicht verstehen konnte. Sie haben sich auch nicht erklärt … Ich bezweifele ja gar nicht, dass die meisten von ihnen unsere Welt verlassen haben. Aber was ist zum Beispiel mit dem Sänger? Ich kann mich nicht erinnern, ob er überhaupt dort war.«

»Du weißt, ich bin kein Philosoph. Ich wette mit dir, dass die halbe Bibliothek von Iskendria mit Schriften über die Alben, ihr Wirken und ihr Verschwinden gefüllt ist.

Jeder Weise fühlte sich irgendwann dazu berufen, darüber zu spekulieren, warum sie uns verlassen haben und wohin sie wohl gegangen sind. Ob sie uns im Mondlicht erwarten oder ob sie an einem ganz anderen Ort sind. Ob sie von uns enttäuscht waren oder ob sie uns unsere Welt zum Geschenk machten und dann gehen mussten, damit wir wirklich frei sind. Nur eines ist gewiss. Sie haben uns ein Rätsel hinterlassen.«

»Du weißt, dass Orakel nicht lügen können. Was würde ein Orakel antworten, wenn man ihm unwissentlich eine Frage stellt, deren Antwort enthüllen würde, dass nicht alle Alben entrückt wurden?«

Eleborn sah sie zweifelnd an. »Hast du das getan? Ich denke, ein Orakel in dieser Lage würde in einen unlösbaren Konflikt kommen. Vielleicht würde es auch einfach schweigen. Wenn die Alben die Schöpfer dieser Welt sind und möchten, dass ein Geheimnis bewahrt bleibt, dann wird es wohl keines ihrer Geschöpfe enthüllen können. Anderenfalls wären sie wohl nicht so allmächtig, wie wir glauben. Oder aber sie haben entschieden, dass ihr Geheimnis aufgedeckt wird, und lassen es zu. Ich bin zutiefst überzeugt, dass nichts geschehen kann, von dem sie nicht wollen, dass es geschieht. Und ich fürchte, wenn sie doch noch da sind, dann sind ihnen unsere Kriege und Sorgen sehr gleichgültig. Anders kann ich mir all das sinnlose Blutvergießen nicht erklären.«

Emerelle lächelte den Seefürsten an. »Verbirgt sich in dem alten Lüstling doch noch ein Philosoph?«

»Zum Philosophen werde ich erst, wenn ich einen Becher Wein zu viel hatte oder ein Mädchen mich verlassen hat, das um Jahrhunderte jünger war als ich.«

War da ein Hauch Melancholie?, fragte sich Emerelle. Oder war es einfach nur die unverblümte Wahrheit? Sie hatte Eleborn zu lange nicht mehr gesprochen, um noch behaupten zu können, dass sie ihn kannte.

Sie dachte wieder an Firaz. Wie du Olowain zurückholen kannst, kann ich dir nicht sagen.

Das waren ihre Worte gewesen. War es ein störrisches Kann, das man auch durch ein Will hätte ersetzen können? Durfte man es so auslegen, dass sie wusste, wie man Ollowain zurückholen könnte, aber es nicht sagen durfte. Und wenn ja, wer oder was hätte sie daran hindern können, es zu sagen? Sie war ein Orakel. Sie war der Wahrheit verpflichtet. Und sie fürchtete den Tod nicht. Sie hatte gewusst, dass noch zwei Besucher zu ihr kommen würden. Sie hatte von dem Shi-Handan gewusst. Und Emerelle hatte spüren können, dass das geisterhafte Ungeheuer kurz zuvor die Gazala getötet hatte, als die Kreatur nach ihrem Licht griff.

Was also hatte die Macht, der Gazala die Lippen zu versiegeln? Kein Orakel in Albenmark kann dir deine Frage beantworten. Das hatte Firaz ihr noch nachgerufen. War es ein Hinweis auf eine Macht, die nur in Albenmark herrschte, aber anderswo nicht?

»So still«, sagte Eleborn überraschend.

Sie sah ihn an. »Ich werde nach den Alben suchen. Ich glaube, sie sind nicht alle gegangen.«

»Ist das klug? Wenn noch welche von ihnen hier sind, dann wollen sie nicht gefunden werden. Ich weiß um deine Macht, Emerelle. Und um deine Dickköpfigkeit. Doch all das wird dir nicht helfen, wenn sie nicht gefunden werden wollen.«

»Vielleicht warten sie ja darauf, dass jemand ernsthaft nach ihnen sucht.«

»So wie die Jungfrau auf den ersten Kuss ihres Galans, unfähig es selbst zu wagen, sosehr sie ihn auch herbeisehnt?«

Emerelle lächelte. »Hast du schon viel getrunken in dieser Nacht?«

»Ich denke auch an Jungfrauen, wenn ich nüchtern bin, falls es das ist, was du meinst.«

»Dafür, dass du einer der edelsten Familien unseres Volkes entstammst, bist du ein erstaunlich ungehobelter Klotz, Eleborn.«

»Ich würde eher sagen, ich hatte genügend Zeit, unnötigen Ballast über Bord zu werfen und ganz zu mir selbst zu finden.«

Wenn sie das Gespräch nicht in eine andere Richtung lenkte, würde er ihr wahrscheinlich bald erzählen, was für ein unglaublich guter Liebhaber er war, dachte Emerelle. »Kannst du mir ein kleines Segelboot besorgen? Eines, das man zu zweit segeln kann. Es soll echt schäbig und unauffällig sein. Auf keinen Fall von Elfen gebaut.«

»Ich herrsche im Reich unter den Wogen. Wie kommst du darauf, dass ich ein Segelboot besitze? Und obendrein noch ein schäbiges. Die Boote, die mir gehören, haben ihre beste Zeit schon lange hinter sich. Die willst du nicht.«

»Ich würde auch ein Boot annehmen, das verlorengegangen ist.«

»Du meinst wohl gestohlen!« Er lachte. »Das glaube ich nicht. Die großmächtige Emerelle fragt mich, ob ich für sie ein schäbiges Boot stehle.«

»Und, wirst du es tun?«

»Das hat einen Preis. Du lässt Falrach in Frieden, bis er von sich aus zu dir kommt. Das wird nicht lange dauern. Er war jeden Tag bei der Lagune.«

»Du meinst, ich soll ihn dieser kleinen Tänzerin überlassen!«

»Nein, du sollst ihn sich selbst überlassen. Er soll tun können, was er will.«

»Ich dachte, sie ist deine Geliebte?«

»Was nicht bedeutet, dass sie mein Besitz ist.«

Emerelle atmete langsam aus und wieder ein. Mit Eleborn über Moral zu reden, war sinnlos. Falrach liebte sie. Aber sie wusste auch, wie er früher gewesen war. Der Hof des Seefürsten war dazu angetan, all seine alten, schlechten Angewohnheiten wiederzuerwecken. Früher einmal war er ein Spieler und Frauenheld gewesen. Sie würde das nie vergessen. Selbst in jenen fernen Tagen, in denen sie ihn von ganzem Herzen geliebt hatte, war da immer ein Zweifel an seiner Treue geblieben. Seltsam.

Ihre Liebe zu ihm hatte sie verloren. Aber die Zweifel waren geblieben.

»Woher weißt du, dass er nicht Ollowain ist? Hast du in seinen Gedanken gelesen.«

»Anfangs habe ich durchaus die Etikette geachtet. Aber als ich zum dritten Mal in Folge ein Falrach-Spiel gegen ihn verloren habe, war ich versucht zu schummeln. Ich habe tiefer in seine Gedanken geblickt, als höflich ist. Eigentlich wollte ich nur sehen, an was für Spielzüge er denkt.

Aber was ich sah, verriet mir, warum ich nicht gewinnen konnte. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hatte schon früher gegen ihn gespielt. Der Halunke schafft es, dass man immer das Gefühl hat, nur sehr knapp verloren zu haben und im Grunde der überlegene Spieler zu sein.« »Warum magst du ihn?«

»Wir waren vor langer Zeit einmal Freunde. Wir waren uns ähnlich. Dann ging er mit dir. Ich habe nie begriffen, warum er das getan hat.«

»Du hast auch gegen die Drachen gekämpft.«

Er wirkte plötzlich ernst. »Ja. Aber er tat es aus Liebe zu dir. Ich, weil ich keine andere Wahl hatte.«

»Und zu so einer wunderbaren Männerfreundschaft gehört auch, dass du ihm deine Geliebte für eine Nacht überlässt?«

»Ich stehe nicht zwischen ihnen in dieser Nacht. Das ist ein großer Unterschied.«

Es fiel ihr schwer, sich zu beherrschen. Sie blickte auf das Meer. Auf das Leuchten.

Und sofort stieg in ihrer Erinnerung das Bild auf, wie diese junge Elfe neben Falrach im Wasser schwebte. Umspielt von blauem Licht. Nackt. So wie er.

»Du liebst doch Ollowain. Warum ist es so schwer für dich, Falrach seine Freiheit zu lassen? Vertraue ihm. Du ahnst nicht einmal, wie stark die Ketten sind, die ihn an dich binden.«

»Und du, der du ihn seit ein paar Tagen wieder kennst, weißt so unendlich viel über ihn.«

»Wie gesagt, manchmal schere ich mich nicht viel um Etikette. Du kannst seine schwierigen Eigenschaften nicht vergessen, ich hingegen weiß, was er für dich und deine Liebe zu Ollowain tut.«

Emerelle ahnte, dass Eleborn es bei Andeutungen belas sen würde und dass es sinnlos wäre, zu versuchen, weiter in ihn zu dringen. Er hatte sich unaufgefordert zum Verteidiger Fairachs aufgespielt. Aber mit all seinen schönen Worten konnte er nicht tilgen, was sie gesehen hatte. Nailyn machte sich an Falrach heran. Und er ließ es sich gefallen! Bei Ollowain wäre das undenkbar gewesen. Der weiße Ritter wäre nicht einmal auf diesem sittenlosen Fest erschienen. Er war ein Mann von festen Tugenden und Ehre gewesen.

Ein Kloß stieg ihr in den Hals. Und auch das hatte sie nicht ertragen können.

Die Spur der Pfeile

Anderan sah zu, wie die Körbe mit den Pfeilbündeln auf den Frachtkahn verladen wurden. Fünfzigtausend Pfeile, in Bündeln zu jeweils zwanzig Pfeilen. Mehrere Schmieden in Tanthalia hatten die Pfeilspitzen hergestellt. Der größte Teil der Schäfte kam aus Meliamer, wo Spitzen und Schäfte zusammengefügt worden waren, um dann hierher, nach Vahlemer, verschifft zu werden.

Der Herr der Wasser tastete nach der Pfeilspitze, die er an einem Lederriemen um den Hals trug. Dem Geschoss, das vor zwei Jahren seinen Sohn Baidan getötet hatte. Es ließ ihm keine Ruhe. Über ein Jahr lang hatte er versucht, sich damit abzufinden. Er konnte es nicht. Er musste wissen, wie eine Pfeilspitze aus Tanthalia zu den Kentauren gelangt war, wo es doch Schmieden bei ihren Verbündeten in Uttika gab oder auch Feylanviek, das inmitten der Steppe lag. Vielleicht ließ sich auch herausfinden, welcher Kentaurenstamm diese Pfeile besessen hatte.

Je länger er der Spur der Pfeile gefolgt war, desto merk würdiger erschien es ihm, auf welch verschlungenen Wegen sie nach Norden gelangten. Er wollte auch jenen Kobolden in die Augen sehen, die Pfeile an Kentauren verkauften, während dieselben Kentauren in der Steppe Krieg gegen jene Kobolde führten, die beim Bau der großen Straße halfen.

Anderan reiste inkognito. Er hatte sich sogar den Kopf geschoren und Hosen angelegt, damit man in ihm nicht allzu leicht einen Angehörigen aus dem Volk der Holden erkannte. Auch dass er ein Mitglied des Kronrats war, hielt er geheim.

Es fiel leichter Nieselregen. Alle Körbe waren mit gewachsten Leinentüchern abgedeckt. Wenn man es nicht wusste, würde man nicht darauf kommen, dass der Frachtkahn hundertfachen Tod lud.

Bald wäre der letzte Korb verstaut. Anderans Blick wanderte über das Hafenbecken.

Nur wenige Schiffe lagen hier. Der Seehandel war fast zum Erliegen gekommen. Ein regionaler Handel ließ sich leicht über Tauschgeschäfte abwickeln. Für den Fernhandel waren die Gesetze der Trolle reines Gift gewesen. Er war völlig in sich zusammengebrochen. Nur die größten Handelshäuser hatten überlebt und bemühten sich nun, Routen aufzubauen, die sie nach den Gütern benannten, die darauf befördert wurden. Die Kornstraße. Die Indigostraße. Selbst Elija Glops war inzwischen davon überzeugt, dass sich der Fernhandel langsam wieder erholen würde.

Anderan betrachtete die halb im Wasser versunkenen Frachtkähne, die nicht weit entfernt an einem baufälligen Landungssteg vertäut waren. Für diese Schiffe und ihre Eigner käme die Erholung der Märkte zu spät. Auch die verfallenen Lagerhäuser, die das Hafenbecken säumten, sprachen für sich. Der Herr der Wasser hatte noch auf Burg Elfenlicht die Steuerunterlagen von Vahlemer und den anderen Städten seiner Reise eingesehen. Ohne dass der Hafen in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt gewesen wäre oder ihn eine Seuche heimgesucht hätte, war die Bevölkerungszahl in zehn Jahren auf weniger als die Hälfte zurückgegangen. In Feylanviek, dem Ziel des Lastkahns, war es noch schlimmer. Der Handel mit Büffelhäuten und gepökeltem Fleisch war zur Bedeutungslosigkeit verkümmert.

Anderan trat aus dem Schatten des Lagerhauses, von wo aus er den Frachtkahn beobachtet hatte. Er ging geradewegs auf den drahtigen Kobold mit dem roten Kopftuch zu, der während des Verladens die Befehle gab.

»Bist du der Schiffer?«

»Wer will das wissen?«

»Ein Reisender, der einen sicheren Weg nach Feylanviek sucht.«

Der Kobold drehte sich um und musterte ihn. Er trug eine ärmellose Weste, zerschlissene Hosen und ging barfuß. Doch um seine Hüften war eine Bauchbinde mit zerfaserten Troddeln gebunden, die zu ihren besten Zeiten gewiss ein Vermögen gekostet hatte. »Es gibt keinen sicheren Weg nach Feylanviek. Die Zeiten haben sich geändert, wir fahren nicht mehr im Konvoi. Wir werden auf uns allein gestellt sein.

Und der verdammte Fluss führt wenig Wasser. Selbst in der Mitte des Stroms können uns die Kentauren ohne Schwierigkeiten beschießen.«

»Warum fährst du, wenn es so gefährlich ist?«

Der Drahtige spuckte einen Mund voll gelbbraunen Speichels auf das Pflaster. »Damit ich auch morgen noch einen Priem kauen kann. Das ist meine erste Fracht seit drei Monden. Allein der Vorschuss, den ich bekommen habe, reicht, um meine sämtlichen Schulden zu tilgen.« Er musterte ihn mit seinen dunklen Knopfaugen von Kopf bis Fuß. »Die Frage ist doch wohl eher, warum so ein feiner Pinkel wie du so eine gefährliche Reise auf sich nimmt. Ist dir in deinem Leben mit wohl gedeckter Tafel und feinen Kleidern langweilig geworden?«

»Mein Onkel hat mich mit der Leitung seines Handelskontors beauftragt.«

Der Schiffer lachte auf. »Was hast du gemacht, Kerl? Hast du eine deiner Nichten geschwängert oder das hübsche Weib deines Onkels verführt? In Feylanviek gibt es keine Kontore mehr, die gute Geschäfte machen. Dein Onkel schickt dich in das übelste Drecknest im ganzen Windland. Lass dir einen Rat geben. Schreib ihm, dass du krank bist, und komm nicht an Bord.«

Anderan deutete auf die abgedeckten Körbe, die in dichten Reihen auf dem Deck des Frachtkahns standen. »Irgendjemand scheint ja noch Geschäfte zu machen.«

Der Schiffer spuckte erneut aus. »Bist du dumm oder einfach nur hartnäckig? Das, was da drinnen ist, kann man in Feylanviek nicht weiterverkaufen. Zumindest nicht, ohne sein Leben zu riskieren.« Er beugte sich dicht an Anderans Ohr. »Das sind Pfeile, wie die Kentauren sie verwenden. Wer die zu denen bringt, der muss in der Angst leben, dass ihm ein hasserfüllter, pferdeärschiger Stammesfürst die Kehle durchschneidet, statt zu zahlen. Und wenn er zurück ist, muss er den Trollfürst fürchten, denn es ist verboten, Waffen an Kentauren zu verkaufen.«

»Und wen musst du fürchten?«

Der Schiffer lachte. »Nur Untiefen. Ich bin auf der sicheren Seite des Geschäfts. Es gibt keine Handelsbeschränkungen für Güter, die nach Feylanviek verschifft werden.«

»Was kostet es mich, wenn ich mit dir fahre?«

»Hast du solche Angst vor deinem Onkel?«

Anderan schwieg. Er hielt dem bohrenden Blick des Schiffers stand. Dass der Kerl so bereitwillig über seine Fracht geredet hatte, machte ihm Sorgen. Doch er folgte der Spur der Pfeile nun schon viele Wochen. Er würde nicht kurz vor dem Ziel aufgeben.

»Bring mir einen Sack Linsen, zehn Pfund Brot und fünf Pfund Fleisch, dann nehme ich dich mit. Für deinen Proviant musst du selbst sorgen, der ist in dieser Rechnung nicht enthalten.«

»Ein stolzer Preis für eine Fahrt auf einem Boot ohne Kabinen.«

Der Schiffer grinste ihn an und entblößte dabei vom Kautabak braun gefärbte Zähne.

»Wenn es dir zu teuer ist, kannst du ja zwei, drei Wochen warten, bis der nächste Frachtkahn den Mika hinauffährt, wenn der Fluss bis dahin nicht schon zugefroren ist.

Ansonsten wartest du bis zum Frühjahr.«

Anderan streckte ihm die Hand hin. »Ich akzeptiere. Schlag ein!«

Sein Gegenüber zögerte. »Wie willst du die Lebensmittel eintauschen? Du scheinst ja nicht viel bei dir zu tragen.«

»Schuldscheine. Mein Onkel ist ein bedeutender Kaufmann. Ich finde in fast jeder größeren Stadt ein Kontor, in dem ich Kredit habe.«

»Papiere!« Der Schiffer sagte das voll abgrundtiefer Verachtung. »Ich wünschte, man könnte noch mit ehrlichem Silber zahlen. Da war alles einfacher. Du kommst mir erst an Bord, wenn du den Proviant bringst. Kannst du mit einer Windenarmbrust umgehen?«

»Warum?«

»Ich wollte nur wissen, ob du zu was anderem taugst, als Papiere vollzukritzeln. Da draußen gibt es Flusspiraten und allerlei anderes Gesindel. Mit einem Federkiel wirst du da nicht weit kommen!«

Die geschlagene Flotte

Salz funkelte auf dem rissigen, grauen Holz des Bugs. Das Boot, das Eleborn ihr verschafft hatte, sah in der Tat so aus, als würde es sich kaum noch über Wasser halten können. Sein Segel war ein Lappen voller Flicken.

Emerelle stand im Heck und hielt das Ruder. Sie steuerte die kleine, von Felsen gesäumte Bucht an, zu der sie vor so langer Zeit Samur gebracht hatte. Damals hatten sich schneebedeckte Zedern über der Bucht erhoben. Sie war menschenleer gewesen.

Auf der Insel gab es nur ein paar Hirten und Fischer. Und auch die lebten viele Meilen entfernt an der freundlicheren Südküste.

Jetzt war alles anders. Die Zedern waren verschwunden. Dutzende Schiffe lagen in dem natürlichen Felshafen. Eines prunkte mit rotem Rumpf und purpurnen Segeln.

Zwischen den Felsen blähten sich Sonnensegel. Ein stetiger Wind blies vom Meer. Ihr Boot machte gute Fahrt.

Wachen standen auf den Felsen und blickten auf das Meer hinaus. Bärtige Männer mit harten, von Wind und Wetter gezeichneten Gesichtern.

Die Schiffe trugen die Spuren eines Kampfes. In manche Rümpfe waren gezackte Löcher gestanzt. Verwundete wurden auf kleinere Boote verladen und zum Ufer gebracht.

»Das ist kein guter Platz, Herrin«, murmelte Nikodemus. Der Lutin hatte auf ihren Befehl die Gestalt eines kleinen Jungen angenommen. Er sah hübsch aus mit seiner makellos braunen Haut und den Fuchsaugen. Schwarzes Lockenhaar rahmte sein kleines Gesicht. Er trug eine türkisfarbene Tunika. Genau wie Falrach. Zwei Schwertgurte kreuzten sich über der Brust des Elfen. Sie waren mit primitiven Amuletten geschmückt. Eines der Schwerter wäre für sie, falls es notwendig wurde, zu kämpfen.

Fast eine Woche waren sie zwischen den Aegilischen Inseln gekreuzt. Der Albenstern, durch den sie gekommen waren, hatte nahe der Küste Iskendrias gelegen. Emerelle hatte die Zeit genutzt, den beiden ein wenig vom örtlichen Dialekt beizubringen. Es war die derbe Sprache von Fischern und Bauern. Ohne jede Poesie.

Eine Woche hatte sie versucht, Falrach zu entlocken, was mit Nailyn gewesen war.

Direkt hatte sie ihn nicht darauf angesprochen. Und er hatte Spaß daran gehabt, sie einfach nicht zu verstehen. All die Metaphern und Andeutungen falsch zu deuten.

Selbst Nikodemus wusste inzwischen, worum es ihr ging!

Aber Falrach sagte nichts. Gewiss hatte er nur mit der Elfe getanzt. Schon hundert Mal hatte sie sich das gesagt. Aber sie kannte ihn zu gut, um es wirklich glauben zu können. Sie wusste, dass es Narretei war. Sie würde ihm ja nicht einmal glauben, wenn er sagte, dass nichts gewesen wäre.

Falrach lehnte am Mast und beobachtete die Krieger in der Bucht. Bogenschützen standen auf den Felsen. Der Elfenritter griff nach den Schwertern auf seinem Rücken und vergewisserte sich, dass die Klingen leicht aus den geölten Scheiden gleiten würden. Er sah gut aus in der Tunika. Unter einem breiten, geflochtenen Lederband verbarg er seine verräterischen Ohren. Er trug scharlachrote Sandalen. Auch wenn sein Aufzug albern war, sah Emerelle überdeutlich, was sich dahinter verbarg. Er war bereit, zu töten. Sie hatte er ganz vergessen. All seine Sinne waren gespannt.

Es war Pech, dass die Flotte des Piratenprinzen Tigranes von Zeola ausgerechnet hier Zuflucht gesucht hatte. Zweimal hatten sie in kleinen Fischerdörfern angelegt, deshalb wussten sie, wem das Schiff mit den purpurnen Segeln gehörte. Tigranes war der Held des ungleichen Kampfes mit Iskendria. Seit Jahren schaffte er es immer wieder, der überlegenen Flotte der Priesterfürsten zu entkommen. Vor wenigen Tagen erst war es zu einem Seegefecht gekommen. Ob auch der Piratenfürst hier war, um das Orakel um Rat zu befragen?

»Diese Bucht anzusteuern, ist nicht klug«, sagte Falrach, ohne die Bogenschützen auf den Felsen aus den Augen zu lassen. »Wir sollten weitersegeln und in ein paar Tagen zurückkehren. Sie werden bestimmt nicht lange hierbleiben.«

»Meine Rede!«, stimmte Nikodemus zu. »Das ist ein einziger Haufen von Halsabschneidern.«

»Die Fischer nannten sie Freiheitskämpfer«, entgegnete Emerelle gelassen.

Falrach drehte sich zu ihr um. Es war das erste Mal seit Stunden, dass er sie ansah.

»Kämpfen wir oder ergeben wir uns?«

»Warten wir es ab. Du hast doch nicht ernsthaft Sorgen, dass Menschenkinder uns gefährlich werden könnten?«

»Es sind viele«, entgegnete er. »Und sie sehen verzweifelt aus. Es wäre klug, ihnen aus dem Weg zu gehen.«

»Ich muss zu Samur! Die Zeit drängt.« Sie konnte ihm ansehen, dass er ihr nicht glaubte.

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist es Jahrhunderte her, dass du die Gazala das letzte Mal gesehen hast. Warum kommt es dir jetzt auf jede Stunde an?«

»Weil ich nicht weiß, ob uns noch weitere Shi-Handan folgen. Sie finden uns sogar in der Welt der Menschen. Ein Geisterhund hat mich vor einigen Jahren in Firnstayn im Fjordland aufgespürt. Ich möchte nicht, dass die Menschenkinder noch einmal in die Machtkämpfe Albenmarks hineingezogen werden.« Das alles war eine Lüge. Falrach hatte mit seinem Einwand Recht. Es wäre vernünftig, noch zu warten, aber sie hatte keine Geduld mehr. Sie wollte Ollowain. Oder die Gewissheit, dass er für immer verloren war.

»Du meinst, es jagen uns noch mehr von diesen Geisterhunden!«, rief Nikodemus entsetzt. »Das hättest du vorher sagen müssen!«

»Mir kam es so vor, als seiest du sehr unglücklich auf deiner Insel gewesen.«

»Ich bin lieber unglücklich als tot«, ereiferte er sich.

»Dann sei jetzt lieber still! Vergiss nicht, du bist ein braves Kind und kein vorlauter Lutin. Und achte darauf, dass du deine Gestalt beibehältst. Auf deinen Handrücken beginnt Fuchsfell zu wachsen!« Emerelle steuerte das Boot um den steilen Felsen, der am Eingang der Bucht aufragte.

Der Lutin fluchte. »Wenn ich Angst habe, kann ich mich nicht auf meinen Zauber konzentrieren.«

»Dann würde ich dir raten, keine Angst zu haben.« Sie war ungerecht, das wusste sie.

Sie war einfach in der Stimmung dazu. Immer wieder blickte sie verstohlen zu Falrach.

Er hatte ihr erneut den Rücken zugedreht und beobachtete die Menschenkinder. Die wenigen Tage an Eleborns Hof hatten ihn verändert. Er war wieder mehr wie früher.

Stolzer. Ein Mann, den man nicht behalten konnte, wenn man nicht jeden Tag um ihn kämpfte. Er sollte ihr gleichgültig sein!

Ein steinerner Kai ragte weit in die Bucht hinein. Etliche kleine Boote drängten sich dort zusammen. Drückende Hitze lag über der Bucht. Es roch nach Blut, toten Muscheln und faulendem Seetang.

Emerelle fand einen freien Platz. Sanft stieß das Boot gegen die Mauer. Nikodemus vertäute es an einem rostigen Eisenring. Falrach war als Erster auf dem Anleger. Er streckte ihr eine Hand entgegen. Er sah wirklich gut aus. Obwohl es immer noch Ollowains Gesicht war, wirkte es irgendwie anders. Da war ein verwegener Zug, den es beim geradlinigen ersten Ritter nie gegeben hatte.

Falrach beugte sich tief hinab und half auch Nikodemus auf den Kai.

Emerelle sah die großen Blutflecken auf den Steinen. Die Verwundeten, die man von den Schiffen brachte, wurden auf Tücher gelegt. In diese Tücher gehüllt, trug man sie hinauf zu den Felsen. Dorthin, wo die Sonnensegel stickigen Schatten spendeten.

Die Männer stöhnten und fluchten. Manche weinten, ohne dass dabei ein Laut über ihre Lippen kam. Andere starrten in die gleißende Sonne hinauf. Ihre Pupillen waren klein wie Stecknadelköpfe. Emerelle sah die Wunden und wusste, dass viele der Krieger den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben würden. Ein dürrer, gelber Hund lief über den Kai und schleckte das Blut vom hel len Stein. Seine Rippen stachen durch sein struppiges Fell. Niemand störte ihn bei seinem schaurigen Mahl.

Plötzlich schrie einer der Wachposten. Er deutete auf das Meer hinaus. Am Horizont war ein einzelnes blaues Segel erschienen.

»Wir sollten hier fort«, zischte Falrach ihr zu. »Das ist ein Schiff aus Iskendria.«

»Bis es die Flotte nach hier bringt, sind wir längst fort.«

»Wer seid ihr? Was habt ihr hier zu schaffen?« Ein bärtiger Krieger mit zerfetztem Leinenpanzer stellte sich ihnen in den Weg. Andere Männer, die sich bisher allein um die Verwundeten gekümmert hatten, hielten inne und starrten sie an.

»Meine Herrin Camille ist eine Heilerin aus dem fernen Marcilla«, entgegnete Falrach glatt. »Sie ist gekommen, um das Orakel zu besuchen.«

Emerelle zog das grüne Tuch, das ihre Haare bedeckte, ein wenig in die Stirn und senkte demütig den Blick. Sie trug ein langes, grünes Kleid. Unten war es weit ausgestellt, so dass man leicht darin gehen konnte, die Beine aber vor neugierigen Blicken verborgen blieben. Von der Hüfte aufwärts allerdings war es kunstvoll verschnürt und betonte Taille und Brüste.

»Eine Heilerin also ...« Etwas Verzweifeltes lag im Blick des Kriegers. Er hatte tiefe, dunkle Ränder unter den Augen. »Deine Herrin trägt ein kostbares Kleid. Sie scheint reich zu sein. Dann ist sie wohl eine gute Heilerin.«

»Sie stammt aus vornehmer Familie und ... «

Der Krieger griff nach Nikodemus und zog einen Dolch. Doch noch bevor er dem Kind die Klinge an den Hals legen konnte, berührte Fairachs Schwertspitze seine Kehle.

»Siehst du die Bogeschützen, die auf dich angelegt haben?«, fragte der Krieger.

»Willst du es darauf ankommen lassen, ob ein Pfeil oder meine Klinge schneller ist?«

Falrach zog langsam das zweite Schwert.

Andere Krieger erhoben ihre Waffen.

»Ist nicht genug Blut geflossen?« Emerelle nahm Nikodemus und zog ihn langsam von dem Bärtigen fort. »Was willst du von uns?«

Der Krieger ließ seinen Dolch sinken. Sein Gesicht wirkte fahl. »Mein Herr liegt im Sterben. Nur ein Wunder kann ihn noch retten.«

»Warum hast du nicht einfach gefragt, ob ich euch helfe?«

»Weil ... « Er hob hilflos die Hände. »Ich habe wohl verlernt, um etwas zu bitten. Ich ...

Es gibt keine Entschuldigung. Ich ... Du musst ihm helfen! Du scheinst in deiner Heimat eine bedeutende Frau zu sein. Bitte, sieh ihn dir wenigstens an!« Er sah an ihr vorbei zum Horizont. »Noch ein oder zwei Stunden, dann sind sie da.«

»Und wenn ihr ihn auf sein Schiff bringt?«

»Das würde er nicht überleben.«

Emerelle gebot Falrach mit einem Blick, das Schwert zu senken. »Und wer ist dein Herr?«

»Komm mit und sieh. Wenn du ihn rettest, dann sollst du dein Gewicht in Gold dafür erhalten.«

Emerelle drehte sich um und sah zum Horizont. Das blaue Segel war verschwunden.

Sieben

»Wo ist Anderan?« Skanga konnte zwar nur die Auren der Anwesenden sehen, aber sie waren genauso unverwechselbar wie Gesichter.

»Er ist nach Vahan Calyd gereist. Er wird in zwei Monden zurück sein«, sagte Elija.

Skanga betrachtete jeden einzelnen der Anwesenden eine Weile. Sie hasste die Treffen des Kronrats. Das endlose Gerede, an dem sich Kobolde so sehr begeisterten. Doch dieses Mal war es wichtig.

»Emerelle ist nicht länger verschollen!« Die Schamanin beobachtete die Reaktion der Kobolde. Es waren doppelt so viele aus dem kleinen Volk wie Trolle anwesend. Nur zweien machte diese Mitteilung keine Angst. Orgrim und Elija.

»Kann sie ein Heer aufstellen, Herzog Orgrim?«

Der Feldherr ließ sich Zeit mit der Antwort. Seine Aura verstrahlte selbstsichere Ruhe.

»Gewiss kann sie das, doch es wird nicht sehr stark sein. Wenn sie kämpfen will, muss sie zu den Kentauren. Nur dort wird sie leicht Verbündete finden. Die wenigen Maurawan fallen militärisch nicht ins Gewicht. Die übrigen Elfen sind verstreut. Sie wird lange brauchen, um ein schlagkräftiges Heer aufzustellen. Wir werden stärker sein. Ich würde es begrüßen, wenn sie eine offene Feldschlacht sucht. Doch wahrscheinlich wird sie nicht so dumm sein.«

»Könnte man ihr nicht ein paar Meuchler schicken?«, fragte Elija.

Die Frage ärgerte Skanga. Elija sollte es eigentlich besser wissen. »Wenn wir Meuchler schicken, gefährden wir lediglich das Leben derjenigen, die so dämlich sind, diesen Auftrag anzunehmen.« Orgrims Antwort hatte die Schamanin vorhergesehen.

Emerelle hatte kein Heer, und sie würde auch keines bekommen. Dennoch würde sie um ihren Thron kämpfen.

»Ich denke, wir müssen niemanden auf die Suche nach Emerelle schicken. Sie wird zu uns kommen.«

Totenstille. Skanga studierte die Flut der Gefühlsregungen, die sich in den Auren spiegelte. Sie waren zu schillernden Regenbögen geworden. Jeder hier hatte Gründe, die Rückkehr Emerelles zu fürchten. Selbst Elija hatte nun Angst.

»Du glaubst, sie kommt zum Fest der Lichter nach Vahan Calyd?«

Skanga nickte Orgrim zu. »Ja. So wird es sein. Sie wird zum Fest der Lichter kommen und sich zur Königswahl stellen. Sie wird sich unter das einfache Volk mischen, lä-

cheln, und diese Dummköpfe, die jahrhundertelang von Elfen ausgebeutet wurden, werden ihr zujubeln.«

»Das werden sie nicht!«, rief Elija wütend. »Es geht unseren Brüdern und Schwestern viel besser, seit wir regieren!«

»Du weißt, wie das Volk ist, Elija. Emerelles Glanz wird sie blenden. Wie viel Glanz haben wir schon zu bieten? Sieh dir Burg Elfenlicht an. Das Lager vor den Mauern. Es geht ihnen besser. Aber sie blicken nicht zu uns auf.«

»Aber es ist nicht das Volk, das den Herrscher Albenmarks wählt«, wandte Orgrim ein.

Skanga hätte ihn küssen mögen. Unter all den eingebildeten Kronräten war er der Einzige, der ihren Gedanken zu folgen vermochte.

»Was würdest du tun, um die Krone zurückzuerlangen, Herzog?«

Orgrim schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das ist nicht meine Art, Schlachten zu schlagen, Skanga. Du fragst den Falschen.«

Die Schamanin betrachtete aufmerksam die Aura des Heerführers. Hatte er Sorge, dass sie ihm unterstellte, er sei ein Verschwörer?

»Ich würde versuchen, die Fürsten, die zur Wahl kommen, zu erpressen und einzuschüchtern«, meldete sich Elija zu Wort. »Und den Unbeugsamsten würde ich ermorden lassen, um die anderen gefügig zu machen. Außerdem würde ich Aufwiegler in die Menge schicken. Große Volksaufläufe sind viel leichter zu beherrschen und zu verführen als kleine Gruppen. Wenn hundert schreien und mit den Füßen stampfen, dann hören tausend um sie herum auf, klar zu denken, und folgen ihnen.«

Dass Elija sich gut in diese Lage hineinversetzen konnte, überraschte Skanga nicht im Mindesten. Sie hatte seit geraumer Zeit Zweifel an seiner Treue, obwohl es keinerlei Beweise für einen Verrat gab. Es gefiel ihm, Fürst von Tanthalia zu sein. Und er hatte Ehrgeiz. Vielleicht dachte er schon längst daran, wie es sein würde, wenn ein Kobold auf dem Thron von Albenmark saß.

»Wie kann man sich gegen solchen Verrat schützen, Orgrim?«

Der Heerführer massierte sich die Augenbrauen, als habe er Kopfschmerzen.

Anzeichen des Unwillens zeigten sich in den Farben seiner Aura. Er hatte sich sehr verändert seit der Schlacht um die Schiffsburg. Auch dass die große Straße vollendet worden war und bereits die dritte Snaiwamark-Karawane auf dem Weg zum Königsstein war, schien ihm keine Genugtuung zu verschaffen. So wenig wie sie in der Lage waren, den flüchtenden Kentauren nachzusetzen, so wenig waren die Kentauren auf Dauer in der Lage, ihnen die Stirn zu bieten. Katander war schwer verwundet worden. Gerüchten zufolge vermochte der Fürst von Uttika nicht mehr aus eigener Kraft zu laufen. Er hatte sich aus den Kämpfen zurückgezogen und seine Krieger mitgenommen. Er war klug genug, um zu wissen, wie angreifbar die Städte seines Fürstentums waren.

»Wir wissen, wann Emerelle kommen wird und wohin«, sagte Orgrim. »Ein Komplott zu schmieden erfordert Zeit. Nehmen wir ihr die Zeit. Das Fest der Lichter findet nächstes Jahr im Herbst statt. Das sind noch fast zehn Monde ... «

»Wir könnten es vorverlegen. Das Jahr, in dem das Krönungsfest begangen wird, ist festgeschrieben, nicht aber der Mond. Begehen wir es im Frühjahr!«, schlug Elija vor.

»Das wird Unruhen geben«, flüsterte Birga ihr ins Ohr. »Die Hälfte der Ratsherren blickt missmutig. Ich glaube nicht...«

»Ich sehe ihre Auren«, zischte Skanga ihrer Schülerin zu.

»Es wäre klug, geheim zu halten, welche Fürsten zur Königswahl geladen werden«, sagte Orgrim. »Wenn ihre Namen nicht bekannt sind, weiß Emerelle nicht, wen sie unter Druck setzen muss. Am besten entscheiden wir erst am Tag des Festes, wer die Ehre hat, zur Königswahl geladen zu sein. Und verändern wir die Voraussetzungen der Wahl. Allein der Kronrat bestimmt, wer geladen wird. Und das erst am Morgen des Festes der Lichter. So wird es für Emerelle fast unmöglich sein, etwas zu unternehmen. Und beschränken wir die Zahl der Fürsten auf sieben.«

»Warum sieben?«, fragte Skanga.

»Weil es dann genügt, vier loyale Fürsten aufzubieten, um über das Schicksal Albenmarks zu entscheiden«, entgegnete er überraschend zynisch. »Das sollte uns gelingen. Machen wir uns also auf die Suche nach vieren, die Gilmarak um jeden Preis auf dem Thron behalten wollen.«

Der Piratenprinz

Der bärtige Krieger führte sie fort vom Kai, die Felsen hinauf. Überall rasteten erschöpfte Ruderer und Kämpfer. Die meisten Männer waren in schlechter Verfassung.

Sie waren dürr. In ihren Augen brannte Fieber.

»Wir sind seit vier Jahren im Krieg«, erklärte ihr Führer. »Seit bei einer Palastintrige der Hohe Priester Promachos getötet wurde. Sie haben behauptet, Prinz Tigranes habe eine Meuchlerin ins Bett des Priesterfürsten geschickt. Das ist eine Lüge! Seitdem jagen sie uns. Unsere Heimatinsel Zeola ist nur noch eine Wüste. Sie haben jedes Haus auf der Insel zerstört, jeden Busch und jeden Baum verbrannt und Salz auf unsere Äcker und Weiden gestreut. Fast alle Küstendörfer und Städte auf unseren Inseln haben sie heimgesucht. In mehr als einem Dutzend Seeschlachten sind ungezählte Galeeren gesunken. Unsere Frauen und Kinder haben sie auf die Sklavenmärkte von Iskendria verschleppt.«

»Wofür kämpft ihr dann noch?«, fragte Emerelle, als der Bärtige kurz innehielt, um Atem zu holen. Die Elfe wusste, dass auf den Aegilischen Inseln vermutlich genau so viele Piraten wie Kauffahrer lebten. Die Geschichte des Kriegers berührte sie nicht.

Wer sein Leben mit Raub und Mord bestritt, der sollte nicht jammern, wenn seine Taten ihn eines Tages einholten.

Der Krieger sah sie verbittert an. Er öffnete den Mund, fand aber keine Worte. Er murmelte etwas vor sich hin.

Dann standen sie vor Tigranes. Der Prinz lag auf einem von Feuer gezeichneten, nassen Teppich. Er zitterte. Gesicht, Brust und Arme waren von grässlichen Brandwunden entstellt. Er lag im Sterben. Keine Heilerin der Menschenkinder hätte ihn noch retten können.

Einige Krieger standen hilflos um den Teppich herum. Ein alter Mann kniete neben dem Prinzen und versuchte, ihm aus einer Silberschale Wasser einzuflößen.

»Du weißt, wie es um ihn steht?«, fragte Emerelle den Bärtigen milde.

»Du bist eine große Heilerin!«, entgegnete der Mann mit rauer Stimme. »Die Fähigkeit zur Hoffnung ist die letzte Tugend, die wir uns erhalten haben. Hilf ihm!«

Sie sah zu Falrach. Der Krieger streckte sich und lockerte die Muskeln von Schulter und Hals. Mit dem Bärtigen waren sieben Krieger beim Prinzen. Die Felsen schirmten sie gegen die Blicke der übrigen Piraten ab. Sie würden siegen können, aber es wäre dann unmöglich, in Ruhe mit der Gazala zu sprechen.

»Ich brauche frisches Fleisch, wenn ich ihn heilen soll. Es muss noch warm sein!«

Der Bärtige sah sie fragend an. »Fleisch?«

»Willst du mit dem Fleisch seine Wunden kühlen?« Der Alte, der neben dem Prinzen kniete, sah sie durchdringend an. »Er muss vor allem trinken. Er verliert zu viel Flüssigkeit. Lass das Weib in Frieden, Miridas. Alles, was wir dem Prinzen noch geben können, ist ein gnädiger Tod. Sieh ihn dir doch an. Nur die Götter könnten ihn noch heilen.«

»Ich hole das Fleisch!«, entgegnete der Krieger störrisch und eilte davon.

Der alte Heiler stellte die Silberschale auf den Boden. Er griff nach einer kleinen, abgestoßenen Holzschatulle und klappte sie auf. Emerelle sah, wie seine Hände zitterten, als er eine Phiole mit einer milchigen Flüssigkeit aus der Schatulle nahm.

»Schlafmohn?«

Der Alte blickte zu ihr auf. Ihm standen Tränen in den Augen. »Weißt du, er ist besser als sein Ruf. Die meisten Untaten, die man ihm angedichtet hat, sind die Taten anderer Männer gewesen.«

Emerelle kniete sich neben den Prinzen. Sie griff nach einem seiner nackten Beine. Die Haut war kühl und trocken. Sie schloss die Augen. Der Schmerz traf sie wie ein Peitschenhieb. Sie griff nach dem Albenstein an ihrem Hals. Sie teilte den Schmerz des Sterbenden. Sein Körper kämpfte verzweifelt gegen die Verbrennungen an. Er versuchte die Wunden zu kühlen. Ständig troff Sekret von den Wunden. Es dörrte ihn aus, ohne zu helfen.

Emerelle nahm die Hand fort. Sie atmete schwer aus.

Der alte Heiler beobachtete sie misstrauisch. »Seit über fünfzig Jahren helfe ich Verletzten und Kranken. In all den Jahren habe ich nicht erlebt, dass der Hokuspokus einer Kräuterhexe je geholfen hätte. Alles, was ihr vermögt, ist, Hoffnungen zu wecken. Hoffnungen, die ihr nie einhalten könnt. Du bist eine junge, hübsche Frau. Die meisten Männer glauben dir gewiss alles, was du ihnen sagst. Geh deiner Wege. Ich werde dafür sorgen, dass Miridas dich in Frieden lässt. Besuch das Orakel.

Wunderheilerinnen und Orakelpriesterinnen passen gut zusammen.«

»Du hast dich mit einem Tod schon abgefunden. Was also hast du zu verlieren, wenn ich versuche, ihm zu helfen?«

Er lächelte milde. »Deine Bemühungen in allen Ehren, Weib ... Aber nicht ich bin es, der etwas zu verlieren hat. Und auch nicht der Prinz. Er ist schon fast bei den Göttern.

Du bist diejenige, um die es geht. Wenn ich dich eine Scharlatanin nenne und dich fluchend davonjage, wenn Miridas zurückkehrt, dann wird er sich nicht mehr nach dir umdrehen. Wenn du hier aber irgendwelche barbarischen Possenspiele mit blutigem Fleisch aufführst und der Prinz stirbt, dann wird sich alle Wut und Enttäuschung von Miridas gegen dich wenden.«

Emerelle blickte zu den Wachen. Trotz der Worte des Heilers sah sie bange Hoffnung in ihren Gesichtern. Ihre Blicke flehten sie an zu bleiben.

»Wir sollten gehen, Mutter«, sagte Nikodemus leise. »Der alte Mann hat uns einen wohlmeinenden Rat gegeben.«

Die Elfe berührte noch einmal das Bein des Prinzen. Sie wäre nicht bereit, noch einmal seine Schmerzen zu teilen. Aber es gäbe einen anderen, dunkleren Weg, ihm zu helfen.

»Verdient er zu leben?«

Der Alte runzelte ärgerlich die Stirn. Er sah sie wütend an. Seine klaren, grauen Augen waren voller Lebenskraft. »Dir steht es wohl nicht zu, über ihn zu urteilen.«

»Deshalb frage ich ja auch dich«, entgegnete Emerelle freundlich. »Verdient er zu leben?«

Der Heiler richtete sich auf. Er war ein kleiner, gedrungener Mann. »Scher dich davon, Weib! Tigranes hat es nicht verdient, eine wie dich an seinem Sterbebett zu haben!«

»Jeder von uns hier würde für ihn sterben«, sagte einer der Krieger. Es war ein blonder Mann mit stoppeligen Wangen, der vor der Zeit gealtert war. »Er war ein Held. Er war unsere Hoffnung. Wenn er bei Bewusstsein wäre, würde er nicht dulden, wie du redest, Serenas. Er würde einen freundliehen Scherz über dich machen, Kräuterhexe. Er würde uns zum Lächeln bringen und es mit ein paar Worten schaffen, wieder Hoffnung in unsere Herzen zu pflanzen.«

Emerelle betrachtete den Sterbenden. Über sie würde wohl niemand so sprechen. Wie alt der Prinz wohl war? Er hatte jedenfalls nicht die Beine eines alten Mannes. An seinem Gesicht konnte man sein Alter nicht ablesen. Obwohl die Verbrennungen nicht seine Nase und Lippen zerstört hatten, war es doch so zerschunden, dass alle Haut verloren war. Auch die Augenbrauen und sein Haupthaar waren verschwunden.

Miridas kehrte zurück. Er zerrte an einem Strick den räudigen, gelben Hund hinter sich her, der Emerelle am Kai aufgefallen war. »Ist das Fleisch frisch genug? Wir haben hier keine Schafe und Ziegen zum Schlachten.« Der bärtige Krieger zog seinen Dolch.

»Wie willst du es haben? Soll ich ihm die Kehle durchschneiden?«

Falrach rückte etwas näher zu ihr. Und Nikodemus klammerte sich an ihre Beine.

Miridas’ Stimme klang schrill. Der alte Heiler hatte mit seinen Warnungen Recht gehabt. Man sollte den Krieger besser nicht enttäuschen.

»Ein lebendes Tier ist besser als ein Stück Fleisch«, sagte sie ruhig. Sie blickte den Hund an und flüsterte ein Wort der Macht. Das Tier wurde ruhiger. Sie streichelte ihn hinter den Ohren. Dann zog sie ihm die Lefzen zurück. Auch wenn er räudig aussah, war er doch kein altes Tier. »Verzeih mir«, sagte sie in ihrer Muttersprache. Dann wandte sie sich wieder dem Krieger zu.

»Halt ihn fest! Du darfst ihn auf keinen Fall loslassen, ganz gleich, was auch geschieht.

Wenn er nach mir schnappt und mich verletzt, während ich versuche, Tigranes zu heilen, dann wird alles verdorben sein, und dein Prinz stirbt.«

»Was sollte denn geschehen?«

»Du wirst es sehen.« Emerelle legte sanft eine Hand auf den Rücken des Hundes. Dann berührte sie mit der anderen Hand die verbrannte Brust des Prinzen.

»Sind deine Finger sauber, Hexe?«, fuhr Serenas sie an.

Sie schloss die Augen und begann zu flüstern. Worte der Macht. Dunkle Magie, geboren aus Blut und Leid. Wieder spürte sie den Schmerz des Prinzen. Ein Flammenstrahl hatte ihn verletzt, als er den Rückzug seiner Männer von einem brennenden Schiff deckte.

Emerelle gab den Schmerz weiter. Sie war nur eine Brücke. Sie ließ es durch sich fließen. Der Hund jaulte auf. Es stank nach verbranntem Fell. Dann nach verbranntem Fleisch. Der Hund kämpfte kaum noch gegen den Griff von Miridas an.

Jemand erbrach sich. Sie hörte hastig davoneilende Schritte. Der Schmerz ließ nach.

Die Haut des Prinzen fühlte sich glatt und warm an. Sie öffnete die Augen. Der Hund war nur noch ein zusammengekrümmter, schwarz verbrannter Kadaver. Tigranes war nicht ganz geheilt. Dort, wo die Verbrennungen am schlimmsten gewesen waren, war seine Haut noch von dunklem Rot. Vielleicht würde die Verfärbung bleiben. Aber der Prinz würde nicht mehr sterben. Jetzt erst war offensichtlich, wie jung er noch war.

Emerelle fand es stets schwer, das Alter von Menschenkindern zu schätzen. Sie alterten zu schnell! Doch der Prinz hatte wohl nicht einmal sein zwanzigstes Jahr vollendet.

Einer der Krieger aus der Wache fehlte. Die Übrigen waren sehr blass. Sie starrten mit schreckensweiten Augen.

»Was hast du mit ihm gemacht, Hexe?«, fuhr Serenas sie an.

»Er wird leben, so wie ich es versprochen habe. Er braucht Ruhe und sehr viel zu trinken. Du solltest seine Haut mit Gänsefett einreiben, dann werden hoffentlich auch die letzten Wundmale verschwinden.«

»Sag mir, was du mit ihm gemacht hast, Hexe!«, schrie Serenas. »Sie hat ihm die Seele gestohlen! Das ist Blutmagie.«

Miridas hielt den alten Heiler fest. »Sie hat uns Tigranes zurückgegeben. Du hältst jetzt den Mund. Sie und die Ihren können gehen, wohin sie wollen.« Er blickte zu den Wachen auf. »Niemand redet darüber, was hier geschehen ist. Holt Polios zurück. Auch er muss schweigen.«

Er verneigte sich vor ihr. »Habt Dank. Wer immer Ihr auch seid, Ihr seid mehr als eine Heilerin aus Marcilla. Habt Dank!«

»Ihr solltet schnell eure Schiffe besteigen und fliehen.« Es war das erste Mal, dass Falrach zu den Menschenkindern sprach. »Die Bucht ist eine Falle. Ihr werdet nicht entkommen, wenn ihr zögert.«

»Ich weiß«, sagte der Bärtige. Er hatte den Heiler wieder losgelassen, der Emerelle immer noch finster anblickte.

Der Prinz stöhnte. Er schlug die Augen auf. Serenas gab ihm ein wenig Wasser zu trinken. Tigranes sah sie an. Obwohl er noch sehr jung war, hatte er alte Augen. »Wir bringen die Verwundeten auf die Schiffe. Es gehen alle oder keiner.« Er stockte erschöpft. »Sag ihr, was sie tun.«

Miridas seufzte. »Wenn wir die Verletzten und Kranken zurücklassen, dann werden die Iskendrier sie an kurzen Pfählen dicht oberhalb der Flutlinie am Strand festbinden.

Für die Scharlachkrabben. Sie fressen Aas, oder was sie dafür halten.«

»Wir werden hier unsere letzte Schlacht schlagen«, sagte der Prinz. »Geht eurer Wege.

Ihr seid es, die schnell von hier fortmüsst.«

Die dicke Bascha

Der schwere Lastkahn war in der Mitte des Stroms vor Anker gegangen. In der Dämmerung hatte der Schiffer die Ruder einziehen lassen. Drei Tage waren es noch bis Feylanviek. Anderan kauerte sich an die Bordwand. Es regnete wieder. Was für ein verfluchtes Land! Seit Tagen wurden seine Kleider nicht mehr trocken. Schüttelfrost plagte ihn. Die ganze Mannschaft war erschöpft. Seit zehn Tagen gab es keine Treidelpferde mehr, die den Lastkahn gegen die Strömung flussaufwärts ziehen konnten. Seitdem ruderten sie oder segelten, wenn der launische Wind es zuließ.

Der Herr der Wasser presste seine brennenden, wunden Hände auf die nasse Jacke. Er war nicht verweichlicht! Er war es gewohnt, zu rudern, auch wenn er in den letzten Jahren nur noch selten Gelegenheit gefunden hatte, in einem Nachen hinaus in die Mangroven zu fahren, um Krabben zu fangen.

Aber die Arbeit hier an Bord des Lastkahns war mörderisch! Kobolde waren einfach nicht dazu geschaffen, ein so langes und schweres Boot gegen den Strom zu rudern!

Der Schiffer stapfte unruhig an Deck auf und ab. Er spähte ins Dunkel. Der Himmel war wolkenverhangen. Man konnte kaum etwas sehen. Auf dem ganzen Schiff gab es kein Licht. Kein Feuer, um die durchgefrorenen Knochen zu wärmen. Nicht einmal tagsüber durften sie ein Feuer anmachen, weil der Verrückte glaubte, die Kentauren könnten den Rauch noch weit im Land riechen. Dabei war der Lastkahn von den Hügeln aus leicht zu entdecken.

Anderan klopfte auf das Deck. Bisher hatten sie noch keinen Kentauren zu Gesicht bekommen. Hoffentlich blieb das so. Nur noch drei verdammte Tage bis Feylanviek. Er würde als Erstes ein langes, heißes Bad nehmen, wenn er in die Stadt kam. Mindestens drei Stunden lang!

»Bald kommt der erste Schnee«, sagte der Schiffer. Er hatte in seiner rastlosen Wanderung innegehalten. »Du bist der Einzige, der nicht schläft. Frierst du zu sehr?

Oder tut es dir leid, dass du an Bord gekommen bist? Ich hatte dich gewarnt.«

»Ich hasse Schnee«, gestand Anderan.

»Ich auch. Mit dem Schnee kommt das Eis. Und das Eis nimmt die Lastkähne gefangen. Ich hab es einmal erlebt, dass der Kahn auf dem offenen Fluss von Eisschollen eingekeilt wurde und nicht mehr fortkam. Damals war Frieden. Wenn uns das jetzt passiert, dann sind wir dran.« »Nur noch drei Tage.«

Der Schiffer spuckte über Bord. »Wülste auch mal ‘nen Priem versuchen? Das zieht dir alle kranken Säfte aus dem Leib. Kommste auf andere Gedanken.«

»Nein, danke.«

»Ich weiß, was dir im Kopf umgeht. Denkst an irgendein nettes anschmiegsames Mädchen in Feylanviek. Nach so einer langen, kalten Fahrt gibt es nichts Besseres als einen ganzen Tag mit einer Hure in einem Bett direkt neben einem gut befeuerten Ofen. Ich werd’s genauso machen.«

Die Vorstellung hatte einen gewissen Reiz. Aber das würde er niemals zugeben, dachte Anderan. »Und ich dachte schon, du liebst nur die dicke Bascha.«

Der Schiffer lachte heiser. »Die ist jedenfalls das nützlichste Mädel, das mir je begegnet ist. Auf die Dicke ist Verlass! Die hat mir schon manchen guten Dienst geleistet.«

»Hast du sie schon benutzen müssen?«

»Nur zwei Mal. Ist schon ‘ne Weile her. Bin lieber vorsichtig. Ist besser, wenn man ihr nicht das Kleidchen hinabreißen muss.«

Anderan blickte zum Bug, wo die dicke Bascha über die Reling lugte. Am Mittag erst hatte der Schiffer sie geputzt und frisch geölt. Es war die größte Windenarmbrust, die der Herr der Wasser je gesehen hatte. Ein wahrhaft ehrfurchtgebietendes Ungeheuer.

Die Pfeile, die es verschoss, waren so lang und so dick wie ein Koboldarm.

»Du hast sie schon benutzt?«, hakte Anderan nach.

»Beim ersten Mal war es genug, das Öltuch von ihr herunterzunehmen und sie zu zeigen. Das war zu Zeiten, als es noch am ganzen Fluss Treidelpferde gab und wir jede Nacht ein schönes Lager mit einem ordentlichen Feuer am Ufer aufschlagen konnten.

Wenn sie sehen, dass einer von ihnen draufgehen könnte, dann haben Strauchdiebe keinen Mumm mehr. Nach dem ersten Mal hatten wir mehr als ein Jahr Ruhe ... « Er spuckte wieder über die Reling. »Werd den Abend nie vergessen. War vielleicht fünfzig Meilen östlich von hier. Kamen herangeprescht, die Pferdeärsche. Schon als ich den Donner der Hufe gehört habe, bin ich sofort rauf zur dicken Bascha. Braucht seine Zeit, bis man sie gespannt hat. Das ist der einzige Nachteil bei ihr. Aber wenn sie erst mal scharf ist, dann haut sie jeden Kerl um.«

Der Schiffer starrte wieder zum Ufer. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, aber die Sicht war nicht besser geworden.

»Und ... «, drängte Anderan.

»Beim zweiten Mal war es nicht genug, die Dicke zu zeigen. Hat so ein Pferdearsch doch mit dem Bogen auf mich angelegt. Blöd wie Büffelscheiße sind die! Spannt der seinen Bogen, wo ich mit der Bascha auf ihn ziele. Hab nicht lange gefackelt. Hättest du sehen müssen, wie es den von den Hufen geholt hat. Der Bolzen ging glatt durch ihn hindurch und ist danach noch ein gutes Stück weitergeflogen. Das war ein Geschrei! Wollten mich langmachen, die Pferdeärsche. Aber als ich nachgeladen hatte, haben sie es sich anders überlegt. Hinter der Bascha steht man gut in Deckung. Und die Pferdeärsche können nicht einfach an Bord klettern. Haben die nicht drauf. Haben Schiss, dass die sich an der Reling beim Springen ihre dünnen Beinchen brechen. Als die noch geschrien und rumpalavert haben, hatte ich schon nachgeladen. Und da hatten sie plötzlich keine Lust mehr auf Streit und sind auf und davon. Danach hatte ich nie wieder Ärger.«

Der Schiffer lehnte sich an die Reling und blickte zum Bug. »Gutes Mädel, meine Bascha«, sagte er leise. Dann schwiegen sie beide für lange Zeit.

Anderan litt unter der Kälte. Er hatte die Beine angezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Aber die Wärme floh seinen Körper. Noch nie im Leben war ihm so kalt gewesen.

»Dein erster Winter?«

Dem Holden klapperten die Zähne. »War nie so weit im Norden«, stieß er abgehackt hervor.

»Wart mal ab, bis es schneit«, sagte der Schiffer voller Schadenfreude. »Da wirst du morgens wach, und deine nassen Haare sind auf dem Deck festgefroren.«

»Das dauert doch noch, oder?«

»Kann niemand sagen. Wenn der Nordwind kommt, dann schlägt das Wetter von einem Augenblick auf den anderen um. Die Kentauren nennen ihn den Klingenwind, denn seine Kälte schneidet dir wie Messer ins Fleisch. Dann wirst du dir wünschen ... «

Er hielt inne. Dann lief er plötzlich zum Bug des Lastkahns. Die Dunkelheit verschluckte ihn. Anderan sah zu den schlafenden Ruderern. Keiner war erwacht. Vom Bug drangen seltsame Geräusche zu ihm.

Er richtete sich auf. Und jetzt sah er, was den Schiffer beunruhigt hatte. Lichter waren auf dem Fluss. Er konnte fünf zählen.

Anderan tastete sich an der Reling entlang zum Bug. Der Schiffer hatte das Öltuch von der dicken Bascha gezerrt. Leise drehte er an der Kurbel, mit der man den Bogen der schweren Armbrust spannte. Jede Drehung wurde von einem metallischen Klacken begleitet.

»Siehst du das?«, flüsterte der Schiffer. »Die Laternen. Sie stehen zu tief. Die sitzen ja mit dem Arsch auf dem Wasser! Das müssen Flöße sein!«

»Wer kann das sein?«

»Früher kam es vor, dass Bauholz den Strom hinab nach Vahlemer geschifft wurde.

Aber da baut keiner mehr. Weder Schiffe noch Häuser. Hier stimmt was nicht. Niemand fährt nachts auf dem Strom. Allerdings leben wir in seltsamen Zeiten. Ich will die anderen nicht wecken und mich am Ende zum Gespött machen. Vielleicht sind es auch Totenflöße. Doch auch die hat es lange nicht mehr gegeben.«

»Totenflöße?«

»Einige der wilden Elfen aus den Wäldern im Norden bestatten ihre Toten, indem sie sie auf Flöße betten. Einmal hab ich ein gestrandetes Totenfloß gesehen. Es war unheimlich. Nicht weit entfernt kauerte ein Elf und wachte über den Toten. Er war ganz nackt und mit rotbrauner Farbe bemalt. Sie überlassen ihre Toten den Tieren und Naturgewalten. Aber wehe, jemand anderes streckt nach ihnen die Hand aus.« Der Schiffer legte einen schweren Bolzen auf die Führungsschiene der Armbrust.

Wahrscheinlich meinte er die Maurawan, dachte Anderan. Solch seltsame Rituale passten nur zu ihnen.

Die Flöße waren jetzt ganz nahe. Dennoch konnte man sie immer noch nicht deutlich erkennen. Die Laternen waren rußverschmiert, ihre Scheiben fast blind. Das Licht erhellte nur ein paar miteinander verbundene Stämme. Der größte Teil der Flöße blieb im Dunkel. Anderan glaubte den Schatten eines Reiters zu sehen.

»Gorbon, tritt von der Armbrust zurück!«

Anderan duckte sich. Die Stimme kam vom Ufer. Sie hatte einen unverwechselbar elfischen Akzent. Es war eine Frauenstimme. Der Holde hatte noch nie gehört, dass jemand den Schiffer mit seinem Namen ansprach.

»Keine Angst, die können uns nicht sehen«, flüsterte Gorbon. »Ist viel zu finster.«

»Tritt von Bascha zurück«, rief Anderan. »Glaub mir, sie sieht dich.«

»Einen Dreck sieht sie.« Er schwang die Armbrust herum. Das Ufer war eine Wand der Finsternis.

»Hau ab, Schlampe, oder ich kitzele dich mit meiner Liebsten.«

Anderan warf sich flach auf das Deck. Einige der Ruderer waren erwacht. »Haltet die Köpfe unten«, schrie der Holde. »Gorbon, bitte ... «

»Ich habe keine Angst. Deshalb bin ich Schiffer. Ich ... «

Ein Zischen schnitt durch die Nacht. Gorbon sank gegen Bascha. Er umklammerte sie mit weit ausgestreckten Armen wie ein Liebender.

Langsam sackte er tiefer.

Anderan kroch auf den Schiffer zu. Eine Windbö drückte gegen den großen Frachtkahn. Der Regen erstarb.

»Gorbon?«

Der Schiffer sank auf das Deck. Ein langer Pfeil ragte aus seiner Brust. Ein Elfenpfeil mit Eulenfedern am Schaft, das sah der Holde auf den ersten Blick. Seit Baidans Tod kannte er sich mit Pfeilen aus. Viele Maurawan glaubten, die Eulenfedern ließen den Pfeil genauso lautlos fliegen wie den Raubvogel.

Etwas schlug auf die Reling. Alle Ruderer hielten sich geduckt. Noch ein Schlag! Etwas zerrte am Kahn. Dann begriff Anderan, was geschah. Enterhaken krallten sich in die Reling.

Der Holde hatte den Schiffer fast erreicht. Der Mund des Toten klaffte weit auf.

Anderan fluchte. Die verdammte dicke Bascha hatte den Narren umgebracht!

Hufe krachten auf das Deck. Ein Kentaur schlitterte über die nassen Planken. Ein zweiter folgte. Eine Fackel flammte auf.

Jetzt sah Anderan, dass er sich geirrt hatte. Es war ein Kentaurenweib, das zuerst an Bord gekommen war. Eine Schimmelstute. Ihr langes, weißblondes Haar war am Hinterkopf zusammengebunden. Sie hob die Plane von einem der Pfeilkörbe. Dann nickte sie ihrem Gefährten mit der Fackel zu.

Anderan ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Die Kentaurin hatte genau gewusst, was für Fracht sie geladen hatten! Jemand musste sie verraten haben!

»Du da!« Das Pferdeweib deutete auf ihn. »Ihr steuert den Kahn zum südlichen Ufer!«

»Ich weiß nicht, wie man das macht. Ich bin nur ein Schreiber. Ich kann kein Boot lenken.« Natürlich war das gelogen. Er hatte bisher zwar nur kleinere Boote gelenkt, aber er hätte es sich durchaus zugetraut.

Die Kentaurin blickte zu den anderen Kobolden. Sie alle hatten sich inzwischen von ihren Nachtlagern erhoben. Mit demütig gesenkten Häuptern standen sie vor der Pfer-dekriegerin. »Und wie sieht es mit euch aus? Jemand dabei, der den Kahn steuern kann?«

»Ihr habt den Schiffer getötet«, sagte Anderan.

»Und ihr werdet bald meine Geduld getötet haben! Erzählt mir nicht, dass es an Bord nur einen Einzigen gab, der diesen Kahn steuern kann.«

Der Holde war sich nicht sicher, was er von ihr halten sollte. Ihr Gesicht war von einer harten Schönheit. Hatte sie ein kaltes Herz? Was würde sie als Nächstes tun? Gorbon war tot, obwohl er einfach nur auf ein dunkles Ufer gezielt hatte.

»Wir können in der Dunkelheit den Ankerplatz nicht verlassen«, erklärte der Holde.

»Es gibt zu viele Sandbänke. Euch ist nicht geholfen, wenn wir den Kahn hundert Schritt vor dem Ufer auf Grund setzen.«

Die Kentaurin beugte sich zu ihm hinab. Sie war wirklich schön, auch wenn sich erste Falten in ihren Mundwinkeln und um die Augen zeigten. »Sagtest du eben nicht, du könntest dieses Boot nicht steuern?«

»Nicht bei Nacht, Herrin. Niemand an Bord kann das. Nicht einmal der tote Schiffer hätte das gewagt.«

»Du hast eine flinke Zunge, Schreiber. Aber gut. Wir sind nicht in Eile.« Sie rief dem anderen Kentauren etwas in einer Sprache zu, die Anderan nicht verstand.

»Warten wir also auf das Morgengrauen.«

Es wurde eine lange Nacht. Noch zwei weitere Pferdekrieger kamen an Bord. Sie trieben Anderan mit den übrigen Kobolden zum Heck. Jetzt, da sie nicht mehr befürchten mussten, entdeckt zu werden, konnten sie endlich ein kleines Feuer in einer Eisenschale entzünden. Sie drängten sich dicht um die Flammen. Niemand wagte, davon zu sprechen, was der Tag bringen würde.

Die Kentauren waren redseliger. Sie unterhielten sich in ihrer Sprache. Die Kriegerin schien beliebt zu sein. Sie scherzte mit ihren Gefährten.

Es herrschte ein lockerer Umgangston, und doch blieb ein Rest respektvoller Distanz.

Der Schwertgurt der Kentaurin war mit prächtigen Türkisen besetzt. Sie trug eine ärmellose Lederweste mit Fellfutter. Zwei Lamassus waren auf die Vorderseite der Weste gestickt. Sie war reich. Je länger Anderan sie betrachtete, desto sicherer war er, schon von ihr gehört zu haben. Eine Kentaurenstute mit weißblondem Haar. Eine Fürstin. Das musste Kirta sein, die Gefährtin des Nestheus. Des Anführers des Aufstands im Windland. Der Verbannte, auf den sein eigener Vater ein Kopfgeld ausgesetzt hatte. Die Geschichten über Nestheus und Kirta waren selbst bis Vahan Calyd gedrungen. In diesen Geschichten war die Kentaurin eine edle, selbstlose Kriegerin. Hoffentlich war etwas dran an dem Garn, das Barden und Märchenerzähler gesponnen hatten.

Kurz vor Morgengrauen frischte der Wind auf. Er kam jetzt von Norden. Und er fühlte sich genauso an, wie der Schiffer ihn beschrieben hatte. Er schnitt wie mit Messern ins Fleisch. Mit dem Wind kam der Schnee. Es waren kleine, staubzarte Flocken, die schmolzen, kaum dass sie das feuchte Deck berührten.

Die Mannschaft fügte sich den Befehlen der Kentaurenfürstin. Sie hoben die Anker und brachten den Lastkahn zum Ufer. Dort warteten noch weitere Pferdekrieger. Sie hatten Lastpferde mitgebracht. Alles war bestens organisiert.

Es dauerte etwas mehr als eine Stunde, die Ladung zu löschen. Fünfzigtausend Pfeile in den Händen der Kentauren! Wie viele Leben würde diese verlorene Fracht kosten?

Während sie die Pfeilkörbe von Bord schleppten, beobachtete sie eine Elfenkriegerin.

Sie hielt sich abseits der Kentauren. Eine schlanke Gestalt mit flatterndem Umhang. Ihr Gesicht war mit Bandag bemalt. Einmal kam Anderan ihr nah genug, um zu erkennen, dass sie sich stilisierte Wolfsköpfe auf die Wangen gemalt hatte. Sie war die Mörderin von Gorbon.

Als der letzte Pfeil von Bord geschafft war, brachte ihnen die Kentaurin einen großen Sack voll mit getrocknetem Büffelfleisch. »Für eure Rückfahrt. Und wenn ich euch einen Rat geben darf: Verkauft den Kahn und kommt nie wieder den Mika hinauf.

Andere Kentaurenführer sind weniger freundlich zu Schiffern, die Pfeile für unsere Feinde bringen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, preschte sie davon.

Die Ruderer beeilten sich, zurück auf den Kahn zu kommen. Doch Anderan nahm sich seinen Teil vom Proviant und blieb am Ufer. Er musste nach Feylanviek. Er musste wissen, wohin die Pfeile hätten geliefert werden sollen. Er hatte einen Verdacht... Aber er brauchte Gewissheit.

Der Schnee begann am Ufer liegen zu bleiben, als der Herr der Wasser sein Bündel schulterte und weiter nach Westen wanderte.

Von der Zukunft berührt

Nikodemus hatte Angst. Die Menschen hier warteten auf den Tod. Sie waren auf eine trotzige Art hoffnungslos. Sie hätten weglaufen können, zumindest einige von ihnen, aber sie taten es nicht. Er hatte dem Gespräch mit dem verwundeten Anführer nicht ganz folgen können, aber so viel hatte er verstanden: Dieser Pirat wollte nicht fliehen und seine Verwundeten den Feinden überlassen. Das war verrückt! Viele hätten entkommen können. Jetzt würden sie alle sterben. Verrückt, aber eindrucksvoll. Der Kerl war ein Pirat und ein Held zugleich. Je länger er reiste, desto unübersichtlicher fand er das Leben. Da war Madra, der Troll, der ihn gemocht hatte.

Und er hatte Emerelle das Leben gerettet, obwohl er geschickt worden war, sie aufzuspüren und dann Meuchler zu ihr zu führen. Gut, genau genommen hatte er auch sich selbst gerettet, als er das Tor mitten auf dem Albenpfad geöffnet hatte ... Aber das Leben war eben verwickelt.

Falrach zog ein grimmiges Gesicht. Ärgerte es ihn, dass hier eine ganze Flotte in sinnlosem Kampf geopfert wurde? Aus ihm war nicht leicht schlau zu werden.

Sie waren zurück zum Kai gegangen und folgten von dort aus nun einer Treppe mit unregelmäßigen Stufen hinauf in die Felsen. Überall waren kurze Steinstelen aufgestellt, um die man bunte Tücher gewickelt hatte. Die Felsen entlang des Weges waren bemalt oder mit Ritzzeichnungen bedeckt. Sie zeigten Schiffe und Krieger, Tiere, verschlungene Muster und Ungeheuer, wie es sie nicht einmal in Albenmark gab. Wie es aussah, hatten einige Besucher des Orakels lange warten müssen, bis sie empfangen worden waren.

Selbst hier bei der Treppe lagen Verwundete. Aber nicht so viele wie unten an der Anlegestelle. Als Nikodemus zurück zur Bucht blickte, war er überrascht, wie hoch sie schon gestiegen waren. Etwas schien sich im Dunst am Horizont zu bewegen. Oder bildete er es sich nur ein? Er hielt einen Augenblick inne. Es war nichts deutlich zu erkennen. Aber er hatte das Gefühl, dass sich dort etwas bewegte. Etwas Riesiges, das fast den ganzen Horizont ausfüllte.

Nikodemus zog sich eine weitere Treppenstufe hoch. Es war eine elende Quälerei!

Auch wenn er die Gestalt eines Menschenkindes angenommen hatte, war er noch sehr klein. So klein, dass ihn einige Krieger misstrauisch angesehen hatten, weil er laufen konnte und auch sonst zu klein für die Dinge war, die er tat. Er reichte den meisten Menschen gerade einmal bis zum Knie. Ihre Kinder schienen wohl größer zu sein, wenn sie laufen konnten.

Endlich erreichten sie den Eingang einer Höhle. Nikodemus rang nach Luft. Seine Waden brannten. Er hatte Mühe, die Verwandlung aufrechtzuerhalten.

»Du bleibst hier und sorgst dafür, dass uns niemand stört, Falrach. Viel eicht werde ich etwas länger mit Samur brauchen. Gazala sind manchmal etwas eigenwillig.«

Nikodemus setzte sich erschöpft hin. Ihm war es recht, eine Pause zu haben.

»Du kommst mit!«

Der Lutin schloss die Augen. »Warum? Ich will meine Zukunft nicht kennen. Ich finde, es lebt sich viel freier ohne Orakelsprüche, die einem auf der Seele liegen.«

»Dann endet deine Freiheit heute!«

Er traute seinen Ohren nicht. »Was ... Du willst mich zwingen?«

»Nein, ich will das nicht. Mir wäre es lieber, wenn du freiwillig mitkämst, einfach, weil ich dich darum bitte. Außerdem könntest du hier draußen im Weg stehen, wenn die Horden der Priesterfürsten die Bucht angreifen. Sieh einmal aufs Meer hinaus.«

Nikodemus wandte sich um. Der Horizont war keine klare Linie. Wasser und Himmel gingen nahezu übergangslos ineinander über. Und inmitten dieser ungewissen Grenze bewegten sich kleine Farbflecke. Wie die Schuppen einer riesigen Schlange sprenkelten sie den Horizont. Und dann begriff er, was sich dort bewegte. Er sah Segel! Eine gewaltige Flotte steuerte auf die Insel zu.

Auch Falrach hatte es gesehen. »Ihr beide würdet mich sehr glücklich machen, wenn ihr euch ein wenig beeilen könntet. Ihr habt vielleicht eine halbe Stunde. Wenn ihr länger braucht, werden die Aussichten schlechter, dass das Orakel euch etwas über eine Zukunft erzählt, die noch über die nächsten zwei Stunden hinausgeht.«

»Kommst du, Nikodemus?«

Er dachte an all die Menschenkrieger, die er gesehen hatte. Er würde keinen einzigen von ihnen aufhalten können. Und im Zweifelsfall könnte man sich in der Höhle wohl besser verstecken als draußen. Waren Orakel nicht unberührbar?

Emerelle trat in die Höhle, und er folgte ihr. Ein leicht abfallender Weg öffnete sich bald zu einer weiten Höhle. Überall waren kleine Öllämpchen aufgestellt. Sie verbreiteten warmes, gelbes Licht.

Eine junge Frau mit streng nach hinten gekämmtem, leicht geöltem Haar saß inmitten der Höhle vor einer Feuerschale, aus der sich blaugrauer Rauch erhob.

»Du wirst das Orakel fragen, was dein Schicksal ist.«

Genau das wollte er nicht. »Kannst du nicht mit ihm reden?«

»Nicht über dich. Samur ist etwas eigenartig. Sie wird nur dir Auskunft über dich geben. Ich werde nicht dabei sein. Aber ich werde sehen, was ich wissen muss, wenn du zurückkommst.«

»Warum soll ich ... «

»Falrach hält dich für sehr bedeutend. Er bereitet ein Spiel vor, in dem du eine wichtige Figur sein wirst.«

»Ein Spiel!« Die beiden waren verrückt! »Das ist doch ... «

»Als er das letzte Mal neue Figuren für sein Falrach-Spiel ersonnen hat, ist ein Drachenkönig gestorben. Unterschätze ihn nicht. Es ist seine Art, das Unmögliche wahr werden zu lassen.«

Nikodemus fragte sich, ob Falrach in seinem Spiel auch gesehen hatte, dass er sterben würde.

»Du träumst davon, so berühmt wie dein Bruder zu werden. Du bist auf dem Weg, auch wenn du es nicht ahnst. Falrach vertraut dir. Ich nicht. Und nun geh! Du weißt, wie wenig Zeit uns bleibt.«

So berühmt wie Elija ... War das möglich? Er sah hinab zu der Priesterin. Sie schien sie nicht einmal bemerkt zu haben. Unverwandt blickte sie in die Glut der Feuerschale.

Er ging hinab. Sie war eine Menschenfrau. Nicht die Gazala! Ihr Gesicht war stark geschminkt. Weiß und dazu blutrote Lippen. Die Augen hatte sie mit Kohle umrandet. Sie sah unheimlich aus.

Erst als er unmittelbar vor ihr stand, hob sie den Kopf.

»Das Kind, das keines ist.« Ihre Stimme klang dunkel. Gar nicht weiblich. »Folge mir.«

Er atmete tief ein. Der Rauch aus dem Becken machte ihn ein wenig schwindelig. Sie wusste, wer er war. Was er war! War sie doch das Orakel?

Sie führte ihn in einen Winkel der Höhle, in dem nur eine verlorene Öllampe brannte.

Dort war ein Becken. Das Wasser war wie ein schwarzer Spiegel. »Sieh dich an!«, befahl sie.

Er musste auf einen Stein klettern, um in das flache Becken blicken zu können.

»Wasche dein Gesicht und streich dir das Haar aus der Stirn. So ein kleines Gesicht. So wenig Platz ...«

Nikodemus gehorchte. Das Wasser war kühl. Er hatte die Worte der Orakelpriesterin nicht richtig verstanden. Hatte sie gesagt: so wenig Platz? Kälte stieg seinen Nacken hinauf.

Die seltsame Frau nahm das Licht vom Wasserbecken. »Folge mir!«

Im tiefen Schatten lag ein Abstieg, der weiter in den Berg führte. Hier brannten keine Lichter mehr. Nikodemus strauchelte zweimal. Die Treppenstufen waren unregelmäßig. Jede hatte eine andere Höhe und Breite. Schließlich nahm die Priesterin ihn bei der Hand.

Endlich erreichten sie halbwegs ebenen Boden. Die Dunkelheit ringsherum war vollkommen. Die Öllampe schnitt nur einen kleinen Lichtkreis. Vor ihnen auf dem Boden lag ein Kissen. Es roch nach Sandelholz und feuchtem Fels.

»Leg dich hier hin. Verrutsche das Kissen nicht. Schließe deine Augen und öffne sie nicht, bis ich dich wieder holen komme.«

»Und das Orakel?«

»Es wird dich berühren, wenn ich gegangen bin.«

Nikodemus spürte sein Herz immer schneller schlagen. Diese Höhle war unheimlich.

Er wollte seine Zukunft gar nicht mehr wissen! Und was sollte das schon wieder hei-

ßen? Das Orakel wird mich berühren!

»Leg dich hin«, sagte die Priesterin sanft.

Er gehorchte.

Sie bettete seinen Kopf auf das Kissen. Es war hart, als sei es mit Kernen gefüllt.

Dunkle Flecken waren darauf. Trocknes Blut?

»Beruhige dich. Du darfst die Augen nicht öffnen, ganz gleich, was auch geschieht.

Hast du das verstanden, kleiner Mann? Öffne nicht die Augen! Es könnte dich sonst dein Augenlicht kosten!«

Sie erhob sich.

»Kannst du das Licht hierlassen?«, bettelte er.

»Wenn du die Augen geschlossen hältst, brauchst du kein Licht. Und wenn du sie vor der Zeit öffnest, wirst du nie wieder ein Licht sehen. Lieg ganz still!«

Nikodemus lauschte auf die leiser werdenden Schritte. Er versuchte seinen Atem zu beherrschen, doch es gelang ihm nicht. Er ging keuchend und unregelmäßig. War da ein Geräusch? Über ihm? Ein Gleiten, als rieben geölte Lederbänder aneinander. Ein ähnliches Geräusch machten die breiten Gurte der Hornschildechsen, wenn die Tiere zu wenig Futter bekommen hatten und das Gurtzeug, das die Plattformen auf ihrem Rücken hielt, nachgezogen werden musste.

Nikodemus wollte die Augen öffnen. Nein!

Etwas berührte sein Gesicht. Etwas Spitzes! Er spürte Atem auf seinem Antlitz. Der Sandelholzduft war stärker geworden. Etwas schwebte über ihm. Da war er sich ganz sicher!

»Was will du wissen?«

Die Worte berührten ihn regelrecht, so dicht war die Sprecherin über ihm. Was hatte Emerelle gesagt? Er wollte gar nichts wissen! Er würde am liebsten fortlaufen, aber er hatte zu große Angst. »Also...« Seine Stimme zitterte. Aber wenigstens erinnerte er sich wieder, was Emerelle gefordert hatte. »Was ist mein Schicksal?«

Stille. Ihr Atem strich über sein Gesicht. Wie lange dauerte das? Er wurde immer unruhiger. Plötzlich stach etwas in seine Wange.

»Was …«

»Halt still oder es ist dein Verderben!«

Und dann berührten ihn tausend Nadeln. Sie stachen überall auf sein Gesicht. So schnell, dass er die einzelnen Einstiche nicht mehr voneinander unterscheiden konnte und das Ganze ein einziger, brennender Schmerz war. Blut und Tränen rannen ihm über die zerschundenen Wangen. Er wimmerte, wagte es aber nicht, sich zu bewegen.

Die Nadeln stachen auch rund um seine Augen! Der Schmerz wurde immer intensiver.

Dann umfing ihn Nacht.

Von der Wahrheit und Schmerzen

Nikodemus ging an der Hand der Priesterin. Er schlurfte kraftlos. Die Frau schob ihn Emerelle entgegen. Sobald die führende Hand losließ, blieb der Lutin stehen. Er hielt die Augen fest zusammengekniffen. Obwohl er sich offensichtlich gerade erst sein Gesicht gewaschen hatte, troff Blut über die helle Haut. Schnörkellose, klare Buchstaben waren ihm ins Gesicht geschrieben. Die Wahrheit. Und sie lautete so, wie Emerelle befürchtet hatte. Sie konnte nicht begreifen, dass Falrach bereit war, dem Kobold zu vertrauen.

Sanft legte sie Nikodemus die Hand auf die Schulter. Der Lutin zuckte zusammen. »Ich bin es. Du musst keine Angst mehr haben. Du kannst die Augen wieder öffnen.«

»Nein! Sie wird sie mir ausstechen. Ich darf nicht ...«

»Es ist vorbei.« Emerelle kniete sich vor ihm nieder. Vorsichtig strich sie über sein Gesicht, gezeichnet von Blut und blauschwarzer Tätowiertinte. Bei der Berührung spürte sie den brennenden Schmerz des Kobolds. Sie würde ihm helfen, wenn sie zurückkam. Jetzt brauchte sie all ihre Kraft. »Es ist vorbei.«

»Es tut so weh. Es ist, als würden die Nadeln immer noch zustechen, als hätten sie ein Feuer unter meiner Haut entfacht.«

Sie führte ihn nahe zum Höhleneingang, wo der Wind, der vom Meer kam, zu spüren war. »Bleib hier und warte. Wenn ich wiederkomme, werde ich dir helfen.«

»Geh nicht dort hinein!« Er hielt sie mit seiner winzigen Kinderhand fest. »Es tut schrecklich weh. Das ist es nicht wert. Geh nicht!«

Einen Herzschlag lang zögerte sie.

Sie blickte auf das Meer. Die Flotte der Priesterfürsten war nun deutlich zu erkennen.

Die Schiffe hatten sich zu einer weiten Sichel formiert. Verwundert sah sie, dass die Galeeren in der Bucht nun doch bemannt wurden. Ein Entkommen war jetzt unmöglich. Diese Entscheidung kam zu spät. Die Flotte aus Iskendria hatte Formation angenommen, die an einen weiten Halbmond erinnerte. Alle Schiffe hielten den gleichen Abstand zueinander. Für Menschenkinder waren sie erstaunlich diszipliniert.

Eine kleine Flottille hatte den Hauptverband verlassen und schien die Bucht umgehen zu wollen. Helme und Speerspitzen funkelten im Sonnenlicht. Vielleicht sollte sie Krieger anlanden.

Der Lutin drückte ihre Hand. »Geh nicht! Sie wird dich quälen!« Hatte Falrach doch Recht? Es war anrührend, wie sehr Nikodemus sich um sie sorgte, obwohl sie es doch gewesen war, die ihn hinab in diese Höhle der Schmerzen geschickt hatte. Sie blickte in sein geschundenes Gesicht, las erneut den Orakelspruch und befreite sich aus seinem Griff. Ihm war nicht zu trauen! Sie musste hinab.

Wie der Lutin wusch sie sich das Gesicht. Die Priesterin sah ihr dabei schweigend zu.

Auf dem Weg hinab vermied Emerelle es, in das Licht der Öllampe zu blicken. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das Dunkel. Die Höhle hatte eine hohe Decke. Etwas hing weit über ihr. Sie konnte es nicht genau erkennen. Dort oben schien es noch einen Zugang zu geben. Sie spürte einen leichten Luftzug. Er trug den Duft von Sandelholz und geöltem Leder zu ihr hinab.

Als sie sich auf den Höhlenboden legte, ermahnte die Priesterin sie streng, auf keinen Fall die Augen zu öffnen. Das Kissen war angenehm hart. Sie entspannte sich.

Lauschte auf die Schritte der Menschentochter. Sie roch den Angstschweiß des Lutin, der das Kissen durchtränkt hatte.

Ein leises Sirren ließ sie die Augen öffnen. Wie eine Spinne glitt Samur von der Decke hinab. Doch statt an einem einzelnen, seidenen Faden hing sie an etlichen Lederbändern, die um ihre Arme, Gazellenbeine und Hüften geschlungen waren. »Ich habe lange auf dich gewartet, gefallene Königin. Du willst wissen, was meine Schwester dir nicht sagen konnte. Und auch diesmal folgen dir Tod und Verderben, so wie im Jadegarten.«

»Du weißt, dass die Flotte der Priesterfürsten nicht um meinetwillen kommt.«

»Ist das nicht ganz gleich? Dort, wo du bist, sind Unruhe und Krieg. Du musst wieder nach Albenmark und deine Krone zurückerobern, um unserer Welt Frieden zu bringen. Das ist dein Schicksal!«

»Willst du mir das auf mein Gesicht tätowieren?«

Die Gazala ließ sich tiefer hinabsinken, bis ihr Gesicht schließlich kaum eine Handbreit von Emerelles Antlitz entfernt war. »Auf deinem Gesicht wird die Antwort auf deine drängendste Frage stehen. Du weißt, meine Gabe ist nicht so stark wie die meiner Schwester. Für mich liefert die Zukunft keine klar umrissenen Bilder. Ich sehe erst im Nachhinein klar, wenn sich all meine unverstandenen Visionen zur Wirklichkeit zusammengefügt haben.

Vielleicht macht mich das auch zu einem echten Orakel, denn ich nehme keinen Einfluss. Stell mir eine Frage, und ich werde sehen. Deine Antwort wird in dein Gesicht geschrieben stehen. So kommt niemand zweimal zu mir. Ich habe für jeden nur eine Antwort, also bedenke deine Frage gut.«

Das Gesicht der Gazala war so dicht vor ihr, dass sie es nicht mit einem Blick erfassen konnte. Sie hatte schöne Lippen. Hörner schwangen sich über ihren Kopf hinweg dem Rücken entgegen. Sie strahlte Macht aus. Ihr Gesicht war bemalt wie das ihrer Priesterin.

»Hast du Angst vor den Menschen dort draußen?«

»Ich weiß, dass meine Priesterin heute sterben wird. Meine eigene Zukunft kenne ich nicht. Ich bin frei von Angst, denn ich bin mit meinem Leben im Reinen. Kennst du dieses Gefühl, Emerelle?«

Sie verschloss sich vor dieser Frage. »Du musst mir keine Antwort ins Gesicht stechen.

Du weißt, im Gegensatz zu den Menschenkindern habe ich die Macht, sie zu löschen.«

»Es geht um den Schmerz, der mit der Wahrheit einhergeht. Der körperliche Schmerz ist nur die Vorbereitung für den Seelenschmerz, den sie stets bereitet. Kannst du auch diesen Schmerz heilen?«

»Manche sagen, meine Seele sei tot und ich hätte tausend Gesichter.«

»Wir beide wissen, was du Ungeheuerliches in dir trägst. Und ich weiß, welche Frage du mir stellen wirst, obwohl du mir eine ganz andere stellen solltest. Und ich weiß auch, warum du diese Frage stellen wirst. Das genügt mir als Beweis, dass deine Seele nicht tot sein kann. Nun schließe deine Augen und frage!«

Emerelle gehorchte ihr. Sie atmete tief ein und lauschte noch einmal in sich hinein. Sie wusste, was Samur gemeint hatte. Aber sie konnte nicht anders, als jene Frage zu stellen, die sie vielleicht zu Ollowain führen würde. »Wenn einer der Alben in unserer Heimat verblieben wäre, wo müsste ich ihn suchen?«

Ein Stich drang in ihre Wange. Es brannte. Die Elfe spürte, wie ihr Tinte unter die Haut drang. Ein zweiter Stich ... Und dann in schneller Abfolge Hunderte. Sie verschloss sich gegen den Schmerz. Reiste in Gedanken an jene Orte, an denen sie glücklich gewesen war. Sie entfloh. Ihre Gedanken waren ein Kaleidoskop des Glücks.

»Emerelle!«

Mit der Stimme kam der Schmerz zurück. Er überfiel sie mit solcher Heftigkeit, dass ihr übel wurde. Über ihr schwebte Samur. Deutlich sah die Elfe die Handschuhe der Gazala. Die Fingerspitzen waren besetzt mit feinen Nadeln. Manchmal nur eine einzelne. Öfter waren es ganze Gruppen.

»Du warst sehr weit fort.«

Emerelle nickte. Ihre Wangen schienen in Flammen zu stehen.

»Du solltest dich beeilen, zu deinen Gefährten zu kommen. Flieh auf die andere Seite der Insel. Dort gibt es ein kleines Fischerdorf. Ihr werdet Boote finden.«

»Und du?«

Die Gazala streckte sich in ihren Gurten. »Ich werde mich in mein Versteck zurückziehen und hoffen, dass sie mich nicht finden werden. Sie werden meine Dienerin töten. Sie will nicht fortgehen, obwohl sie es weiß.«

Die Elfe dachte daran, dass Orakel niemals ihren eigenen Tod sehen konnten, und fragte sich, ob die Gazala sich etwas vormachte. »Du könntest mit uns nach Albenmark kommen.«

Samur lächelte. »So lange habe ich mich danach gesehnt. Aber jetzt ist meine Schwester tot. Ich habe mein Band zu unserer Welt verloren.

Ich werde hierbleiben.«

»Du weißt, warum ich dich verbannt habe?«

Sie glitt einige Handbreit nach oben. »Ich weiß, dass ich dir Ärger bereitet habe. Es würde wieder geschehen, wenn ich in Albenmark wäre. Ich bin ein Orakel. Ich sage immer die Wahrheit.« Mit diesen Worten glitt sie ins tiefe Dunkel unter der Höhlendecke.

Emerelle eilte hinauf zum Becken und wusch sich das Gesicht. Sie versuchte zu lesen, was in ihrem Angesicht stand, aber sie konnte die Schrift nur undeutlich erkennen.

Ungeduldig lief sie zum Eingang der Höhle. Die Priesterin stand dort bei Falrach und blickte hinaus auf das Meer. Der ungleiche Kampf hatte begonnen.

Eine Flammensäule schoss fast waagerecht aus dem Bug eines der iskendrischen Schiffe. Sie verfehlte knapp die Galeere mit den Purpursegeln. Dafür setzte sie das Wasser in Brand.

»Das muss destilliertes Steinöl sein«, sagte Falrach sachlich. »Es ist mit Wasser nicht zu löschen. Ich glaube, sie haben die Bucht verlassen, weil Flut ist. Wenn die Isken-drier dieses Öl ins Wasser gegossen hätten, wäre es vom Meer in die Bucht getrieben worden. Sie hätten die ganze Flotte verbrennen können, ohne dass es auch nur zu einem Kampf gekommen wäre.«

»Was steht in meinem Gesicht?«

Falrach drehte sich um. Sie sah ihm sein Entsetzen an. »Was steht dort?«

»Du siehst fürchterlich aus. Wie konnte sie das tun! Wie sehr sie dich hassen muss.«

»Was …«

Er legte ihr die Hand auf den Mund. Dann zog er sie an sich und küsste sie auf die Stirn. »Ich liebe dich«, sagte er sanft. »Wirf dein Leben nicht leichtfertig fort. Bitte ... Ich…«

Falrach hatte es schon immer verstanden, sich die un passendsten Momente für seine Liebeserklärungen auszusuchen. »Was ... «

Wieder strich er ihr über die Lippen. »>Auf dem Albenhaupt ruht der Alben Haupt.< Das hat sie dir ins Gesicht geschrieben. Verdrehte Orakelprosa, die alles und nichts bedeuten kann.«

»Nein! Das heißt, der Sänger ist dort. Er ist nicht gegangen, genau wie ich es erhofft hatte!«

»Es könnte genauso gut bedeuten, dass er tot ist und sein Leichnam dort beigesetzt ist.

Und ganz gleich, was es heißt, niemand kann den Gipfel des Albenhauptes erreichen.

Keine Albenkinder und kein Menschenkind. Alle, die es versucht haben, sind verschollen. Bitte tu das nicht! Geh nicht dorthin! Oder sag mir, dass es sich in den langen Jahren, die ich nicht hier war, geändert hat.«

»Man kann dort hinauf.« Emerelle wusste, dass er Recht hatte. Niemand hatte je den Gipfel dieses geheimnisvollen Berges erklommen. Von jenen, die es versucht hatten -

und das waren viele gewesen -, war niemand zurückgekehrt. Nicht einmal die mächtigen Schwarzrückenadler wagten es, in der Nähe des Berggipfels zu fliegen.

»Was steht in mein Gesicht geschrieben?«, fragte Nikodemus leise. Der Lutin hatte die Augen jetzt geöffnet. Er blinzelte, als sei ihm ein Staubkorn in die Augen gekommen.

Blut und Tränen hatte dunkle Bahnen auf seinen Wangen hinterlassen.

»Du solltest nichts auf Samur geben. Sie war blind vor Hass«, sagte Falrach.

»Jene, die mir vertrauen, werde ich verraten/ Das ist es, was dort steht. Ich werde die Schrift auslöschen können.« Es war genau das, was Emerelle von dem Lutin erwartet hatte. Sie würde ihm niemals vertrauen. Er war der Bruder von Elija Glops, dem größten Aufwiegler, der je aus den Völkern der Kobolde erwachsen war.

»Ich vertraue dir«, sagte Falrach trotzig. »Und nun kommt, sonst gibt es kein Entrinnen mehr.«

Emerelle blickte aufs Meer. Das Schiff mit den Purpursegeln hatte die erste Reihe der gegnerischen Galeeren durchbrochen. Es war das einzige Schiff der Piratenflotte, das es geschafft hatte. Die Übrigen brannten oder waren in Entergefechte verstrickt. Drei Galeeren aus der zweiten Reihe versuchten den Piratenfürsten zu stellen.

»Wir können nicht hoffen, mit unserem Boot zu entkommen«, sagte Falrach. »Und die Iskendrier werden uns nicht fragen, ob wir vielleicht nur Besucher des Orakels waren.

Sie werden jeden in dieser Bucht töten. Wir müssen über die Berge zur anderen Seite der Insel fliehen. Das ist unsere einzige Hoffnung.«

Und du glaubst nicht an die Prophezeiungen von Orakeln, dachte Emerelle und folgte ihm auf einem schmalen Pfad in die Berge. Dabei dachte sie an die Schiffe, die sich vom Hauptverband der Flotte getrennt hatten. Hatten sie die Küste schon erreicht? Wo würden sie die Krieger anlanden?

Gefrorene Hundehaufen und Strandgut

»Nimm das! Stirb, hinterhältiger Troll!«

»Ha, mein alter Hund schnappt ja schneller als du!«

»Geschwätz hilft dir nicht mehr!«

Kadlin lauschte auf den schnellen Wechsel von Schlägen, der den Worten folgte. Sie lehnte an einem Felsen, den die Mittagssonne erwärmt hatte, und blickte auf den Fjord hinaus. Die Abendstunde war nicht mehr fern. Schon glitten lange Schatten über die fernen Berghänge. Ein stetiger Südwind verfing sich im Fjord und trieb das dunkle Wasser in kleinen Wellen gegen das Ufer.

Am Kai der kleinen Stadt lag ein unförmiges Frachtschiff, das vor einer Stunde erst angelegt hatte. Fässer und Säcke stapelten sich. Morgen würden sie das Apfelfest feiern. Ihr Vater Alfadas hatte es eingeführt. Und inzwischen war es Sitte geworden, dass sich an diesem Tag jeder auf Kosten des Königshauses den Bauch vollschlug. Das Fest verschlang ein Vermögen. Allein zehn Ochsen würden morgen gebraten. Dreißig Fass Apfelwein standen bereit und noch einmal dieselbe Menge an Bier. Kadlin fürchtete, dass es nicht reichen könnte. Seit Tagen versuchte sie, noch weitere Vorräte aufzutreiben. Vielleicht brachte das Schiff ja Hilfe. Sie betrachtete die Waren am Kai.

Die Fässer waren klein. Das waren wohl eher gesalzene Heringe.

»Du schummelst!«, erklang lauthals eine Mädchenstimme. »Kein Troll ist so flink!«

Dann kam sie um den Felsen gelaufen. Einer ihrer Zöpfe hatte sich gelöst. Ein roter Striemen lief quer über ihren Unterarm. Ihre Augen funkelten vor Zorn. Der Hieb auf den Arm hatte sicherlich wehgetan. Aber das war es nicht, was sie wütend machte.

»Conlyn ist ein Blödmann!«

Kadlin strich ihrer Tochter durch das zerzauste Haar. »Was ist denn passiert?«

»Der ist so flink wie ein Wiesel. Wir haben gespielt, dass er ein Troll ist und ich eine ruhmreiche Kriegerin, so wie du, Mama.«

Die Königin lächelte, aber sie nahm sich fest vor, herauszufinden, welcher Tunichtgut ihrer Tochter die falschen Heldengeschichten über den Trollkrieg erzählte. Vielleicht war es ihr Großvater Lambi?

Conlyn kam zu ihnen. Er ließ spielerisch sein Holzschwert wirbeln.

»Angeber!«, zischte Swana ihn an.

Der Junge hatte langes schwarzes Haar, ganz wie seine Mutter. Er war mehr als einen halben Kopf kleiner als Swana, obwohl er nur fünf Monde jünger war. Von zierlicher, drahtiger Gestalt, bewegte er sich mit einer Anmut, die jeden aufblicken ließ. In seinen Augen funkelte der Schalk. »Du wirst nie eine Trollkämpferin, wenn du es nicht einmal schaffst, mit mir fertigzuwerden.«

»Ich werde einmal eine Königin sein, du eingebildetes Langohr. Und dann wirst du sehen, wie ich mit dir fertig werde.«

»Pah, Titel sind nur Worte.«

Swana machte einen überraschenden Ausfall. Selbst Kadlin war überrascht vom plötzlichen Zorn ihrer Tochter. Doch Conlyn wich mit einer grazilen Drehung aus und versetzte Swana einen Klaps auf den Hintern. Ihre Tochter strauchelte. Sie schlug der Länge nach hin. Kadlin wollte sich schon nach ihr bücken, da sah sie, wie das Mädchen ihr verstohlen zuzwinkerte.

Conlyn hatte das nicht sehen können. Als sie sich nicht regte, wurde er schließlich unruhig. »Was ist mit ihr?«

»Sieht so aus, als hättest du sie gründlich besiegt.« Es kostete Kadlin alle Mühe, ernst zu bleiben.

»Aber ich habe ihr doch nur ganz leicht auf den Hintern geklatscht. Das kann doch nicht ... «

»Menschenfrauen sind da sehr empfindlich.«

Conlyn beugte sich über Swana. Er strich ihr Haar zur Seite, um ihr Gesicht zu sehen.

In dem Moment fuhr das Mädchen herum. Sie tippte sacht mit dem Holzschwert auf die Brust des Elfenjungen. »Flink sein allein reicht manchmal nicht«, stieß sie kichernd hervor.

Conlyn sah beleidigt zu Kadlin auf. »Du hast gewusst, dass sie das tun würde.«

Kadlin lächelte. »Mädchen halten eben zusammen.«

»Du bist kein Mädchen. Du bist eine Königin«, brummte er. »Das gehört sich nicht.«

»Den Spruch >Das gehört sich nicht< habe ich, glaube ich, an jedem Tag seit meiner Krönung mindestens einmal zu hören bekommen. Aber ich muss dir danken. Du bist ein guter Fechtmeister, Conlyn. Es freut mich, dass du meiner Tochter Unterricht gibst.«

Er war immer noch wütend. Er zog eine Grimasse. »Sie hat kein Talent. Sie ist so steif wie ein gefrorener Hundehaufen.«

Kadlin schluckte kurz. Ihr war klar, dass Conlyn jetzt in einem Alter war, in dem er sich an den fantasievollsten Flüchen versuchte. Sie konnte ihm ansehen, wie sehr er darauf wartete, dass sie ihn schalt. Der kleine Elf hockte genau wie ihre Tochter gerne in Lambis Langhaus und hörte sich die Geschichten des Alten an. Dieser Fluch hörte sich verdächtig nach Lambis Worten an.

»Und du hast Umgangsformen wie ein gefrorener Hundehaufen«, empörte sich ihre Tochter an ihrer Stelle.

Conlyn hob herausfordernd das Holzschwert. »Sag das noch mal!«

»Königin?« Answin, der Befehlshaber ihrer Leibwache, und ein korpulenter Fremder kamen das Ufer hinunter. Die zwei schleppten eine große Holzkiste.

Die beiden Streithähne waren endlich stil .

»Was gibt es?«

»Ein Geschenk von Finn, dem Jarl von Stayndam bei Gonthabu! Nicht weit von der Stadt ist ein großes Handelsschiff gestrandet. Es war niemand mehr an Bord. Das war während des schweren Sturms in der letzten Woche. Wahrscheinlich haben die Seeleute sich lieber den Booten anvertraut als dem entmasteten Schiff.«

Kadlin sah den Jarl von Stayndam forschend an. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen oder auch nur seinen Namen gehört. »Ich hoffe, es brannten keine falschen Leuchtfeuer an der Küste.«

Der Jarl war ein korpulenter Mann in mittleren Jahren. Er hatte ehrliche graue Augen.

»Was denkt Ihr, Königin. Manchmal holen wir uns etwas mit dem Schwert, wie es schon unsere Vorväter taten. Aber auf diese Weise ...« Er schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Wir sind doch keine Aldarviker! Wir sind keine Schmuggler und Strandpiraten!«

»Was hatte das Schiff geladen?«

»Stoffe und Kleider, Herrin. Ein wahrer Schatz.« Er blickte auf die Kiste und lächelte.

»Ihr solltet es einmal ansehen. Solche Stoffe finden sich im ganzen Fjordland nicht.

Diese leuchtenden Farben ... «

»Bitte, Mutter, mach die Kiste auf«, bettelte Swana.

»Hier am Ufer?«

»Bitte!«

Auch Conlyn reckte neugierig den Hals. Wenigstens hatten die beiden vergessen, sich weiter wie betrunkene Schankmaiden anzugiften.

»Setzt die Kiste ab«, befahl sie gut gelaunt. »Mir scheint, ihr kamt gerade zur rechten Zeit, um den Ausbruch eines Krieges zwischen Albenmark und dem Fjordland zu verhindern.«

Der Jarl lächelte. »Ihr werdet es nicht bereuen, Herrin.«

Auch Kadlin war jetzt neugierig. Gespannt sah sie zu, wie der Fremde das schwere Schloss der Kiste öffnete. Als er den Deckel aufklappte, strahlte sie ein Stoff an, so strahlend gelb wie die Sonne am Sommerhimmel.

»Ihr müsst es berühren, Herrin.«

Kadlin kniete nieder. Sie streichelte über das Gelb. Auch Swana streckte die Hand aus.

»Bitte, nimm es heraus. Lass es uns ansehen!«

Ein leicht muffiger Geruch haftete dem Kleid an. Wahrscheinlich war der Stoff feucht geworden. Kadlin nahm das Kleid und hielt es vor ihre Brust.

Answin schnalzte mit der Zunge. Kadlin strafte ihn mit einem strengen Blick, doch der Hauptmann der Leibwache grinste nur. »Das sieht aus wie für euch gemacht, Herrin.

Vielleicht müsste es um die Hüften etwas enger sein, aber die Länge stimmt.«

»Man schnürt es auf dem Rücken«, belehrte Swana ihn. »Es wird ganz ohne Änderungen passen.« Sie beugte sich über die Kiste und holte ein zweites Kleid heraus, das von einem lichtem Blau war. Ganz wie Kadlin hielt sie es sich vor die Brust und drehte sich dann keck.

»Du siehst aus wie ein Nachtalb, der die Kleidertruhe eines Trolls geplündert hat. Das ist viel zu groß für dich.«

Swana vergrub ihr Gesicht im Stoff. »So weich wie Blütenblätter«, seufzte sie.

»Weiter unten in der Truhe sind Kleider, die euch noch besser passen werden, Prinzessin«, sagte Jarl Finn freundlich.

Swana war nicht zu halten. Sie wühlte mit einem Jauchzen in der Truhe. Alle Farben des Regenbogens schienen in der dunklen Holztruhe gefangen zu sein.

»Haben wir etwas verpasst?«

Kadlin zuckte kurz zusammen, obwohl die Stimme ihr wohlvertraut war. Melvyn und Leylin waren zum Strand des Fjordes gekommen. Es war unheimlich, dass sie sich selbst auf dem groben Kies am Ufer völlig lautlos bewegen konnten. Leylin erschien ihr ein wenig verlegen. Das lange schwarze Haar trug die Elfe jetzt offen. Kadlin entdeckte ein welkes Blatt zwischen den schweren Strähnen. Wie ein Umhang umschloss sie ihr Haar. Ihr Kleid war ein wenig in Unordnung. Als sie Kadlins prüfende Blicke bemerkte, zupfte die Elfe es errötend zurecht.

Melvyn grinste frech. Ihn störte nicht im Mindesten, dass man erraten konnte, was die beiden im Wald getan hatte, während Conlyn sich mit Swana duellierte. Seine Fröhlichkeit drang einem wie ein Pfeil ins Herz. Kadlin musste einfach lächeln. Ein wenig beneidete sie die beiden. Sie hatte in all den Jahren keinen neuen Mann er-wählen wollen, obwohl ihre Jarls keine Gelegenheit ausließen, sie wie eine Zuchtstute anzupreisen.

Unter all den Männern, die in den letzten elf Jahren um ihre Hand angehalten hatten, war keiner wie Björn. Sie dachte an ihre erste Begegnung mit Björn Lambison, den eitlen Stutzer im Gefolge des Prinzen Ulric. Sie beide waren gleich bei ihrem ersten Treffen aneinandergeraten. Seid ihr so arm, dass du die alten Hosen deines Vaters auftragen musst, Mädchen? Das war das Allererste, was er zu ihr gesagt hatte. Ein Wort gab das andere, und ein paar Augenblicke später hatte sie ihn mit einem Kinnhaken in den Staub geschickt. Sie hatte nicht gerade ritterlich gekämpft. Aber Björn hatte die Niederlage vor den Augen seiner Kameraden und des Prinzen wie ein Ehrenmann genommen. Ja, er hatte sie vor aller Augen eingeladen, ihr ein Kleid als Wiedergutmachung zu schenken.

Schweren Herzens blickte sie auf die Kleidertruhe. Sie vermisste Björn auch nach all der Zeit noch. Manchmal, wenn Swana lachte, sah sie sein Gesicht in den Zügen des Mädchens.

Ein heller Freudenschrei riss sie aus ihren melancholischen Gedanken. Swana hatte ein dunkelblaues Kleid gefunden, das mit silbernen Blättern bestickt war. »Das werde ich morgen auf dem Fest tragen! Ist es nicht wunderschön?«

»Du siehst wahrlich wie eine Prinzessin aus«, sagte Leylin mit schwerem Akzent. Die Sprache des Fjordlands ging ihr immer noch schwer von den Lippen. »Die Farbe passt gut zu deinem schönen weißen Haar. Du musst allerdings den Saum noch etwas kürzen. Wenn du magst, helfe ich dir dabei.«

Melvyn blickte etwas unglücklich drein, sagte aber nichts.

»Bitte, bleib bis nach dem Fest«, sagte sie leise.

Er rollte mit den Augen. Aber Kadlin wusste nur zu gut, dass er Leylin nichts ausschlagen konnte. »Du könntest den ganzen Winter bleiben.«

»Elfen im Winter wecken schlechte Erinnerungen bei deinen Leuten.«

»Das ist so lange her ...«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist unvergessen. Ich sehe, wie sie mich anschauen. Auch Leylin merkt es. Wir sind den Deinen unheimlich, auch wenn du davor die Augen verschließt.«

»Ich könnte nach Conlyn sehen. Dann habt ihr mehr Zeit für euch«, sagte sie mit verschwörerischem Lächeln.

Leylin schien es gehört zu haben. Jedenfalls wurde sie erneut rot.

»Nein, Kadlin. Wir kommen nächsten Sommer zurück. Aber nach dem Fest müssen wir aufbrechen. Es hat in den Bergen schon zu schneien begonnen. Wenn wir zu lange warten, kommen wir nicht mehr über die Pässe.«

Der Blick zur Möwe

Nikodemus lehnte keuchend an einem Fels. »Ihr könnt mich zurücklassen«, stieß er atemlos hervor. »Ohne mich werden die euch niemals fangen. Ich weiß, wie sehr ich euch aufhalte.«

Falrach wollte davon nichts hören. Sie würden es irgendwie schaffen. »Was das angeht, habe ich dieselbe Auffassung wie der Piratenprinz. Wir lassen niemanden zurück!«

»Das hat den Prinzen das Leben gekostet.«

»Das wissen wir nicht«, sagte Emerelle ruhig. »Geht es wieder ein Stück?«

Nikodemus raffte sich auf, doch es war unübersehbar, dass der Lutin am Ende seiner Kräfte war.

Falrach blickte über den Felsen, hinter dem sie sich in Deckung gekauert hatten. Weiter unten auf der Bergflanke konnte er zwei Verfolgertrupps ausmachen. Das Gelände war unübersichtlich. Tiefe Furchen und kleine Zedernwälder lieferten Deckung. Er musste den Iskendriern zugestehen, dass sie ihn überrascht hatten. Ihm war nicht entgangen, dass sich eine kleine Flottille vom Hauptverband der Flotte gelöst hatte. Als sie bis zur Dämmerung unbehelligt geblieben waren, hatte er gehofft, den Truppen der Priesterfürsten entgangen zu sein. Ja, er hatte sogar zugestimmt, ein Nachtlager zu suchen. Sie hatten sich nur ein paar Stunden Ruhe gegönnt.

Als sie am nächsten Morgen zu den Dörfern auf der anderen Seite der Insel hinabsteigen wollten, hatte sich offenbart, wie entschlossen und systematisch die Iskendrier vorgegangen waren. In jedem kleinen Fischerdorf lagen Kriegsgaleeren vor Anker. Und auf allen Pfaden, die man von der Höhe der Berge aus einsehen konnte, bewegten sich Krieger, die offenkundig von ortsansässigen Führern begleitet wurden.

Sie saßen in der Falle. Mit Vernunft allein war dieses Vorgehen der Iskendrier nicht zu erklären. Es war der blanke Fanatismus. Sie wollten niemanden aus der Piratenflotte entkommen lassen. Alle sollten für den Tod des Promachos büßen.

»Ich nehme dich auf die Schultern, Nikodemus.«

»Du wirst zu langsam. Lass mich zurück.«

Der Elf sah dem Lutin in das verschorfte Gesicht. Er hatte noch immer die Kindergestalt angenommen, weil sie hofften, dass ein Kind vielleicht verschont würde, falls man sie umstellte. Eine fuchsköpfige Missgeburt durfte nicht auf Gnade vor den Schwertern der Krieger hoffen. Falrach las wieder die Tätowierung. Jene, die mir vertrauen, werde ich verraten. Er mochte das einfach nicht glauben! Es entsprach nicht dem Bild, das er sich von dem Lutin gemacht hatte.

»Los jetzt, vertun wir unsere Zeit nicht mit Reden!« Ohne auf eine Antwort zu warten, hob er den Kobold hoch auf seine Schultern. »Wenn wir es schaffen, uns bis zur Dämmerung vor ihnen zu verstecken, dann werden wir ihnen entkommen.«

Emerelle hatte die Augen geschlossen. Sie wirkte völlig entrückt, wie so oft in letzter Zeit. Falrach wünschte, sie würde sich ihm mehr anvertrauen, doch sie schien entschieden zu haben, all ihre Sorgen mit sich allein auszumachen.

»Herrin!« Er berührte sacht ihre Schulter. Als sie die Augen aufschlug, wirkte sie einen Herzschlag lang verwirrt. Dann wurde ihr Blick klar. Hatte sie ihre Seele fliegen lassen?

»Eine halbe Wegstunde hinter uns ist ein großer Trupp Bewaffneter. Sie kommen genau in unsere Richtung. Und wenn wir dem Pfad weiter folgen, werden wir sehr bald auf eine andere Truppe Krieger treffen. Das Gelände ist so steil, dass wir abseits der Wege nicht weit kommen werden.«

»Dann würde ich vorschlagen, dass ihr beide euch in Vögel verwandelt. Allein werde ich schon durchkommen.«

»Wie war das mit dem Wir-lassen-niemanden-zurück? Nein, Schwertmeister. Wir gehen zusammen.«

»Ganz meine Meinung«, stimmte Nikodemus auf seinen Schultern zu.

Falrach erinnerte sich nur zu gut, wie wenig es nützte, mit Emerelle zu reden, wenn sie einmal einen Entschluss gefasst hatte. Man musste sie überzeugen, bevor sie eine Entscheidung fand. Und das ging nur, wenn man mögliche Probleme früher als sie erkannte, sie dann ganz behutsam auf den richtigen Weg führte und sie der Illusion überließ, sie sei es, die diesen Weg gewählt habe. Früher einmal war er sehr gut darin gewesen, sie auf diese Weise zu führen. Aber sie hatte sich verändert. Und er auch.

Ihm fiel es schwerer, Entscheidungen zu treffen. Manchmal hatte er das Gefühl, er sei nicht er selbst. Ob das Ollowain war? Formte sich das neue Bewusstsein des Schwertkämpfers heran? Wie lange würde er brauchen, bis er seinen Körper wieder in Besitz nehmen konnte?

Falrach ließ den Blick über die karge Berglandschaft schweifen. Sie hatte eine wilde Schönheit, auch wenn es hier für seinen Geschmack zu heiß für einen Herbsttag war.

Er sollte den Augenblick leben. Irgendwann würde er einfach hinter Ollowain zurücktreten. Wie das wohl war? Wäre er dann ein unbeteiligter Zuschauer, gezwungen, dem Leben Ollowains beizuwohnen, ohne Einfluss darauf nehmen zu können? Oder würde er ganz verblassen?

Er betrachtete Emerelle, die vor ihm auf dem engen Ziegenpfad ging. Sie setzte ihre Schritte sicher und ohne zu zögern. Jede ihrer Bewegungen war von Anmut. Sie war eine wunderschöne Frau. Es war leicht, sich in sie zu verlieben. Unter dem Kopftuch, mit dem sie ihre Ohren verbarg, lugten zwei Strähnen ihres braunen Haars hervor.

Leicht eingerollt schwangen sie mit jedem ihrer Schritte. Er dachte an ferne Liebesnächte, als er sein Gesicht in diesem Haar verborgen hatte. Er konnte sich noch daran erinnern, wie es roch. Lieber als jedes Parfüm hatte er den Duft des Waldes darin gemocht.

Er dachte an ihr Liebespiel in dem Bergbach im Verbrannten Land. Er vermisste es, sie zu berühren. Er vermisste es, bei ihr zu liegen. Falrach wusste nur zu gut um seine Schwächen. Er brauchte es, geliebt zu werden. Nicht allein das Gefühl. Nein, er brauchte es, eine Frau in den Armen zu haben, die sich ihm ganz hingab. Er hätte Nailyn besitzen können. Sie war eine wunderbare Tänzerin gewesen. Allein die Erinnerung daran, wie sie sich an ihn geschmiegt hatte, als sie inmitten dieses seltsamen blauen Meeresglühens schwebten, erregte ihn. Sie hatte ihn gewollt, und sie war sehr verführerisch gewesen. Ein wenig bereute er es, sie zuletzt zurückgewiesen zu haben. Er hatte sie gewollt. Mit jeder Faser seines Körpers. Und sie hatte das gespürt. Es war nicht zu verbergen gewesen, als sie nackt miteinander getanzt hatten.

Dennoch war Falrach auch stolz, ihr widerstanden zu haben. Nein, sich widerstanden zu haben. Jenem unseligen Begehren nach körperlicher Liebe. Dem Verlangen nach der Ekstase einer erfüllten Liebesnacht. Er wollte Emerelle. Wieder blickte er auf ihre Haare. Vielleicht würde er ihr nie mehr näher kommen als in diesem Augenblick.

Plötzlich blieb sie stehen. Ein Stück voraus weitete sich der enge Pfad. Im Schatten einiger Zedern rastete ein Trupp Krieger. Sie hatten die Helme abgenommen. Es waren acht Gewappnete und ein Bauer.

»Lass mich mit ihnen reden«, befahl Emerelle.

Falrach haderte mit sich, so tief in Gedanken gewesen zu sein, dass er überrascht worden war.

Emerelle ging den Kriegern entgegen. Jetzt hatte man sie bemerkt. Einer sagte etwas, und die anderen lachten. Zumindest fühlten sie sich nicht bedroht, dachte Falrach. Das war gut. Und warum hätten sie auch beunruhigt sein sollen? Sie sahen ja nur eine Frau und einen Mann, der zwar bewaffnet war, aber seine auf den Rücken gegürteten Schwerter nicht ziehen konnte, solange er ein Kind auf den Schultern trug.

»Wir haben das Orakel besucht, wie du sehen kannst, ehrwürdiger Krieger. Wir tragen seine Zeichen in unserem Angesicht und haben mit den Piraten, die ihr sucht, nichts zu schaffen.«

Der Mann, den sie angesprochen hatte, schien der Anführer zu sein. Er war von stämmiger Figur. Sein Bronzepanzer und seine Beinschienen waren, nach menschlichen Maßstäben, von vorzüglicher Qualität. Er hatte fleischige, vorgestülpte Lippen, die nicht recht zu seinen markanten Gesichtszügen passen wollten. Zu den harten grauen Augen, dem blauschwarzen Bartschatten auf seinen Wangen und dem schütterer werdenden Lockenhaar mit den ergrauten Schläfen.

»Warum seid ihr hier? Euer Boot liegt doch sicher in der Bucht des Orakels. Warum lauft ihr davon, wenn ihr nichts mit den Piraten zu schaffen habt?«

»Mein Mann hatte Sorge, dass die Edlen Iskendrias sich nicht mit Fragen aufhalten würden wie du, mein Fürst. Er glaubte, nach den Kämpfen würden sie alle töten, die sie in der Bucht finden. Deshalb hat er entschieden, dass wir über die Berge fliehen und uns später ein Fischerboot mieten, das uns zurück in unsere Heimat bringt.«

Der Iskendrier sah abfällig zu ihm hinüber. »So, dein Kinderträger fällt also solche Entscheidungen. Dabei bist du es, die vorne geht. Und du bist es auch, die mit mir redet. Wie passt das zusammen?« Einige der Krieger lachten.

»Du bist ein kluger Mann, dem auch die kleinen Dinge nicht entgehen«, antwortete Emerelle höflich, doch glaubte Falrach einen leichten, gereizten Unterton wahrzunehmen. Unwillkürlich musste er an die Gerichtshalle in Feylanviek denken.

»Da ich tatsächlich mit den Piraten nichts zu schaffen habe, gibt es eine leichte Erklärung. Wir kommen aus Marcilla. Mein Mann versteht die Sprache, in der wir beide uns unterhalten, nur lückenhaft. Also bin ich es, die redet. Und ... « Sie senkte scheinbar verlegen den Kopf. »Ich gehe vorne, weil mein Mann gern den Schwung meiner Hüften betrachtet.«

Die Krieger brachen in schallendes Gelächter aus. Nur ihr Anführer nicht.

»Du sprichst leichthin über deine Reize, Weib. Und deine Antworten kommen zu schnell und sind zu klug. Soll ich dir sagen, was ich von dir halte? Mein Priesterfürst Promachos wurde von einem Weib ermordet, das sich sein Vertrauen erschlichen hatte. Oder sagen wir es geradeheraus: von einer Hure, deren Liebeskünste ihn nur noch mit seinem Schwanz denken ließen. Ich bin ihr nie begegnet, aber es heißt, sie sei eine zierliche, schöne Frau von schnellem Verstand und dunklem Haar gewesen. Eine Frau, die wusste, wie man Männerherzen gewinnt. Dieses Weib ist zu Fürst Tigranes geflohen, nachdem sie ihre Bluttat in Iskendria beging. Wir suchen sie seit Jahren. Wie es scheint, muss sie gemeinsam mit dem Piratenprinzen geflohen sein. Und nun steht vor mir eine schöne, zierliche Frau, die auch noch klug zu sein scheint...«

»Und wenn doch wahr wäre, was ich gesagt habe?«

»Du musst das von unserer Warte aus sehen, schöne Frau.« Er bedachte sie mit einem anzüglichen Lächeln. Falrach sah, wie Emerelle sich spannte. Auch er bewegte die Schultern, damit Nikodemus sich vorbereitete, zu springen.

»Für jeden Piraten, den wir in den Bergen aufspüren, bekommen wir ein Goldstück.

Wenn ich mir gar keine Gedanken über die Wahrheit deiner Geschichte mache, halte ich drei Goldstücke in der Hand. Solltest du aber die Frau sein, nach der gesucht wird, so werde ich tausend Goldstücke erhalten, wenn ich dich ausliefere. Und solltest du die sein, für die ich dich halte, muss es wohl außerordentliches Vergnügen bereiten, dich zu nehmen. Eine Freude, die ich auch meinen Männern nicht vorenthalten möchte, denn wir alle sind schon sehr lange auf unseren Schiffen und wissen kaum noch, wie es sich anfühlt, zwischen den Schenkeln einer Frau zu liegen.«

»Glaubst du, ich würde mir das Gesicht tätowieren lassen, wenn ich darauf angewiesen wäre, von meiner Schönheit zu leben?«

»Ich glaube, du würdest alles tun, um dem zu entgehen, was die Priesterschaft mit dir anstel en wird, um den Tod von Promachos zu rächen.«

»Du siehst also keine Möglichkeit, uns einfach ziehen zu lassen?« Emerelle hatte sich ein wenig geduckt, so als spreche sie in unterwürfiger Demut.

»Ich wäre dumm, es zu tun.«

»Siehst du die Möwe dort oben?«

Der Krieger blickte auf. In dem Moment griff Emerelle nach seinem Schwert. Sie zog es und durchschnitt mit fließender Bewegung den gereckten Hals. »Du hast dich dazu entschieden, weniger lange zu leben, als ein Möwenschiss braucht, um vom Himmel zur Erde zu fallen, kluger Mann.«

Der Krieger taumelte zurück. Er griff sich an die Kehle. Emerelle duckte sich an ihm vorbei und stieß dem nächsten das iskendrische Kurzschwert in den Bauch.

»Spring!« Der Lutin reagierte sofort. Falrach zog seine beiden Schwerter und sprang vor.

Die Krieger waren noch immer so überrascht, dass erst einer von ihnen seine Waffe gezogen hatte.

Emerelle schleuderte ihr Kurzschwert, das ihm tief in die Brust drang.

»Gib mir ein richtiges Schwert, Falrach«, sagte sie, als er an ihre Seite gelangt war.

Jetzt war der Bann gebrochen. Die verbliebenen fünf Krieger fluchten und zogen ihre Klingen, noch immer überzeugt, dass sie mit einer vermeintlichen Hure und deren Leibwächter leichtes Spiel haben würden.

Falrach stürmte vor. Er täuschte einen Stich nach dem Bein des Kriegers vor ihm an.

Als dieser tief parierte, hackte er ihm den Arm dicht unter der Armbeuge ab. Ohne weiter nachzudenken, überließ er seinem Körper das Kämpfen. Es war ein blutiger Tanz. Und Emerelle schien ihn nicht minder vollkommen zu beherrschen als er.

Nach zehn Herzschlägen lebte nur noch der Bauer.

»Du kommst mit uns«, sagte Emerelle entschieden. »Du wirst uns zum nächsten Fischerdorf führen und uns helfen, ein Boot zu stehlen.«

»Herrin, alles, was ihr sagt... Aber die Dörfer sind vol er Krieger. Es sind Hunderte!«

Emerelle wischte die Klinge ihres Schwertes an der Tunika eines der Toten ab. »Hast du den Eindruck, dass es mir Schwierigkeiten bereitet, die Krieger der Priesterfürsten zu töten?«

Der Seiltänzer

Armand mochte seinen Beruf. Schon als kleines Kind war er von Seilläufern fasziniert gewesen. Nie würde er den Tag vergessen, an dem die Seilläufer gekommen waren und ein Seil quer über den Markt gespannt hatten. Vom Giebel des Rathauses zu den Zinnen des alten Tempelturms. Hoch in der Luft tanzten sie und machten allerlei Kunststücke. Die ganze Stadt war zusammengekommen und hatte ihnen zugesehen. Und in der Nacht hatte sich seine Mutter einen der Seiltänzer in ihr Bett geholt. Diesem Tanz hatte nur er allein zugesehen. Sein Vater war wieder einmal nicht im Haus gewesen. Wie meistens.

Als er elf Jahre alt war, war Armand fortgelaufen. Er wollte aus dem Dreck emporsteigen in den Himmel, so wie die Seiltänzer. Ein Jahr war er über die Landstraßen gewandert, bis er eine Schaustellertruppe fand, die ihn aufnahm. Dann begann die glücklichste Zeit in seinem Leben. Die Zeit, in der er lernte, den Himmel zu erobern.

Als er fünfundzwanzig war, hatte der Himmel seinen Glanz verloren. Er hatte begriffen, dass er immer arm bleiben würde. Drei seiner Lehrmeister hatte er begraben.

Zwei mit zerschmetterten Gliedern, weil eine plötzliche Bö sie in den Tod gestürzt hatte. Den dritten hatte ein Fieber hinweggerafft. Er hätte nicht sterben müssen, aber es hatte kein Geld gegeben, einen Heilkundigen zu rufen.

Sie alle waren abseits der Gräberfelder an einem Wegkreuz verscharrt worden. Das war das Schicksal der Heimatlosen. In jenem fünfundzwanzigsten Jahr seines Daseins hatte sein Leben erneut eine Wende genommen. Er war seinem letzten Lehrer begegnet. Dem Mann, der ihm beigebracht hatte, wie man den Tod brachte. Und seit er ihn bei sich aufgenommen hatte, war Armand nicht einen Abend mehr mit knurrendem Bauch ins Bett gegangen.

Jetzt war er zweiunddreißig. Seinen letzten Meister hatte er getötet. Gewissermaßen als sein Meisterstück. Auch in dieser Nacht würde er wieder töten. Tjured schien seinem weißen Ritter nicht sehr gewogen zu sein, sonst hätte er die Wolken vom Himmel vertrieben und die Nacht mit Sternenlicht erleuchtet. Oder er hätte den Priestern eine Eingebung geschickt, dieses eine Mal nicht bis nach Mitternacht im Tempelturm zu beten und zu streiten. Sie fochten darum, auf welche Weise das Wort Gottes unter die Menschen getragen werden sollte. Und ob es statthaft war, dass Tjured künftig seine eigenen Ritter hatte.

Armand zog an dem Seil, das vom Dach des Badehauses vorbei am Stumpf der verbrannten Eiche zum Baugerüst am Tempelturm führte. Dass seine eitlen Priester ständig an ihren Tempeltürmen bauten, das war ein Geschenk Tjureds!

Das Seil war straff gespannt. Ein gutes Seil, das nicht zu sehr nachfedern würde, wenn er sich ihm anvertraute. Die Rolle mit dem Haltegriff war frisch geölt. Er würde fast lautlos dahingleiten. Ein Schatten, aus Schatten geboren. Fast fünf Schritt lief das Seil über dem Weg hinweg, den die Priester jede Nacht nahmen, wenn sie endlich ihren Tempelturm verließen. Das war mehr als genug. In der Dunkelheit musste Armand nicht fürchten, dass man das Seil vor der Zeit bemerken würde. Im Gegenteil, wenn sein Plan aufging, würde es den Schrecken noch vertiefen. Es war mit Öl getränkt, um den Hanf geschmeidig zu halten. Und er hatte einen ganzen Tag damit verbracht, fein gemahlenen Schwefel tief in die Faserstränge zu drücken. Es würde wie Zunder brennen, wenn sein Schauspiel vorüber war. Eigentlich schade, dass nur ein paar Priester Zeugen seines Auftritts werden würden. Aber Priester waren ja bekanntermaßen die größten Tratschmäuler. Bis zum Morgen würde die ganze Stadt wissen, was für ein himmlisches Strafgericht den weißen Ritter ereilt hatte.

Armand hatte sich ganz in Schwarz gewandet. So geziemte es sich für ein Geschöpf der Nacht. Nur die Maske, die er anlegen würde, war weiß. Sie war aus einem echten Totenschädel gefertigt. Nur der Vorderteil des Schädels war geblieben. Auf der Innenseite mit Lederstreifen gestärkt, die ihn zugleich auch zusammenhielten.

Armands Finger glitten über die kalte Schneide der Sense. Er hatte sie eigens für diese Nacht fertigen lassen.

Das Sensenblatt war dick und schwer wie eine Schwertklinge. Er hatte mit der Sense im Wald verborgen geübt. So tödlich scharf war das Blatt, dass man junge Bäume mit einem einzigen Hieb fällen konnte. Dem würde ein junger Ritter gewiss nicht widerstehen.

Armand hielt inne. Sie hatten im Tempelturm zu singen begonnen. Bald würden die Priester durch das große Portal kommen. Was für ein Glück, dass dieser Michel Sarti nie seine Rüstung ablegte. So würde Armand ihn auch im Dunkeln gut erkennen können. Wie eine Flamme würde er zwischen all den in dunklem Blau gewandeten Priestern erstrahlen. Den Helm unter dem Arm. Mit ernstem Gesicht würde der Ritter zwischen ihnen einhergehen. Wie weit sein Kopf wohl fliegen würde?, überlegte Armand. Vielleicht bis durch das offene Tempeltor?

Der Seilkünstler streifte die schwarzen Handschuhe über und setzte die Schädelmaske auf. Er hakte die Rolle in das Seil und duckte sich hinter den Giebel. Ein letztes Mal prüfte er den Faltenwurf des weiten Kapuzenumhangs. Wie schwarze Flügel würde er sich aufbauschen, wenn er am Seil dahinglitt. Armand wünschte, er könne sich bei seinem Auftritt zusehen. Morgen würde er in unauffälligen Kleidern den Platz vor dem Tempelturm besuchen und sich die Geschichte erzählen lassen. Das war fast genauso gut.

Sein Tod muss wahrlich außergewöhnlich sein, hatte sich sein Auftraggeber gewünscht. Einen ganzen Beutel voller Gold hatte er als Anzahlung bekommen. Zwei weitere Beutel würden folgen, wenn sein Auftraggeber zufrieden war. Armand lächelte selbstsicher. Einen Mord wie diesen hatte es noch nicht gegeben. Im ganzen Königreich würde man davon sprechen, dass ein Dämon oder ein böser Elf aus dem nächtlichen Himmel hinabgeschwebt war, um Michel Sarti am selben Ort zu töten, an dem vor langen Jahren der heilige Guillaume ermordet worden war.

Das Tor des Tempelturms öffnete sich. Wie immer trat als Erster ein alter Priester mit einer Laterne hinaus. Armand beobachtete das Konzil schon seit fünf Tagen. Das Gute an Priestern war, dass sie es liebten, Dinge immer auf die gleiche Art zu tun. Sie gaben sich Mühe, dass ihr Tag immer die gleiche Ordnung hatte, ihre Messen immer den gleichen Ablauf. Und immer kam der Alte mit der Blendlaterne zuerst aus dem hohen Turm.

Als Nächstes trat ein Trüppchen Priester ins Freie. Sie waren so tief ins Gespräch versunken, dass sie vermutlich gar nicht mitbekamen, ob es Tag oder Nacht war.

Armand langte nach dem Griff der Seilrolle. Mit der Rechten hob er die Sense an. Sie war schwer. Er könnte den weißen Ritter vermutlich zweiteilen, wenn der Hieb ihn am Rumpf traf. Das wäre noch eindrucksvoller als ein enthaupteter Ritter. Und der Rumpf war viel leichter zu treffen als der Hals.

Adrien zögerte. Es war nie gut, seine Pläne im letzten Augenblick zu ändern. Er dachte wieder an die jungen Bäume im Wald, die er mit dieser besonderen Sense gekappt hatte. Ein Mann, der in der Mitte durchgeschnitten wurde, war noch spektakulärer als ein Enthaupteter. Da konnte es keinen Zweifel geben. Armand sah vor seinem inneren Auge, wie die Beine des Ritters noch standen und einen Teil von dessen Torso trugen, während der Oberkörper mit zuckenden Armen auf dem Pflaster lag.

Er ließ die Hand über die schwere Sensenklinge gleiten. Da erschien Michel Sarti im Tor des Tempels. Auch er war tief in Gespräche verstrickt. Er lachte. Der junge Ritter machte einen netten Eindruck. Wenn er den Helm aufgesetzt hatte, wirkte er unheimlich in seiner merkwürdigen Rüstung mit dem silbernen Gesicht. Aber jetzt trug er den Helm unter den Arm geklemmt.

Armand durfte nicht länger zögern. Er dachte an all das Gold und stieß sich vom Dach ab. Fast lautlos glitten die hölzernen Rollen über das Seil. Er wurde immer schneller.

Das Seil federte nur wenig. Er hatte lange gezögert, ob er seinen Auftritt nicht mit einem dramatischen Ausruf würzen sollte. Etwas wie: Der Tod holt dich! Aber das wäre dumm. Sollte Michel Sarti sich daraufhin geistesgegen-wärtig zu Boden werfen, wäre alles verdorben. Er musste ihn überraschen!

Armand holte mit der Sense zum Schlag aus. Hals oder Torso? Torso. Er glitt über den vordersten Priester hinweg. Jemand blickte auf. Ein Schrei. Jetzt sah auch Michel zu ihm. Die Sense fuhr nieder. In weitem, kräftigem Schwung. Die gekrümmte Klinge traf den Ritter mitten auf der Brust.

Armand schrie auf. Er hatte das Gefühl, ihm würde der Arm ausgerissen. Seine Schulter krachte. Gleißende Lichtpunkte tanzten ihm vor den Augen. Michel war gestürzt. Der heftige Aufprall hatte Armand ein Stück am Seil zurückgleiten lassen.

Jetzt sauste er wieder vorwärts.

Der weiße Ritter rappelte sich auf. Er wirkte benommen. Das konnte nicht sein!

Niemand konnte einen solchen Hieb überstehen. Schon gar nicht in einer Lederrüstung.

Der Ritter zog sein Schwert. Die Priester schrien. Sie deuteten zu ihm hinauf. Manche waren niedergekniet, um zu beten. Armand glitt der Sicherheit des Baugerüsts entgegen. Niemand konnte klettern wie er. Er würde entkommen. Der Seiltänzer sah über die Schulter zurück. Michel hatte sein Schwert gezogen. Was für eine dumme, nutzlose Geste!

Der Ritter warf die Klinge hoch. Armands Füße berührten die Balken des Baugerüsts.

Er streckte die Hand vor, um sich auf eines der Bretter zu ziehen. Im gleichen Augenblick erschlaffte das Seil.

Er ließ die Sense fallen und stürzte. Verzweifelt versuchte er etwas zu greifen zu bekommen. Armand schlug hart auf den Boden auf. Heißer Schmerz stach durch seine rechte Schulter. Er wusste, er hatte sie sich ausgekugelt.

Der Sturz war nicht so tief gewesen, als dass er zer schmettert sein könnte. Armand setzte sich auf. Halb benommen blickte er auf den Platz. Eine weiße Gestalt kam auf ihn zu.

Der Ritter trat gegen die Sense. Schlitternd glitt sie über das Pflaster davon. Eine Schwertspitze berührte sanft Armands Hals.

»Wer schickt dich?«

»Das werde ich nicht sagen.«

»Man wird dich foltern.«

»Ich werde trotzdem schweigen.« Es gab auch nicht viel, was er hätte sagen können.

Wer einen Meuchler suchte, der stellte sich nicht mit Namen vor. Und er erklärte auch nicht, warum ein Mann oder eine Frau sterben sollten. Selbst wenn sie es schafften, seinen Willen zu brechen, würden sie von ihm nichts erfahren.

Der Ritter nahm ihm die Maske ab. Inzwischen waren Priester mit Laternen gekommen. Leute aus den angrenzenden Häusern traten zögerlich auf den Platz.

Fensterläden wurden aufgeklappt.

»Warum?«

»Weil ich einen Beutel voll Gold dafür bekommen habe.«

Der Ritter nickte. Ein harter Zug war um seine Lippen erschienen. Er wirkte plötzlich älter.

»Ich habe eine Bitte an dich, Michel Sarti.«

Ein Wangenmuskel des Ritters zuckte. »Warum sollte ich dir eine Bitte gewähren?«

»Weil du nicht bist wie ich.«

Michel antwortete ihm nicht. Der Blick des Ritters hielt ihn gefangen.

»Ich weiß, ich werde hingerichtet werden. Ich habe es verdient. Du bist ein Mann mit Macht und Ansehen. Bitte sag ihnen, dass sie mich hängen sollen. Ich war früher einmal ein Seiltänzer. In Zeiten, als ich noch nicht für Gold gemordet habe. Ich möchte noch ein letztes Mal am Seil tanzen. Und sei es ein Galgenstrick.«

Kein schlechter Tod

Als Anderan Feylanviek erreichte, waren seine Füße gefühllos und seine Finger so steif gefroren, dass er die Hände, mit denen er seinen Mantel zusammenhielt, nicht mehr öffnen konnte. Vier Tage hatte der Fußmarsch am Ufer des Mika entlang gedauert.

Immer wieder hatte es geschneit. Der Schnee reichte ihm jetzt bis über die Knie. Und die Schneeflocken schmolzen nicht mehr, wenn sie ihm auf die Hände fielen. Auch schmerzte ihn der Nordwind nicht mehr. Seine Messer schienen alles durchtrennt zu haben, was Schmerz empfinden konnte.

Anderan sah das Gesicht seines Sohnes vor Augen. Er sah ihn als kleinen Jungen spielen. Sah, wie er vor den Winkerkrabben davonlief. Das weiße Land war ein unbe-schriebenes Blatt, auf dem in immer lebhafteren Farben seine Träume erschienen. Er starrte vor sich hin. Ohne nachzudenken, setzte er einen Fuß vor den anderen. Stetig, unermüdlich, so wie ein Herz schlägt, obwohl man nicht daran denkt, dass es dies tun sollte.

Er hielt erst inne, als unmittelbar vor ihm ein Trollgesicht erschien. Es war so plötzlich da, als sei es auch nur ein Bild aus seinen Träumen.

»Wo willst du hin, kleiner Schneefurz?« Die Stimme durchdrang ihn. Seine Ohren dröhnten, so laut hatte der Troll gesprochen.

Anderan schwankte benommen. Er machte einen Schritt zurück. Neben dem Trollgesicht erschien ein vermummter Kobold, von dem wenig mehr als seine Nasenspitze und die Augen zu erkennen waren. »Woher kommst du, Bruder? Und antworte demnächst sofort, wenn du angesprochen wirst. Es sind unruhige Zeiten, und nicht alle Trollwachen sind so geduldig wie mein Freund hier.«

»Du hast mich angesprochen?«

»Dreimal habe ich dich angerufen, aber du bist einfach immer weitergegangen wie ein Schneegeist.«

»Ich muss zum Handelshaus Verrak.«

»Red keinen Unsinn. Du solltest dringend zu einem großen Feuer gebracht werden, damit du wieder auftaust. Du wirst dich wundern, welche Schmerzen es bereitet, wenn das Leben in deine Glieder zurückkehrt.« Er warf einen skeptischen Blick auf Anderans Hände. »Oder auch nicht.«

»Ich muss zum Handelshaus Verrak. Sofort!« »Du bist verrückt...«

»Ich bin Anderan, der Herr der Wasser von Vahan Calyd und Kronrat des Königs Gilmarak. Du wirst mich zu dem Handelshaus bringen. Jetzt!«

»Aber das Haus, zu dem du willst, gibt es gar nicht mehr, Herr. Die Verraks sind schon vor Jahren gegangen. Ihr Kontor ist vernagelt, sie haben ... «

»Das kann nicht sein«, beharrte Anderan. »Sie haben eine ganze Schiffsladung Pfeile gekauft. Du musst dich irren! Bring mich zu ihrem Kontor.«

Der Kobold zog sich zurück und tuschelte etwas mit dem Troll. Dann lief der Troll davon.

Anderan war wütend. Er wusste, dass er nicht mehr lange stehen konnte. Seine Kraft verließ ihn. Er musste weitergehen, sonst wäre er dazu bald nicht mehr in der Lage. Er musste es wissen!

»Komm«, sagte der Kobold. »Ich bringe dich zu den Verraks. Du wirst sehen, dass ich nicht gelogen habe.«

Sie schlurften durch den hohen Schnee. Nach einer Weile stützte der andere ihn. Er führte ihn an langen Reihen heruntergekommener Häuser vorbei über eine Brücke, auf der Mauerreste darauf hindeuteten, dass hier einmal ein großes Haus gestanden hatte.

Es ging weiter an einem Kanal vorbei, in dem Lastkähne wie dunkle Grabsteine lagen.

Letzte Erinnerungen an den gestorbenen Handel.

Endlich hielten sie vor einem Haus mit einer hohen roten Tür. Bretter waren davor genagelt. Der Rost auf den Türangeln ließ keinen Zweifel daran, dass hier schon lange niemand mehr ein und aus ging. »Das ist das Handelskontor Verrak«, sagte sein Begleiter und klang beleidigt.

Anderan starrte die Tür an. »Das kann nicht sein.« Er wollte nicht, dass es wahr war.

Dass sich seine Befürchtungen, die ihn zu dieser Reise getrieben hatten, bestätigten.

»Ich habe die Papiere gesehen. Alles ist in Ordnung gewesen. Das Haus Verrak hat mit drei Schiffsladungen Lebensmitteln für die Fracht bezahlt, die hierherkommen sollte.

Das ist erst drei Monde her.«

»Die Verraks sind in den Süden gegangen. Sie führen sicher noch Geschäfte. Vielleicht geben sie auf ihren Papieren sogar das Kontor in Feylanviek als ihr Stammhaus an.«

Sein Führer, von dem er nach wie vor nur die tropfende Nase und die Augen kannte, schien aufrichtig bemüht zu sein, das vermeintliche Missverständnis aufzuklären.

Der Troll, den sein Begleiter fortgeschickt hatte, stampfte durch den Schnee auf sie zu.

Er trug einen Kobold in seinen Armen, der sich einen schreiend bunten Schal um Hals und Gesicht gewickelt hatte.

»Das ist Solton, der Stapelmeister von Feylanviek. Er weiß alles über die Kontore in der Stadt.«

Solton war augenscheinlich nicht glücklich darüber, dass man ihn geholt hatte. Er blickte Anderan feindselig mit kleinen, dunklen Augen an. Sie erinnerten ihn an die Augen der großen Sumpfratten in den Mangroven.

»Es geht um eine Fracht für das Haus Verrak.«

»Die kann nicht für Feylanviek bestimmt gewesen sein! Kannst du überhaupt Frachtbriefe lesen? Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber nur lesen und schreiben zu können, genügt nicht, um Frachtpapiere zu verstehen. Vielleicht schreiben die Verraks ja immer noch den Namen ihres Stammhauses in die Briefe. So könnte es zu dieser Verwechslung gekommen sein.«

»Genau das habe ich ihm auch schon gesagt, Onkel!«

»Ich war auf dem Frachtkahn, der die Ladung hierherbringen sollte«, entgegnete Anderan müde. Er hatte das Gefühl, dass er jeden Moment zusammenbrechen könnte.

Er spürte seine Beine nicht mehr. Und das, was ihn so viele Wochen gequält hatte, war ihm jetzt fast gleichgültig. Er wollte sich nur noch hinlegen und die Augen schließen.

Schlafen. Sehr lange schlafen.

» ... und deshalb ist es unmöglich ... Hörst du mir noch zu?«, fuhr ihn der Stapelmeister scharf an.

»Ich war auf dem Frachtkahn ... «

»Und wo ist dieser Frachtkahn, bitte schön? Hier ist seit vielen Wochen kein Kahn mehr angekommen.«

»Wurde von Kentauren gekapert«, murmelte er.

»Die verbrennen Lastkähne. Sie beschießen sie mit Feuerpfeilen, aber sie kapern sie nicht. Wie sollte so ein Pferdearsch auf den Fluss kommen!«

»Flöße.«

Der Stapelmeister wirkte jetzt weniger mürrisch. »Fracht für das Haus Verrak ... « Er schüttelte den Kopf. »Sie haben noch etwas Lagerraum in der Stadt. Aber das ist wirklich nicht viel. Komm mit!« Er dirigierte den Troll ein Stück den Kanal entlang, bis sie einen Abschnitt erreichten, an dem hohe Holzhäuser mit steilen Giebeln dicht an dicht standen. Jedes Einzelne hatte einen langen Balken unter dem Dachfirst, an denen früher wohl einmal Flaschenzüge gehangen hatten. Türgroße Öffnungen, versperrt mit bunten Holzläden, untergliederten die Fassaden. Einige der Dächer waren eingestürzt.

Solton ließ sich vor einem gelben Tor absetzen, auf das ein roter Hundekopf gemalt war. Der Stapelmeister zog einen schweren Schlüsselbund unter seinem Mantel hervor. Ein rostiges Schloss hing von einer schweren Eisenkette. Anderan hörte Metall knirschen. Der alte Kobold fluchte. Dann zog er die Nase hoch, spuckte auf das Schloss und versuchte es erneut. Schließlich öffnete sich der Bügel des Vorhängeschlosses mit einem elenden Knirschen. »Na

also«, grinste der Alte. »Brauchte nur ein bisschen Schmier. Wartet hier!«

Der Troll schob das schwere Lagerhaustor auf, und Sol-tan verschwand in die Dunkelheit.

Anderan lehnte sich an die Wand des Stapelhauses. Er sollte den Troll vielleicht fragen, ob er ihn tragen könnte. Wenn es ein Lager gab, dann mochte sich alles aufklären.

Vielleicht plante die Familie Verrak ja, einen Verwalter zu schicken, der ihre alten Geschäfte wiederaufnehmen sollte. Allerdings hätte der schon vor den Waren hier eintreffen sollen! Das ungute Gefühl, das ihn plagte, seit er die Spur der Pfeile aufgenommen hatte, wollte nicht weichen. Auch wenn es einen Verwalter gab, stellte sich immer noch die Frage, für wen die Pfeile bestimmt waren.

Soltan trat mit einer Laterne in der Hand aus dem Lagerhaus. »Komm mal mit, Bruder Kronrat.« Der Alte feixte vor Vergnügen. Vor der Revolte hätte er sich so eine Frechheit sicher nicht herausgenommen. Anderan war zu müde, um ihn darauf hinzuweisen, dass es auch zwischen Brüdern Unterschiede gab.

Es roch muffig im Lagerhaus. Irgendwo plätscherte Wasser. Das Dachgebälk ächzte leise unter der Schneelast.

»Weißt du, Bruder, die Stapelplätze haben früher einmal wesentlich mit über den Erfolg der Handelskontore entschieden. Bevor dieser unselige Krieg mit den Kentauren begonnen hatte, gab es nie genug Stapelplatz in der Stadt. Wo deine Waren in den Stapelhäusern liegen, entscheidet darüber, wie schnell ein Frachtkahn be- oder entladen wird. Die Stapelplätze auf den Märkten entschieden, wie gut deine Geschäfte gingen. Warst du der erste Anbieter, an dessen Stand die Händler kamen, oder erst der siebente? Um Stapelplätze haben die großen Kontore früher Fehden geführt. Ja, sie gaben sogar den Ausschlag für Hochzeiten. Du hättest Feylanviek vor dreißig Jahren sehen sollen, bevor die Trolle zurückkehrten. Selbst vor zehn Jahren, als der neue König den Tauschhandel noch nicht eingeführt hatte, waren wir eine stolze Stadt.«

Solton blieb vor einem Bretterverschlag stehen. Sie hatten bereits zwei ähnliche Verschlage passiert. Die Bretter waren einfach auf die schweren Balken genagelt, die das Lagerhaus trugen. »Hier siehst du den letzten Stapelplatz der Familie Verrak.« Die grob gezimmerte Tür war nicht verschlossen. Der Alte zerrte sie auf und leuchtete mit der Laterne hinein. Altes Stroh lag auf dem Boden. Ein paar zerrissene Säcke. Eine Ratte huschte eilig aus dem Lichtkreis. Der Verhau war kaum zweimal zwei Schritt groß.

»Weißt du, Bruder Kronrat. Solange sie mindestens einen Stapelplatz halten, gehen ihre alten Rechte nicht verloren. Fast alle Handelshäuser machen es so. Man kann ja nie wissen, ob die Zeiten nicht noch einmal besser werden. Wenn du wirklich ein Kronrat bist, wirst du es ja wissen. Geben uns die Trolle irgendwann das Geld zurück? Oder werden sie wenigstens dafür sorgen, dass der Mika wieder ein sicherer Fluss wird und man mit den Kentauren handeln kann? Ohne das Fleisch ihrer Herden ist Feylanviek nur ein Dreck. Diese Stadt wird sterben, wenn wir keinen Frieden mit den Kentauren schließen. Selbst der Rudelführer, der sich hier seinen Arsch plattsitzt, hat das begriffen. Aber auf ihn scheint keiner zu hören.«

Anderan schüttelte den Kopf. Er dachte an die Snaiwa-mark-Karawanen und ihr geheimes Ziel. Das Gold würde nie mehr zurückkommen. Dafür hatte Gilmarak gesorgt!

»Weißt du was, Bruder? Ich scheiß auf euch Kronräte und den neuen König. Ihr lasst diese Stadt verrecken! Da war es ja selbst zu Zeiten des Tyrannen Shandral besser!«

»Ihr seid frei, zu gehen. Andere Städte erblühen«, wandte Anderan halbherzig ein.

»Was heißt hier frei? Meine Sippe lebt seit über dreihundert Jahren in Feylanviek. Mein Name hat hier einen guten Klang! Ich bin der Stapelmeister. Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Ich war einmal einer der bedeutendsten Männer dieser Stadt. Und jetzt bin ich der Herr über Spinnweben und verrottende Säcke. Trotzdem werde ich bleiben. Meinem Bruder hat der verdammte Shandral beide Hände abgeschnitten. Mein Onkel hat seinen Kopf unter einem der Schmiedehämmer der Flussschmiede verloren. Soll das alles vergebens gewesen sein?

Ist das deine Freiheit, Bruder Kronrat? Und jetzt sag mir, warum du wirklich hier bist.

Was für eine Fracht hätte hier verstaut werden sollen? Ein paar Kistchen mit Geschmeide?«

»Fünfzigtausend Pfeile.« Anderan stützte sich an einen der dicken Holzpfeiler. Er spürte seine Beine nicht mehr, und ihm war vor Erschöpfung übel.

»Nein!« Der Stapelmeister hätte fast die Laterne fallen lassen. »Das wirst du meiner Stadt nicht anhängen, Kronrat. Das ist nicht wahr!«

»Ich weiß. Hier ist kein Platz für die Fracht, die auf dem Kahn war. Und Kirta, die Gefährtin des Nestheus, des Einigers der Stämme, hat den Angriff angeführt. Das kann kein Zufall gewesen sein. Diese Pfeile sollten niemals Feylanviek erreichen. Und ich fürchte, es ist nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Ich habe allein für die letzten drei Jahre Papiere über sieben Frachten mit Pfeilen finden können. Pfeilen, wie sie auch beim großen Angriff auf die Snaiwamark-Karawane verwendet wurden. Sie waren von Anfang an für die Kentauren bestimmt. Feylanviek hat mit diesen Geschäften nichts zu schaffen.« Er konnte nicht länger stehen. Alle Kraft wich von ihm. Er hatte den Verdacht schon lange gehabt, aber wider besseren Wissens hatte er darauf gehofft, dass er irrte. Er hatte auch einen Verdacht, wer dafür sorgte, dass diesem Krieg nicht die Waffen ausgingen. Aber würde er es jemals beweisen können? Alles, wofür er in den letzten Jahren gekämpft hatte, war zerbrochen. Und sein Sohn war für Lügen gestorben.

»Was ist mit ihm?«

»Verdammt, der stirbt«, flüsterte der Alte. »Der Marsch durch den Schnee war zu viel für ihn. Wenn der wirklich ein Kronrat ist und hier verreckt, dann wird alles noch schlimmer. Ruf deinen Troll.«

»Aber du kannst doch nicht...«

»Der Troll wird es tun. Der Winter kommt. Die Kanäle frieren zu. Wenn wir ihn da jetzt hineinwerfen, dann wird er bis zum Frühjahr nicht mehr hochkommen. Und wenn ihn dann jemand findet, dann würde ihn nicht einmal mehr seine Mutter erkennen. Ich hab solche Leichen schon gesehen. Los, hol deinen Troll!«

Anderan hatte alles klar verstanden, aber er hatte nicht einmal mehr die Kraft, seinen Kopf zu heben. Sollte es geschehen. Ertrinken war kein schlechter Tod für einen Herrn der Wasser.

Masken

Als sie die Augen öffnete, rang sie nach Luft.

»Und«, drängte Falrach, »können wir es schaffen?«

»Alle, die schon geschlafen haben, schlafen jetzt sehr tief. Aber jenen, die wach sind, kann ich nichts anhaben. Es sind viele. Es wird gefährlich werden.« Sie blickte zum Himmel. Wie zum Spott stand der Mond in all seiner Pracht über ihnen. »Im Dorf sind nur acht Posten. Aber auf den beiden Galeeren draußen sind noch viele wach. Sie haben doppelte Posten aufgestellt. Sie fürchten, dass es immer noch Piraten draußen auf See gibt, die von den Rauchwolken der brennenden Flotte angelockt werden. Sie haben dort seltsame Kessel unter Feuer. Ich glaube, das muss ihre Flammenwaffe sein.

Im Bug der Galeeren gibt es je ein großes Kupferrohr. Ich weiß nicht, wie diese Waffe eingesetzt wird.«

»Bei dem Licht kann man jedes Boot auf See von weitem sehen«, lamentierte Nikodemus. »Wir kommen hier nicht weg.«

»Wir können auch nicht bleiben. Die Toten in den Bergen sind sicher schon längst gefunden. Die Insel ist zu klein. Wir können uns nicht ewig verstecken. Wir nehmen ein sehr kleines Boot und setzen kein Segel, bevor wir die offene See erreicht haben.«

»Das erscheint mir auch am klügsten.« Emerelle blickte zum Strand. Sieben Boote lagen dort. Die Galeeren ankerten etwa hundert Schritt vom Strand entfernt. Auf jedem der beiden Schiffe brannten etliche Öllampen. »Wenigstens schlafen ihre Ruderer.«

»Kannst du die Schiffe nicht durch einen Zauber in Brand setzen?« Nikodemus sah sie mit seinen ganz und gar unschuldigen, falschen Kinderaugen an. Sie kam nicht umhin, erneut den Orakelspruch zu lesen, der ihm im Gesicht stand. Jene, die mir vertrauen, werde ich verraten. »Weißt du, wonach du da fragst? Ja, ich könnte es. Auf jedem der Schiffe sind achtzig Ruderer. Sie sind angekettet. Sie werden entweder bei lebendigem Leibe verbrennen oder aber ertrinken, wenn das brennende Schiff sinkt. Und dann sind da noch etwa fünfzig Seeleute und Krieger auf jedem Schiff. Von ihnen werden sich gewiss viele mit einem Sprung ins Wasser retten können. Aber wird ihnen das helfen? Ich habe gesehen, dass dieses Feuer sogar auf dem Wasser brennt. Einen Funken in jeden der kochenden Kessel zu schicken wäre nicht einmal ein Zauber, der mich viel Kraft kostet. Aber es würden mit Sicherheit zweihundert Menschenkinder sterben, wenn ich es tue. Habe ich das Recht dazu? Und wie ist es mit dir, Nikodemus?

Wird es dich kaltlassen, wenn auf deinen Rat zweihundert Menschenkinder sterben, damit wir leichter entkommen können? Wirst du das einfach vergessen können, wenn wir nach Albenmark zurückkehren? Oder werden dich die Bilder in deinen Träumen verfolgen? Bilder von brennenden Menschenkindern, die in ein Meer springen, das sie vor dem Feuer nicht zu retten vermag. Und die Schreie! Hast du schon einmal die Schreie eines Verbrennenden gehört? Ich habe es.«

Der Lutin senkte den Blick. »Würden sie so auch über uns denken?«

»Dürfen wir zulassen, dass ihre Taten unsere Taten bestimmen? In den Bergen hatten wir keine Wahl. Hier haben wir sie. Noch …«

»Dann los«, sagte Falrach. »Der Himmel ist wolkenlos. Es wird nicht besser werden, wenn wir warten. Bringen wir es hinter uns.«

Emerelle blickte wieder auf die weite Bucht. Die beleuchteten Galeeren sahen hübsch aus. Ihre Lichter spiegelten sich im Wasser. Auf einem der Schiffe sang ein Mann. Er hatte eine dunkle, weit tragende Stimme. Es war ein Lied über ein Mädchen, das auf ihren Seemann wartete. Jeden Tag stand sie am Ufer und blickte auf die See, bis sie grau wurde und man sie eines Morgens tot am Strand fand.

Wie viele der Ruderer hatten wohl noch ein Mädchen, das auf sie wartete?

Sie schlichen geduckt über den Kiesstrand. Emerelle wusste, dass die Wachen im Dorf die Hügel beobachteten. Die See überließen sie ihren Kameraden auf den Schiffen.

Sie wählten das kleinste der Boote. Blaue Farbe blätterte von seinem Rumpf. Auf jede Seite des Bugs war ein großes Auge gemalt. Es stank nach Fischabfällen. Als sie es auf dem Kiesstrand anschoben, war Emerelle sicher, dass man den Lärm noch eine Meile entfernt hören musste. Doch kein Wachhorn erklang. Kein Ruf. Sie hatten Glück!

Endlich glitt das Boot in die Dünung. Falrach hob den Lutin an Bord. Dann half er ihr.

Er fasste sie um die Hüften. Und sie genoss es, von ihm berührt zu werden. Sie dachte daran, wie sie sich im klaren Wasser des Bergbachs geliebt hatten. Bis der Name Ollowains über ihre Lippen gekommen war ... Er war ein guter Liebhaber. Offenbar, weil dieser verdammte Herumtreiber viel Erfahrung gesammelt hatte! Bei dem Gedanken stieg heiße Wut in ihr auf. So war es früher nicht gewesen. Sie war zu unbe-herrscht, ermahnte sie sich. Warum?

Falrach stieg ins Boot und griff sofort nach den Rudern. Mit kräftigen Zügen brachte er das Boot vom Ufer fort. Die Ebbe half ihnen.

Plötzlich blickte er auf. »Geht es dir gut?«

Hatte er ihren Zorn bemerkt? »Ich dachte an das Albenhaupt.«

»Du solltest dort nicht hingehen. Der Berg wird dich umbringen.«

»Vielleicht habe ich mehr Glück als die anderen?«

»Ich werde mitkommen und es mir ansehen.«

Er sagte das in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass er seine Worte wahrmachen würde. Mit einem Mal war all ihre Wut dahin. »Das ist nicht klug.

Du könntest sterben.«

Er lachte leise. »Du weißt ja, dass es eine alte Gewohnheit von mir ist, an deiner Seite zu sterben.«

»Eine Gewohnheit ist es, wenn es öfter als einmal geschieht. Dazu werde ich es nicht kommen lassen!«

Er sah sie an und lächelte dabei auf eine Art, die ihr das Herz zerriss. Er verheimlichte ihr etwas! Und er würde niemals zulassen, dass sie hinter die Maske dieses Lächelns sah. Die Maske ... Das war es! Sie flüsterte ein Wort der Macht.

»Was hast du getan?«, fragte Nikodemus unruhig. »Haben sie uns entdeckt?«

»Das werden sie nicht mehr. Wenn sie zum Boot blicken, dann werden sie nur noch die Umrisse eines Wals sehen, der sich mit der Dünung treiben lässt.«

Luths Messer

Kadlin tupfte Swana den Schweiß von der Stirn. Sie lag ganz nackt auf ihrem Lager.

Eben erst hatte sie die Wadenwickel ausgewechselt. Das Fieber war sehr plötzlich gekommen. Vor dem Essen war es ihr noch gutgegangen.

Die Königin blickte zu dem alten Heiler. Er machte ein ernstes, fast grimmiges Gesicht.

Er tastete über Swanas Leiste, was Kadlin mit missbilligendem Blick strafte. Sie konnte sehen, wie sie im Schlaf zusammenzuckte, als er auf eine Schwellung presste.

»Bei den Göttern! Sei doch nicht so grob!«, zischte sie ihn an. Sie hätte ihn nicht rufen sollen. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Kleine Fieber hatte. Sie würde es überstehen. Gewiss ging es ihr morgen schon wieder besser!

Der Heiler hob Swanas Arme an und tastete über ihre Achselhöhlen. Sein Atem ging jetzt schneller. Er stand auf und wich zur Tür zurück. »Herrin, du musst sofort dieses Haus verlassen. Wir müssen es verbrennen! Leg deine Kleider ab. Nimm nichts mit dir!« Noch während er das sagte, begann er sich auszuziehen.

»Bist du verrückt geworden, Olav? Kennst du keine Scham mehr?«

»Herrin, ich bin verrückt vor Sorge. Und weiß nicht, wie ich dir sagen soll...« Er streifte seine Beinkleider so hastig und ungeschickt ab, dass er fast stürzte.

Kadlin begriff, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Sie sah zu Swana.

»Aber ich kann doch nicht ... Was ist mit ihr?«

»Sie muss hierbleiben. Ich weiß, du kannst nicht... Ich werde die Fackel ans Dach halten.«

Sie sah ihn an. »Geh!«

»Herrin ... «

»Geh hinaus und wage es nie wieder, mir vor die Augen zu treten. Wie kannst du es wagen, meine Tochter bei lebendigem Leib verbrennen zu wollen? Geh! Verflucht seist du, Olav Erikson. Mögen dir auf immer die Goldenen Hallen verschlossen bleiben.«

»Herrin, sie hat die Pest! Bitte. Wir müssen dieses Haus verbrennen. Den Göttern sei es gedankt, dass du hier lebst und nicht im Palast. Vielleicht können wir noch das Schlimmste verhindern. Aber gegen die Pest kommt nur das Feuer an. Und wer von der Pest berührt wurde, der ist verloren. Nicht einmal einer unter Hundert überlebt!«

Kadlin sah zu ihrer Tochter. Das Fieber hatte ihr Gesicht erblühen lassen. Ein rosiger Schimmer lag auf ihren Wangen. Ihr weißes Haar war auf dem Kissen ausgebreitet. Ihr Körper war noch knabenhaft. Ihre Brüste hatten noch nicht zu schwellen begonnen. Sie war so jung!

»Es ist nur ein Fieber«, beharrte Kadlin. »Sie war nie schwer krank. Niemand im ganzen Königreich hat die Pest. Warum sollte sie erkrankt sein? Du musst dich irren, Olav!«

»War sie an einem Ort, wo sie verdorbene Luft atmen konnte?«

»Nein!«, fuhr Kadlin ihn an.

»Herrin, ich verstehe deinen Schmerz. Aber du bist die Königin. Du musst an dein Königreich denken. An all jene, deren Leben jetzt in deiner Hand liegt. Ja, es gibt keine Berichte über andere Pestfälle. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir das Haus niederbrennen. Wir können die Krankheit ausmerzen, bevor sie um sich greift und Tausende sterben werden.« Der Heiler stand jetzt in der Tür.

»Wenn du meine Tochter verbrennen willst, dann musst du mich mit ihr verbrennen.

Und was meine Königsherrschaft angeht ...« Sie sah sich suchend um, bis sie den prächtigen Helm, der einst König Osaberg gehört hatte, entdeckte. Kadlin packte ihn und schleuderte ihn dem Heiler entgegen, der es gerade noch schaffte, sich zu ducken.

»Nimm du diese verfluchte Krone! Sie ist es mir nicht wert, meine Tochter zu opfern. Ich werde dieses Haus nicht verlassen. Ich werde die Krankheit nicht über die Schwelle tragen. Keine Sorge. Aber wenn du eine Fackel an dieses Dach halten willst, dann wirst du auch mich verbrennen!«

»Herrin, du kannst doch nicht…«

»Du hast keine Ahnung, was ich kann. Ich werde meine Tochter nicht Luth überlassen!

Und du, du suchst die besten Reiter. Sie sollen sofort aufbrechen und Melvyn folgen.

Er muss zurückkommen. Er und sein Weib werden Swana heilen.«

Olav senkte sein Haupt. »Herrin ... Die Elfen haben uns vor zwei Tagen verlassen. Und Elfen reisen schnell wie der Wind.«

»Du schickst ihnen Reiter nach!«

Er nickte. Dann hob er abrupt sein Haupt. »Du tötest dich! Swana kann niemand mehr helfen. Wer die Pest bekommt, der stirbt binnen drei Tagen. Auch wenn du das nicht wahrhaben willst. Dein Trotz und dein Hochmut fordern die Götter heraus! Luth hat sein Messer an Swanas Schicksalsfaden gelegt, und wir sind nur Sterbliche. Füge dich in dein Schicksal!«

»Du wagst es, mir zu drohen? Aus meinen Augen! Schick die Reiter aus! Wenn Swana nicht die Einzige ist, die erkrankt ist, dann werden die Elfen vielleicht den anderen noch helfen können. Melvyn kann ... « Tränen erstickten ihre Stimme. Sie konnte sie nicht länger zurückhalten. Sie ging zur Tür und warf sie mit aller Kraft zu. Dann legte sie den Riegel vor und ging zurück zu Swana.

Sie hörte Olav rufen. Aber es gab nichts mehr zu sagen.

Sie nahm den alten Schemel, der neben der Feuerstelle stand, und hockte sich neben Swanas Lager. Sie biss sich auf die Lippen, bis sie Blut schmeckte. Sie durfte nicht weinen! Swana sollte sie so nicht sehen, wenn sie aus ihrem Fieber erwachte.

Die Königin tauchte ein Tuch in die Wasserschüssel und tupfte ihrer Kleinen wieder über die Stirn. Dann begann sie leise zu singen. Das Lied, das sie ihr an der Wiege immer vorgesungen hatte. Ein Lied über ihren Onkel Ulric und dessen Liebe zur Tochter einer einfachen Wäscherin. Ein Lied darüber, wie er als Kind einen Troll besiegte und wie er gemeinsam mit seiner großen Liebe Halgard den Tod überwand, als mitten im Winter über dem Scheiterhaufen, auf dem sie beide aufgebahrt lagen, die Bäume erblühten.

Als sie mit dem Lied endete, bereute Kadlin, die Götter beleidigt zu haben, und sie begann zu beten, wie sie nie zuvor in ihrem Leben gebetet hatte. Und sie flehte darum, dass auch ihrer Swana ein Baum erblühen möge, obwohl es Herbst war und alle Blätter fielen.

Das Blau der Lüge

Ihr kleines Boot glitt auf ein Schneefeld, über das sich rings herum mächtige Berge erhoben. Die Kälte war atemberaubend! Eben noch waren sie auf dem Meer gewesen, und er hatte den Albenstern geöffnet.

Nikodemus schlotterte am ganzen Leib. Auch Falrach ging es nicht besser. Mit ihrer dünnen Sommerkleidung waren sie dem Frost schutzlos ausgeliefert. Nur Emerelle machte das nichts aus. Der Lutin versuchte sich zu erinnern, mit welchem Zauber man sich gegen die Kälte schützte. Er hatte ihn einmal gelernt...

»Du darfst dich nun zu den Deinen zurückziehen.« Die Königin deutete auf den Schnee. »Hier waren erst vor kurzem Maurawan. Ihre Spuren sind noch deutlich zu erkennen. Sie sollten dich besser nicht sehen. Ich schätze, sie werden auf dein Volk nicht gut zu sprechen sein.«

Nikodemus konnte keine Spuren entdecken! Sie wollte ihn loswerden, das war alles. Nach alldem, was sie gemeinsam erlebt hatten, schob sie ihn einfach ab! Undankbare Ziege! Ohne ihn wäre sie in der Alten Veste von den Shi-Handan getötet worden! Beim Orakel hatte er sich gegen seinen Willen aufgeopfert …

Er tastete über sein Gesicht. Damit konnte er nicht zu seinem Bruder zurück!

»Mein Gesicht, Herrin ... Der Orakelspruch. So sollte ich nicht vor Elija treten.«

Emerelle sah zu ihm herab. Es war unübersehbar, dass sie an etwas ganz anderes dachte. Er war stolz darauf gewesen, mit ihr zu reisen. Zumindest zuletzt. Welcher Lutin war je so lange so nah bei der Elfenkönigin gewesen! Aber ihr schien das alles gar nichts bedeutet zu haben.

Sie legte ihm die Hand aufs Gesicht. Sein Fell verdeckte die tätowierten Buchstaben fast völlig. Und durch seine andere Gesichtsform war der Orakelspruch wahrscheinlich bis zur Unleserlichkeit verzerrt. Dennoch wollte er kein Risiko eingehen. Elija war immer misstrauisch!

Ein ziehender Schmerz ließ ihn aufkeuchen. Es fühlte sich an, als reiße man ihm das Fell vom Angesicht. Dann war es vorbei.

»Nun bist du frei, Nikodemus Glops«, sagte sie kühl. »Berichte deinem Bruder, was du erlebt hast. Und hüte dich vor Skanga! Sie wird es sicherlich nicht schätzen, dass du mich vor dem letzten Shi-Handan gerettet hast. In ihren Augen wird das wie ein Verrat aussehen.«

Die Warnung wunderte ihn. Sie hatte zweifel os Recht! War er ihr doch nicht egal? Er wurde nicht schlau aus ihr. Vielleicht musste man so sein, wenn man erfolgreich herrschen wollte. Undurchschaubar!

Sie stieg aus dem Boot. Doch Falrach blieb. Der Elf kniete vor ihm nieder. »Gräme dich nicht. Du weißt ja, wie sie ist.«

Nein, das hätte er nicht zu behaupten gewagt, dachte Nikodemus bei sich.

»Du kannst über alles frei reden, was du mit uns er lebt hast. Sie werden dich sicher befragen. Wenn die Zeit kommt, dann werde ich dich vielleicht um Hilfe bitten. Du bist ein Mann von Macht und Einfluss. Ich nicht mehr.

Ich würde mich glücklich schätzen, wenn du mein Freund wärst.« Falrach streckte ihm die Hand entgegen. Nikodemus ergriff sie und drückte sie fest. Für einen Elfen war Falrach wirklich in Ordnung!

Dann stieg auch sein Gefährte aus dem Boot. Er konnte sehen, wie der Elf vor Kälte zitterte. Er besaß keine Zaubermacht. Er konnte sich nicht gegen den Frost schützen.

Und Emerelle hatte ihn wieder einmal vergessen. Was Falrach wohl an sie band? Er hätte sie schon längst verlassen sollen!

Nikodemus sah den beiden noch eine Weile nach. Falrach drehte sich zweimal zu ihm um, während sie das weite Schneefeld hinabwanderten. Emerelle nicht.

Der Lutin schlang sich schlotternd die Arme um die Brust. Er sollte wirklich schnellstmöglich fort von hier, bevor ihm noch die Schnauze zufror. Er brauchte vier Versuche, bis es ihm endlich gelang, das magische Tor zu öffnen. Mit klappernden Zähnen war das Zaubern wahrlich nicht leicht! Hastig trat er durch den schillernden Torbogen in das Dunkel des Nichts. Hier war es weder warm noch kalt. Er stellte sich das Goldene Netz in Gedanken vor. Es war anders als früher. Viele Reisende schienen um den Albenstern in Burg Elfenlicht unterwegs zu sein. Er war noch nie jemand anderem im Netz begegnet, obwohl es Gerüchte gab, dass das vorkommen konnte.

Nikodemus glaubte, dass die Alben dieses Wunderwerk der Magie so geschaffen hatten, dass es unmöglich war, sich zu treffen. Wie hätte man auf den schmalen Wegen einander ausweichen sollen? Sie mussten irgendeinen genialen Trick mit der Zeit in ihre Zauber gewoben haben, so dass nie zwei Gruppen von Reisenden im selben Augenblick am selben Fleck sein konnten. Vielleicht war dieser Aspekt der Zeit, der in das Goldene Netz eingebunden war, auch der Grund, warum es einen in die Zukunft verschlug, wenn man beim Zaubern einen Fehler machte.

Bald hatte er den großen Albenstern gefunden, der ihn in den Thronsaal bringen würde. Und wieder überkam ihn das Gefühl, dass viele andere neben ihm im Netz wanderten. Er schritt durch das Tor. Vor ihm brannte ein Feuer. Zwei Trollkrieger sahen ihn gelangweilt an.

»Weitergehen!«, herrschte ihn eine heisere Stimme an.

Nikodemus gehorchte und sah sich verwundert um. Doch, er war im Thronsaal der Königin Emerelle. Aber es bedurfte eines zweiten Blicks, um das erkennen zu können.

Der Boden lag voller Binsen und Stroh. Überall hockten Gruppen von Reisenden, die wohl darauf warteten, in das Goldene Netz zu treten. Geschöpfe aus allen Welten-gegenden waren hier versammelt. Konsterniert sah er eine ganze Reihe von Kobolden, die dicht vor der Wand aus fallendem Wasser standen und in die schmale Rinne pin-kelten, in der sich das Wasser sammelte, bevor es in verborgene Rohre abfloss. Er kannte den Drang, sich noch einmal zu erleichtern, bevor man in das Goldene Netz trat. Viele hatten Angst vor dieser Art des Reisens. Was Emerelle wohl sagen würde, wenn sie ihren Thronsaal sehen könnte? Bei dem Gedanken an das Gesicht, das sie machen würde, musste er grinsen.

Drei Lutin wachten am magischen Tor, das sich unablässig öffnete und wieder schloss.

Gerade trat ein Minotaur aus dem Lichtbogen, der einen verängstigten Tanzbären an einem Seil hinter sich herzog.

Einer der Lutin fuhr den Minotauren an. »Weitergehen! Nicht unmittelbar vor dem Tor stehen bleiben!« Auf einen bösen Blick des Minotaurenkriegers kam noch ein halbherziges Bitte.

Nikodemus kannte keinen der drei Lutin.

Etwas unschlüssig, wo er seinen Bruder suchen sollte, verließ er den Thronsaal. Auch in der weiten Halle, die sich anschloss, drängte sich allerlei Volk. Zwei Harpyien kreis ten keifend unter der hohen Decke. Die Vogelweiber stritten wegen eines Stücks Aas, das eine von ihnen in ihren Krallen hielt. Schwarze Federn segelten durch die Luft.

Eine Karawane aus Lasteseln zog in Richtung des Thronsaals. Kobolde, die sich geflochtene Körbe so auf die Köpfe gesetzt hatten, dass ihre Gesichter verborgen blieben, begleiteten die Tiere. Sie waren mit Speeren mit gekrümmten Stichblättern bewaffnet. Alle trugen lange schwarze Jacken und gingen barfuß. Nur ihr Anführer war ganz in scharlachrote Seide gekleidet. Ob sie aus Manchukett kamen? Nikodemus hatte das ferne Reich immer schon einmal besuchen wollen. Auf jeden Fall kamen sie aus einer Gegend von Albenmark, die er nicht kannte. Er sah sich wieder um. Dies traf auf die meisten der Gäste in der Halle zu. Die Welt schien sich sehr verändert zu haben!

Die Wände der Halle erinnerten an blauen Sommerhimmel. Sie schienen nicht stofflich zu sein. Irgendein Illusionszauber der Elfenarchitekten. Allerdings wurde die Il usion erheblich durch Schmutzflecke und Rauchschlieren beeinträchtigt. Und durch die kleinen Türen in der Wand.

Aus einer kam eine Kolonne von Lastenträgern mit wuchtigen Körben auf dem Rücken. Ihre Kleider waren mit rotbraunem Staub bedeckt. Nikodemus erinnerte sich, dass sein Bruder den Plan gehabt hatte, die Koboldgänge unterhalb der Burg weiter auszubauen. Ob noch immer daran gearbeitet wurde?

Ein Trupp Trolle schob sich durch das Gedränge im weiten Saal. Mit Schrecken entdeckte Nikodemus Skanga und ihre Gefährtin Birga inmitten der Schar. Am liebsten wäre er fortgelaufen, doch er wusste, dass dies der sicherste Weg wäre, die Schamanin auf sich aufmerksam zu machen. Er versuchte möglichst unbeteiligt zu tun und blickte zur Decke hinauf. Die Übrigen hier schien das Erscheinen der Schamanin überhaupt nicht zu beeindrucken. Vielleicht wussten sie ja nicht, wer Skanga war und wozu sie fähig war. Seine Angst wurde überwältigend, als er an die War nung Emerelles dachte. Er war ein Trottel! Niemals hätte er herkommen dürfen. Er wusste doch, dass Skanga die engste Beraterin des Trollkönigs war. Seine Anwesenheit hier musste fast unweigerlich zu einer Begegnung mit ihr führen!

Jetzt blieben die Trolle auch noch stehen. Was sollte er tun?

Neben ihm hockte ein Faun auf einem Bündel Gepäck und döste vor sich hin. »Hallo, Bruder!«

Der Faun blinzelte ihn an. »Ich halte nichts von diesem Bruder-Geschwafel.«

Nikodemus ließ sich nicht beirren. Er musste es schaffen, mit dem Kerl ins Gespräch zu kommen und unauffällig zu wirken. »Du hältst nicht viel von dem neuen König und seinen Reformen?«, fragte er in unverbindlichem Tonfall.

Der Faun wirkte alarmiert. »Das habe ich nicht gesagt! Hörst du! Ich lass mir von dir nichts unterschieben. Du ... Wer bist du überhaupt? Ich kenne dich nicht!«

Nikodemus hob beschwichtigend die Arme. »Kein Grund zur Sorge, ich ... «

»Du da!«, rief jemand lautstark.

Der Lutin begann zu zittern.

»Was soll das alles?« Der Faun stand auf. Auf seinen Bocksbeinen war er fast dreimal so groß wie Nikodemus. »Der Troll da hinten will etwas von dir.«

»Wohl eher von dir«, entgegnete der Lutin gereizt. »Ich bin jedenfalls nicht gegen die Reformen und versuche ... «

»He, Fuchskopf! Komm zu meiner Herrin!«

Der Faun grinste böse. »Das war es dann wohl, Fuchskopf.«

Nikodemus blickte über die Schulter. Kurz erwog er, loszulaufen und in der Menge zu verschwinden. Aber das wäre wohl töricht. Er würde nicht weit kommen! »Du bist ein Held«, sagte er sich leise. »Du hast in großen Schlachten gekämpft und an der Seite von Emerelle und Falrach Abenteuer erlebt.«

»Was murmelst du da?« Der Faun wich ein Stück von ihm zurück, als befürchte er, in seiner Nähe zu stehen genüge schon, um ins Unglück gestürzt zu werden.

»Komm her zu mir!«, rief der Troll.

Nikodemus reckte das Kinn vor und drehte sich um. »Ich bin ein Held!«, sagte er erneut. Dann ging er dem Troll entgegen und ließ sich zu dessen Herrin eskortieren. In der Halle war es stil geworden. Eine Ziege meckerte verwundert. Die meisten bemühten sich, irgendwoanders hinzusehen, um nicht auch noch die Aufmerksamkeit der Schamanin zu erwecken. Nur sehr wenige hatten den Mut, neugierig zu gaffen, was da vor sich ging.

»Deine Aura ist ein Leuchtfeuer in kaltem Blau. Was fürchtest du?«, begrüßte ihn Skanga. Ihre blinden weißen Augen blickten wie polierte Marmorkugeln aus ihrem verwitterten, grauen Gesicht. Sie ging krumm und stützte sich schwer auf einen Stock.

»Ich fürchte gar nichts«, stieß er in einem Tonfall hervor, der seine Worte Lügen strafte.

»Ich kenne dich, Lutin. Du bist…«

»Nikodemus Glops, Bruder des Elija Glops!« Er sagte das sehr laut. Ja, er schrie es fast, in der Hoffnung, irgendjemand hier hätte den Mut, seinen Bruder zu holen.

»Ich bin alt, aber nicht taub«, entgegnete die Schamanin. »Nun, da alle Anwesenden wissen, wer du bist, sollten wir unser Gespräch an einem anderen Ort fortführen. Es ist unhöflich, Fremde mit seinem Geschrei zu belästigen.«

Nikodemus schluckte. »Ich habe nichts zu verbergen ... «

»Nein? Deine Aura zeigt mir das Gegenteil.« Sie beugte sich vor. »Und was ist mit deinem Gesicht?«

Er tastete unwillkürlich über seine Schnauze. Hatte Emerelle doch nicht alle Tätowierungen verschwinden lassen?

»Bist du verletzt worden, Nikodemus?«

»Ja.« Er wollte erst etwas von Brandnarben erzählen, entschied sich dann aber, so wenig wie möglich zu lügen.

Er hatte den Verdacht, dass die alte Schamanin Lügen sofort bemerkte. »Emerelle hat mich geheilt«, fügte er noch hinzu. Skanga sollte darüber nachdenken, was für Konse-quenzen es haben mochte, wenn sie ihm etwas antat.

»Nehmt ihn mit!« Skanga drehte sich auf dem Absatz um. Einer ihrer Leibwächter packte ihn unsanft und hielt ihn wie einen jungen Welpen am Nackenfell fest. Es gab kaum etwas, was demütigender für einen Lutin war, als auf diese Weise getragen zu werden.

»Darf ich ihn befragen? Ich bin sicher, er wird mir in einer Stunde alles erzählt haben, was wir wissen möchten.« Es war die Dienerin mit der grässlichen Maske, die Skanga fragte. Und was Nikodemus über sie gehört hatte, jagte ihm bei der Vorstellung, er könne ihr ausgeliefert werden, Schauder über den Rücken.

»Ich habe keine Geheimnisse«, rief er. »Wir können über alles reden.«

Skanga stieß ein meckerndes Lachen aus. »Ich bin sicher, das werden wir.«

Sie brachten ihn in einen großen Raum, der aussah, als sei er früher einmal eine Küche gewesen. »Setz ihn dort ab!«

Ängstlich sah Nikodemus sich um, und was er entdeckte, bekräftigte ihn nur in seinem Entschluss, keinerlei Widerstand zu leisten. Er war nicht der Erste, der hier befragt wurde, auch wenn die einzigen lebenden Geschöpfe, die sich in der Küche befanden, einige Blütenfeen mit ausgerissenen Flügeln waren. Große Gläser dienten als ihre Gefängniszellen.

»Du bist also Emerelle begegnet«, begann Skanga und sah ihn durchdringend mit ihren toten Augen an. »Das kalte Blau deiner Aura ist noch stärker geworden, Nikodemus. Was macht dir solche Angst?«

»Diese Kammer«, stieß er hervor.

»Gibt es noch etwas anderes?«

»Ich ... « Nikodemus überlegte fieberhaft, wie er sei nen Kopf aus der Schlinge ziehen könnte, aber die Angst lähmte seine Gedanken.

»Darf ich ihm einen Finger ausreißen?«, fragte Birga. »Das wird seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen, das verspreche ich dir.«

»Noch nicht.« Skanga lächelte ihn an. »Willst du wirklich den Weg der Schmerzen gehen?«

»Du selbst hast mich beauftragt, Emerelle zu suchen!«

»Das war vor elf Jahren. Ich weiß nicht, wie Lutin das sehen, aber mir erscheint das eine sehr lange Zeit. Ich habe dich ausgeschickt, um Emerelle zu finden, damit sie hingerichtet werden kann. Nun kommst du wieder, und du wurdest vor nicht langer Zeit von der Elfe geheilt, der du den Tod bringen solltest. Du musst mir zugestehen, dass dich das nicht in einem guten Licht dastehen lässt. Und dann ist da noch deine Aura, die beherrscht ist vom kalten Blau größter Angst. Was fürchtest du, Nikodemus?«

Der Lutin räusperte sich. »Dass ich nicht die Zeit haben werde, dir diese -

zugegebenermaßen - merkwürdig erscheinenden Umstände erklären zu dürfen.«

Die alte Schamanin ließ sich auf einer Truhe nieder. »Rede! Und vergiss nichts!«

Stockend begann er zu erzählen. Als Skanga und Birga ihn nicht unterbrachen, gewann er an Selbstvertrauen. Er berichtete alles. Nur seinen Besuch beim Orakel ließ er aus.

Als er endete, war seine Angst fast verflogen.

»Und was sind Emerelles Pläne?«, fragte Skanga.

»Sie will sich mit den Maurawan treffen. Und sie will zum Gipfel des Albenhaupts. Ich glaube, Falrach wird sie auf diese Reise nicht begleiten.«

»Wenn sie versucht, das Albenhaupt zu ersteigen, müssen wir uns wohl keine Sorgen mehr machen«, sagte Birga gut gelaunt.

»Und wenn sie wusste, dass der Lutin uns alles erzählen wird?«, wandte Skanga ein.

»Dieser Falrach ist doch berühmt dafür, sehr verwickelte Pläne auszuhecken. Viel leicht haben sie den Lutin getäuscht, damit wir uns in Sicherheit wiegen, wenn er das erzählt. So verrückt kann Emerelle nicht sein, dass sie versucht, einen Berg zu erklimmen, der jeden umbringt. Und was glaubst du, warum sie so kurz vor der Königswahl in Vahan Calyd zurückkehrt, nachdem sie viele Jahre verschwunden war.

Das ist kein Zufall! Sie wird niemals auf diesen Berg steigen. Sie ist hier, um Gilmarak zu stürzen. Und weil sie weiß, dass ihr das auf dem Schlachtfeld nicht gelingen kann, sucht sie bei den Maurawan nach Meuchlern, die ihr dabei helfen sollen, unseren König zu ermorden.«

Die Worte der Schamanin ernüchterten Nikodemus. War es möglich, dass Falrach und Emerelle ihm etwas vorgemacht hatten? Auch Falrach?

»Ich sehe, auch du zweifelst jetzt«, fuhr ihn Skanga an. »Und durch das Schlammbraun des Zweifels dring erneut die Farbe der Angst in deine Aura. Du verheimlichst uns doch etwas!«

»Nein, Herrin, das würde ich niemals ...«

»Und jetzt sehe ich auch noch die Farbe der Lüge. Ein mattes Gelb.«

Nikodemus blickte zur Tür. Würde er es schaffen ... Noch bevor er den Gedanken vollenden konnte, packte ihn Birga. Er stemmte sich gegen ihre Kraft. Aber es war vergeblich. Er fühlte sich hilflos wie ein strampelndes Kleinkind in den Armen seiner Mutter.

»Du solltest uns jetzt sagen, was du uns verheimlichen willst.« Skangas Stimme klang müde.

Nikodemus dachte an die Tätowierung auf seinem Gesicht. Diese Geschichte würde ihn den Kopf kosten. Wer wollte schon einen Verräter um sich haben! Er konnte es nicht sagen.

»Fang an, Birga«, sagte Skanga. »Bring ihn nicht um. Er muss leben, hast du das verstanden?«

»Er wird leben, meine Herrin. Und er wird uns zuletzt mit Begeisterung alles sagen, was er weiß!«

Das Trollweib hörte sich beängstigend zuversichtlich an. »Hast du einen Lieblingsfinger, Lutin?« Was sollte das nun wieder? Ihm schwante das Schlimmste.

»Welchen deiner Finger findest du besonders bedeutend in deinem Leben? Welcher ist dir besonders nützlich in deinem Leben? Ich möchte ihn gern beschützen.«

So blöd wäre er noch, ihr das zu glauben! »Der kleine Finger meiner linken Hand. Ich benutze ihn beim Liebesspiel. Ich kann damit Weibern ... «

»Das will ich gar nicht wissen«, unterbrach ihn Birga. »Deine Weibergeschichten sind nicht von Belang. Du wärst also sehr unglücklich, diesen Finger zu verlieren? Bist du dir da ganz sicher? Andere schätzen besonders ihren rechten Daumen.«

Nikodemus schwitzte vor Angst. »Schwertkämpfer und Bogenschützen brauchen ihren rechten Daumen. Ich nicht. Meine Magie liegt in meinem linken kleinen Finger.

Aber können wir nicht über etwas anderes reden?«

»Nein!« Birga nahm seine beiden Hände und obwohl er sich nach Kräften mühte, sie zu Fäusten zu ballen, drückte sie ihm mühelos die Finger auseinander. »Ich möchte dir helfen«, sagte sie mit honigsüßer Stimme. »Was nun zu tun ist, soll dein Leben, nachdem wir zur Wahrheit gefunden haben, so wenig wie möglich beeinträchtigen. Du bist schließlich ein bedeutender Mann!« Sie nahm seinen rechten Daumen zwischen ihren Daumen und Zeigefinger. Ihre Hände waren bandagiert. Der Stoff kam Nikodemus so rau vor wie der Sand, den der Drachenatem im Verbrannten Land aufgewirbelt hatte. Sie drehte seinen Daumen leicht zwischen ihren Fingern.

Er schrie. Mehr als der Schmerz peinigte ihn die Erwartung dessen, was kommen musste.

Sie drehte weiter. Der Daumen sprang aus seinem Gelenk. Der Schmerz war so stark, dass er nicht einmal mehr schrie, sondern nur noch keuchend atmete.

»Wir sind gleich fertig«, sagte sie und drehte noch etwas weiter.

Nikodemus wurde schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, hielt Birga ihn immer noch fest. »Bist du wieder bei uns, kleiner Fuchsmann? Sieh einmal auf den Boden!«

Zitternd gehorchte er. Dort lag sein Daumen. Sie hatte ihn abgedreht, so wie er als Kind Fliegen die Flügel ausgerissen hatte. Ihm wurde schlecht!

»Reden wir weiter über deine Finger, Lutin. Du solltest mir jetzt sagen, welcher dir am zweitwichtigsten ist. Und bitte, sei ehrlich mit mir.«

»Mein linker Daumen«, schrie er auf. Er spürte, wie sein Blut an der rechten Hand hinablief. Er dachte an die Tätowierung auf seinem Gesicht. Er konnte das nicht sagen.

Sie würde ihm den Hals umdrehen, wenn sie das hörte!

»Und welcher der verbliebenen Finger bedeutet dir am wenigsten?« Sie sagte das in einem Tonfall, als habe sie es schon hundertmal gesagt.

»Mein rechter kleiner Finger. Aber bitte, wir können ... «

Sie nahm seinen linken Daumen. »Leider kann ich diesmal auf deine Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen. Da du noch immer nicht sprichst, werde ich dir zeigen müssen, dass ich auch streng sein kann. Du zwingst mich dazu, es zu tun.« Sie drehte leicht.

Nikodemus schrie.

»Lass ihn sofort los!«

Durch den Schleier seiner Tränen sah Nikodemus eine kleine Gestalt in schwarzem Ledermantel.

»Der König ist über euer Tun unterrichtet. Lasst ihn los, oder es wird euch übel ergehen! Ich weiß, dass er für deine Grausamkeiten nur wenig Verständnis hat und schon lange auf eine Gelegenheit wartet, dich für deine Vergehen am Volk zur Rechenschaft zu ziehen. Für verkommene, grausame Individuen wie dich ist in unserer neuen, gerechten Gesellschaft kein Platz, Schwester Birga!«

»Lass den Lutin los«, sagte Skanga mit tonloser Stimme. »Natürlich stellen wir uns nicht gegen den Willen des Königs und seinen Lieblingsohrenbläser.«

Birga stellte ihn auf die Füße. Nikodemus konnte nicht aus eigener Kraft stehen. All seine Kraft hatte ihn verlassen. Er ging in die Knie. Schluchzend hob er den blutigen Daumen auf, der auf dem Boden lag.

»Komm mit mir, Bruder.« Elija nahm ihn und half ihm auf. Er packte ihn unter den Achseln und zog ihn mit sich. Kein Wort fiel mehr.

Nikodemus konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Er schluchzte hemmungslos.

Vor der aufgegebenen Küche erwarteten ihn weitere Kobolde. Er sah das Gesicht von Liza. Liza, seine Geliebte! Er kämpfte gegen seine Tränen an. Er wollte vor ihr nicht wie ein weinerlicher Weichling aussehen.

»Das werden sie büßen«, zischte Elija ihm ins Ohr. »Nicht mehr lange, dann kommt der Tag der Abrechnung.«

Abtrünnig

Emerelle führte ihn über ein weites Schneefeld bis an den Rand eines urwüchsigen, dichten Walds. Der Schnee ließ die Äste knarren, obwohl es fast windstill war. Die weit ausladenden Baumkronen griffen so dicht ineinander, dass selbst jetzt, wo die Blätter gefallen waren, nur wenig Licht bis zum Boden des Waldes drang.

Kaum hatten sie den Wald betreten, hatte Falrach das Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Doch sosehr er sich auch bemühte, die heimlichen Späher zu entdecken, sie blieben im Verborgenen. Zuletzt fragte er sich, ob es die Bäume selbst waren, die ihnen nachstellten. Ob die knarrenden Äste geheime Botschaften weitertrugen. Oder waren es doch die Maurawan, jene Meister der Tarnung? Das Wilde Volk, wie viele ihrer Elfenbrüder sie nannten. Halb abfällig, halb ehrfürchtig. Jene, die nicht in Palästen leben mochten, sondern sich die weiten Wälder am Fuß des Albenhaupts zu ihrer Heimat erwählt hatten. Einzelgänger, die sich der Magie der Wälder verschrieben hatten. Die das Werk der Alben nicht verändern mochten, sondern mit den Wäldern im Einklang lebten, ohne je eine Hütte zu erbauen oder einen ihrer Bäume gefällt zu haben.

Emerelle schien genau zu wissen, wohin sie wollte. Sie ließ sich allem Anschein nach nicht von der unheimlichen Atmosphäre des Waldes beeindrucken. Sie führte sie zu einem tief eingeschnittenen Tal, dessen felsige Hänge von sich schlangengleich windendem Wurzelwerk bedeckt waren.

Falrach empfand den Wald als immer unheimlicher. Hier auf dem grauen Stein hätten die Bäume nicht mehr so dicht wachsen dürfen. Das war wider die Natur. Das waren keine Bäume, wie er sie kannte! Ein Zauber schien das Tal zu schützen. Selbst der Schnee war nur vereinzelt durch das Astwerk bis auf den Boden gelangt. Immer steiler wurde der Weg hinab. Falrach klammerte sich an Wurzeln und vermied es, auf die trügerischen Moospolster auf den Felsen zu treten. Verwundert sah er, dass viele Bäume ihre Blätter nicht abgeworfen hatten, obwohl es tiefster Winter war. Manche trugen Blüten und Früchte zur selben Zeit, als vereinten sie alle Jahreszeiten in sich.

Durch das dichte Blätterdach änderte sich das spärliche Licht des Wintertages. Es schien grün. Wie Pfeile stach es in das Zwielicht des Waldes hinab und riss nur winzige Flecken aus dem Dunkel. Der Geruch modernden Laubs hing schwer in der Luft. Eine schillernde Libelle schoss auf Silberflügeln an ihm vorbei.

Jetzt erst bemerkte Falrach, dass ihm nicht mehr kalt war. Dieser seltsame Ort duldete keinen Winter. Ein kleines Stück voraus erhob sich ein Monolith aus dem Hang. Ein einzelner aufrecht stehender Stein, mehr als vier Schritt hoch. Einer der Lichtpfeile, die das Blätterdach der Baumkronen durchdrangen, hüllte ihn in kaltes, graues Winterlicht.

Emerelle blieb vor dem Monolithen stehen. Sie neigte ihr Haupt, so dass ihre Stirn den zerfurchten Stein berührte. Reglos verharrte sie. Ihre Lippen bewegten sich lautlos.

»Was willst du, gefallene Königin?«

Falrach unterdrückte den Instinkt, nach seinen Schwertern zu greifen. Er vermochte nicht zu sagen, aus welcher Richtung die Stimme gekommen war. Nervös drehte er sich um und spähte ins Zwielicht. Nebel stieg zwischen dem verschlungenen Wurzelwerk auf. Obwohl es hier, tief im Wald, völlig windstill war, bewegte er sich in wogenden Spiralen, so als sei er nicht nur Wasserdampf, sondern etwas von Leben Erfülltes.

»Ich suche Melvyn, den Sohn Silwynas.«

»Er ist keiner mehr von uns. Er hat sich entschieden, diese Welt zu verlassen.«

Der Nebel kroch jetzt um Fairachs Füße. Zwischen den Bäumen erschienen schattenhafte Gestalten. Nervös ballte der Elf die Hände zu Fäusten und streckte sie wieder. Die Maurawan galten als launisch und grausam. Selbst Elfen gegenüber.

»Wohin ist er gegangen?«

»Warum sollten wir dir das sagen?« Noch immer schien die Stimme von überall und nirgends zu kommen. Es war unmöglich, sie einem der Schattenkrieger zuzuordnen.

»Weil er mich auf den Gipfel des Albenhauptes führen wird.«

Falrach schloss die Augen. Was war das für eine Argumentation! Stille lastete auf dem Wald. Der Nebel reichte ihm nun schon bis zu den Knien.

»Er sucht lieber im Schoß seines Weibes Zuflucht, als seine Freiheit im Kampf gegen die Trolle zu behaupten. Was lässt dich glauben, dass er dich zum Albenhaupt führen wird, um dort mit dir den Tod zu finden?«

»Ich werde ihm versprechen, dass er dort seinem Vater begegnen wird. Ich weiß, wie sehr es ihn quält, seinen Vater nie gesprochen zu haben. Er wird mit mir kommen.«

»Sein Vater ist tot. Wie sollte er ihm auf dem Gipfel eines Berges begegnen können?«

»Wir werden dort die Alben finden«, sagte Emerelle mit einer Selbstsicherheit, die Falrach fassungslos machte. Der Orakelspruch der Gazala mochte alles Mögliche bedeuten. Ihn so auszulegen, war reine Wil kür.

Eine der Schattengestalten trat vor. Eine Elfe, die ihr Gesicht mit dem rotbraunen Saft des Dinko-Busches bemalt hatte. Ihr Haar war streng zurückgekämmt und zu einem schweren Zopf geflochten. Sie trug abgewetzte Jagdkleidung. Ihre Augen waren von kaltem, hellem Blau. Die Iris umgeben von einem feinen, schwarzen Rand. Wolfsaugen, dachte Falrach.

»Mein Sohn lebt in den Bergen nahe der Menschensiedlung Firnstayn«, sagte sie. »Es wird gut für ihn sein, wenn er endlich seinen Frieden findet, auf die eine oder andere Art. Wenn er versucht, auf das Albenhaupt zu steigen, wird man sich an ihn nicht als den Maurawan erinnern, der vor dem Kampf mit den Trollen davongelaufen ist.«

Falrach traute seinen Ohren nicht. Da lieferte die eigene Mutter ihren Sohn aus! Sie waren verrückt, die Maurawan! Ohne Zweifel verrückt!

»Was willst du hier, Ollowain?«

Auf das Albenhaupt würde er Emerelle nicht folgen. Er hatte sich geopfert, um sie vor dem Feuerodem eines Drachen zu bewahren; darin hatte er einen Sinn gesehen. Aber diese Suche nach den Alben ... Sie jagte nur einem Hirngespinst nach. Da es den Maurawan offensichtlich gefiel, Verrückten zu helfen, sollte er in dieselbe Kerbe schlagen. »Ich suche Verbündete, die mir helfen, den König der Trolle zu stürzen und Albenmark wieder in die Hände eines Elfen zu geben.«

»Warum sollte dir gelingen, was uns in mehr als elf Jahren nicht glückte?«

»Weil ihr bisher keinen Anführer hattet, der eure Schwächen zu euren Stärken gemacht hat.«

Spätherbstnachmittag

Cabezan saß auf einem aufgepolsterten Lehnstuhl auf der Terrasse seines Palastes und blickte zu den nahen Weinbergen. Wie fleißige Ameisen krochen die Weinbauern und ihre Helfer die Hänge entlang. Es war ein guter Sommer gewesen, dieses Jahr. Es hatte viel Sonne, aber auch genug Regen gegeben. Ein Sommer, der kräftige, süße Trauben hervorgebracht hatte. Dieses Jahr würde einen vorzüglichen Wein hervorbringen.

Der König hatte ein schweres Bärenfell auf den Knien liegen. Er streckte sein Gesicht der Sonne entgegen und genoss die milde Wärme des Spätherbstnachmittags. Er hatte sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. Aber ein Blick in Balduins Gesicht genügte, um ihn ahnen zu lassen, dass dieses Glück nicht mehr lange währen würde. Außer seinem Hofmeister war nur noch Tankret anwesend. Aber Cabezan war sich sicher, dass sie von mindestens einem Dutzend Fenstern heimlich beobachtet wurden.

»Also heraus damit, Balduin. Welche schlechten Nachrichten bringst du?«

»Der Mordanschlag auf den weißen Ritter ist fehlgeschlagen. Der Attentäter galt als sehr fähig. Man munkelt, Tjured selbst habe den tödlichen Streich gegen den Ritter abgewehrt. Unser Plan hat sich in das Gegenteil verkehrt. Michel Sarti ist so beliebt wie noch nie, mein König.«

»Und auch deine Sympathien liegen bei diesem Ritter Gottes, oder irre ich mich?«

Balduin erlaubte sich ein Lächeln. »Ich muss gestehen, dass ich diesem jungen Mann gern einmal begegnen würde.«

»Und würdest du ihm dann gleich empfehlen, nach meinem Thron zu greifen?« »Herr, ich habe nie ... «

»Ich weiß, was du von mir hältst. Verschone mich mit deinen Lügen! Also die Drusnier konnten ihn mit Pfeilen nicht umbringen. Dein Meuchler scheiterte daran, diesen Wunderritter mit einer Sichel zu fällen. Wie ich das sehe, sollten wir einen ganz anderen Weg beschreiten. Gegen Stahl scheint der Mann gefeit zu sein. Vergiften wir ihn! Ich möchte, dass du ihm dieses Mädchen schickst ...« Er schnippte ärgerlich mit den Fingern. In letzter Zeit verließ ihn immer öfter sein Namensgedächtnis. Er sah das Gesicht der kleinen Hure noch vor sich. »Du weißt schon ... Das Mädchen, das in Iskendria war.«

»Elodia?«

»Ja, genau die meine ich! Schreibst du ihr eigentlich noch Briefe im Namen ihres verstorbenen Bruders?«

»Nein, seit über einem Jahr nicht mehr. Mein letzter Brief an sie war im Namen der Frau, die ihr Bruder nie hatte, verfasst. Ich habe ihr mitgeteilt, er sei an der Pest gestorben.«

Cabezan traute seinen Ohren nicht. »Was? Wie kannst du dich unterstehen! Das untergräbt ihre Moral! Du hättest mich fragen müssen, du verdammter alter Narr! Was hast du dir dabei gedacht?«

Balduin gehörte zu den wenigen Männern, die es wagten, seinem Blick standzuhalten, wenn er in Rage geriet. »Ich konnte das Mädchen nicht mehr länger belügen. In Drusna ist ihr übel mitgespielt worden. Sie hätte es fast nicht mehr zurück geschafft.«

»Und weil du ein Menschenfreund bist, hast du ihr noch geschrieben, dass ihr Brüderchen verreckt ist? Was wolltest du damit erreichen? Dass sie sich erhängt?«

»Ich konnte sie nur einfach nicht mehr belügen«, antwortete der Alte ruhig. »Ich fürchte, ich habe mir nicht viel dabei gedacht. Ich wollte mich nur einer unangeneh-men Pflicht entledigen.«

Dass er sich nichts gedacht hatte, mochte Cabezan nicht glauben. Das war nicht Balduins Art. Was würde er als Nächstes tun? Dem Mädchen einen Brief schreiben, in dem die Wahrheit über den Tod ihres Bruders stand? »Du wirst meinen Befehl ausführen, Balduin! Dieses Mädchen soll den edlen Ritter verführen und ihm dann einen Becher mit vergiftetem Wein einschenken. Dann hat der Ärger ein Ende. Davor wird ihn seine Rüstung ja wohl nicht bewahren!«

»Bitte entschuldigt, Herr, aber das ist etwas anderes, als Heidenfürsten in Iskendria oder Drusna zu töten. Michel Sarti ist ein Held. Womit soll ich die Notwendigkeit seines Todes begründen?«

»Ich bin der König! Ich bin so einer kleinen Hure keine Erklärungen schuldig. Was denkst du dir!«

»Ich denke, dass wir sie zur Hure gemacht haben und dass sie Fargon im Kampf gegen seine Feinde in den letzten Jahren weit größere Dienste erwiesen hat als all unsere Krieger zusammen, den weißen Ritter eingeschlossen. Wir sollten ihr nicht einen so schmutzigen Mord anhängen. Es wird herauskommen, dass sie den Ritter getötet hat.«

»Umso besser, wenn die Kleine stirbt. Dann kann sie auch nicht mehr herausfinden, wie sehr du sie über ihren Bruder belogen hast. Tankret wird sich darum kümmern, dass der Pöbel sie aufspürt und sie am nächstbesten Baum aufgeknüpft wird.« Sein Leibwächter lächelte. Er hatte kein Gewissen. »Du darfst dich jetzt zurückziehen, Balduin. Bis zur Dämmerung will ich den Brief sehen, den du der kleinen Hure schreibst.«

Cabezan legte den Kopf in den Nacken und lauschte auf die schlurfenden Schritte seines alten Hofmeisters. So offen hatte sich Balduin noch nie zuvor widersetzt. Das konnte er nicht dulden! Er blickte in den Himmel hinauf. Eine Wolke war vor die fahle Herbstsonne gezogen. Es wurde kühl auf der Terrasse. Er zog das Bärenfell höher.

Als Balduin verschwunden war, winkte er Tankret zu sich. »Die Frechheiten des Hofmeisters haben mich verärgert. Ich würde es begrüßen, wenn er keine Gelegenheit mehr hätte, mich noch einmal zu kränken. Es sollte wie ein Unfall aussehen. Er hat viele Freunde. Aber niemand würde sich wundern, wenn so ein alter Mann die Treppe hinabstürzt. Allerdings soll er vorher noch den Brief aufsetzen. Morgen wäre ein guter Tag für seinen Tod.«

Tankret trat vor ihn. »Mein König, ist es klug, den Alten zu töten?«

Cabezan hob verärgert eine Braue. Es war das erste Mal, dass sein Leibwächter einem Mordauftrag widersprach. War er plötzlich von Verrätern und Weichlingen umgeben?

»Nicht, dass Ihr mich missversteht, mein Herr. Lange Jahre habe ich nur darauf gewartet, dass Ihr mir befehlt, ihn zu töten. Er hält mich für einen tumben Mörder. Er lässt keine Gelegenheit aus, mir seine Verachtung zu zeigen. Ich würde seinen Tod nicht bedauern. Und manches Mal habe ich überlegt, ob ich das Schicksal nicht ohne Euren Befehl in die Hand nehmen soll. Aber Balduin ist zu wichtig ... Er ist in zu viele Geheimnisse eingeweiht. Er versteht sich zu gut darauf, die Verwaltungsaufgaben in Eurem Sinne zu erledigen, ohne dass Ihr danach schauen müsstet. Es gibt am ganzen Hof niemanden, der ihn ersetzen könnte. Schon am Tag nach seinem Tod würden Schwierigkeiten beginnen. Wenn ich mir einen Rat erlauben darf, mein Herr. Lasst ihn erst einen Nachfolger ausbilden. Dann werde ich ihn mit Freuden umbringen.«

Cabezan strich sich müde über die Stirn. Ein Leibwächter, der seine Befehle hinterfragte ... Er sollte Tankret auch damit beauftragen, einen Nachfolger auszubilden!

Das Haus der Königin

Die Maurawan hatten Emerelle überrascht. Sie hatten ihr einen prächtigen Schimmel geschenkt und ein wunderbares Kleid. Man konnte ihm ansehen, woher es kam. Und doch war es einer Königin angemessen. Es war aus weichem, weißem Leder mit langen Fransen an den Ärmeln, die die Nähte gegen Regenwasser schützten. Hunderte kleiner Flussperlen waren darauf aufgestickt und bildeten verschlungene Spiralmuster. Dazu kamen schenkelhohe, weiße Stiefel. Das Kleid war geschlitzt, so dass es beim Reiten nicht störte, obgleich es vermutlich die Blicke der Männer anziehen würde. Stiefel und Lederkleid waren schön und praktisch zugleich. So würde sie auch das Albenhaupt erklimmen können.

Emerelle führte den Hengst über das Schneefeld hinauf zum Albenstern. Immer wieder blickte sie zu dem Berg, der sich in der Ferne erhob. Sein Haupt war in dichte Wolken gehüllt. Es hieß, noch nie habe ein Albenkind den Gipfel dieses Berges erblickt. Falrach hatte ihr etwas gesagt, das sie zunächst einfach nur abgetan hatte, doch die Worte waren wie ein schleichendes Gift in sie eingedrungen. Wenn kein Albenkind und kein Menschenkind den Weg zum Gipfel finden konnten, dann mochte dort oben auch ein Devanthar lauern. Vielleicht war der Bann, der auf dem Berg lag, ein Schutz? Jener letzte Devanthar, der sich vor etlichen Jahren ins Herzland gewagt hatte, um mit der Zauberin Noroelle ein Kind zu zeugen, war seitdem verschwunden. Wartete er auf dem Albenhaupt?

Das war Unsinn, sagte ihr der Verstand. Warum sollte er sich dorthin zurückziehen?

Vielleicht um die blutige Fehde mit den Alben zu Ende zu bringen?

Emerelle erreichte das Boot, das noch immer auf dem Berghang lag. Es war halb in einer Schneewehe versunken. Die Elfe entspannte sich und befreite ihren Geist von allen Zweifeln. Dann griff sie nach der Macht des Albensterns. Sie spürte die Kraft des Goldenen Netzes und ließ sie durch sich fließen. Dabei dachte sie an das Hartungs-kliff hoch über Firnstayn, wo inmitten einer steinernen Krone auf dem Gipfel des Berges der Albenstern lag, der ihr Ziel war.

Das magische Tor öffnete sich. Sie spürte die Unruhe ihres Hengstes. Er ließ sich zwar ohne zu scheuen ins Goldene Netz führen, doch seinen Augen waren weit vor Angst, und seine Nüstern bebten. Nur wenige Schritt, dann war sie auf der anderen Seite. In einer anderen Welt. Wind zerzauste ihr Haar, als sie durch das magische Tor trat. Sie blickte hinab auf das graue Wasser des Fjords. Es lag noch kein Schnee auf dem Hartungskliff, doch der Winter war nicht mehr fern. Kalter Nieselregen wob silberne Wasserperlchen in die Mähne ihres Hengstes.

Leichter Nebel lag über dem Ufer des Fjords. Sie konnte Firnstayn nicht sehen, doch leuchteten dort, wo die kleine Stadt liegen musste, zwei helle Lichter. Nein, nicht Lichter. Es waren Feuer wie von brennenden Häusern!

Emerelle saß auf und trieb ihren Hengst den Hang hinab. Trittsicher brachte er sie über ein Geröllfeld auf einen steil abfallenden, grasbewachsenen Hang. Als ein Windstoß den Nebel zerriss, sah sie deutlich das Feuer, und Menschenkinder, die am Fjord entlang flüchteten. Ein Haus nahe der Festhalle der Königin brannte! Ein zweites mitten in der Siedlung. Was ging dort vor sich? Feindliche Krieger konnte sie nicht entdecken.

Sobald das Gelände es zuließ, ließ sie den Hengst im Galopp jagen. Bald entdeckte sie die Schemen von Booten auf dem Wasser. Dann erreichte sie die Flüchtlinge. Sie bildeten kleine Gruppen. Angst stand in ihren Gesichtern. Als Emerelle sich einer der Gruppen näherte, stürmte ein junger Mann mit drohend erhobener Hacke auf sie zu.

»Komm nicht näher! Unsere Familie ist noch gesund! Komm nicht näher!«

Emerelle zügelte den Hengst. Das große Tier schnaubte und stieg. Seine Vorderhufe wirbelten durch die Luft, und der Bauer wich erschrocken zurück. »Geh nicht nach Firnstayn. Dort ist die Pest!«

Ohne den Mann eines weiteren Wortes zu würdigen, jagte sie weiter das Ufer entlang.

Gab es denn nur Unglück und Elend in der Welt der Menschenkinder? Das Tor in der primitiven Holzpalisade stand weit offen. Ein magerer Hund schlich über die verlassene Straße. Emerelle ritt hinauf zum Hügel, auf dem die Festhalle stand. Ein kleines Haus stand in der Nähe. Sein Dach war eingebrochen. Lodernde Flammen schlugen aus der Tür.

Ein Stück entfernt entdeckte die Elfe einen Toten. Jemand hatte ihm ein Schwert durch den Leib gerammt. Es war ein älterer Mann. Seine Kleider aus feinem Tuch verrieten, dass er begütert gewesen sein musste. Er hatte keine Schwielen an den Händen. Ratlos sah Emerelle sich um. Schließlich ging sie zur Festhalle. Als sie Stimmen hörte, ließ sie die Zügel sinken. Sie war unbewaffnet. Gegen Menschenkinder würde sie auch ohne ein Schwert bestehen können.

Sie trat in die Königshalle. Eine kleine Gruppe Bewaffneter kauerte über einer Feuergrube im Boden. Plötzlich sprang einer der Männer auf und zog sein Schwert.

Emerelle war überrascht, dass der Krieger sie so schnell bemerkt hatte. Sie war völlig lautlos eingetreten, und alle an der Feuergrube hatten ihr den Rücken zugewandt. Er musste gespürt haben, dass sie da war. Das war ungewöhnlich für einen Menschensohn.

»Wer bist du?«, fuhr der Krieger sie an.

»Nicht, Answin!« Ein alter Mann ohne Nase drückte den Schwertarm des Kriegers nieder. Ihm standen Tränen in den Augen. »Bei den Göttern, unsere Gebete sind erhört worden!«

Emerelle erinnerte sich an den Alten. Er war einst ein enger Vertrauter des Königs Alfadas gewesen. Und er gehörte zu jenen, die in der Snaiwamark gegen die Trolle gekämpft hatten. »Lambi«, sagte sie freundlich. »Mir scheint, deine Götter halten schützend die Hände über dich.«

Der Alte eilte ihr entgegen. Einen Moment lang fürchtete sie, Lambi werde sie umarmen. Sie wich ein wenig vor ihm zurück. Da blieb er mit ausgebreiteten Armen stehen. Er war ihr so nah, dass sie spüren konnte, dass er befallen war. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Augen glänzten zu sehr ... Sie roch die Krankheit auch in seinem Atem.

Lambi ließ sich vor ihr auf die Knie sinken. »Ehrwürdige Königin Emerelle. Du kommst in der Stunde der höchsten Not. Bitte hilf Kadlin. Ihre Tochter ringt mit dem Tod …« Er stockte. »Sie ist fast…«

»Bring mich zu ihr, Lambi. Ganz Albenmark steht in Kadlins Schuld. Ich werde das niemals vergessen und dem Fjordland immer wohlgesonnen sein.«

»Habt ihr das gehört! Alles wird gut. Los, hoch mit euren Ärschen, wir müssen zwei Königinnen zusammenführen.«

Die Männer schoben die Bänke, auf denen sie gesessen hatten, zur Seite und fegten die Binsen neben der Feuergrube fort. Ein eiserner Ring war in den Boden eingelassen. Der Mann, der gegen sie sein Schwert gezogen hatte, öffnete die Falltür.

»Wir mussten sie verstecken«, erklärte Lambi. »Ihr eigener Leibarzt hat ihr Haus in Brand gesetzt. Ich kenne Olav viele Jahre. Er muss vor Angst verrückt geworden sein.

In den letzten Tagen war er nicht mehr er selbst! Statt zu helfen, hat er die Leute nur in Angst und Schrecken versetzt. Als heute Mittag das erste Kind an der Pest starb, ist Panik ausgebrochen. Sie haben das Haus niedergebrannt, in dem das Kind verstarb. Und dann kamen sie hier herauf. Als ich das Feuer in der Stadt gesehen habe, habe ich Kadlin und Swana in das Versteck hier in der Königshalle gebracht. Dann kamen sie. Männer und Frauen, die noch vor ein paar Tagen auf dem Apfelfest mit ihr gefeiert hatten.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Sie waren wie verrückt. Olav hat sie angeführt. Sie glaubten, sie habe sich noch immer in ihrem Haus eingeschlossen. Dann haben die Dreckschweine Fackeln auf das Dach geworfen. Als das Haus lichterloh brannte, haben sie es mit der Angst zu tun bekommen. Nur Olav blieb. Ich glaube, dieses Aasgesicht wartete auf die Todesschreie aus dem Haus. Ich hab ihn niedergemacht. Dann hatte keiner mehr Lust, zu bleiben. Sie sind fortgelaufen ... «

Lambi nahm eine Fackel. »Komm, du Göttergeschenk!«

Emerelle musste lächeln. Göttergeschenk war sie all den Jahrhunderten, die sie nun schon lebte, noch nie genannt worden.

Der Menschensohn führte sie eine kurze Treppe hinab in einen Tunnel, der so niedrig war, dass selbst sie halb geduckt gehen musste. Nach ein paar Schritt erreichten sie eine grob gezimmerte Tür. Sie war verzogen und öffnete sich nur widerwillig.

Dahinter lag eine Kammer, in der etliche Schinken aufgehängt waren. Fässer drängten sich an einer Wand. Auf Säcken waren Felle ausgebreitet worden. Ein junges weißhaariges Mädchen lag nackt hingestreckt. Ihr Leib war ausgezehrt. Emerelle sah die Wundmale an der Leiste und unter einer Achsel. Es stank nach Eiter und Schweiß in der kleinen Kammer.

Eine Frau mit zerzaustem roten Haar kauerte am Lager des Mädchens. Sie war völlig apathisch. Immerzu tupfte sie mit einem feuchten Tuch über den Leib des Kindes. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass jemand in die Kammer getreten war.

Emerelle ging zu ihr und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Lass mich ihr helfen.«

Jetzt endlich blickte die Frau zu ihr auf. Erstes Grau schimmerte in ihrem Haar. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und in die Mundwinkel hatten sich tiefe Falten gegraben. Emerelle war erschüttert, zu sehen, wie schnell die Menschenkinder verfielen. »Kadlin?«

Die Frau starrte sie ungläubig an. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Emerelle spürte, dass auch die Königin von der Pest befallen war.

»Du ... « Kadlin schüttelte den Kopf. »Du bist gekommen.« Sie ergriff den Saum von Emerelles Kleid und vergrub ihr Gesicht in dem weichen Leder. »Endlich. Luth, du hast mich erhört. Endlich ...«

Emerelle kniete sich neben das Lager. Vorsichtig legte sie eine Hand auf die Brust des Mädchens. Die Kleine war ganz kalt. Sie lag im Sterben. Die Seuche hatte sie all ihrer Kräfte beraubt. Ihr Herz schlug nur noch unregelmäßig und schwach.

Das Mädchen schlug die Augen auf und sah sie an. Sie hatte die Augen ihrer Mutter.

Ein leiser Seufzer kam über ihre blassen Lippen. Dann hörte ihr müdes Herz zu schlagen auf.

Die Loabo-Wurzel

Elodia faltete den Brief zusammen und legte ihn in die kleine Schachtel aus Holzspänen, die sie unter ihrem Bett verwahrte. Sie hatte ihn dreimal gelesen. Die Handschrift Balduins war fahrig geworden. Sie hatte nicht mehr dieselbe Kraft wie früher. Das Siegel des Königs war in das

dunkelrote Siegelwachs gedrückt. Auch wenn sie Ungeheuerliches verlangten, konnte es keinen Zweifel geben, dass es der Wille des Königs war. Eine Sache war bemerkenswert. Sie hatte das Gefühl, dass der Brief noch einmal geöffnet worden war, nachdem der König ihn gesiegelt hatte. Unter das Siegel war noch eine letzte Zeile hinzugefügt worden. Rette dein Leben.

Einen Augenblick erwog sie, das Schreiben der Oberin zu zeigen, doch dann verwarf sie es wieder. Es war nicht üblich, dass die Priesterinnen des Refugiums die Befehle des Königs mit der Oberin besprachen.

Es war der erste Brief, den sie seit der Nachricht vom Tod ihres Bruders erhalten hatte.

Sie hatte gewagt, sich der Hoffnung hinzugeben, dass sie das Refugium nie mehr verlassen müsste.

Elodia schloss die Augen. Sie war müde. Manchmal fragte sie sich, ob es wohl eine Krankheit war. Seit sie aus den Wäldern Drusnas zurückgekehrt war, war sie immerzu erschöpft, ganz gleich, wie lange sie schlief. Es fiel ihr schwer, selbst die wenigen Aufgaben, die ihr im Refugium oblagen, gewissenhaft zu erledigen. Alles, was sie getan hatte, hatte sie für ihren Bruder getan. Seit seinem Tod war ihr Leben leer.

Manchmal fragte sie sich, ob es die Strafe Tjureds für ihre Bluttaten war, doch das konnte nicht sein. Sie hatte nur Heiden getötet! Aber dieser neue Auftrag ... Wenn sie ihn ausführte, wäre sie eine Verdammte, und wenn sie sich weigerte, dann war sie eine Verräterin. Sie hatte schon von dem weißen Ritter gehört. Wohl jeder in Fargon hatte von ihm gehört. Sie hatte den Fürsten Arsi getötet, aber Michel Sarti war der Held dieses Krieges. Sein Name war in aller Munde. Und es war ihr auch recht so. Sie war nicht stolz auf das, was sie getan hatte. Sie hatte einen Befehl des Königs ausgeführt und ihre Tat war zweifellos von Nutzen für Fargon gewesen. Aber dieser neue Mordbefehl ... Konnte es stimmen, dass sich der Ritter gegen König Cabezan verschworen hatte? Wenn sie an den alten Mann in seinem Bett zurückdachte, überkam sie stets Schrecken. Niemand sprach gut von ihm. Die Menschen fürchteten den König. Doch er war unzweifelhaft von Gott berührt.

Sein Leben nahm kein Ende, obwohl er immer wieder schwer erkrankte und es weit über die übliche Lebensspanne hinausreichte.

Balduin hatte den Brief verfasst, also musste der Tod des Ritters von Nutzen für das Königreich sein! Er war ein gütiger Mann. Auch er hatte ihr manchmal geschrieben. Sie würde ihm immer dafür dankbar sein, dass er sich die Mühe gemacht hatte, ihr einen langen Brief über den Tod ihres Bruders Jean und vor allem über sein Leben zu schreiben. Jean war glücklich gewesen. Er hatte sich gerade verliebt, als die Pest ihn und seine Geliebte dahinraffte. Er war ein geachteter Schreiber am Hof des Königs gewesen, und Balduin hatte keinen Zweifel, dass Jean sogar zum Statthalter aufgestiegen wäre, wenn er nur länger gelebt hätte.

Ihr waren Tränen in die Augen getreten. Sie würde es für Balduin tun und nicht für Cabezan. Sie erhob sich und verließ die kleine Hütte, die nahe der Mauer abseits der großen Gebäude des Refugiums stand. Sie würde die Hilfe von Schwester Anais benötigen, der Gärtnerin. Sie selbst kannte sich mit Giften nicht aus.

Pfützen standen auf den Gartenwegen. Am Morgen war schwerer Regen niedergegangen. Er hatte eine erste Vorahnung des Winters mitgebracht. Es war nasskalt. Der Himmel hing tief über den Bergen. Die weitläufigen Gärten, die von den Ordensschwestern angelegt worden waren, waren noch jung. Die neu gepflanzten Bäume hatten kaum armdicke Stämme. Wenn sie wuchsen und größer wurden, würde das Refugium ein wunderbarer Ort sein.

Sie ging vorbei an einer jungen Novizin, die einen Rosenbusch ausputzte. Das Mädchen war höchstens siebzehn. Sie war schön. Elodia lächelte melancholisch. Es waren nur die schönen Mädchen, die es hierher verschlug.

Sie nannten sich einen Orden und sprachen sich untereinander mit Schwester an. Doch die Kirche wusste nichts von dem, was im Refugium auf dem Möns Gabino geschah.

Und hätte sie es gewusst, hätte sie diesem Orden sicherlich nicht ihren Segen erteilt. Es machte das Ungeheuerliche, das hier geschah, erträglicher, wenn es nach festen Regeln verlief. Sie alle pflegten einen höflichen Umgang miteinander.

Elodia verharrte vor der schmalen, roten Holzbrücke, die über den schwarzen Pfuhl führte. Das dunkle Wasser war unbewegt. Elodia atmete schwer. Dies war der einzige Ort im Refugium, der ihr unheimlich war. In diesem Teich versenkten sie in versiegelten Tonkrügen die Leiber der ungeborenen Kinder. Kein Jahr verstrich, ohne dass eine der Novizinnen schwanger wurde. Ihre Ausbildung beruhte nur selten auf dem Studium von Büchern. Was sie im Dienste des Königs tun sollten, das übten sie in all seinen Spielarten hinter den hohen Mauern des Refugiums. Und so blieb es nicht aus, dass es zu Schwangerschaften kam. Doch der Möns Gabino war kein Ort für Kinder. Manche Schwestern verheimlichten es, doch zuletzt fiel es immer auf. Die Oberin selbst holte die Kinder. Aber es war stets die Aufgabe der Mütter, die schweren Tonkrüge im schwarzen Pfuhl zu versenken.

Elodia fasste sich ein Herz und ging raschen Schrittes über die Brücke. Wasser spritzte auf. Ein Karpfen hatte nach einer Fliege geschnappt. Sie wurden hier groß und fett.

Niemand aß einen Fisch aus diesem Teich.

Sie fand Schwester Anais bei den Oleanderbüschen. Die Gärtnerin schwenkte ein Räucherfass zwischen den Pflanzen und sang leise vor sich hin. Sie sah ihr eine Weile zu, bis Anais sie schließlich bemerkte.

»Elodia! Wie schön, dass du deine Hütte verlassen hast und einen Spaziergang machst.

Komm zu mir und atmeden Rauch. Sandelholzrauch belebt nicht nur die Pflanzen, er öffnet auch die Seele von uns Menschen. Magst du mir ein wenig bei meiner Gartenarbeit helfen?«

»Wenn ich ehrlich bin, Schwester Anais, dann bin ich gekommen, um dich um Hilfe zu bitten. Ich benötige deinen Rat in Bezug auf ein Gift. Es soll innerhalb von zwei oder drei Tagen tödlich sein. Es soll keine Schmerzen bereiten, die das Opfer ahnen lassen, dass es vergiftet wurde, und man soll dem Toten auch nicht ansehen können, dass er eines unnatürlichen Todes gestorben ist.«

Sie setzte ihr Räucherfass ab und begann mit Daumen und Zeigefinger ihre Nasenspitze zu massieren. Es war eine Eigenart von ihr, die ihr schon manchen Spott eingetragen hatte. Plötzlich verfinsterte sich ihre Miene. Als sie aufblickte, waren ihre Lippen schmale Striche geworden. »Das ist ein bisschen viel, was du verlangst.«

Elodia hatte Schwester Anais noch nie so übellaunig erlebt. »Gibt es so ein Gift nicht?«

»Oh, doch. Das gibt es. Aber ich habe es nicht vorrätig. Wir müssen dazu eine Loabo-Wurzel ziehen. Man muss sie bei Vollmond mit einem schwarzen Seidenschal aus dem Erdreich ziehen, sonst verliert sie ihre Macht. Es ist ein ganz besonderes Gift. Es greift die Adern im Gehirn an. Es zerfrisst sie, bis Blut ins Hirn sickert.«

»Und das ist ganz gewiss tödlich?«

»Das ist es. Es geht langsam. Manche bekommen Kopfschmerzen. Meistens ist es jedoch so, dass den Opfern schwindelig wird. Sie können nicht mehr klar sprechen oder vergessen einzelne Worte. Das Gift ist unbedingt tödlich! An den ersten beiden Tagen nachdem die Opfer es eingenommen haben, spüren sie gar nichts. Leider wächst nur eine einzige Loabo-Wurzel in meinem Garten«, sagte sie zerknirscht.

»Und? Kann man sie ernten?«

»Ja, gewiss. Bei Vollmond. Und dann müssen wir noch das Gift aus ihr extrahieren. Es wird ein wenig dauern.

Ich hatte gehofft, ich würde Ableger aus der Wurzel ziehen können.« Anais seufzte.

»Gehen wir nun zur Oberin. Ich fürchte, einen schwarzen Seidenschal haben wir auch nicht im Refugium. Und wenn ich schon meine einzige Loabo-Wurzel opfern soll, dann will ich auch alles richtig machen!«

Der freie Wille

Emerelle presste fest auf die Brust des Mädchens. Wieder. Und wieder. Das Herz regte sich. Sie spürte zögerliche, schwache Schläge. Mit geschlossenen Augen versuchte sie eins mit der Kleinen und ihrem Körper zu werden. Sie stimmte sich auf den stockenden, unregelmäßigen Herzschlag ein, senkte das Fieber und reinigte ihr Blut.

Sie gab dem Körper neue Kraft, um ein Wiederaufflackern der Krankheit unterdrücken zu können. Zuletzt heilte sie das zerstörte Gewebe der aufgeplatzten Eiterbeulen und ließ die Verletzungen verschwinden, ohne dass eine Narbe auf der Haut blieb.

Als sie die Augen wieder aufschlug, ergriff Kadlin ihre Hände. »Kannst du ihr helfen?«

»Sie wird leben. Nun sollte ich mich um dich kümmern.« Sie sah zu dem alten Krieger ohne Nase auf. »Und auch um dich. Ihr beide tragt die Krankheit schon in euch.«

Mit aller Aufmerksamkeit widmete sie sich den beiden. Bei dem Alten linderte sie auch die Beschwerden, die die beginnende Gicht ihm bereitete. Beide hatten sie mehrere Insektenstiche.

»Ihr müsst eure Kleidung in kochendem Wasser reinigen. Bei Pelzen und anderen Kleidungsstücken, wo dies

nicht möglich ist, hilft es nur, sie zu verbrennen. Es sind Flöhe, die die Pest übertragen.«

»Die Krankheit ist in Kleidern?« Kadlin sah sie merkwürdig an.

»Es sind die Flöhe in den Kleidern. Allerdings sind auch Kleider, die mit dem Eiter aus Pestbeulen in Berührung kamen, möglicherweise gefährlich.«

»Vor ein paar Tagen kam ein Jarl mit einer Truhe voller Kleider. Swana hat eines davon bekommen. Ich auch ... «

»Ich habe mir eine Hose genommen«, sagte der Alte.

»Das muss nicht mit dem Ausbruch der Seuche zu tun haben«, sagte Emerelle. »Wir sollten diese Kammer verlassen.« Sie sehnte sich nach frischer Luft. Selbst im Regen zu stehen, wäre ihr angenehmer, als noch länger in der stickigen Enge zu verharren.

Kadlin nahm behutsam ihre Tochter auf den Arm. Sie küsste das schlafende Mädchen auf die Stirn. Tränen benetzten die Wangen der Königin.

Der Alte brachte sie zurück in die Königshalle. Die übrigen Krieger hielten dort noch immer Wacht. Sie scharten sich um die Königin und deren Tochter. Emerelle war be-rührt von der Herzlichkeit, mit der sie miteinander umgingen. Und sie fühlte sich fehl am Platz.

Leise trat sie aus der Königshalle. Draußen regnete es noch immer. Der Nebel hatte sich gelichtet. Die Feuer waren fast erstickt. Dichter Rauch erhob sich aus den Ruinen.

Ein Hund machte sich an dem Toten zu schaffen. Kaum zu glauben, dass ein Heiler eine Fackel auf ein Haus geschleudert hatte, in dem er Sterbenskranke wähnte. Das Haus seiner Königin! Die Menschen würden ihr immer ein Rätsel bleiben.

Emerelle hörte Schritte hinter sich. Kadlin trat zu ihr in den Regen. Sie hatte einen groben, grünen Wollumhang um ihre Schultern gelegt. »Danke«, sagte sie schlicht und zugleich mit solcher Herzlichkeit, dass jedes weitere Wort ihr tiefes Gefühl nur verwässert hätte.

»Ich bin froh, dass ich zur rechten Zeit gekommen bin«, entgegnete Emerelle.

Schweigend standen sie eine Weile nebeneinander und blickten auf den Fjord hinab.

Schließlich war es Kadlin, die die Stille brach. »Was führt dich hierher, Königin?«

Emerelle musste lächeln. Kadlin war klug. Ihr war klar, dass es kein göttliches Wunder war, das sie nach Firnstayn geführt hatte. »Ich suche Melvyn«, entgegnete sie unumwunden.

Kadlin sah sie forschend an. »Wozu?«

Offensichtlich machte sie sich Sorgen um das Wohl ihres Halbbruders. »Er soll mich auf einen Berg führen. Nur er kann den Weg dort hinauf finden.«

»Kannst du nicht mit einem der großen Adler fliegen?«

Die Menschentochter schien sie wohl für einfältig zu halten. »Nein.«

Kadlin sah sie fordernd an. Emerelle schwieg. Aus dem jungen Mädchen von einst war wahrlich eine Königin geworden. Sie ließ sich nicht davon einschüchtern, wer vor ihr stand. Emerelle entschied, dass sie sich eine klarere Antwort verdient hatte. »Ein Zauber liegt auf dem Berg. Man nennt ihn Albenhaupt. Starke Winde verhindern, dass sich Vögel dem Gipfel nähern. Sie würden gegen die Felsen geschmettert. Melvyn ist der Einzige, der mich dort hinaufführen kann.«

»Warum kann das niemand anders?«

Emerelle war überrascht. Kannte die Königin keine Dankbarkeit? Es war überaus unhöflich, so bohrend nachzufragen, wo sie doch durch ihre Antworten deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie über dieses Thema nicht weiter reden wollte.

»Ist es gefährlich für meinen Bruder?«

»Für ihn wird es nicht gefährlich sein. Es heißt, weder ein Menschenkind noch ein Albenkind könne lebend zum Gipfel des Berges gelangen. Dein Bruder ist der Sohn einer Elfe und eines Menschen. Nie zuvor ist aus einer Verbin dung zwischen Elfen und Menschen ein Kind hervorgegangen. Es ist sein Schicksal, auf diesen Berg gelangen zu können!«

»Ist es das? Oder ist er vielleicht zweifach verflucht, weil er Mensch und Elf ist?«

Emerelle musste sich eingestehen, dass sie dies noch nicht in Erwägung gezogen hatte.

»Es ist nicht deine Aufgabe, über den Weg deines Bruders zu befinden. Diese Entscheidung kann er nur allein treffen.«

»Du hast Swana und mir das Leben gerettet. Wie frei ist er da noch, dir eine Bitte abzuschlagen?«

Nie wieder Pferd

Er dachte an die dralle Blonde, die vor dem Wirtshaus gestanden hatte, und schnaubte.

»Alles gut, mein Großer«, sagte Adrien. Der Junge striegelte ihn. Er hatte ihn auch eigens abgesattelt. Diese Dinge überließ er nie anderen. Er war manchmal geradezu anstrengend vorbildlich. Ein lebender Heiliger. Nie stieg er ins Bett eines Weibs.

Gelegenheiten hätte es genug gegeben. Die Blonde vorm Wirtshaus hatte ihm schöne Augen gemacht, aber er hatte das nicht einmal gemerkt.

In der Stadt gibt es einen Pferdemarkt.

»Suchst du eine Stute?«

Er sagte das sehr sachlich. Der Junge hatte einfach keinen Humor, dachte Jules ärgerlich. Dabei hatte er unwissentlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Er hätte nicht übel Lust, ihm über einige Dinge einmal gründlich die Meinung zu sagen ... Aber das durfte er nicht. Adrien war genau so geworden, wie er ihn hatte haben wollen. All die Jahre der Mühen hatten ihn zum perfekten Ritter gemacht. Zu einem echten Langeweiler! Seit er nicht mehr nach dieser Elodia suchte, kümmerte er sich nur noch um Belange der Kirche oder rettete Arme und Rechtlose.

Ich werde dich verlassen müssen.

Adrien ließ den Striegel sinken. »Habe ich dich beleidigt? Das wollte ich nicht! Ich dachte …«

Es hat nichts mit Stuten zu tun, log Jules. Du weißt, Tjured hat mich geschickt, damit ich auf dich achtgebe. Aber du brauchst schon lange keinen Aufpasser mehr. Du bist ein Mann und stehst selbst für deine Taten und dein Leben ein. Ich bin stolz auf dich. Von dem unsicheren Jungen, den ich vor vier Jahren getroffen habe und der nicht einmal reiten konnte, ist nichts mehr geblieben.

»Aber ich brauche dich! Du hast mir so oft einen Rat gegeben. Und ich weiß ... « Seine Stimme sank zu einem Flüstern. »Du erwartest von mir, dass ich König Cabezan töte.«

Du hast keine Lust, den König zu erschlagen. Du hältst es für unritterlich, einen alten kranken Mann in seinem Bett niederzustechen. Wir haben oft genug darüber gestritten. Deine Vorstellung von Ritterlichkeit führt dazu, dass keine Woche verstreicht, in der nicht Morde auf Befehl des Königs geschehen. Das kannst du dulden. Du opferst diese Menschen deinem Kodex der Ritterlichkeit.

»Gehst du deshalb?«

Nein, Junge. Die Zeit ist einfach gekommen ... Tjured hat andere Aufgaben für mich. Es war eine gute Zeit mit dir. Ich werde dich immer in Erinnerung behalten.

»Ich werde Cabezan töten!« Jetzt hatte er alle Vorsicht fahren lassen. Sie waren zwar allein im Stall, aber man konnte nie wissen, wer lauschte.

Ich weiß. Du musst es tun. Oder er wird einen Weg finden, dich zu töten. Er wird es nicht lange ertragen, dass es einen Mann wie dich in seinem Königreich gibt. Nur einen Rat möchte ich dir noch geben. Sei darauf vorbereitet, dass 467

er deine Ritterlichkeit gegen dich nutzen wird. Sei vorsichtig! Er ist ein alter, kranker Mann.

Aber er ist immer noch gefährlich.

Adrien legte den Striegel zur Seite. Sein Gesicht wirkte hart und verschlossen. So wie er immer aussah, wenn er seine Gefühle um jeden Preis verbergen wollte. Doch seine Stimme beherrschte er nicht. »Ich werde dich vermissen«, sagte er traurig.

Der Kleine schaffte es tatsächlich, dass er gerührt war. Er hatte viel zu viel Zeit mit ihm verbracht. Er war ihm ans Herz gewachsen. Vor so etwas sollte er sich hüten!

Menschen lebten zu kurz, um sich auf Gefühle für sie einzulassen. Adrien hatte seine Sache gut gemacht. Das war es. Der Ritterorden war gegründet. Die Aufgabe des Jungen war erfüllt. Der Tyrannenmord wäre noch ein schöner Paukenschlag gewesen, aber Adrien musste es nicht mehr tun, um als der heilige Michel Sarti in die Geschichte der Tjuredkirche einzugehen.

Jules trat aus dem Stall. Frei! Wie sehr hatte er das vermisst. Vier Jahre war er jetzt ein Pferd gewesen. Das war genug! Auch wenn er den Jungen mochte und einigen Spaß in dieser Rolle gehabt hatte.

Ich bin nicht gut darin, Abschied zu nehmen. Lebe wohl, Adrien. Und pass auf dich auf, wenn du kein Pferd mehr hast, das dir den Rücken freihält.

Der Junge umarmte ihn! Das durfte doch nicht wahr sein. Er scherte sich nicht darum, wie er vom Gasthaus angestarrt wurde! »Lebe wohl, weißer Donner. Ich werde unsere Gespräche vermissen.«

Du sol test aufhören, in al er Öffentlichkeit mit einem Pferd zu reden. Das ist selbst für einen Beinahe-Heiligen ein seltsames Verhalten. Und ja ... Ich werde die Gespräche mit dir idealistischem Dickkopf auch vermissen.

Jules wandte sich ab und preschte die winterliche Landstraße entlang. Er wunderte sich über seine Gefühle. Er vermisste den Jungen schon jetzt. Es war höchste Zeit, dass er sich um andere Dinge kümmerte. Für solchen sentimentalen Unsinn gab es keinen Platz in seinem Leben!

Der Königsmacher

Anderan kam als Letzter in den Versammlungsraum der Kommandanten, jenes inneren Zirkels von Getreuen, die Elija um sich versammelt hatte. Von den alten Kommandanten aus der Zeit des Kampfes gegen die Elfen war nur noch eine Handvoll verblieben. Die meisten waren, so wie er, erst später erwählt worden. Er war hier, weil er Elija einst gegen den Shi-Handan verteidigt hatte. So lange Jahre hatte er sich mit Begeisterung der Aufgabe verschrieben gehabt, der Welt eine neue, bessere Ordnung zu geben. Doch jetzt war er zutiefst ernüchtert. Gestern erst war er aus Feylanviek zurückgekehrt. Der Frost hatte ihn zwei Finger und drei Zehen gekostet. Und er hatte noch Glück gehabt, dass der jüngere Kobold sich Soltons Vorschlag, ihn im Kanal zu ertränken, entschieden widersetzt hatte.

Anderan nahm auf dem letzten noch freien Stuhl Platz. Er saß neben dem Neuen. Dem Bruder Elijas. Er hatte seit gestern einiges über diesen jungen Lutin zu hören bekommen. Wie es schien, war er über lange Zeit in Gesellschaft Emerelles gewesen. Er hatte die gefallene Königin getäuscht und ausspioniert. Wenn es stimmte, was er sagte, hatte sie keinerlei Ambitionen, ihren Thron zurückzuerobern.

Elija erhob sich von seinem Sitz. Die leisen Gespräche der Kommandanten verstummten. Doch statt Elija sahen sie alle ihn an. Was ging hier vor?

»Brüder und Schwestern, gestern hat der Kronrat über die Fürsten entschieden, die zur Königswahl aufgerufen werden. Auch wurden die Richtlinien festgelegt, nach denen die Wahl abgehalten werden kann. Seit Wochen war dies immer wieder das Thema unserer geheimen Versammlungen, und ich freue mich euch mitteilen zu können, dass der Kronrat so beeinflusst werden konnte, dass er ganz in unserem Sinne entschieden hat. Es werden die beiden Kentaurenfürsten Katander und Nestheus berufen werden.«

Anderan traute seinen Ohren nicht. »Unsere Feinde sind zur Königswahl berufen?«

Elija bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick. »Da du in den letzten Wochen nicht anwesend warst, fehlt dir das tiefere Verständnis. Der Gedanke bei dieser Wahl ist, sie machtlos zu lassen. Sie sind gezwungen, nach unseren Plänen zu agieren. Kommen sie nicht zum Fest der Lichter, dann verlieren sie ihr Gesicht, und es ist fraglich, ob sie dann weiterhin als Anführer ihrer Völker akzeptiert werden. Kommen sie hingegen, dann verfügen sie nur über zwei von sieben Stimmen. Skanga und Gilmarak sind überzeugt, dass sie deshalb ungefährlich bleiben, denn der König wird mit einfacher Mehrheit gewählt. Sie haben sich sogar dazu hinreißen lassen, den Elfen Alvias zu berufen, den ehemaligen Hofmeister Emerelles. Der Herzog vom Mordstein und der Herzog von der Wolfsgrube vertreten die Trolle bei der Königswahl. Beide sind nicht gerade berühmt für ihren scharfen Verstand. Aber sie sind Gilmarak unbedingt ergeben. Skanga ist nicht dumm. Sie befürchtet schon seit langem, dass ich nach der Krone Albenmarks greifen könnte. Deshalb hat sie mich als einen der Fürsten bestimmt, die zur Königswahl aufgerufen sind. Jene Fürsten können sich nicht selbst für den Königstitel bewerben. Nur um mich in dieses Amt erheben zu können, wurde ich mit dem Fürstentitel von Tanthalia belehnt, denn um einen König zu wählen, muss man ein Fürst Albenmarks sein. Der siebente Fürst in dieser erlauchten Runde wirst du sein, Anderan. Neben mir bist du der einzige Kobold Albenmarks, der einen durch den Kronrat anerkannten Fürstentitel trägt. Wegen dieser Angelegenheit wird Skanga dich sehr bald zu sich berufen.«

Anderan war völlig überrumpelt. Das war das Letzte, womit er gerechnet hatte. Einige der Kommandanten sahen ihn wissend an. Ihm schwante nichts Gutes. »Was will die Schamanin von mir?«

»Wie du weißt, ist Skanga alles andere als dumm. Natürlich kann sie bis sieben zählen.

Und sie traut uns Kobolden nicht. Sie hat mich mit einem Fluch belegt. Sollte ich es wagen, gegen Gilmarak zu stimmen, so werde ich im selben Augenblick sterben, in dem ich dies tue. Und nicht nur ich. Al e, die mir in meinem Leben je etwas bedeutet haben, werden hingerafft werden. Sie wird dir mit ihrem Steinmesser in die Brust schneiden und einige sehr unangenehme Dinge tun, wenn sie dich mit diesem Fluch belegt. Ich erwarte von dir als Mitglied unserer verschworenen Gemeinschaft, dass du dich diesem Ritual unterwirfst.«

Anderan war völlig perplex. Vielleicht war er von den Strapazen seiner Reise und den Erfrierungen noch zu geschwächt. »Wenn wir gezwungen sind, für Gilmarak zu stimmen, was gewinnen wir in dieser Intrige?«

Elija lächelte triumphierend. »Bitte, verzeih mir, aber du denkst wie ein Troll.«

Alle lachten. Sie waren offensichtlich eingeweiht.

Elija machte sich einen Spaß daraus, ihn noch einige Augenblicke dumm aussehen zu lassen, dann erbarmte er sich. »Auch Skanga hat in ihr Kalkül lediglich einbezogen, dass man für oder gegen Gilmarak stimmen könnte. Wir werden uns einfach der Stimme enthalten. Damit trifft uns der Fluch nicht, und Gilmarak ist mit drei gegen zwei Stimmen abgewählt. Und wer bei der Königswahl einmal durchgefallen ist, der kann erst zum nächsten Fest der Lichter in achtundzwanzig Jahren wieder zur Wahl antreten.«

Anderan fand den Plan widersinnig. »Was ist damit gewonnen? Du bist unter den Fürsten, die wählen. Wie willst du König werden?«

»Noch ein Trollgedanke, mein Lieber. Ich bin sicher, auch Skanga hat das erwogen.

Aber die alten Gesetze zur Königswahl, die wir nie außer Kraft gesetzt haben, sehen vor, dass ab dem zweiten Wahlgang auch Fürsten, die zur Wahl berichtigt sind, König werden können. Sie können dann allerdings nicht mehr an der Abstimmung teilnehmen.«

»Du glaubst doch nicht etwa, dass Katander, Nestheus und Alvias für dich stimmen würden.«

Der Lutin schnitt eine Grimasse. »Ich fürchte, da hast du Recht. Die Kentauren werden den Lutin niemals verzeihen, dass wir die Grabkammern ihrer Ahnen zu Vorratslagern für die Trolle gemacht haben. Deshalb werde nicht ich zur Königswahl antreten. Du wirst es.«

Anderan klappte der Kiefer hinab. »Das ist ... « Er fand keine Worte. Er hätte nie davon zu träumen gewagt, der Herrscher Albenmarks zu werden. Das war niemals das Ziel in seinem Leben gewesen.

Elija schien seine Gedanken zu ahnen. »Einer aus unserer Mitte muss König werden.

Und du bist der einzige echte Fürst unter allen Kobolden. Du hast einen guten Namen.

Viele kennen dich. Du bist schon lange im Kronrat. Und du wirst mir nicht widersprechen, dass Albenmark nicht noch achtundzwanzig Jahre Trollherrschaft ertragen kann. Sie werden alles zugrunde richten. Gilmarak hat meine frühen Schriften gründlich falsch verstanden. Ich war immer für eine Umverteilung des Reichtums. Für eine gerechtere Gesellschaft. Aber die Schätze Albenmarks zu vernichten und die Geldwirtschaft abzuschaffen, das ist verrückt! Er hat schweren Schaden damit an-gerichtet. Und bald wird dieser Schaden unumkehrbar sein. Dir muss ich nicht erklären, dass die Snaiwamark-Karawanen nicht dazu dienen, die Höhlen der Trolle mit Gold zu pflastern.«

Anderan wusste, dass die Schätze zu dem Vulkan geschafft wurden, der sich an der Stelle der untergegangenen Trollfestung Königsstein erhob. Er war zugegen gewesen, als die erste Karawane ihr Ziel erreichte. Außer ihm waren nur drei andere Kobolde aus dem Kronrat mit anwesend gewesen. Für das letzte Stück des Weges waren die Schätze allein Trollen anvertraut worden. Die Steppenschiffe, die das letzte Stück ihres langen Weges als Eissegler zurückgelegt hatten, ankerten etwa zehn Meilen vom Vulkan entfernt. Und die Trolle, die kamen, stammten aus den neuen Höhlen, die nahe beim Königsstein in den Fels gegraben wurden. Diese Trolle schleuderten die Schätze Albenmarks in den Schlund des Vulkans. Drei Karawanen hatten den Vulkan erreicht.

Und unzählige Schiffsladungen mit Schätzen waren an den Ufern der Walbucht ange-landet worden. Gilmarak musste nur noch ein oder zwei Jahre an seinem Plan festhalten, dann würde es in ganz Albenmark nicht mehr genug Gold oder Silber geben, um eine Geldwirtschaft aufzubauen. Der Schwarze, ein Drucker, der zum geheimen Rat der Kommandanten gehörte, hatte zwar vorgeschlagen, man könne’

Wertpapiere drucken und mit ihnen Gold und Silber ersetzen, aber Anderan konnte sich nicht vorstellen, dass das eine Zukunft haben könnte. Wer würde schon einem Stück Papier vertrauen! Und wie leicht wäre es, sein Vermögen zu vermehren, indem man neue Papiere druckte. Das hatte weder Hand noch Fuß! Keine gesunde Wirtschaft würde auf der Basis von Papieren existieren können. Niemand im Volk würde diesen Papieren vertrauen. Gold und Silber waren etwas Handfestes! Seit Anbeginn der Zeiten waren sie das Rückgrat des Handels gewesen.

»Warum sollten Katander und Nestheus mich wählen?«

»Weil du das kleinste Übel bist, Kamerad. Sie werden wissen, dass sie niemals Herrscher Albenmarks würden. Und wenn sie dich nicht wählen, wer weiß, wer im dritten Wahlgang antritt.«

Anderan ließ sich auf das Gedankenspiel ein. »Gut, dann habe ich also die Stimmen der Kentauren und deine. Die beiden Trolle werden gegen mich stimmen. Wenn Alvias auch gegen mich stimmt, dann habe ich keine Mehrheit.«

»Alvias wird dann nicht mehr am Leben sein.«

»Was ... « Anderan fühlte sich vorgeführt wie ein Kind.

»Denk dich doch einmal in ihn hinein. Er war der treueste der Treuen. Unzählige Jahre war er der Hofmeister Emerelles. Er hatte Burg Elfenlicht zu dem gemacht, was es war.

Er hatte dafür gesorgt, dass Emerelles Herrschaft Glanz hatte! Ich bin sicher, er weiß, wie es hier aussieht. Weiß, was die Trolle aus seiner Burg gemacht haben. Und er wird sie dafür hassen, dass sie Emerel e ihre Macht entrissen haben und sie demütigten. Bis zum ersten Wahlgang wird er nicht an Gilmarak herankommen. Aber wenn der Trollkönig in der Wahl unterliegt, wird es zu einem Tumult kommen. Und diese Gelegenheit wird Alvias nutzen, um sich an Gilmarak zu rächen. Er ist nicht der Schwertmeister, aber ich weiß, dass er in einer Reihe von Schlachten gekämpft hat.

Vielleicht schafft er es, Gilmarak zu töten. Ganz sicher wird er nicht überleben. Dann sind nur noch fünf Fürsten übrig, die wählen können, und dir werden drei Stimmen zur Mehrheit genügen.«

»Ich weiß nicht, ob ich die Bürde des Königtums tragen kann«, wandte er unsicher ein.

»Glaubst du, du würdest schlechter herrschen als ein Troll? Natürlich werden wir dir alle zur Seite stehen. Du wirst auf dem Thron sitzen, aber du bist nicht allein.«

Schwang im letzten Satz eine Warnung mit? Sicherlich hatte Elija auch schon einen Plan dafür, was er tun würde, falls er nicht so regierte, wie der Lutin sich das wünschte. »Und was ist mit Emerelle? Glaubst du, sie wird nicht versuchen, wieder an die Macht zu gelangen?«

»Davon erzählt dir besser mein Bruder Nikodemus. Er war lange an der Seite der Königin. Er weiß besser, wie es um sie steht als irgendjemand sonst in Albenmark.«

Der Lutin sah noch sehr jung aus. Erst jetzt bemerkte Anderan, dass ihm ein Daumen fehlte. Auch wenn es widersinnig war, machte es ihm den Lutin sympathisch, dass sie beide auf die gleiche Art verstümmelt waren.

»Ich glaube, Emerelle ist wahnsinnig geworden«, begann er mit ruhiger Stimme. »Ich selbst habe gesehen, wie sie sich nackt auszog, von Wilden mit Lehm einschmieren ließ und so durch die Wüste lief. Als ich die Elfe verließ, hatte sie den Plan gefasst, auf das Albenhaupt zu steigen. Sie ist davon überzeugt, dass die Alben nicht unsere Welt verlassen haben, sondern auf dem Gipfel des Berges zu finden sind. Möglicherweise wird ihr Schwertmeister versuchen, die Krone Albenmarks zu erlangen. Aber er vertraut mir. Er wird mit mir wieder in Verbindung treten. So werde ich über alles im Bilde sein, was er plant.«

Anderan hatte Emerelle beim letzten Fest der Lichter in ihrem Schmetterlingskleid gesehen. Die Königin hatte so majestätisch und unnahbar gewirkt! Und jetzt irrte sie mit Lehm beschmiert unter Wilden umher? Wie tief musste sie gesunken sein!

»So wie ich es sehe«, übernahm nun wieder Elija das Wort, »gibt es drei Gruppen, die um die Krone streiten werden. Die Trolle, der Schwertmeister und wir. Wir sind die Einzigen, die die Pläne aller kennen. Deshalb werden wir siegen. Der Kampf um die Krone ist eine Schlacht! Doch diese Schlacht wird nicht durch die Kraft des Schwertarms entschieden, und deshalb sind wir Elfen und Trollen nicht unterlegen.

Wir werden siegen, weil dies der einzige logische Schluss aus dem Verlauf der Geschichte Albenmarks ist. Die Koboldvölker stellen die bei weitem überwiegende Mehrheit aller Albenkinder. Die Zeit der Herrschaft der wenigen über die vielen ist vorüber. Wir leben in der Epoche, in der das Volk sein Schicksal selbst in die Hand nimmt.

Und wir sind die legitimen Vertreter des Volkes. Aber wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass kurz vor dem endgültigen Sieg die größte Gefahr droht. Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass sich die Elfen noch ein letztes Mal gegen den unabänderlichen Lauf der Geschichte aufbäumen werden. Sie werden Meuchler schicken. Du wirst in Gefahr sein, Anderan. Bruder Madrog und seine Spinnenmänner werden dich beschützen, wenn du auf der Prunkbarkasse zum König erhoben wirst.

Und wir werden in den nächsten Wochen Tausende der treuesten Rotmützen nach Vahan Calyd bringen. Sie werden bereitstehen, um notfalls einen Putsch anzuführen, wenn die Königswahl nicht den gewünschten Verlauf nimmt.«

Damit war wohl sein Tod gemeint, dachte Anderan zynisch. Er versuchte sich nicht auszumalen, was Skanga ihm antun würde, wenn er statt Gilmaraks zum Herrscher Albenmarks wurde.

»Jeder von uns hat in den letzten Jahren großes Leid erdulden müssen. Ich verlor mit Ausnahme meines Bruders und unserer Kameradin Liza meine ganze Sippe bei der Schlacht um die Snaiwamark-Karawane. Ich weiß, dass es niemanden in dieser Runde gibt, der keine Toten zu beklagen hätte. Denkt an eben diese Toten, wenn ihr nach Vahan Calyd geht. Der Tag, an dem wir den Preis für ihre Opfer einfordern, ist nicht mehr fern. Der Tag, für den sie gestorben sind. Wir schulden es ihnen zu siegen und unsere Welt in jenen Ort zu verwandeln, von dem sie nur träumen konnten. Und die vollkommene Gesellschaft, in der kein Schwacher mehr die Tyrannei der Starken zu fürchten hat. Eine Welt, in der wir alle vor den Gesetzen gleich sind. Erhebt euch, Brüder und Schwestern! Gedenkt eurer Toten! Und wenn wir auseinandergehen, dann lasst uns mit all unserer Kraft für unser ruhmreiches Ziel streiten. Wenn wir das nächste Mal zusammenkommen, wird Anderan Herrscher Albenmarks sein.«

Das Lied des Berges

Sieben Wochen hatten die beiden ihr gestohlen! Das war der Preis, den Kadlin und Melvyn ihr abverlangt hatten. Sie hatte so lange im Fjordland bleiben müssen, bis die Pest besiegt war. Und Kadlin war eisern geblieben. Melvyn war einer der besten Krieger Albenmarks, aber der Willensstärke Kadlins hatte er nichts entgegenzusetzen.

Eine Böe packte ihren Adler und drückte ihn unbarmherzig hinab, den Felsen entgegen. Er kämpfte verzweifelt mit den Flügeln schlagend gegen den Wind an.

Zerfetzte Wolkenschleier hüllten die Klippen ein. Emerelle spürte, wie die Spitzen der Schwingen über Stein streiften. Der Adler legte die Flügel an und ließ sich an einer Steilwand vorbeistürzen. Sie wurde in ihrem Tragegerüst herumgerissen. Ihr Magen rebellierte.

Plötzlich breitete der Adler seine Flügel weit aus. Der Sturzflug wurde abgefangen. In weiten Spiralen und mit einigem Abstand zum Berg begann er wieder den Aufstieg.

Das sollten wir nicht noch einmal versuchen. Wolkentaucher, der Adlerfürst, der Melvyn trug, kreiste ein Stück weit über ihnen. Wir kommen nicht höher als bis zum östlichen Gletscher. Wir müssen euch dort absetzen. Wenn ihr klug seid, kommt ihr mit uns zurück.

Emerelle musste den Kopf verdrehen, um Wolkentaucher zu sehen. Fleckfuß, ihr eigener Adler, wirkte erschöpft. Emerelle hing dicht unter seiner Brust und hatte nur schlechte Sicht nach oben. All ihre Glieder schmerzten vom turbulenten Flug. Melvyn hatte für sie beide ganz neue Fluggeschirre entworfen. Sie besaßen Gurtzeug wie ein Rucksack, aber mit zusätzlichen Ledergurten, die bis hinab zum Schritt reichten und auch quer über die Brust verliefen. Alle Gurte waren mit einem starken Stück Wur zelholz auf ihrem Rücken verbunden. Es ragte bis über ihren Kopf, wo ein liegender, ovaler Ring in das Holz eingelassen war. Der mit mehreren Schichten aus Lederstreifen verstärkte Ring wurde von den Adlern gepackt. So konnten diese sie tragen.

Allerdings schnitt das Gurtzeug, auch wenn es straff angelegt war, mit der Zeit ins Fleisch. Es war eine alles andere als komfortable Art des Reisens.

Melvyn hatte sich in den letzten Wochen in jedem freien Augenblick auf diese Reise vorbereitet. Er schien keine Angst zu haben. Vielleicht war es eine willkommene Abwechslung von seinem Dasein als Familienvater. Er liebte Leylin und seinen Sohn Conlyn. Aber er vermisste auch seine Freiheit. Er hatte Steigeisen und Eispickel für ihre gefahrvolle Reise geschmiedet. Und er war zweimal für ein paar Tage mit ihr in die Berge gegangen, um sie im Klettern zu unterrichten. Sie hatten an einem gefrorenen Wasserfall geübt, wie man eine Eiswand erklimmt. Er hatte sie auch gelehrt, wie man sich im Klettergeschirr bewegte und gegenseitig sicherte.

Offensichtlich ging er das Unternehmen mit großer Begeisterung und Ernsthaftigkeit an. Und mit jedem Tag war Emerelle sich sicherer gewesen, dass er der Richtige für den Aufstieg auf das Albenhaupt war.

Wir nehmen den Gletscher.

Emerelle blickte hinauf zu dem brodelnden Wolkenmeer, das den Gipfel umgab.

Obwohl die Mittagsstunde kaum verstrichen war, war der Himmel bereits dunkel.

Emerelle schützte sich mit einem Zauber gegen die mörderische Kälte, und doch fühlte sie sich der Macht der Naturgewalten ausgeliefert. Weiter im Süden hielt der Frühling Einzug. Doch hier war von einem Ende des Winters nichts zu spüren.

Vor ihnen erschien eine weite, weiße Fläche. Der Hang war dort nicht zu steil. Die beiden Adler flogen den östlichen Gletscher an. Sie glitten durch feuchte Wolkenfetzen, die von der Macht der Winde die Bergflanken hinabgedrückt wurden.

Setz mich dort ab, Fleckfuß, dachte Emerelle. Sie spürte die Erleichterung des Schwarzrückenadlers. Die riesigen Vögel, die einen Büffel schlagen könnten, fürchteten den Berg. Mit weit ausgestreckten Flügeln glitt er über das Schneefeld dahin. Er wagte es nicht, tiefer als zehn Schritt über dem Schnee zu fliegen, aus Angst, eine Böe könnte ihn gegen den Hang schleudern. Emerelle entspannte sich, um den Aufschlag besser zu überstehen.

Jetzt!

Die Krallen des Adlers öffneten sich. Sie stürzte. Der Schnee federte ihren Aufprall ab.

Sie schlitterte ein Stück den Hang hinab und fand dann einen festen Stand.

Melvyn war vielleicht hundert Schritt über ihr am Hang gelandet. Er rief etwas, doch der heulende Wind verschlang seine Worte. Er deutete auf eine Felsnase, die sich wie ein dunkler Turm aus dem Schnee erhob.

Die beiden Adler waren bereits in den treibenden Wolken verschwunden. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Leichtfüßig lief die Elfe über den Schnee. Trotz des schweren Gepäcks sank sie bei ihren Schritten kaum ein. Wie alle Elfen wusste sie, wie man mit dem Schnee ging, statt gegen ihn anzukämpfen wie Trolle oder Menschenkinder, die mit ihren plumpen Schritten tiefe Furchen in das Weiß zogen.

Melvyn kauerte sich in den Windschatten des Felsens. Eiskristalle glänzten in seinem Haar. »Hast du die Stufen weiter oben im Schnee bemerkt?«

Emerelle nickte.

»Das sind Bruchkanten ... Hier gehen ... Lawinen nieder… kann eine solche Bruchkante zurückbleiben. Wenn wir auf den Gletscher ... sol ten wir uns beeilen. Wir müssen ... schnell bis zu dem Felsgrat gelangen, der sich ... im Norden erhebt. Ich hoffe...wir ein weites Stück zum Gipfel hinauffolgen.«

Emerelle nickte. Die Hälfte von Melvyns Worten hatte sie ihm von den Lippen abgelesen, weil der heulende Wind jedes andere Geräusch überlagerte. Er trat dicht an sie heran und begann die Lederriemen des Adlergeschirrs zu lösen. Zwei Schritt hinter ihr gab es einen tiefen Einschnitt im Felsen.

»Wir werden die Geschirre ... verstauen. Wolkentaucher ... versprochen, dass er jeden Tag zwei Stunden ... Sonnenaufgang hierherkommt, um uns zu suchen.«

Wieder verstand sie nicht alles. Sie streifte das Gurtzeug ab und trat an die Spalte.

Leichte Kopfschmerzen pochten hinter ihrer Stirn. Vielleicht lag es an dem turbulenten Flug. Sie schob das Adlergeschirr in die Spalte. Mitten in der Bewegung hielt sie inne.

Dort kauerte eine Gestalt. Die Knie angehockt und mit den Armen umschlungen. Das Kinn auf die Knie gesetzt. Ihr Gesicht war dunkel vom Frost. Darin leuchtete das Weiß der Augen. Die Gestalt sah sie unverwandt an.

Sie musste tot sein. Das fein geschnittene, schmale Gesicht ließ an einen Elfen denken.

Emerelle beugte sich vor und wollte die Lider schließen. Sie waren gefroren. Je länger sie die Gestalt betrachtete, desto sicherer war sie, dass es ein Elf war. Er trug viel zu leichte Kleidung für die große Höhe. Das hieß, er war sich sicher gewesen, sich mit einem Zauber gegen den beißenden Frost schützen zu können.

Warum war er erfroren?

Sie stellte ihr Adlergeschirr vor den Toten. Melvyn bedachte ihn nur mit einem kurzen Blick. »Es heißt, der ganze Gipfel sei ein einziges Grab«, sagte er. »Komm jetzt. Wir müssen möglichst hoch hinauf gelangen, bevor es Nacht wird.«

Sie folgte ihm. Wind trieb Schleier aus Pulverschnee über den Gletscher. Melvyn ging mit sicheren Schritten. Man merkte, dass er im Schatten des Albenhaupts aufgewachsen war. Emerelle hingegen fühlte sich müde und ein wenig schwindelig. Alle paar Schritt musste sie innehalten und tief einatmen. Den Toten zu sehen, hatte ihr zu schaffen gemacht. Kälte war ihr tief in die Knochen gefahren. Es war die Kälte der Furcht.

Nach einer halben Stunde erreichten sie den felsigen Grat, den Melvyn zum Ziel ihrer ersten Etappe erwählt hatte. Auf der anderen Seite lag ein steiler Hang voller Geröll.

Vereinzelte Schneeflächen durchbrachen das Steinfeld.

»Alles in Ordnung?«

Sie sah verwundert zu Melvyn auf. »Ja. Warum fragst du?«

»Du atmest schwer. Ist dir übel?«

»Nein«, entgegnete sie gereizt. Die Kopfschmerzen setzten ihr zu. Vielleicht kamen sie vom Wind?

»Wenn du eine Rast brauchst, sag es bitte zeitig. In großer Höhe zu wandern zehrt sehr schnell die Kräfte auf. Manchmal sieht man Dinge ...« Eine Böe trug seine Worte davon.

Emerelle musste sich gegen den Wind ducken. »Was für Dinge?«, schrie sie.

»Dinge, die es nicht gibt!«

Sie schüttelte den Kopf. Sie war nicht verrückt! Melvyn sah sie lange an, dann entschied er sich wortlos, weiterzuklettern. Sie folgte dem Weg, den er wählte. Auch er war offensichtlich ein wenig erschöpft. Er hielt oft inne, um Atem zu holen, so dass sie immer wieder leicht zu ihm aufschließen konnte.

Bald waren sie inmitten der Wolken. Der Wind erstarb nie. Unablässig heulte er über Eis und Schnee. Je länger man ihm lauschte, desto mehr klang er wie ein Lied. Der Berg sang! Es war ein melancholisches Lied. Ohne Worte, vol er Gefühl.

Am Nachmittag mussten sie die Steigeisen anlegen. Der Felsgrat endete vor einem steilen Hang, der sich in Kaskaden schillernden Eises gekleidet hatte.

In der Steilwand kamen sie nur sehr langsam vorwärts. Melvyn schlug Griffe in das Eis. Manchmal kam er ihr wie eine Fliege vor, die an einer glatten Wand hinauflief. Sie kicherte. Die Kopfschmerzen waren verflogen und einem ausgesprochenen Hochgefühl gewichen. Nur ihre Finger brannten unangenehm. Manchmal klebten sie am Eis fest. Sie waren ganz rot geworden.

Immer wieder hielt sie inne, um tief zu atmen und auf den Wind zu lauschen. Der Berg sang ein Lied! Es war wirklich so. Sie konnte es nicht ganz richtig deuten. Aber es gab ihr die Kraft, gegen ihre Erschöpfung anzukämpfen.

Manchmal schoss feiner Pulverschnee an ihnen vorbei in die Tiefe. Einmal erwischte es Melvyn, und er war ganz und gar mit feinen Eiskristallen eingepudert. Sie blieben an seinen Augenbrauen haften und in seinem Haar. Auch in den Falten seiner Kleidung nisteten sie sich ein.

Das Ende der Eiswand blieb in den treibenden Wolken verborgen. Emerelle hatte jedes Zeitgefühl verloren. Als sie sich auf einem schmalen Sims niederließ, um kurz auszu-ruhen, bemerkte sie, dass sich ihre Hände verfärbt hatten. Die Fingerspitzen waren ganz dunkel geworden. Wulstige Beulen wucherten an den Nagelbetten. Die Hände brannten. Es war unangenehm, aber nicht schmerzhaft.

Sie lächelte. Nur langsam drang durch das Gefühl der Euphorie die Erkenntnis, dass ihre Zauber gegen die Kälte offensichtlich ihre Hände nicht mehr schützte. Sie tastete über ihr Gesicht. Deutlich spürte sie die Berührung der Finger auf den Wangen. Aber ihre Finger spürte sie nicht mehr.

Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Sie blickte auf ihre Hände. Langsam hob sie sie und verschränkte sie über der Brust, dort, wo unter ihrem grauen Lederkleid der Albenstein lag.

Immer mehr Schnee rieselte an den Eiskaskaden vorüber.

Melvyn rief etwas zu ihr herunter, aber sie verstand kein einziges Wort. Der Berg schien einen Zauber um sie zu weben. Es fiel ihr immer schwerer, Entscheidungen zu treffen. Sie sollte zuerst ihre Hände heilen. Diesen Händen könnte sie bald nicht mehr trauen!

Sie versuchte sich zu konzentrieren. Jetzt spürte sie Schmerz in den Fingern. Er wich nur langsam.

Ein Pulverschneeguss verschlang die Welt. Der Schnee drang ihr in Mund und Nase.

Sie wollte aufstehen und schlug mit den Armen um sich. Der Abgrund! Ängstlich drückte sie sich an das Eis. Wie hatte sie aufstehen können! Der Berg lullte sie ein und versuchte sie zu töten. Das war es, was sie alle umgebracht hatte. Sie war in Gefahr. Sie war nicht wie Melvyn. Er schien das Lied des Berges nicht zu hören.

Heftig atmend konzentrierte sie sich auf ihre Hände. Sie durfte sich nicht so gehen lassen. Sie japste regelrecht nach Luft, und doch ging es ihr nicht besser. Ruhig! Der Berg würde sie nicht töten! Sie blinzelte den Schnee aus den Augen und sah nach oben.

Ihre Hände konnten warten! Sie musste nahe bei Melvyn bleiben. Nur da war sie in Sicherheit. Melvyn war gegen den Berg gefeit.

Sie tastete nach den Griffen, die er ins Eis geschlagen hatte. Ihre Finger waren taub.

Aber dann konnten sie auch keine Schmerzen spüren! Sie kletterte. Keine Eile. Wenn sie es zu hastig anging, würde sie Fehler machen. Sie blickte kurz über die Schulter.

Unter ihr lagen vom Wind zerzauste Wolkenschleier. Sie konnte zwischen ihnen hin-durchblicken. Wie tief ging es dort hinab? Ihr Weg durch die Eiswand hatte sie vom Grat fortgeführt, über den sie gekommen waren. Jetzt war da eine Steilwand, unter ihr.

Das Eis ging in dunkle Felsen über, immer tiefer und tiefer. Eine Meile? Oder mehr?

Der Abgrund schien sie anzuziehen. Es war verlockend, loszulassen ...

Erschrocken presste sie ihr Gesicht gegen das Eis. Sie durfte nicht mehr nach unten sehen. Nicht zurücksehen. Nicht weit über ihr war Melvyn.

Wieder stellte sie sich vor, wie sie einfach losließ und rückwärts in den Abgrund stürzte. Es wäre befreiend.

»Emerelle?«

Die Stimme brach den Bann. Sie kletterte. Langsam. Hand über Hand. Sie presste sich so fest an das Eis, wie sie nur konnte. Dann streckte sich ihr eine Hand entgegen. Sie griff zu und wurde über eine Felskante gezogen. Vor ihr lag ein weiteres Schotterfeld, durch das sich breite Schneebänke zogen. Der Hang dort stieg nur sanft an. Sie atmete aus. In Sicherheit!

»Du zitterst ja.«

Sie wollte etwas sagen, aber sie war zu durcheinander. Sie schämte sich. Ihr Zittern konnte sie nicht unter Kontrolle bringen. Sie richtete sich auf und wollte weiter vom Abgrund fort. Da traf sie die Böe. Wie der Hieb einer unsichtbaren Faust. Plötzlich und ohne jede Vorwarnung. Sie geriet aus dem Gleichgewicht. Strauchelte ...

Melvyn packte sie und zog sie vom Abgrund fort.

»Der Berg ist bösartig«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und zerrte sie weiter. »Wir sollten umkehren, solange wir es noch können!«

Emerelle betrachtete das lächerlich kurze Seil, das Melvyn um seine Brust geschlungen trug. »Wie sollen wir damit zurück?«

Wieder fauchte eine Böe den Hang hinab. Diesmal hielten sie sich geduckt, und der eisige Gletscherwind vermochte ihnen nichts anzuhaben. »Wir werden uns jetzt anseilen«, sagte Melvyn bestimmend.

Emerelle blickte den Hang hinauf. Im Vergleich zur Eiswand würde das hier ein Spaziergang! »Warum?«

Der Maurawan sah sie überrascht an. Dann trat er fest auf das Geröll. Einige kleine Steine lösten sich und rollten dem Abgrund entgegen. »Vertrau dem Berg nie. Viele der Steine sind aneinandergefroren. Aber manche sind auch lose. Was glaubst du, was geschieht, wenn du hier zu rutschen beginnst. Und dann dieser Wind ... Eigentlich sollte hier viel mehr Schnee liegen. Die Böen fegen den Hang leer. Der Schnee bleibt nur liegen, wo vorspringende Felsen ihn vor dem Wind schützen. Vielleicht löst er sogar gelegentlich kleine Schotterlawinen aus. Wir sind hier auch nicht sicher.« Während er sprach, hatte er das Seil abgenommen und ihr um die Hüften gebunden. Gewissenhaft kontrollierte er den Knoten. Dann schlang er das andere Ende des Seils um seine Hüften.

»Los«, er tastete vorsichtig mit dem Stiel seines Eispickels über den Boden. Unendlich langsam bewegten sie sich schräg am Hang entlang.

Emerelle zählte leise. Vier Schritt. Halten. Tief atmen. Vier Schritt. Sie war wie in Trance. Sie versuchte, sich auf ihre Hände zu konzentrieren. Die Blasen bei den Fingernägeln kamen ihr größer vor.

Melvyn zog am Seil. Ohne es zu merken, war sie stehen geblieben. Sie musste seinen Rhythmus einhalten. Vier Schritt. Tief atmen. Vier Schritt.

Die Wolken über ihnen teilten sich. Finger gleißenden Sonnenlichts tasteten über den Geröllhang. Jetzt war es der Maurawan, der stehen blieb.

Ein Stück schräg unter ihnen lag eine Gestalt am Hang. Die Arme lang ausgestreckt, das Gesicht im Geröll vergraben. Der Wind hatte den größten Teil der Kleider vom Leib des Toten gezerrt. Seine Haut schimmerte hell, fast alabasterfarben. Um die Hüften, wo Seil und Gurtzeug saßen, hatten sich noch Kleiderreste erhalten. Viele Schichten übereinander. Die Beine waren wieder nackt. Ein Fuß steckte in einem schweren Schuh mit genagelter Sohle. Der andere Schuh war verschwunden.

»Wie lange er wohl schon hier liegt?« Emerelle hatte ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Selbst das Raunen des Windes war für einen Augenblick verstummt.

»Er hat noch gelebt, als sein Sturz dort endete«, murmelte Melvyn bedrückt.

»Vermutlich sind seine Beine gebrochen. Er hat versucht, sich den Hang hinaufzuziehen. Sein Seil ist zerrissen. Hier irgendwo ist sicher auch sein Gefährte. Er ist ... « Ein Böe trug die letzten Worte fort.

Ein Stück vor ihnen schoss klackernd ein faustgroßer Stein über den Hang. Er riss ein paar kleinere Geröllbrocken mit sich. Dann verschwand er im Abgrund. Emerelle stellte sich vor, wie es wäre, von einem solchen Stein am Kopf getroffen zu werden, während man in der Eiswand kletterte. Sie schluckte.

Die Wolkendecke hatte sich wieder geschlossen. Die Lichtfinger waren verblasst.

»Weiter!«, drängte Melvyn.

Sie ließen den Toten hinter sich zurück und verfielen wieder in den alten Rhythmus.

Vier Schritt. Tief Atmen. Vier Schritt.

Endlich brachte Melvyn sie zu einem Felsvorsprung, der Schutz gegen überraschenden Steinschlag bot. »Du musst dich um deine Hände kümmern«, drängte er.

Emerelle versuchte es. Vergeblich. Ihre Gedanken schweiften weiter. Sie konnte nicht bei einer Sache bleiben!

Endlich nahm Melvyn ihre Hände zwischen die seinen und rieb sie. Ein Prickeln floss durch ihre Finger, als würden ihr tausend Nadeln unter die Haut getrieben.

»Du bist ausgekühlt!«, sagte er vorwurfsvoll. »Warum schützt du dich nicht gegen die Kälte?«

Sie hatte vergessen, den Zauber aufrechtzuerhalten! Das war ihr noch nie geschehen.

Sie hatte schon schlimmen Schneestürmen in der Snaiwamark und Carandamon getrotzt. Sie hatte im ewigen Eis gekämpft und war gejagt worden. Sie gehörte zum Volk der Normirga. Elfen, die aus dem eisigen Norden stammten. Sich mit diesem Zauber zu schützen, war für sie so selbstverständlich wie zu atmen!

Sie fand keine Antwort, die sie Melvyn geben konnte.

Ihre Hände sahen wieder besser aus. Es war beschämend. Er war ein viel schlechterer Heiler als sie. Warum vermochte sie sich nicht mehr selbst zu helfen? Warum ... Sie verlor den Gedanken und lauschte wieder auf das Lied des Windes.

»Emerelle!«

Der Maurawan schüttelte sie. Benommen blinzelte sie. Sie war eingeschlafen!

Er nahm sie bei den Armen und hob sie sich auf die Schultern. »Bleib wach! Du hattest Recht. Weiter oben habe ich etwas Seltsames entdeckt. Jemand ist hier auf dem Gipfel.

Oder zumindest war jemand hier. Du musst wach bleiben. Du bist völlig ausgekühlt.

Nicht einschlafen! Oben können wir ein Feuer machen.«

Ein Feuer, inmitten einer Einöde aus Fels und Schnee, dachte sie verwundert. Dann fielen ihr wieder die Augen zu.

Die Dreizehn

Sie waren alle fort. Alle, die wussten, dass der hohe Stapel Kisten am Kai mehr als nur ein Stapel Kisten war. Er hatte seinen Einfluss als Kommandant genutzt, um sie in die fernsten Winkel Albenmarks zu versetzen. Alle hatten sich verbessert. Sie würden Vahan Calyd nicht nachtrauern. Für seinen Geschmack waren zu viele in Teile von Elijas Plänen eingeweiht. Nur die Kommandanten kannten den großen Zusammenhang. Aber das waren mehr als zwanzig. Und es würde noch sieben verdammte Tage bis zur Königswahl dauern. Es war ein Wunder, dass bis jetzt noch nichts herausgekommen war. Skanga war von Natur aus misstrauisch! Sie hatte ihm einen Shi-Handan auf den Hals gehetzt, weil er einen Mordanschlag auf Emerelle für undurchführbar gehalten hatte. Madrog lächelte. Wie es schien, hatte er Recht behalten. Die frühere Königin lebte noch immer. Und dass sie wahnsinnig geworden war, konnte er sich nicht wirklich vorstellen. Nicht Emerelle.

Sie hatte ungezählte Jahrhunderte geherrscht. Sie besaß einen Albenstein. Sie hatte die Angriffe der Shi-Handan überlebt. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie zur Kö-

nigswahl erschien.

Er hatte ebenfalls überlebt. Auch wenn die Shi-Handan ihn wohl nicht sehr lange verfolgt hatten. Madrog kletterte im Inneren der Kisten hinauf. Ein schmaler Hohlraum mit einer Leiter führte bis hinauf zur obersten. Sie war groß. Groß genug, ein Torsionsgeschütz aufzunehmen. Das Beste aus der Reihe, die man nach Vahan Calyd gebracht hatte. Seine dreizehn. Er hatte das Übungsschießen draußen auf dem Waldmeer befehligt. Das dreizehnte Geschütz hatte die beste Trefferquote erzielt, und das bei fünf verschiedenen Geschützmannschaften. Natürlich spielte es eine Rolle, wer ein Geschütz abfeuerte. Er hatte sich schon selbst an der Dreizehn versucht. Er wusste, sie würde ihn nicht enttäuschen. Er kniete nieder, um noch einmal die fünf Steinkugeln zu überprüfen, die neben dem Geschütz bereitlagen. Er nahm die hölzerne Schablone und drückte sie durch das runde Loch, das dort hineingeschnitten war. Dabei drehte er sie vorsichtig. Die Kugeln waren alle vollkommen rund. Das war selten bei den Steinkugeln für Torsionsgeschütze. Und was noch viel seltener war, sie alle hatten dasselbe Gewicht. Ein guter Schütze würde mit ihnen fünfmal hintereinander dasselbe Schussergebnis erzielen können.

Er klappte das Brett vor der Schiene des Torsionsgeschützes zur Seite. Seine Hand strich darüber. Sie war leicht geölt. Dann spähte er hinaus auf den Hafen. Die Prunkbarkasse, auf der die Königswahl stattfinden würde, lag bereits fest vertäut.

Auch die Schiffe in der unmittelbaren Nähe. Sie würden nichts dem Zufall überlassen.

Madrog selbst hatte die Mannschaften der zwölf anderen Geschütze ausgewählt. Und die Krieger, die die Geschütze abschirmen würden. Die meisten waren Spinnenmänner. Man konnte sich auf sie alle verlassen. Selbst wenn Elijas Intrigen fehlschlugen, würden sie dafür sorgen, dass der Putsch gegen die Trolle ein Erfolg wurde. Und das, noch bevor Nikodemus das vereinbarte Zeichen geben konnte, auf das die Heerscharen der Rotmützen losschlagen sollten. Sechstausend Krieger hierherbringen zu wollen ...

Immer wieder hatte er versucht, ihnen das auszureden. Das würde niemals geheim bleiben!

Und dann noch Nikodemus mit dem Oberbefehl zu betrauen. Er traute ihm nicht. Er war zu lange fort gewesen. Wer konnte schon überprüfen, ob die Geschichte, die er über Emerelle erzählte, auch stimmte. Wenn es nach ihm ginge, dachte Madrog, dann würde er den Lutin noch einmal für ein paar Stunden an Skanga und Birga ausleihen.

Sosehr er die beiden Trollvetteln auch hasste, musste er ihnen doch zugestehen, dass sie überaus fähig darin waren, der Wahrheit nachzuspüren. Elija hatte seinen Bruder zu früh bei ihnen weggeholt.

Der Mond stand tief über dem Hafen. Obwohl der Frühling gerade erst begonnen hatte, wurde es unangenehm heiß. Er mochte Vahan Calyd nicht. Jeden Tag gab es schwere Regenfälle. Das Fest der Lichter würde darunter leiden. Die meisten Gäste waren gezwungen, im Freien zu nächtigen. Es war nicht die richtige Jahreszeit für die Feier.

Er peilte die Laternen an, die er hatte aufhängen lassen. Im Heck der Krönungsbarkasse hatte er eine Wassermelone auf die Reling gebunden. Angestrengt spähte er in die Dunkelheit, um ihre Umrisse zu entdecken. Jetzt war niemand auf dem Schiff. Und kaum jemand hielt sich im Hafen auf.

Sein Geschütz im Kistenstapel stand hoch genug, dass er über die Feiernden hinwegschießen könnte, die in sieben Tagen zur Dämmerung die Kais bevölkern würden. Madrog peilte den Lastkahn mit dem bunt geringelten Mast an. Er lag nahe bei einem Ladekran, der auf bunt bemalten Stelzen stand. Gestern erst war der Kran gestrichen worden. Aus dem Zusammenspiel der Mastringe und der bemalten Stelzen konnte er ablesen, wie hoch das Wasser im Hafenbecken stand. Der Tidenhub konnte einen Unterschied von bis zu zwei Schritt ausmachen. Einem Schützen, der einfach nur ein Ziel anpeilte, mochte so etwas egal sein. Seine Spinnenmänner waren anders! Sie überließen nichts dem Zufall.

Seit Wochen hatte er mit ihnen daran gearbeitet, überall im Hafen Masten und Zelt-stangen aufzustellen. Sie alle trugen Zeichen. Mal ein auffällig helles Seil. Mal ein breites, weiß aufgemaltes Kreuz. Wer sie richtig zu deuten verstand, für den verwandelte sich der Hafen rings um die Prunkbarkasse in ein Raster. Und dieses Raster diente dazu, Entfernungen und Höhen bis auf zwei Fingerbreit genau abzuschätzen. Ein guter Schuss war eben kein Zufall!

Madrog sah, dass das Wasser im Hafen drei Ellen unter dem höchsten Flutstand lag.

Die Entfernung zur Melone auf der Reling betrug etwa hundertsiebzehn Schritt, eine Elle und fünf Finger. Der Kobold korrigierte den Neigungswinkel des Torsionsgeschützes leicht. Dann peilte er über den Lauf der Schiene. Das Geschoss würde nach einhundertacht Schritt von einer geraden in eine leicht geneigte Schussbahn übergehen. Noch einmal korrigierte er die Höheneinstel ung. Jetzt konnte er eben noch den oberen Rand der Melone sehen, wenn er über die Schiene peilte.

Er wählte eine der fünf Steinkugeln und legte sie auf das Geschütz. Dann drehte er bedächtig die Spannkurbel. Er mochte das leise metallische Klicken. Nach der sieb-zehnten Umdrehung hörte er auf. Er zog den Sicherungshebel zurück. Die Steinkugel schnellte davon. Neugierig beugte er sich über die Schiene und peilte sein Ziel an. Die Wassermelone war verschwunden. Sehr gut!

Es war erstaunlich, wie ähnlich sich Wassermelonen und Köpfe verhielten, wenn sie von einer zwei Pfund schweren Steinkugel getroffen wurden. Jetzt war er beruhigt.

Ganz gleich, wie die Königswahl auch verlaufen mochte, er hatte nun die Möglichkeit, sie in seinem Sinne enden zu lassen.

Der blaue Stern

Emerelle erwachte und hatte das Gefühl, dass etwas Schweres auf ihrer Brust hockte.

Sie rang um Atem. Sie spürte, wie sich ihre Lungen weiteten. Doch die Atemnot wurde nicht besser. Sie fühlte sich schwach, und ihr war schwindelig, obwohl sie lag. Neben ihr brannte ein kleines Feuer. Der Rauch stieg in einer blassgrauen Säule dem Himmel entgegen. Es war vollkommen windstil . Über ihr zogen dunkle Wolken hinweg.

Manchmal konnte man die fahle Sonnenscheibe hindurchschimmern sehen.

Obwohl sie so nahe beim Feuer lag, war ihr immer noch kalt. Sie streckte sich und bemerkte, dass sie in etwas eingehüllt war. Feines blaues Leinen mit einer Schmuckborte. Wo war sie? Auf dem Gipfel. Neben ihr ragte ein Holzgebilde auf, das entfernt an einen zersplitterten Schiffsrumpf erinnerte.

Es lag sehr wenig Schnee zwischen den Felsen. Aber dicht neben dem Feuer schillerte zersplittertes Glas. Sie stemmte sich hoch. Die Bewegung kostete sie all ihre Kraft. Sie hechelte wie ein Hund nach einer wilden Jagd. Emerelle versuchte ihre Zaubermacht zu sammeln, aber sie konnte ihren Gedanken keine klare Richtung geben.

Melvyn erschien. Er wirkte gehetzt. Sein Blick war unstet. Als er sich neben sie hockte, achtete er auffällig darauf, einen schützenden Felsen im Rücken zu haben.

»Wir sollten gehen«, raunte er ihr zu.

»Die Alben ... Sind sie hier? Ich muss ... «

»Ich habe sie nicht gesehen ... «

Da war etwas Zögerliches in seiner Stimme. Etwas, das den Worten eine verschobene Bedeutung gab. Die blasse Sonnenscheibe strahlte tief am Horizont. Zu tief! Sie hatte eben doch noch viel höher am Himmel gestanden!

»Was ist?«

»Hier ist alles ... « Er rang um das passende Wort. »Es ist ... fremd. Ich konnte niemanden finden, aber ich fühle mich ständig beobachtet. Und sieh dir den Himmel an! Jetzt ist es Nacht! Die Zeit verläuft hier schneller. Oder unser Leben verrinnt schneller. Und du bist so geschwächt. Ganz ohne Kraft. Selbst der Albenstein vermag dir nicht zu helfen. Lass uns gehen, sobald die Sonne wieder am Himmel steht. Lass uns flüchten, solange wir es noch können!«

»Ich muss ihn finden ... «

»Du verstehst nicht. Unser Wille ist hier oben ohne Bedeutung. Du bist hier wie eine Schneeflocke im Sturmwind. Hier ist es nicht mehr unsere Entscheidung, wohin unser Weg führt. Nichts, was wir für gegeben halten, hat hier noch Bestand. Blick zum Himmel hinauf! Die Sterne wandern schneller, als sie es sollten. Wenn man zwischen den Felsen herumirrt, hat man das Gefühl, dass man bestimmte Orte auf dem Gipfel nicht erreichen kann. Man geht darauf zu, und plötzlich ist man an einer anderen Stelle. Man blickt sich um, und der Platz, zu dem man wollte, liegt auf einmal hinter einem, ohne dass man daran vorbeigegangen wäre!«

Jedes seiner Worte bestärkte Emerelle in ihrer Überzeugung, dass die Alben hier sein mussten. Ebenso wie der seltsame hölzerne Rumpf, der nicht weit entfernt zwischen den Felsen lag. »Ist es ein Schiff, das hier auf dem Berg liegt?«

Melvyn rückte ein wenig näher zu ihr. »Nein«, flüsterte der Elf. »Erst dachte ich das auch, wobei es schon seltsam genug wäre, ein Schiff am Gipfel eines Bergs vorzufinden. Aber es ist etwas anderes ... Es hat zu viele Masten. Das war das Erste, was mir aufgefallen ist.« Seine Stimme lag jetzt zwischen Verzweiflung und Entsetzen.

»Viel zu viele Masten! Sie standen nicht nur auf dem Deck. Sie müssen auch seitlich aus dem Rumpf gewachsen sein und sogar unten im Kiel gab es Masten. Und auf dem Rumpf scheinen große Halbkugeln aus Glas gesessen zu haben.«

Emerelle schloss die Augen. Bilder aus längst vergangener Zeit stiegen aus ihrer Erinnerung auf. Bilder ihrer Kindheit und Jugend. Und ein Name. Blauer Stern hatten sie es genannt. Das Schiff des Sängers. Es hatte blaue Segel getragen. Sein Schiff war durch die Lüfte gefahren. Bunte Glaskuppeln schimmerten im Sonnenlicht, wenn es über den Himmel glitt. Als Kind hatte sie sich gewünscht, einmal an Bord dieses Schiffes zu sein, wenn es mit einer Eskorte aus Drachen über den Himmel zog.

Sie dachte an die wenigen Gelegenheiten, bei denen sie die Alben von fern gesehen hatte. Sie waren so unnahbar gewesen. Sie sprachen auch nicht mit ihren Kindern. Es hatte geheißen, sie sahen einen einfach nur an, und man wusste mit aller Klarheit, was sie wollten. Es war ein Verstehen jenseits von Worten, die Gedanken stets verfälschten, weil sie ein unvollkommenes Mittel waren, sie auszudrücken.

Die Alben hatten ihnen auch nie ihre Namen genannt. Emerel e kannte Märchen, in denen es hieß, wer den wahren Namen eines Alben erfahre, der werde Macht über ihn gewinnen. Alle Namen, die man ihnen gegeben hatte, hatten ihre Kinder ersonnen. So wie den Namen des Schiffes, Blauer Stern. Oder den Namen jenes Alben, der darauf über den Himmel reiste. Der Sänger.

»Kannst du mich tragen, Melvyn?«

Ihr Gefährte sah sie verzweifelt an. »Ja«, sagte er schließlich. »Aber es gibt hier nichts zu finden.«

»Weck mich, wenn die Sonne aufgeht.« Sie schloss die Augen. Bald war sie in einem seltsamen Traum gefangen. Da war ein Kind. Es streckte die Hand nach ihr aus.

»Emerelle!« Widerwillig blinzelte sie. Helles Licht brannte. Das Feuer war verloschen.

Melvyn ragte vor ihr auf. Die Sonne stand wieder hoch am Himmel. Dabei hatte sie das Gefühl, dass sie gerade erst eingeschlafen war.

Der Maurawan hob sie auf die Arme wie ein Kind. »Du hast unruhig geschlafen.«

Sie sah sich um. Alles erschien ihr in überdeutlicher Klarheit. Der Himmel war wolkenlos und der Berggipfel in goldenes Licht getaucht.

Melvyn trug sie in weitem Bogen um einen gebrochenen Mast. Feine Seidentaue schlängelten sich zwischen Felsen. Zerknülltes Segeltuch bildete blaue Nester.

Sie umrundeten einen Felsen, der wie ein mächtiger, steinerner Dorn in den Himmel stieß. Jetzt konnte man den Rumpf besser sehen, die verschlungenen goldenen Linien, das Schnitzwerk.

Zersplittertes Glas knirschte unter Melvyns Schritten. Der Rumpf war fast auf ganzer Länge aufgerissen. Als sei er mit großer Geschwindigkeit auf ein Kliff aufgelaufen und dann auf den Berggipfel geschleudert worden.

Es hatte geheißen, der Sänger sei der Älteste der Alben. Ihr Anführer. Emerelle dachte an den Orakelspruch, den Samur ihr unter die Haut gestochen hatte. Auf dem Albenhaupt ruht der Alben Haupt. Falrach hatte das verdrehte Orakelprosa genannt. Aber vielleicht war er ganz wörtlich zu nehmen. Vielleicht schlief der Sänger dort in seinem gestrandeten Schiff.

»Spürst du das?« Melvyn flüsterte wieder.

»Was?«

»Jemand beobachtet uns?« »Von wo?«

»Leise«, zischte der Maurawan. »Ich kann es nicht genau sagen. Aber er ist da. Ich spüre es genau.«

Emerelle sah sich um. Niemand war zu entdecken. Und sie spürte auch nichts. Es war seine Angst, die Melvyn zusetzte. Oder hatte er doch Recht? Sie sah sich erneut um.

Der Gipfel war zerklüftet. Überall lagen Schiffstrümmer. Jemand schien Möbel aus dem Rumpf herausgetragen zu haben. Teilweise waren sie mit Segelfetzen verhüllt. Es wäre leicht, sich hier zu verstecken. Aber warum sollte der Sänger das tun? Er hatte doch nichts von ihnen zu befürchten!

»Wir müssen in das Schiff hinein!«

»Das geht nicht«, protestierte der Maurawan.

»Geh!«, befahl sie harsch. Sie konnte spüren, wie er seine Armmuskeln anspannte.

»Bitte«, fügte sie versöhnlich hinzu. »Ich muss ihn finden. Da vorne, wo die Spanten aus dem aufgerissenen Rumpf ragen, da müssen wir es versuchen.«

Melvyn sagte nichts mehr. Er ging auf das Schiff zu. Plötzlich waren sie zwischen Felsen. Vor ihnen war ein Tuch als Sonnensegel aufgespannt. Darunter stand in einer Felsnische ein hochlehniger Stuhl. Ein Bein war abgebrochen und notdürftig durch eine Planke ersetzt worden. Ein Umhang war zwischen die Lehnen drapiert. Er verdeckte etwas. Ein schmaler, silberner Rand ragte unter dem Stoff hervor. Ein Schüsselrand? Die Form hatte Ähnlichkeit mit der Silberschüssel in ihrem Thronsaal.

Emerelle blickte über Melvyns Schulter. Der Schiffsrumpf lag jetzt hinter ihnen.

»Wie ich es dir gesagt hatte.« In Melvyns Stimme lag kein Triumph. Er klang müde.

»An diesem Ort war ich allerdings noch nicht.«

Über den Rand der Silberschüssel rann Blut. Etwas lag in der Schüssel! Verhüllt von dem Tuch. Emerelle keuchte auf. »Bring mich zu dem Stuhl!«

»Ich sehe keinen Stuhl.«

Sie bäumte sich in Melvyns Armen auf. »Der Stuhl da vorne! Unter dem Segel. Es sind doch nur drei Schritt.«

»Ich sehe keinen Stuhl«, beharrte er stur. »Da liegt ein Kissen zwischen den Felsen. Es ist schmutzig.«

»Dann bring mich zu dem Kissen!«

Er machte einen Schritt. Eisiger Wind peitschte ihnen ins Gesicht. Sie standen auf einem weiten Schneefeld.

Verzweifelt sah sich Emerelle um. Hinter ihnen erhob sich ein Felsen wie ein Turm. Sie waren dort, wo die Adler sie abgesetzt hatten. Es war alles vergebens gewesen.

Ein Grollen ließ Melvyn herumfahren. Weit oben am Hang löste sich der Schnee. Der Maurawan fluchte. Dann begann er zu laufen.

Der Spieler

Falrach drehte unschlüssig die kleine Spielfigur, die Emerelle darstellte, zwischen den Fingern. Wo sie wohl war? Er setzte die Figur am Rand des Falrach-Tischs ab. Wo immer sie auch steckte, sie war nicht im Spiel!

Er nahm noch einmal die abgegriffene Liste, die der Kobold ihm hatte zuspielen lassen.

Anfangs war er sehr skeptisch gewesen. Das war zu gut, um wahr zu sein. Ihre Spitzel hatten inzwischen die Geschütze rings um den Hafen ausfindig gemacht. Alle zwölf standen exakt an den Stellen, die benannt waren. Schwieriger war es, zu beurteilen, ob die Liste mit den Fürsten, die zur Kronwahl bestimmt werden sollten, auch der Wahrheit entsprach. Das würde sich erst zeigen, wenn sie sich auf der Prunkbarkasse versammelten. Er hatte lange gezögert. Alvias, Nestheus und Katander! Das klang zu unglaubwürdig. Warum sollten sie geschworene Feinde des Trollkönigs zur Königswahl berufen?

In dem Brief war ausführlich dargelegt, welche Pläne Elija verfolgte. Dennoch erschien es ihm unglaubwürdig ... Er verschob einige der Figuren auf dem Spieltisch. Es sah schlecht für sie aus. Ihre Gegner waren viel stärker.

»Und, mein Fürst?«

Falrach blickte auf. Vor ihm stand Silwyna. Die Elfe war dunkel gewandet, ihr Gesicht bemalt. Sie führte das Wort für alle Maurawan, die auf der Lichtung versammelt waren.

»Heute Nacht gehen die ersten zehn«, entschied er. »Du wählst sie aus.«

»Wie du befiehlst, mein Fürst.« Sie grinste unverschämt. Vor sieben Wochen hatten die Maurawan ihn zum Fürsten ausgerufen. Das hieß, sie hatten die Nachricht, dass Ollowain zum Fürsten ihres Volkes gewählt worden war, überall verbreiten lassen. Sie hatten sich für den Namen Ollowain entschieden, weil die Wahrheit zu kompliziert gewesen wäre. Nie zuvor hatten die Maurawan einen Fürsten über sich akzeptiert. Es widersprach zutiefst ihrem Lebensstil. Aber nur so konnte Falrach an der Königswahl teilnehmen. Er musste einen Fürstentitel besitzen.

Er war zwar Fürst der Snaiwamark, zumindest stand ihm der Titel nach dem Tod seines Vaters zu, aber da die Trolle die Snaiwamark besetzt hatten und ihr Herrscher auch den Titel König der Snaiwamark trug, wäre Ollowains Legitimation leicht anzufechten gewesen. Wenn die Maurawan ihn hingegen zu ihrem Fürsten ausriefen, gab es daran nichts zu rütteln.

»Sollten wir nicht mehr Krieger in die Stadt schicken? Es sind nur noch vier Tage bis zum Fest der Lichter. Die Stadt ist schon voller Gäste.«

»Nein. Die Gefahr, entdeckt zu werden, ist zu groß.«

Silwyna wandte nichts mehr ein. Falrach war überrascht gewesen, dass die Maurawan sich ihm so bereitwillig angeschlossen hatten, als er erklärt hatte, er wolle verhindern, dass Gilmarak noch einmal zum König gewählt würde. Man musste verrückt sein, um sich auf dieses Komplott gegen den König einzulassen. Sie waren nur eine Handvoll Krieger. Ihr Feind konnte leicht das Hundertfache an Kämpfern aufbieten. Falrach hatte den Verdacht, dass gerade diese Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens die Maurawan reizte.

Er verschob einige der Figuren auf dem Spieltisch vor sich. Silwyna sah ihm aufmerksam zu. Er sah die Frage in ihren Augen. »Ob wir gewinnen können?« Er blickte wieder auf den Tisch und schüttelte den Kopf. »Wir haben die Überraschung auf unserer Seite. Ich hoffe, sie ahnen nicht, wie gründlich wir ihre Pläne kennen.

Setzen wir also einmal voraus, dass nicht wir es sind, die betrogen werden ... Unter diesen Maßgaben habe ich bei einem von sieben Spielen einen Sieg für uns erzielt. Das alles gilt nur, wenn das Spiel damit endet, dass ich zum König gewählt werde. Erweitert man es dahingehend, dass ich anschließend auch noch lebend die Stadt verlasse, werden die Aussichten deutlich schlechter.«

»Warum lässt du dich darauf ein?«

Falrach zuckte die Schultern. »Wenn alle vernünftig denken, werden wir auch künftig von Trollen und Kobolden regiert. Man muss entweder ein Zeichen setzen oder den Kopf einziehen und den Mund halten.«

»Darin, den Kopf einzuziehen, waren wir Maurawan schon immer schlecht. Du hast dir den Respekt unseres Volkes verdient, Falrach. Falls du einmal nicht mehr weißt, wohin du gehen sollst, wirst du in unseren Wäldern immer willkommen sein.

Vorausgesetzt, du bestehst nicht darauf, noch einmal unser Fürst zu werden.«

Falrach lächelte sie an. Sie war auf eine herbe Weise anziehend. In seinem früheren Leben hätte er versucht, sie zu verführen. »Keine Sorge, du weißt ja, ich strebe nach Höherem. Entweder trage ich in vier Tagen die Krone Albenmarks, oder aber ich habe keinen Kopf mehr auf den Schultern - und die Frage des Kronentragens, seien sie nun für Fürsten oder Könige, hat sich ein für alle Mal erledigt.«

Fast eine Liebesgeschichte

»Er kommt, Herrin.«

»Dann verschwindet schnell!« Elodia suchte sich ein nicht zu schlammiges Stück Weg, während ihre beiden Diener ihr Pferd am Zügel packten und davonpreschten. Es gab viele Hufspuren auf dem Waldweg, die einander überlagerten. Ihre Spuren würden keinen Verdacht erregen.

Sie ließ sich auf den Weg fallen und achtete darauf, dass sie sich mit dem Kleid ein wenig im Brombeerdickicht am Wegesrand verhedderte. Die nadelspitzen Dornen drangen durch das Kleid und die Weste ihres Reitkostüms. Sie trug mit Bedacht keine Stiefel, sondern flache Schuhe, die zum Reiten eigentlich völlig ungeeignet waren. Vor zwei Stunden schon hatte sie mit einem Knüppel dafür gesorgt, dass sie reichlich blaue Flecken auf den Beinen hatte. Bis es soweit war, dass sie ihren Rock hob, würden noch ein paar Stunden vergehen. Er würde nicht bemerken, dass sie nicht von ihrem vorgetäuschten Sturz stammten!

Sie tastete nach dem Silberfläschchen in der kleinen Tasche an ihrem Gürtel. Es wäre das erste Mal, dass sie mit Gift töten würde. Sie fühlte sich etwas unsicher. Immer wieder griff sie nach dem Fläschchen. Es konnte nicht zerbrechen! Dennoch hatte sie Sorge.

Sie hörte dumpfen Hufschlag. Elodia begann zu stöhnen. Nur Augenblicke später erschien er. Ein Reiter ganz in Weiß, auf einem Schimmel. Das Gesicht verborgen hinter einem silbernen Maskenhelm. Er wirkte unheimlich.

»Was ist geschehen, meine Dame?« Er schwang sich aus dem Sattel. Er hatte sich nicht einmal umgesehen. Völlig arglos war er.

»Ein Dachs ... Er kam plötzlich aus dem Dickicht. Mein Pferd hat mich abgeworfen und ist durchgegangen.« Sie versuchte aufzustehen und ließ sich mit einem Stöhnen zurücksinken. »Mein Fuß ... «

Er wirkte unschlüssig, soweit man das bei einem Mann mit einer Maske aus gehämmertem Silber beurteilen konnte.

»Könntet Ihr mir aufhelfen? Vielleicht, wenn ich erst einmal stehe ... « Sie legte die Hand an den Mund. »Jetzt erkenne ich Euch. Ihr müsst der berühmte Tjuredritter sein!

Gott sei gepriesen! Einen besseren Retter hätte ich mir nicht erträumen können.«

Er räusperte sich verlegen. »Ich bin nur ein Mann, der versucht, nach den Geboten Tjureds zu leben.« Er beugte sich zu ihr hinab und streckte ihr die Arme entgegen. »Wenn Ihr gestattet, meine Dame.«

Er war rührend! Die meisten Männer, denen Elodia bisher begegnet war, hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, sie auf den Arm zu nehmen, und dabei mehr oder weniger diskret zu betatschen. Aber er wartete auf ihre Zustimmung, sie zu berühren.

»Bitte, edler Ritter.« Sie streckte ihm die Hände entgegen. »Ich fürchte, ohne Eure Hilfe kann ich mich nicht erheben.«

Er nahm ihre Hände. Unglaublich! Er wagte sie nicht anderswo zu berühren. Oder fand er sie abstoßend? Vor einigen Wochen hatte sie an ihren Schläfen die ersten grauen Haare entdeckt. Sie hatte Narben. An den Armen und auf dem Rücken. Die Zeit in Drusna hatte sie für immer gezeichnet.

Sehr behutsam, mit ruhiger Kraft zog er sie hoch. Sie spielte ihm vor, wie sie versuchte, den verletzten Fuß zu belasten. Mit einem leisen Schmerzenslaut ließ sie sich gegen seinen Arm sinken. Sie war froh, dass sie einen langen Reitrock und unter ihrer Weste ein hochgeschlossenes Mieder trug. Ihre Reize zu deutlich zur Schau zu stellen, wäre die falsche Strategie gewesen.

Er räusperte sich wieder. Elodia stellte sich vor, wie er hinter seiner Maske rot wurde.

Wie er wohl aussah? Warum verbarg er sein Gesicht? War er hässlich? In den Geschichten, die sie über ihn gehört hatte, hieß es, er sei ein stattlicher junger Mann. Eine ungewöhnliche Rüstung trug er. All das weiße Leder. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

»Mir scheint, Ihr solltet besser nicht Euren verletzten Knöchel belasten, meine Dame.«

»Ja.« Sie stöhnte leise. »Er schmerzt sehr.«

»Wenn Ihr mir gestattet, Euch bei den Hüften zu fassen, würde ich Euch in den Sattel meines Pferdes heben. Dann könnten wir uns auch auf die Suche nach Eurem Pferd begeben.«

Sie senkte den Blick und tat verlegen. »Das ist zu großzügig von Euch.«

»Nein, es wäre mir eine Freude! Ich meine, Euch zu helfen ... Ich möchte nicht Euer Ungemach missbrauchen, um Euch unsittlich zu berühren. Ich hoffe, Ihr denkt jetzt nicht schlecht von mir ... Ich ... Ich bin nicht sehr erfahren im Umgang mit Damen.«

Sie unsittlich berühren, dachte Elodia und lächelte in sich hinein. So hatte noch nie ein Mann zu ihr gesprochen! »Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, dass Ihr versuchen könntet, meine Lage auszunutzen. Im Gegenteil! Ihr seid der ritterlichste Kavalier, der mir je begegnet ist.«

Wieder sein Räuspern. Einen Augenblick stand er verlegen da. Dann nahm sie seine Hände und legte sie auf ihre Hüften. »Wird es so gehen?«

»Ahm ... gewiss.«

Er hob sie ohne Mühe. Sie setzte sich in den Damensitz, obwohl sie diese Art des Reitens nicht mochte.

Er griff nach dem Zügel und führte seinen Schimmel. Kein Versuch, sich hinter ihr in den Sattel zu drängen. Wieder plagte sie ein Anflug von Zweifeln. Fand er sie nicht hübsch?

Eine ganze Weile schwiegen sie beide. Er drehte sich nicht einmal um. Sie hatte reichlich Zeit, ihn zu betrachten. Er war gut gebaut. Trotz der Rüstung konnte man sehen, dass er sehr muskulös sein musste. Und er hatte eine schmale Taille. Sie mochte das bei Männern. Bäuche, die über Gürtel quollen, verabscheute sie. Die meisten Männer, denen sie sich hingegeben hatte, hatten so ausgesehen.

»Es war eine Gnade Gottes, die Euch zu mir geführt hat«, sagte sie endlich, um wieder ein Gespräch in Gang zu bringen.

»In der Tat, es war eine glückliche Fügung.« Ein Räuspern.

Sie wartete darauf, ob noch etwas käme. Wieder erstarb ihr Gespräch.

Bald entdeckte er ihr Pferd. Leise auf die Stute einredend, schaffte er es, nach ihrem Zügel zu greifen und sie einzufangen. Bei Pferden schien er nicht um Worte verlegen zu sein, dachte sie ein wenig ärgerlich. Er hatte sie bisher nicht einmal nach ihrem Namen gefragt!

Er saß auf ihrer Stute auf und ritt nun neben ihr her. »Man hat mir gesagt, dass es auf diesem Weg ein Wirtshaus geben soll«, sagte er schließlich nach einer Ewigkeit.

»Es wäre schön, bald rasten zu können und meinen verletzten Knöchel zu kühlen.«

»Wir können sofort rasten, wenn Ihr erschöpft seid.«

»Nein, nein. Es geht noch. Allerdings könntet Ihr mir eine Freude machen. Ich hätte eine Bitte. Verzeiht mir, wenn ich wage, sie vorzutragen und sie Euch vielleicht lä-

cherlich erscheinen mag. Ich bin nur ein törichtes Weib ... Aber Ihr würdet mir eine große Freude bereiten, wenn Ihr den Helm abnehmen könntet. Es heißt, Ihr seid so schön wie die Heiligen auf den Glasfenstern der Tempeltürme.«

Wieder räusperte er sich. Steckten ihm denn die Worte im Hals fest? »Ich glaube, ich werde eine Enttäuschung sein«, brachte er schließlich hervor. Aber er griff nach dem Helm. Er klappte die Maske weg, nahm ihn ab und klemmte ihn sich unter den linken Arm. Sein Haar war ein wenig zerzaust. Das Gesicht war ebenmäßig. Besonders sein edel geschnittener Mund zog ihre Blicke an. Kein Wunder, dass er als Kirchenritter nie seinen Helm abnahm. Jeder normalen Frau mussten unsittliche Gedanken kommen, wenn sie so einen Mann zu Gesicht bekam.

Er errötete leicht, als sie ihn immer weiter anstarrte. »Ihr seid wirklich so schön, wie man sich erzählt. Sicher seid Ihr mit einem Edelfräulein verlobt.«

»Ahm ... nein.«

»Ein so schöner Mann ist allein?«

»Da ... da vorne. Das muss das Wirtshaus sein. Ich werde vorausreiten und den Wirt bitten, kühlen Essig und eine Bandage für Euren Knöchel bereitzustellen.« Mit diesen Worten preschte er voraus.

Elodia fluchte stumm. Sie hätte zu gerne gewusst, wie es um ihn und die Frauen stand.

Als sie das Wirtshaus erreichte, erwartete sie eine Magd, die ihr beim Absteigen half.

Elodia sah ihren Ritter beim Stall. Er vermied es, in ihre Richtung zu sehen.

Sie spielte weiter ihre Rolle. Auf die Magd gestützt, humpelte sie in das Wirtshaus.

Dort bestellte sie ein Brathuhn, frisches Brot, ein wenig Käse und einen Krug mit Wein.

Es dauerte lange, bis er kam. Das Essen stand schon auf dem Tisch. Außer ihnen und dem Wirt mit seiner Magd waren nur zwei weitere Reisende im Schankraum. Alle blickten verstohlen in seine Richtung. Jeder in Drusna hatte schon Geschichten über den weißen Ritter gehört.

»Bitte, mein Retter!« Sie deutete auf den Platz neben sich auf der Bank.

Wieder errötete er.

»Bitte! Das Huhn, das für uns sein Leben gegeben hat, hat verdient, dass wir es warm verspeisen.«

Jetzt lächelte er zum ersten Mal. Er sah einfach hinreißend aus. Warum hatte er sich nur gegen den König verschwören müssen! Verdammter Narr! Sie sollte es schnell hinter sich bringen.

»Ihr trinkt doch sicherlich ein wenig Wein.« Sie schenkte ihm ein. Sein Becher war schon vorbereitet. Sie hatte einen Fingerbreit Gift hineingeschüttet. Es war klar wie Wasser, roch ein wenig nussig, und Schwester Anais hatte behauptet, es sei ohne Geschmack. Elodia mochte das nicht ganz glauben. Wer kostete schon freiwillig von einem Gift, um dessen Geschmack zu ergründen? Auf jeden Fall würde der starke Rotwein den Geschmack überdecken, wenn es denn einen gab.

Elodia griff nach ihrem Becher. »Auf Tjured, der mir seinen edelsten Ritter schickte, um mich aus verzweifelter Lage zu retten.« Sie setzte an und trank ihren Becher bis zur Neige, wie es Brauch war, wenn man einen Trinkspruch ausbrachte. Nun war er an der Reihe, wenn er sie nicht brüskieren wollte.

Er nahm seinen Wein und verneigte sich. »Auf die namenlose Schöne aus dem Wald, die Tjured erschuf, um mich zu lehren, was vollkommene Schönheit ist.«

Elodia errötete. Er trank den Wein in einem Zug, so wie sie es getan hatte. Ein Schaudern überlief sie. Keiner ihrer Morde war so leicht vollbracht worden. Drei Tage blieben dem Ritter jetzt noch. Vielleicht auch nur zwei. Ihr Werk war vollbracht. Sie fühlte sich schäbig.

»Geht es Euch gut, edle Dame? Ich hoffe, ich habe Euch mit meinem Trinkspruch nicht in Verlegenheit gebracht. Für gewöhnlich bin ich nicht solch ein Draufgänger … Ich …«

Er lächelte sie an, dass ihr schier das Herz brechen wollte. »Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist.«

Sie riss einen Schenkel des Hähnchens ab. Jetzt bloß nicht sentimental werden! Sie schaffte es, sich zu einem Lächeln zu zwingen. »Das war das galanteste Kompliment, das mir je gemacht wurde«, sagte sie. Und es war keine Lüge. Promachos hatte ihr zwar mit geschliffeneren Worten geschmeichelt, doch hatten all seine Komplimente immer nur darauf abgezielt, sie in Stimmung zu versetzen, sich ihm hinzugeben. Bei dem Ritter war sie sich sicher, dass er ihr ganz ohne Hintergedanken geschmeichelt hatte. Er meinte, was er sagte.

»Das Hähnchen riecht köstlich«, sagte er ganz offensichtlich, um das Thema zu wechseln.

»Keine Sorge. Ihr habt mich nicht verlegen gemacht. Ganz im Gegenteil, Ihr habt mein Herz berührt, und das ist erst einem vor Euch gelungen.«

»Sicher ein glücklicher Mann ... «

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn seit mehr als elf Jahren nicht gesehen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.« Sie dachte an den Jungen, der ihr damals in Nantour heimlich nachgestellt hatte.

Er hatte gewusst, was sie tat. Und doch hatte es ihn nicht abgeschreckt. In seinen Augen hatte sie geglaubt, reine Liebe zu sehen. Nie hatte er es gewagt, sie anzusprechen.

Vielleicht ging er ihr deshalb nie aus dem Sinn. Nie hatten dumme Worte die Gefühle entweiht, die er so offensichtlich für sie empfunden hatte. Es war damals ein Leichtes gewesen, seinen Namen von den anderen Bettlerjungen zu erfahren. Manchmal hatte sie sich in den letzten Jahren Tagträumen von unschuldiger Liebe hingegeben.

Träumen davon, wie ihr Leben hätte sein können. Jedes Mal hatte sie dabei an ihn gedacht.

»Auch ich kenne den Schmerz unerfüllter Liebe. Ich war noch ein Junge, als mich die Liebe traf.« Er lächelte verlegen. »Ich habe mich nicht einmal getraut, sie anzusprechen. Ihr merkt, ich bin auch heute nicht gut mit Worten in Anwesenheit schöner Damen. Mein Schicksal hat mich in ein einsames Tal verschlagen. Jeden Tag habe ich an sie gedacht. Als ich endlich in meine Heimatstadt zurückkehren konnte, lebte sie nicht mehr dort. Zwei Jahre lang habe ich überall in Fargon nach ihr gesucht. Es wird nie eine andere für mich geben als meine Elodia, mein Blumenmädchen vom Heumarkt in Nantour.«

Ihr fiel der Weinbecher aus der Hand. Das konnte nicht sein!

»Ist Euch nicht gut, meine Dame? Ihr seid plötzlich weiß wie der Tod.«

»Ist dein Name Adrien?«

Er sah sie verwundert an. Dann lag plötzlich Misstrauen in seinem Blick. »Meine Mutter nannte mich so. Aber mein richtiger Name ist Michel Sarti.«

»Und dieses Blumenmädchen? Was tat sie, wenn sie kein Glück damit hatte, ihre Blumen zu verkaufen?«

»Darüber möchte ich nicht sprechen, meine Dame«, entgegnete er kühl.

»Ging sie zu dem Fleischhauer, der die köstlichen Würste machte? Und zu dem Bäcker bei der Flussbrücke und ... « »Kanntet Ihr sie?«

Sie suchte in dem Gesicht des Ritters nach den Zügen des Jungen. Sie hatte Adrien stets nur von weitem gesehen. Beide hatten sie dieselbe Haarfarbe. Und vielleicht auch dasselbe scheue Lächeln.

»Du bist doch auch Priester ...«

»Ich habe keine Weihe empfangen.«

»Das ist egal. Ich muss dir beichten.« Ihr standen jetzt Tränen in den Augen. Sie konnte es nicht hier drinnen tun. Sie hatte ihren Traum getötet. Den kleinen unschuldigen Jungen, der sie nie vergessen hatte, wenn die Worte des Ritters stimmten. »Lass uns hinter die Scheune gehen.« Sie stellte sich vor, wie er ihr den Kopf abschlagen würde, wenn er erfuhr, dass sie eine gemeine Mörderin war. Dass sie ihn getötet hatte, auch wenn ihm noch drei Tage blieben. Es gab kein Gegengift gegen das Loabo. Er war verloren!

Der Weg des Geldes

Anderan griff die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Er war über zwanzig Stunden in den Kanälen gewesen und so erschöpft, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Es war jene tief zufriedene Erschöpfung, die er in den letzten Jahren so oft vermisst hatte. Er hatte die Bauarbeiten nicht nur beaufsichtigt, er hatte auch selbst Hand angelegt.

Bedeckt mit Schlamm, nur mit einem Lendenschurz bekleidet und mit triefnassem Haar verabschiedete er die übrigen Holden. Sie hatten gute Arbeit geleistet und waren einen Tag früher als geplant fertig geworden. Die Männer standen noch kurz beisammen, machten Witze oder beklagten sich über ihre Frauen. Dann verliefen sie sich.

Anderan sah ihnen nach. Er wusste, dass es einen Tag wie diesen nie wieder in seinem Leben geben würde. Sie hatten sechs neue Abstiege ins steinerne Herz ihrer Stadt gebaut. Sechs Fluchtwege, die noch auf keiner Karte verzeichnet waren. Und sie hatten auch die goldenen Fluttore im Saal der Fallenden Wasser inspiziert und eine Änderung am Schließmechanismus der Tore vorgenommen. Anderan hatte es genossen, noch einmal diesen prächtigsten Saal des unterirdischen Systems aus Zisternen, Trinkwasser- und Abwässerkanälen zu besuchen. Es war der Thronsaal des Herrn der Wasser. Sein Vater Gondoran, der bei der letzten Königswahl der Herrscher der Holden gewesen war, hatte ihn gern so genannt. Anderan konnte sich noch gut erinnern, wie er mit ihm auf den Balkonen hoch im Saal der Fallenden Wasser gestanden hatte, um dem Lied des Wassers zu lauschen. Sein Vater war im fernen Phylangan gestorben. Sein Sohn in den Weiten des Windlands. Sein Zweig aus der Sippe der Bragan würde keine Blüten mehr tragen.

In melancholischer Stimmung ging er nach Hause. Seine Dienerinnen hatten ihm ein Bad bereitet. Er genoss es, im warmen Wasser zu ruhen. Es war still im Haus. Anderan war allein. Er betrachtete seine Hände und Füße, dachte kurz an die verlorenen Finger und Zehen. Die Wunden waren verheilt, aber es tat ihnen nicht gut, dass er immerzu im Wasser stand. Er sollte der König Albenmarks werden. Was sein Vater wohl dazu gesagt hätte? Gondoran hatte sein Leben gewagt, um die Königin zu retten, als die Trolle überraschend über Vahan Calyd herfielen. Und nun sollte sein Sohn durch List und Intrigen jene Krone gewinnen, die Gondoran für Emerelle verteidigt hatte. Sein Vater würde das nicht schätzen ... Und sein Sohn Baidan? An ihn zu denken, tat nicht mehr so weh. Baidan würde wahrschein lieh sagen, er habe zu viel Zeit im Kronrat verbracht. Und sein Sohn hätte damit Recht gehabt. Der Platz des Herrn der Wasser war in Vahan Calyd. In den Kanälen der Stadt!

Er dachte an die letzten Steine des Mosaiks, die sich in den vergangenen Wochen gefügt hatten. An all die Briefe und Rechnungen. Und an die kurze Mitteilung, die ihn erst gestern erreicht hatte. Im Fürstenpalast von Tanthalia war seit sechs Jahren kein einziger neuer Vorhang mehr aufgehängt worden. Das war der letzte Stein. Nun hatte sich das Mosaik zu einem klaren Bild gefügt. Nach dem Weg der Pfeile war er dem Weg des Geldes gefolgt.

Vor einem Jahr hatte Elija 10 000 Silberstücke an das Handelshaus Verrak überschreiben lassen. Silber, das mutmaßlich aus den Schatztruhen der Snaiwamark-Karawane abgezweigt worden war. Für diese Summe hätten seidene Vorhänge für seinen Palast geliefert werden sollen. Vermutlich hätte man dafür den halben Palast in Seide hüllen können. In den nächsten Monden waren vom Handelshaus Verrak Bestellungen an verschiedene Schmiede und Pfeilmacher herausgegangen. Und an einen Korbflechter. Anderan lagen all diese Rechnungen vor, denn er hatte seine Macht als Kronrat genutzt, um Abschriften der Kontorbücher der Verraks fertigen zu lassen.

Und das ohne das Wissen der Kaufherren. Nahm man die Transportkosten noch dazu und die Gebühren der Lagerhäuser, dann fügte sich all das auf eine Summe von annähernd 10 000 Silberstücken. Ganz offensichtlich hatten die Verraks es nicht gewagt, bei diesem Geschäft einen Gewinn für sich herauszuschlagen.

Natürlich waren ihre Geldgeschäfte verwickelt und unübersichtlich. Vor einem Gericht, das nicht mit Trollen besetzt war, würden sie sich mit Sicherheit herausreden können. Die 10 000 Silberstücke machten nur einen Bruchteil der Warenwerte aus, die durch das große Handelshaus im Laufe eines Jahres bewegt wurden. Sicherlich ließ sich beweisen, dass die Münzen aus Tanthalia in die Finan zierung ganz anderer Geschäfte geflossen waren. Doch ebenso stand außer Zweifel, dass sich alle Summen des Pfeilgeschäfts letztlich zu einem Betrag von etwa 10 Silberstücken fügten.

Anderan streckte sich im Bad. In einer Mauernische stand zwischen Tiegeln mit Badeölen noch das kleine Holzschiff, das er vor Jahren für Baidan geschnitzt hatte.

Kein Bad war vergangen, ohne dass der Junge das Schiff zu Wasser gelassen hatte.

Baidan hatte Segel aus bunt bemalten Bananenblättern dafür gemacht. Segel, die längst vergangen waren.

Der Herr der Wasser tastete nach der Pfeilspitze, die auf seiner Brust ruhte. Lange betrachtete er das kleine Eisenstück, welches das Leben seines Sohnes beendet hatte. In drei Tagen wäre er der Herrscher Albenmarks. Aber wenn er Elija vor ein Gericht brachte, dann würde alles in den Schmutz gezerrt werden, wofür Hunderte Kobolde in den letzten Jahren ihr Leben gegeben hatten. Elija war unberührbar. Stürzte er, würde auch sein Lebenswerk fallen ...

Das Kind

Melvyn riss sie mit sich. Er stürmte in panischer Hast der Deckung des Felsturms entgegen, während sie immer noch zu der Pracht der Lawine hinaufschaute. Es sah aus, als habe sich eine Wolke auf den Hang des Berges gelegt, um nun in all ihrer Pracht an seiner Flanke hinabzugleiten. Majestätisches Grollen begleitete das wirbelnde Weiß. Ein Geräusch, das jeden anderen Laut erstickte.

Während des Laufens spürte sie, wie der Boden unter ihren Füßen bebte. Das Erzittern des Berges löste kleinere Lawinen aus, die dem großen Weiß vorauseilten wie Herolde, welche die Ankunft eines Königs verkündeten.

Klumpen aus verharschtem Schnee schlugen gegen ihre Beine. Sie strauchelte. Melvyn zog sie sofort wieder hoch. Die Lawine war schnell! Viel schneller als sie eilte sie dem Felsturm entgegen.

Melvyn eilte leichtfüßig dahin, während ihre Schritte leicht einsanken. Hatte denn all ihre Zauberkraft sie verlassen? Sie bekam keine Luft mehr. Sie atmete. Sie spürte die eisige Winterluft ihre Lungen füllen. Aber es schien nicht zu helfen. Sie hatte das Gefühl zu ersticken.

Wieder strauchelte sie. Die Lawine würde sie bald verschlingen. Die Bergflanke erzitterte. Der Berg wollte sie töten. Sie wusste das. Bald wäre sein Werk vollendet.

Melvyn packte sie. Er schrie sie an, doch sie verstand kein einziges Wort. Der Donner der Lawine war ein Tyrann, der keinen anderen Laut neben sich duldete. Melvyn hob sie auf die Arme.

Jetzt brach auch er in den verharschten Schnee ein. Sie war zu schwer. Sein Rettungsversuch würde nicht helfen. Jetzt war auch sein Tod unabwendbar.

Das brodelnde Weiß traf auf den Felsturm. Eine Wolke wirbelnder Eiskristalle verschlang sie. Melvyn lief immer noch weiter.

Emerelle kniff die Augen zusammen. Feine Eissplitter stachen nach jedem Zoll ungeschützter Haut. Sie prallten gegen etwas Hartes und stürzten. Melvyn kam nicht mehr auf die Beine. Schneemassen glitten rechts und links an ihnen vorbei. Aber er ließ sie nicht los. Er zerrte an ihr. Zog sie in eine scharfkantige Enge. Sie schlug sich den Kopf an. Alles um sie herum bebte. Das Brüllen des Berges löschte jeden anderen Gedanken.

Melvyn hielt sie fest an sich gedrückt. Sie spürte seinen warmen Atem in ihrem Nacken. Der einzige Trost in einer Welt aus Stein. Dann entfernte sich der Donner.

Noch immer war die Luft erfüllt von Pulverschnee. Sie konnte nichts sehen. Doch der Felsturm bebte nicht länger. Die Spannung ließ nach. Sie fühlte sich geborgen in der Umarmung. Sie ließ innerlich los.

Plötzlich stand das Kind vor ihr. Das Kind, das schon auf dem Berggipfel in ihren Träumen gewesen war. Ein Mädchen mit goldblondem, leicht gelocktem Haar und Augen in der Farbe, die das Fel eines jungen Rehkitzes hat.

Das Kind zu sehen, erfüllte sie mit tiefem Frieden. Die Kleine lächelte sie an, und ihr ging das Herz auf. Emerelle wusste, es war ihre Tochter, die sie sah. Die Tochter, die sie nie gehabt hatte. Sie winkte ihr zu und lief. Und während sie lief, wurde sie größer, wurde zur jungen Frau. Die Landschaft um sie herum veränderte sich. Sie war auf einer weiten Ebene. In einem Dschungel. Dann erkannte Emerelle Vahan Calyd. Die prächtigen Feuerblumen des Festes der Lichter schmückten den Himmel. Viermal kam ihre Tochter nach Vahan Calyd. Jedes Mal erstrahlten weniger Lichter am nächtlichen Himmel. Und die Stadt wirkte von Mal zu Mal verfallener. Plötzlich war ihre Tochter verschwunden. Inmitten eines brennenden Waldes. Emerelle schrie und weinte. Ihr Blick irrte umher. Überall war nur Feuer. Irgendwie schaffte sie es, den Flammen zu entkommen. Doch ganz gleich, wohin sie sich wandte, das Land war zu Asche geworden. Einmal glaubte sie den Schatten eines Drachen über den Himmel gleiten zu sehen. So lange sie auch suchte, sie fand kein Leben. Dann plötzlich stand sie hinter einer Gestalt, die über einem Feuer kauerte und Seiten aus einem eng beschrieben Büchlein riss, um sie den Flammen zu übergeben. Es war ein Lutin. Er erinnerte Emerelle an Elija Glops. Aber ganz sicher war sie sich nicht. Der Kobold blieb bei dem Feuer, bis auch der Einband des Buches vollständig verbrannt war. Dann eilte er davon. Kaum war er fort, fügten sich Einband und Seiten wieder aus der Asche zusammen. Sie erhoben sich aus den Flammen. Das Buch breitete seine Seiten aus, als seien es Vogelschwingen und stieg hoch in den Himmel hinauf.

Pfeilschnell zog es dahin, bis ein gewaltiger Berg vor ihm erschien. Es flog auf einen Felsturm in einem Schneefeld zu. Dort kauerte ein erfrorener Elf. Ganz deutlich sah Emerelle, dass das Buch unter seinem linken Fuß lag.

Dann war da wieder das Gesicht des Mädchens. Und das Ollowains. Ohne dass der Schwertmeister auch nur ein Wort sprach, erkannte sie an seinem verhaltenen Lächeln, dass er wieder ganz er selbst war. Er hielt das kleine Buch in der Hand. Seine Augen strahlten. Er winkte ihr zu ...

Das Bild änderte sich. Sie blickte auf Vahan Calyd hinab und sah das Fest der Lichter.

Immer und immer wieder. Viele Jahrhunderte vergingen. Einmal glitt ein bedrohlicher Schatten dicht unter ihr durch den Himmel. Plötzlich wehten fremde Banner über der Hafenstadt. Die Palasttürme lagen in Trümmern und überall waren Fahnen mit einem toten schwarzen Baum vor weißem Grund zu sehen. Sie sah sich und Skanga. Sie hatten einen dritten Albenstein! Und sie taten etwas Ungeheuerliches!

Wieder sah sie das Mädchen mit dem goldblonden Haar.

»Emerelle?«

Sie setzte sich mit einem Ruck auf. Ihr standen Tränen in den Augen. Ihr war kalt.

»Sie sind da«, sagte Melvyn leise. Er hielt sie noch immer in seinen Armen. Behutsam schob er sie von sich fort.

Noch immer von ihren Träumen benommen, stand sie auf. Wolkentaucher und Fleckfuß saßen in dem weiten Schneefeld. Vor der weiten, weißen Fläche wirkten sie klein wie Sperlinge. Auch sie fühlte sich klein. Sie sah den Berg hinauf. Der Gipfel entzog sich wie immer dem Blick. Es war ein klarer Tag. Der Berg war wunderschön.

Er sah gar nicht aus wie ein Mörder. Vielleicht lag die Schuld auch bei denen, die unbedingt den Gipfel erreichen wollten. Jenen einen Ort auf der Welt, der allen Albenkindern versagt war. Sie ahnte, dass der Sänger dort oben war. Aber er hatte sich nicht zwingen lassen, sich ihr zu zeigen, wann sie es wollte. Vielleicht hatte er ihr die Träume geschickt ... Die Alben sprachen nicht mit ihren Kindern. Aber das Schicksal der Welt, die sie erschaffen hatten, war ihnen nicht gleichgültig.

Emerelle fühlte sich klein und verloren auf dem weiten Schneefeld. Hatte der Berg sie Demut lehren wollen?

Melvyn kam mit ihrem Fluggeschirr. Seines hatte er schon angelegt. Er sah ein wenig lächerlich aus mit dem lederbezogenen Oval über seinem Kopf. »Bist du bereit?«

Sie nickte. Er half ihr ins Gurtzeug und begann sie zu verschnüren. »Wohin wirst du gehen, Melvyn?«

Er blickte zu ihr auf und lächelte. »Zu Conlyn und Leylin. Zu meiner Familie. Ich habe Leylin nicht gesagt, wohin wir reisen werden, und ich habe Kadlin verboten, darüber auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Weißt du, Leylin wirkt so ruhig und freundlich, aber manchmal kann sie sehr bestimmend sein. Sie hätte mich nicht ziehen lassen, wenn sie gewusst hätte ...« Er zog seinen Gurt so straff, dass es schmerzte.

»Und du? Bist du sehr enttäuscht?«

Sie beneidete ihn um seine Familie. Das war ein Leben, das sie nie kennengelernt hatte.

Ihr Vater war schon tot gewesen, als sie geboren wurde.

»Ich muss noch einmal zum Felsen zurück.« Sie merkte, dass Melvyn die Verzögerung missfiel, aber sie musste es wissen. Sie ging zu der tiefen Spalte, die sie vor der Lawine bewahrt hatte. Zu dem Grab des namenlosen Elfen, der mit gefrorenen Lidern bis in alle Ewigkeit auf das Schneefeld hinabblicken würde. Unter seinem linken Fuß lag ein schmales schwarzes Büchlein. Sie war sich nicht ganz sicher, ob es schon dort gewesen war, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatten. Sie glaubte es nicht.

Emerelle kniete nieder. Das Oval ihres Fluggeschirrs schlug gegen die Felsen. Sie streckte sich, bis sie mit den Fingerspitzen das Büchlein berühren konnte. Es war wirklich da! Keine Illusion. Sie müsste es nur nehmen. Dann würde das Kind mit dem goldenen Haar in ihr Leben treten.

Ihr Kind. Und Ollowains. Wenn er das Buch las, würde er zurückkommen, und sie würde sein Herz gewinnen. Sie musste nur das Buch nehmen und es zu ihm bringen.

Der Sänger hatte ihr also doch Antwort auf ihre Fragen gegeben. Auf seine Art.

»Wir müssen hier fort«, rief Melvyn. »Wir sollten den Berg nicht noch einmal herausfordern. Bitte lass uns gehen!«

Emerelle strich mit den Fingerspitzen über das Buch. Sie dachte an das Kind. Nur vier Krönungsfeste würde es noch geben, wenn sie es nahm. Mehr als hundert Jahre ...

»Bitte, Emerelle! Die Adler werden unruhig. Sie wollen fort!«

Sie richtete sich auf. Ein letztes Mal blickte sie auf das Buch. Sie war sich sicher, es würde nicht mehr hier sein, wenn sie später noch einmal zurückkehrte.

Die Adler weiteten ihre Schwingen. Sie stießen sich vom Schneefeld ab und glitten dem Tal entgegen. Dann machten sie eine Kehre und kamen mit kräftigen Flügelschlägen zurück. Emerelle konnte sehen, wie sie von böigen Winden hin und her geworfen worden. Sie lief zu Melvyn. Er kontrollierte noch einmal ihr Gurtzeug. »Was hast du da gemacht?«

»Abschied von meiner Familie genommen.«

Er sah sie scharf an. Er konnte es nicht verstehen. »Ich muss nach Vahan Calyd«, sagte sie.

Vorahnung

Jules drehte sich von den Säcken und setzte die Füße auf den Boden. Er war mit Mehlstaub bepudert. Er hatte es noch nie in einer Mühle getan. Er sah an sich hinab. Er sah aus wie ein Geist.

Die Blonde schlief noch. Es war Zeit, zu gehen. Er hatte Spaß gehabt. Es war gut, kein Pferd mehr zu sein! Er würde zur nächsten Schenke ziehen. Er brauchte Bier. Er würde noch sehr viel Bier brauchen, um Stroh, Hafer und das brackige Wasser aus den Tränken zu vergessen. Auch als Pferd hatte er sich gelegentlich kurze Ausflüge gegönnt, aber es waren immer nur gestohlene Stunden gewesen.

Er trat vor die Tür und blickte zum Himmel hinauf. Ein schmaler Sichelmond leuchtete zwischen den Wolken. Warum war er schon wach? Er hatte kaum geschlafen.

Er rieb sich über die stoppeligen Wangen und dachte an den Jungen. Wo Adrien wohl gerade steckte? In den letzten Monden hatte sich der Junge gut gemacht. Er sollte ihn alleinlassen, verdammt nochmal, er war doch nicht dessen Amme. Adrien steckte in einer Rüstung, die ihn fast unverwundbar machte. Und seit er nicht mehr dem Mädchen nachjagte, machte er auch deutlich weniger Unsinn.

Jules streckte sich und rülpste. Er hatte am Abend zu viel gegessen. Er blickte wieder zu der schlafenden Müllerin. Sie wäre es wert gewesen, ein paar Tage zu bleiben. Es war nett mit ihr. Sie hatte einen sehr schrägen Humor und war begeistert, einen Tjuredpriester in ihrem Bett oder auf ihren Mehlsäcken liegen zu haben.

Wieder blickte er zum Mond hinauf. Etwas war mit dem Jungen nicht in Ordnung. Er spürte es. Seine Vorahnungen hatten sich immer als richtig erwiesen. Deshalb lebte er noch, während alle anderen Devanthar tot waren.

Vernünftig war es nicht, zu gehen ... Er sollte sich dem Jungen auch nicht zu erkennen geben. Wenn alles in Ordnung war, könnte er sich wieder zurückziehen. Wo Adrien wohl steckte? War er etwa zu Cabezan gegangen? Zwei Jahre lang hatte er sich davor gedrückt, dem König gegenüberzutreten. Nachdem er in Drusna die Spur seiner Elodia verloren hatte, wäre genug Zeit gewesen, sich dem König zu widmen. War er die Sache ausgerechnet jetzt angegangen? Cabezan würde ihm Schwierigkeiten machen.

Jules stellte sich vor, wie sich der Junge nach der Strafpredigt, die er ihm zum Abschied gehalten hatte, ein Pferd besorgt hatte und geradewegs zu Cabezans Palast geritten war. Zuzutrauen war ihm das. Ohne Plan einfach dort hineingehen. Da waren nie weniger als fünfzig Leibwachen. Alles handverlesene Kämpfer. Genügend, um den Jungen niederzuringen. Wenn Adrien in Schwierigkeiten geriet, dann würde es in Cabezans Palast sein.

Jules blickte ein letztes Mal zur Müllerin. Nur ein paar Tage, dann wäre er wieder zurück. Nur ein paar Tage! Wahrscheinlich bildete er sich alles nur ein, und Adrien stand auf irgendeinem Marktplatz, ließ sich bewundern und predigte. Das machte er zugegebenermaßen gut.

Wahrscheinlich rührte sein ungutes Gefühl nur von dem zu üppigen Abendessen.

Er zog sein blaues Priestergewand über und ging die schlammige Straße entlang, die zur Brücke am Ende des Dorfes führte. Der nächste Albenstern war ein gutes Stück Weges entfernt. Und es gab auch keinen Stern in der Nähe von Cabezans Palast. Er würde eine ganze Weile brauchen, bis er dort war. Vielleicht zwei Tage ... Vielleicht ein wenig länger. Sicher hatte er nur zu viel gegessen. Er war zu lange mit Adrien zusammen gewesen. Er war nur ein Mensch, er sollte nicht dauernd an den Jungen denken. Er würde ohnehin sterben. Es war besser, keinen von ihnen so sehr kennenzulernen. Sie starben einfach zu schnell, wohingegen er alterslos durch die Jahrhunderte wanderte.

Was für einen Unsinn er doch dachte! Durch die Jahrhunderte wandern! In diesem Augenblick ging er barfuß auf einer verschlammten Landstraße. Und es war ziemlich kalt. Er grinste. Die Menschen würden ihn dafür bewundern. Sie hatten ja keine Ahnung, wie leicht es war, sich mit einem Wort der Macht gegen die Kälte zu wappnen. Für sie war er ein asketischer Wanderpriester.

Hoffentlich hatte sich der Junge nicht in Schwierigkei ten gebracht. Jules beschleunigte seine Schritte. Er könnte sich in ein Pferd verwandeln, um schneller voranzukommen. Adrien durfte kein unwürdiges Ende nehmen! Dann wären all die Jahre der Arbeit vergebens gewesen. Er mahnte sich zur Ruhe. Bestimmt lag der Junge jetzt in irgendeiner Schänke und schlief! Und er machte sich völlig unnötig Sorgen.

Er beschleunigte noch einmal seine Schritte. Es konnte ja nicht schaden, sehr frühzeitig zu sehen, dass alles in Ordnung war. Sobald er die Brücke überquert hatte, würde er sich in ein Pferd verwandeln. Dort würde ihn niemand mehr sehen.

Der Attentäter

Alvias zog ein letztes Mal den Wetzstein über die Klinge. Der Elf blickte hinab auf die überfüllten Straßen. Der Pöbel feierte, statt gegen die Schreckensherrschaft der Trolle aufzubegehren. Es war verrückt. Emerelle hatte sich jahrhundertelang für sie aufgeopfert. Und was taten sie für ihre Königin? Er konnte ja verstehen, wenn sie nicht mit dem Schwert in der Hand den Palast des Trollkönigs stürmten. Aber wenn hier Stille herrschte statt ausgelassener Festlaune, dann wäre das ein Zeichen, das selbst Trolle verstünden. Schweigende Mengen, vereint in stummer Anklage.

Der ehemalige Hofmeister erhob sich. Ein flüchtiger Blick genügte ihm, um zu offenbaren, wie schlecht das Fest organisiert war. Überall lag Unrat auf den Straßen.

Er stieg die lange Treppenflucht hinab zur Straße. Es war ihm unangenehm, sich unter die Feiernden zu misehen. Er hatte kein Gefolge. Diesen Weg würde er allein gehen. Jeder, der mit ihm käme, wäre in Gefahr. Er schob den Dolch in die Scheide an seinem Gürtel. Es war eine reich verzierte Waffe. Sie war mehr zur Repräsentation von Macht und Wohlstand gedacht. Sie passte zu seinen fürstlichen Gewändern. Niemand würde sich daran stö-

ren. Ein Schwert hätte er nicht an Bord der Prunkbarkasse nehmen können. Aber den Dolch, den würden die Trolle nicht ernst nehmen.

Er wich einer Gruppe betrunkener Minotauren aus, die mitten auf der Straße einen Ringkampf veranstalteten. Scharen johlender Kobolde standen um sie herum und wetteten. Sogar ein paar Kentauren waren in der Stadt. Es hatte Alvias überrascht, sie hier zu sehen. Waren sie doch die Einzigen, die ernsthaft Widerstand gegen König Gilmarak leisteten. Aber zum Fest der Lichter ruhten traditionell überall in Albenmark die Waffen. Selbst die Trolle hatten sich bisher daran gehalten. Bei der letzten Königswahl hatten sie die halbe Stadt niedergebrannt. Nun waren sie die Herrscher und sorgten für Recht und Ordnung. Es war ein zynischer Witz. Eine Laune der Geschichte.

Und er würde dafür sorgen, dass sich diese Laune nicht wiederholte.

Alvias stellte sich vor, wie er neben Gilmarak trat. Er würde den König im Glauben lassen, dass er ihm zur Wiederwahl gratulierte. Er würde den ganzen Abend über ausgesucht höflich sein. Und dann würde er ihm den Dolch unter den Rippenbogen rammen, die Klinge schräg nach oben gerichtet, so dass sie das Herz treffen musste.

Und er würde mit Emerelles Namen auf den Lippen sterben.

Nein, das war zu melodramatisch. Das war nicht sein Stil. Er würde mit einem kühlen Lächeln sterben. Gedankenverloren strich er über den langen, mit einer Silberborte geschmückten, schwarzen Seidenmantel. Die Borte war nicht zu üppig. Darunter trug er eine dunkelrote Tunika, ebenfalls mit Silberborte gesäumt. Zwei Tage lang hatte er sich Gedanken über seine Garderobe gemacht. Es bedeutete ihm viel, gut gekleidet zu sterben. Auch damit würde er in diesen Zeiten der Barbarei ein Zeichen setzen.

Er wechselte die Straßenseite, um einer Horde grölender Kobolde auszuweichen, die einen Springbrunnen besetzt hatten und jeden, der vorüberkam, unter schallendem Gelächter mit Wasser bespritzten. Zwei hatten sich Gesichter auf ihre nackten Hintern gemalt und streckten sie der Straße entgegen.

Angewidert wandte er sich ab. Ein torkelndes Weib stolperte fast über eine Feuerschale, über der zwei Faune am Straßenrand unappetitliche Fleischklumpen brieten. Es war eine Elfe! Ungeheuerlich, wie wenig Selbstachtung manche Angehörige seines Volkes hatten! Sich hier an einem solchen Tag zu betrinken!

Die Faune warfen ihr fluchend Holzkohlestücke nach, doch die Elfe torkelte so sehr, dass sämtliche Geschosse sie verfehlten. Sie trug ein mit Schlangenmustern geprägtes Lederwams. Ihre Haare waren ungeordnet. Arme und Beine hatte sie sich mit Bandag bemalt. Jetzt kam sie in seine Richtung.

»Hallo, mein Schöner! Du siehst aus, als hättest du einen Besen verschluckt.«

Alvias bedachte sie mit einem finstren Blick. »Ich lege keinen Wert auf Umgang mit Kreaturen wie dir.«

Sie lachte ihn aus. Ungehobelte Person! Alvias wandte sich ab, da packte sie ihn bei der Schulter und versuchte ihn zu küssen. Sie stank nach billigem Branntwein und Heringen. Ekelhaft. Er wich vor ihr zurück und versuchte sie gleichzeitig von sich fortzustoßen.

Sie krallte eine Hand in seinen Gürtel. »Einen Kuss!«, lallte sie und ließ seinen Gürtel los.

»Ja, küss die Kleiderpuppe, und dann kotz ihm auf den Mantel«, brüllte einer der Kobolde vom Brunnen auf der anderen Straßenseite.

»Wenn du nicht augenblicklich von mir ablässt, sehe ich mich gezwungen, mich gewaltsam von dir zu befreien, du ... du Trunkenboldin!« Es war das erste Mal, dass es ihm leidtat, dass er über kein angemessenes Repertoire an Schimpfworten verfügte.

Sie ließ von ihm ab. »Uh, was für ein wilder Stier!« Die Elfe drehte sich zu den Faunen um. »Er wollte mir in den Schritt fassen, der Lüstling, habt ihr das gesehen?«

»Zugabe«, rief der Spaßvogel unter den Kobolden beim Springbrunnen, und auch die beiden Faune grinsten dümmlich.

»Diese Person lügt!«, empörte sich Alvias. »Niemals käme es mir in den Sinn, eine wie sie auch nur zu berühren! Sie ...« Die Betrunkene torkelte weiter die Straße hinab und beachtete ihn gar nicht mehr. Er seufzte erleichtert. Dann packte ihn der Schreck. Er griff nach seinem Dolch. Hatte sie ihn etwa bestehlen wollen?

Nein, die Waffe war noch dort. Er sah an sich hinab. Sie hatte ihn nicht besudelt. Etwas steckte in seinem Gürtel. Ein Blatt von irgendeinem Baum. Mit spitzen Fingern zupfte er es hervor. Etwas war mit bräunlicher Farbe darauf gekritzelt. Eine sehr undeutliche Handschrift!

Halte dich von Gilmarak fern, wenn dir dein Leben lieb ist, Alvias!

Er drehte sich um, um sie zur Rede zu stellen, doch die Elfe war spurlos verschwunden. Hielten sie ihn etwa für einen Verräter, weil er als einziger Elf an der Königswahl teilnahm? Wollten sie den Troll beschützen? Er würde sich nicht einschüchtern lassen, entschied er. Er hatte ohnehin mit seinem Leben abgeschlossen.

Er zerknüllte das Blatt und warf es in die Gosse.

Der Hinterhalt

»Du?« Elija sah ihn überrascht an. Der Lutin war alt geworden. Seine Schnauze war grau. Eine kleine Brille mit Stahlrand ließ seinen Blick noch härter erscheinen. Er trug denselben abgewetzten Ledermantel wie immer, dazu eine alte Hose und ein paar ungeputzter Stiefel. Auf seinem Hemd prangte dicht unter dem Kragen ein Soßenfleck.

Anders als die meisten Kobolde, die zu Gold und Ansehen gelangten, hatte er noch nie besonderen Wert auf prächtige Gewänder gelegt.

Elija maß ihn mit abschätzendem Blick. »Du wirst wohl als der am spärlichsten bekleidete König in die Geschichte Albenmarks eingehen. Ich muss gestehen, dein Aufzug überrascht mich ein wenig, Anderan.«

»So kleiden sich die Holden, seit Vahan Calyd besteht. Ich werde nicht am bedeutendsten Tag meines Lebens meine Herkunft verleugnen.«

Elija setzte noch eine Unterschrift unter ein Dokument. Dann legte er die Feder zur Seite und trat um seinen Schreibtisch. Wieder musterte er ihn. »Nur ein Lendenschurz ist wahrlich knapp ...« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist deine Entscheidung.« Er blickte hinaus zum Fenster. Die Sonne stand tief über dem Meer. »Es ist wohl an der Zeit, zu gehen.«

Traditionell wurde die Königswahl durchgeführt, wenn der letzte Silberstreif über dem Meer verblasste. Sobald entschieden war, wer die Krone tragen würde, tauchten die Zauberweber aller Völker den Nachthimmel in ein Meer schillernder Farben.

»Unsere Spitzel haben Maurawan unter den Feiernden entdeckt«, sagte Anderan ruhig. »Ich bin hier, weil ich mir Sorgen mache.«

»Ich habe damit gerechnet, dass sie Meuchler schicken.«

Er blickte noch immer auf das Meer hinaus. »Vielleicht sind sie aber gar nicht unseretwegen hier. Die Maurawan sind ein stolzes Volk, dem jeglicher Sinn für Diplomatie abgeht. Möglicherweise halten sie Katander, Nestheus und Alvias für Überläufer und wollen Rache. Zutrauen würde ich ihnen so etwas.«

»Möglicherweise können sie aber auch zählen und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Königswahl einen anderen Verlauf nimmt, wenn wir beide fehlen.«

Elija drehte sich um. »Das würde voraussetzen, dass sie wüssten, wer zur Wahl berufen wird. Die Liste ist aber nur dem Kronrat bekannt.«

»Komm, Elija, spiel nicht den Einfältigen. Du bist vor nicht allzu zu langer Zeit zum Fürsten gemacht worden. Du bist der erste Lutin, der zu solchen Würden aufgestiegen ist. Da gehört nicht viel Scharfsinn dazu, darauf zu kommen, dass du an der Königswahl teilnehmen wirst.«

Er nickte. »Ja, das ist wohl wahr.« Der Lutin trat neben eine Truhe, die bei seinem Schreibtisch stand, und klopfte mit einem Knöchel gegen den mit vergoldetem Schnitzwerk verzierten Deckel. »Natürlich habe ich mir über dieses Problem auch schon Gedanken gemacht. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich auf diese Weise in den Hafen begeben werde.« Wieder klopfte er mit dem Knöchel gegen den Deckel.

»In der Truhe«, rief Anderan überrascht.

»Richtig. Es sollte wohl auch dem begnadetsten Bogenschützen der Maurawan schwerfallen, mich darin zu treffen. Es gibt da ein Weib, Silwyna, angeblich war sie beim letzten Krönungsfest beauftragt, Emerelle zu ermorden. Es sollte mich nicht wundern, wenn sie auch dieses Mal einen Mordauftrag bekommen hat. Ich habe mit Madrog über sie gesprochen. Sie soll sehr gut sein.«

»Findest du es nicht würdelos, dich in so einer Kiste zum Krönungsfest tragen zu lassen? Du galtst immer als besonders tapfer und furchtlos. Du bist ein Vorbild.«

»Ich bin lieber würdelos als tot. Aber ich danke dir für deine Sorge um mich. Darf ich deinen Reden entnehmen, dass du mir einen anderen Weg zur Barkasse vorschlagen möchtest?«

Anderan war alarmiert. Hielt der Lutin ihn für einen Verräter? »In der Tat wollte ich dir vorschlagen, mit mir durch die Kanäle zu gehen. Es gibt unter diesem Palast einen neuen Einstieg, den außer mir nur noch ein paar Holde kennen. Wir können auf diesem Weg bis fast zum Kai gelangen, an dem die Barkasse liegt. Für das letzte Stück wird Madrog uns dann Deckung geben.«

»Und du glaubst, es ist ein würdevollerer Auftritt, wenn ich aus einem stinkenden Kanal krieche?«

»Willst du mich beleidigen!«, fuhr Anderan ihn an. »Natürlich bringe ich dich durch die Trinkwasserkanäle. Du wirst allenfalls nasse Füße bekommen!«

Der Lutin bleckte die Zähne. War das ein Lächeln? Elija hob in beschwichtigender Geste die Hände. »Ich möchte natürlich auf keinen Fall den künftigen Herrscher Albenmarks verärgern.« Wieder dieses Zähneblecken. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich meine Leibwächter mitnehme?«

Seit wann hatte er Leibwächter? »Nur zu. Solange sie keine Platzangst haben.«

»Dann nehmen wir also deinen Weg. Wo kämen wir hin, wenn ich zu dir kein Vertrauen mehr haben könnte. Du kennst die Stadt am besten. Du wirst schon wissen, wie man sicher zum Hafen gelangt. Im Übrigen habe ich erst vor einer Stunde fünfhundert Armbrustschützen abkommandiert, um Madrogs Männer zu unterstützen. Ich denke auch, dass der Hafen wirklich sicher ist.« Er griff nach einem kleinen Glöckchen auf seinem Schreibtisch und läutete. Kurz darauf traten drei schwer bewaffnete Spinnenmänner ein. Er erklärte ihnen, dass sie alle durch die Kanäle zum Hafen gehen würden.

Anderan mochte die Spinnenmänner nicht. Er hatte sie noch nie gemocht. Bezahlte Mörder waren sie. Madrog unter den verschworenen Kommandanten zu haben, hatte ihre Revolution von Anfang an entwürdigt.

»Also gehen wir«, sagte er knapp.

Er führte sie in das tiefste Kellergewölbe des Palastturms. Mit Hilfe der Spinnenmänner wuchtete er die Steinplatte zur Seite, die den Abstieg in die Kanäle verschloss. Ihm schlug der vertraute, kühle Odem der Kanäle entgegen. Drei Schritt unter ihnen floss kristallklares Wasser.

»Das ist unser Weg!« Er wollte in den Schacht steigen, als ihn einer der Spinnenmänner zurückhielt.

»Ich gehe zuerst, wenn du erlaubst. Nach mir folgt Bruder Elija.«

Anderan trat zur Seite. Er dachte an die fünfhundert Armbrustschützen. Das war nicht gut!

Über den Dächern von Vahan Calyd

»Das sind zu viele«, sagte Fenryl.

Silwyna bedachte den Grafen mit einem ärgerlichen Blick. Sie hätte ihn nicht mitnehmen sollen. »Wir Maurawan zählen nicht die Köpfe unserer Feinde, bevor wir angreifen.«

»Zu zählen hilft Niederlagen zu vermeiden. Verdammt, es sind zu viele.«

»Es sind Kobolde. Du musst nicht mitkommen, wenn du dich fürchtest.«

»Es sind Kobolde mit Windenarmbrüsten. Die schießen auf kurze Distanz durch einen halben Zoll dicke Eisenplatten.«

»Auch das ist ohne Belang«, erklärte Silwyna ruhig, »weil wir Maurawan ohnehin keine eisernen Rüstungen tragen. Glatte Durchschüsse sind mir lieber als Bolzen, die in der Wunde stecken bleiben. Wenn wir jetzt nicht angreifen, dann werden wir in einer Stunde einen Koboldkönig haben. Dies ist die letzte Gelegenheit, es zu verhindern.«

»Die Kobolde hintergehen uns«, warnte Fenryl. »Von all den Armbrustschützen auf den Palastdächern war nie die Rede.«

»Tja, ich würde sagen, ein ausgesprochenes Unglück für die Armbrustschützen.« Sie beugte sich vor, um die Menge, die sich auf den Straßen drängte, besser überblicken zu können. Sie mochte Städte nicht. Und sie konnte auch nicht begreifen, wie man Freude daran haben konnte, sich in solchen Haufen zu versammeln, dass man sich gegenseitig auf die Füße trat. Aber Schafe waren ja genauso. Sie fühlten sich erst richtig wohl, wenn sie sich dicht an dicht drängten.

Sie sah über den Hafen auf das Meer hinaus. Die untergehende Sonne berührte schon fast den Horizont. Es war Zeit, dass Falrach erschien. Er hatte Mut. Sie war zwar nicht überzeugt von seiner Idee, dass man mit Hilfe eines Spiels den Verlauf einer Schlacht vorhersehen konnte, aber seine Tapferkeit stand außer Frage.

Endlich erschien der Elf am Ende der Straße. Er ritt einen Schimmel und hatte sich ganz in Weiß gekleidet. Im dichten Gedränge kam er nur langsam voran. Er würde ganz allein an Bord des Schiffes gehen. Es war an der Zeit, dass sie sich um die verborgenen Torsionsgeschütze kümmerten.

Silwyna streckte die Hand hoch und suchte Blickkontakt zu den vier Maurawan, die sich mit ihr in der Ruine des ausgebrannten Palastes versteckten. Als sie wusste, dass alle zu ihr sahen, deutete sie auf die Kobolde auf der Terrasse unter ihnen. Mit knappen Handzeichen wies sie jedem ihrer Kämpfer ein Ziel zu. Ärgerlicherweise waren es sechs Kobolde. Sie musste einen zweiten Schuss schaffen, bevor der sechste Alarm geben konnte. »Und ich?«, fragte Fenryl.

Der Graf hatte einen kurzen Steppenbogen bei sich, wie die Kentauren ihn benutzten.

Silwyna traute ihm nicht. Sie hatte gehört, dass er ein passabler Schwertkämpfer war.

Über seine Künste als Bogenschütze sprach niemand. Das war kein gutes Zeichen!

»Nimm den Dicken mit dem schwarzen Halstuch da vorne. Aber schieß nur, wenn du sicher bist, dass du ihn so treffen kannst, dass er nicht mehr zum Schreien kommt.«

Fenryl nickte und zog einen Pfeil aus seinem Köcher.

Silwyna blickte kurz zu ihren Kriegern. Alle waren bereit und warteten auf ihr Zeichen. Überall auf den Dächern rings herum waren Bogenschützen in Stellung. Einige kauerten schon drei Tage in ihren Verstecken. Dass Falrach auf der Straße zum Hafen erschienen war, war das Zeichen zum Angriff. Sie waren dreiundfünfzig Maurawan und eine Handvoll Freiwilliger wie Fenryl.

Silwyna erhob sich aus ihrer Deckung. Noch in der Bewegung zog sie einen Pfeil, legte ihn auf die Sehne und schoss. Fast alle Pfeile fanden im gleichen Augenblick ihr Ziel.

Die Kobolde wurden von der Wucht der Treffer herumgerissen. Sogar Fenryl hatte getroffen. Aber jetzt war keine Zeit für Komplimente. Noch gab es keinen Alarm. Sie mussten das Überraschungsmoment nutzen. Es war ihre stärkste Waffe.

Sie stieg über die verfallene Mauer und war mit einem Satz auf einem halb verkohlten Dachbalken. Der Balken federte leicht unter ihrem Gewicht. Sie lief weiter. Rings herum bewegten sich ihre Gefährten lautlos durch die Ruine.

Die Maurawani sprang zu einem Stützpfeiler aus bröckelndem Mauerwerk. Sie hielt sich mit einer Hand am Wurzelwerk eines Busches fest, der aus der Ruine wuchs.

Vorsichtig schwang sie sich um den Pfeiler herum und war mit einem letzten weiten Sprung auf der Terrasse. Alle sechs Kobolde lagen reglos am Boden. Blutlachen wuchsen unter ihren Körpern.

Silwyna nahm das Seil von der Schulter und schlang es um das steinerne Geländer der Terrasse. Zehn Schritt tiefer gab es einen Saal mit weiten Bogenfenstern. Dort standen zwei der Torsionsgeschütze, die den Hafen überwachten und über Leben und Tod auf der Prunkbarkasse entscheiden mochten.

Ihre Mitstreiter erreichten die Terrasse. Wortlos schlangen auch sie ihre Seile um das Geländer und kauerten sich in Deckung. Fenryl kam als Letzter.

»Schön zu sehen, dass du nicht abgestürzt bist«, flüsterte sie ihm zu.

Der Elf ging neben ihr in Deckung und machte sein Seil fest.

»Bereit?«, fragte Silwyna leise.

Die anderen nickten. Sie alle legten Köcher und Bogen ab. Die Waffen würden bei dem, was nun kam, nur stören.

»Los!« Die Maurawani nahm ihr Seil und ging bis zum Ende der Terrasse. Dann stürmte sie, so schnell sie konnte, auf das Geländer zu. Mit einem Satz war sie darüber hinweg und tauchte mit ausgebreiteten Armen hinab in die Nacht. Kurz sah sie die Feiernden in den Straßen. Sie konnte ihre Lieder hören. Dann kam der Ruck. Es war ein Schlag, der durch alle Glieder ging. Das Seil war gestrafft. Sie schwang mit den Füßen voran der Wand des Palastturms entgegen. Zum Glück waren die Fenster groß.

Ihre Linke tastete nach der Schließe, mit der sie das Seil lösen würde.

Sie gelangte durch das Fenster. Im Zenit der Bewegung löste sie die Gürtelschließe.

Jetzt war sie frei! Sie federte in die Hocke, als sie landete. Ein Armbrustbolzen schoss über sie hinweg. Schon hatten die ersten Spinnenmänner den Schock des plötzlichen Angriffs überwunden. Sie gingen zwischen Kisten in Deckung, die nahe bei den Geschützen standen.

Silwyna zog ihre beiden langen Dolche. Etwa dreißig Kobolde waren in dem Saal, ein Drittel von ihnen Spinnenmänner. Sie trat einem Angreifer, der mit einer Hellebarde auf sie zustürmte, ins Gesicht und drehte ihm die Waffe aus den Händen. Sie warf einen Ihrer Dolche nach einem Krieger mit Armbrust. Seine Arme zuckten hoch. Der Bolzen schlug in die Decke des Saals. Silwyna rannte auf die Spinnenmänner bei den Geschützen zu. Ein weiterer Kobold mit Hellebarde stürmte ihr entgegen. Sie wich der Spitze der Waffe aus, packte den Schaft und riss ihren Gegner hoch. Ihre Finger krallten sich in die Weste des Kobolds, der sie mit angstweiten Augen anblickte. Sie schwenkte herum und benutzte ihn wie einen Schild. Sie konnte spüren, wie die Bolzen in seinen Leib schlugen. Er spuckte Blut.

Silwyna rannte weiter und warf den Sterbenden nach einem der Spinnenmänner. Sie duckte sich vor etwas Schil erndem. Ein Wurfmesser ritzte ihre Wange.

Ein Bolzen zog zischend an ihrem linken Ohr vorbei. Der Spinnenmann vor ihr drehte an der Kurbel seiner Armbrust und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Noch drei Schritt! Er hob die Waffe und legte einen Bolzen auf die Schiene. Ihr Dolch traf ihn in den Hals. Noch im Sterben zog er den Abzug durch. Der Bolzen streifte ihren Arm.

Nur ein Streifschuss. Sie hatte Glück gehabt, er hatte seine Waffe verrissen.

Der Kampflärm rings herum erstarb. Fenryl war völlig unverletzt. Entgegen ihrem Rat war er mit über dem Rücken geschnalltem Schwert gesprungen. Blut troff von der langen Klinge. Die Geschichten, dass er ein guter Schwertkämpfer war, stimmten offensichtlich.

All ihre Krieger hatten überlebt. Das war besser, als sie erhofft hatte. Sie befahl einem, hinauf zur Terrasse zu laufen und die Bögen und Köcher zu holen. Dann trat sie ans Fenster und blickte zum Hafen hinab.

Falrach hatte die Prunkbarkasse fast erreicht. Sein Er scheinen sorgte für Aufsehen. Trollwachen liefen zusammen. Ein Rudelführer eilte über eine breite Laufplanke zu den Wachen.

Ein schmatzendes Geräusch ließ sie herumfahren. Einer ihrer Krieger, der am Fenster gestanden hatte, wurde in den Saal geschleudert. Sein Kopf war verschwunden. Ein harter Schlag erklang. Etwas prallte gegen die Rückwand des Saals und rollte dann auf sie zu. Eine Steinkugel!

Sie duckte sich. Offensichtlich waren nicht alle Angriffe auf die Geschützstellungen geglückt.

Die Marmorbrüstung neben ihr zersplitterte unter einem Treffer. Das Fest auf den Straßen ging weiter. Noch hatte niemand die fast lautlose Schlacht hoch auf den Türmen bemerkt.

Der letzte Tag

»Du solltest nicht reiten. Du ... «

Adrien lächelte. »Ich werde wiederkommen, das verspreche ich dir.«

Sie berührte sanft seine Lippen. »Du solltest dich sehen.« Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. »Dein Lächeln! Nur dein halber Mund lächelt. Die andere Hälfte ist bewegungslos. Das Gift. Heute ist der dritte Tag. Der Tag, an dem du sterben wirst.«

»Mir geht es so gut wie noch nie«, log Adrien. »Ich habe dich ... « Er wollte noch etwas sagen, doch das Wort fiel ihm einfach nicht ein. »Ich werde wiederkommen!«

Sie umklammerte ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen, bis er sie mit beiden Händen packte und sanft von sich schob. »Bitte. Ich muss es ...« Er stockte. »Ich muss ...

Warte auf mich. Tu nichts Dummes! Ich muss wissen, dass du noch hier bist...« »Ja«, stieß sie hervor. »Ja.«

Er saß auf. Es fiel ihm schwer, sich in den Sattel zu ziehen. Er legte die Hände auf den Knauf und drückte den Rücken durch. Dann grinste er breit. Es fühlte sich ganz normal an. Er spürte nicht, dass ein Teil seines Mundes nicht lächelte. Und es war ihm gleich. Er hatte sie gefunden!

Er winkte ihr. Dann trieb er das Pferd an. Unten im Tal sah er den Palast. Es war kein weiter Weg. Er würde es schaffen. Ganz sicher! Er drehte sich im Sattel. Sie stand vor der kleinen Hütte mitten am Weinberg. Gott, war sie schön. So unglaublich … Immer wieder hatte sie versucht, ihre Schönheit durch Worte zu zerstören. Aber er wollte das nicht hören. Ja, sie hatte ihn vergiftet. Sie war seine Mörderin ... Er hatte ihr verziehen.

So lange hatte er sich nach ihr gesehnt. Zwei Tage waren vergangen, seit er das Gift getrunken hatte. Mit dieser Abenddämmerung war sein letzter Tag angebrochen. Er musste Cabezan töten. Der alte König war der Quell allen Übels. Hätte er nur früher auf sein verdammtes Pferd gehört und diesen Mistkerl zur Strecke gebracht. Aber dann wäre er Elodia nie begegnet ... Er seufzte.

Es hatte wohl so sein müssen. Hätte er nur auf dem Ritt durch den Wald die Zähne auseinanderbekommen und mit ihr geredet und nicht erst in der Schenke ...

Es war müßig, darüber nachzudenken. Er hatte sie getroffen, nach zwei Jahren, in denen ihm sein Leben leer und freudlos erschienen war. Vielleicht strafte ihn Tjured, weil sie ihm mehr bedeutete als die Kirche. Er lachte auf, so dass sein Pferd erschrak.

Er war eben ein Narr, wie Jules es so oft gesagt hatte. Stünde er vor der Wahl, ob er noch vierzig Jahre wie die letzten beiden haben könnte oder aber zwei Tage mit ihr um den Preis eines Giftbechers, er würde das Gift wählen.

Seine einzige Sorge war, dass sie etwas Dummes tat, wenn er starb. Allein deshalb schon musste er zurückkehren. Er wollte ihr ein Versprechen abnehmen, das sie nicht zu brechen wagte. Und er wollte in ihren Armen liegen, wenn der Tod kam.

Er blickte fest auf den Palast. Etwas stimmte nicht mit dem Gebäude. Es wirkte irgendwie in sich verrutscht. Er kniff die Augen fest zusammen und sah noch einmal hin. Jetzt war es besser. Sein Kopf fühlte sich nicht gut an. Er spürte einen dumpfen Schmerz. Er musste es schnell hinter sich bringen!

Adrien hatte keinen Plan, wie er als einzelner Ritter einen Palast stürmen könnte, in dem es vor Wachen nur so wimmelte. Sie brauchten nur das Tor zu schließen, dann könnte er nichts tun. Aber er hatte die Hoffnung, dass sie ihn einlassen würden. Er war schließlich der berühmte Michel Sarti. Warum sollten sie Böses befürchten? Man kannte ihn überall nur als untadeligen Ritter. Niemand würde in ihm einen Königsmörder sehen.

Das war der Plan, dachte er etwas ruhiger. Er würde einfach in den Palast spazieren.

Und wenn er erst einmal vor dem König stand, dann wäre es zu spät, ihn noch aufzuhalten. Einfache Pläne waren immer die besten!

Er dachte wieder an Elodia. An die vergangenen beiden Tage. Er grinste. Er war zum Mann geworden. Sie hatte ihm immer wieder erzählen wollen, was mit ihr geschehen war. Er hatte ihr geduldig zugehört. Aber ganz gleich, was sie sagte, nichts konnte sein Bild von ihr zerstören. Er hatte es gewusst, als sie hinter dem Stall niedergekniet war, um ihm zu beichten. Er würde ihr alles verzeihen, nur um sie in seinen Armen zu halten. Er war halt ein Narr. Vielleicht lag es auch an dem Gift, dass er nicht mehr klar denken konnte. Oder war es das süße Gift der Liebe, wie manche Dichter es nannten?

Hätte ihre Liebe nur schon früher Erfüllung gefunden! Das war das Einzige, was er bereute!

Der Palast war ein großes, mit Säulen geschmücktes Haus aus feinem Marmor. Das Dach war ursprünglich einmal aus orangeroten Ziegeln gefügt gewesen, doch jetzt hatte es viele Farben. Immer wieder war es geflickt worden. Der Mauer mit dem Wehrgang und den kleinen gedrungenen Türmen sah man ebenfalls deutlich an, dass sie nicht zum ursprünglichen Gebäude gehörte. An der Westseite des großen Hauses drängten sich viele Menschen. Sie standen direkt bei der Mauer. Das letzte Abendlicht brach sich auf Helmen und Speeren, aber es waren nicht nur Krieger dort.

Adrien musste blinzeln. Seine Augen spielten ihm schon wieder einen Streich. Es war, als sähe er zwei Bilder, die sich zum Teil überlagerten, aber nicht genau zusammen-passten.

Er nahm seinen Helm vom Sattel und setzte ihn auf. Er hatte Sorge, dass man ihm schon ansehen konnte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er dachte daran, was Elodia über sein Lächeln gesagt hatte.

Es fiel ihm schwer, den Helm zu verschließen. Die Fingerspitzen seiner rechten Hand waren gefühllos. Das Gift schien schneller zu wirken, als Elodia gesagt hatte. Er drehte sich im Sattel um. Er glaubte, sie vor der Hütte zu sehen. Aber sicher war er sich nicht.

Die Reihen der Rebstöcke verschoben sich gegeneinander.

Er presste fest die Augen zusammen und ließ die Zügel locker. Sein Pferd würde den Weg schon finden. Müde lauschte er auf den Hufschlag. Zum ersten Mal überkam ihn Angst. Jäh wie ein plötzlicher Wolkenbruch. Er wollte noch nicht sterben! Nicht jetzt, wo er sein Glück gefunden hatte!

»Seid ihr Michel Sarti?«

Er öffnete die Augen. Helle Lichtpunkte tanzten vor ihm. Undeutlich sah er einen Wachposten mit einem Speer. Er hatte den Palast erreicht. »Ja«, brachte er mit Mühen hervor. Er hatte nach dem Wort suchen müssen. Nach so einem einfachen Wort!

Der Krieger ließ ihn passieren. Es war ein junger Mann. Adrien glaubte ihn etwas vom Zorn Tjureds murmeln zu hören, aber er war sich nicht sicher. Er ritt auf den weiten Hof und ließ sich aus dem Sattel gleiten.

Ein Krieger kam auf ihn zugelaufen. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Er blinzelte. Ja, er hatte den Kerl schon mal gesehen ... Aber sein Gedächtnis versagte. Er sollte den Namen wissen.

Der Krieger hatte graue Locken. Sein Gesicht war glatt rasiert. Er trug einen polierten Schuppenpanzer, der rötlich im Abendlicht schimmerte. Ein Umhang mit goldener Schließe verriet, dass er wohl von Adel war.

»Der Hauptmann ... « Wie nannte man dieses Haus des Königs auch gleich? Das Wort war Adrien entfallen. Der Kerl musste der Hauptmann vom Königshaus sein.

Sein Gegenüber lächelte. »Ja, ich sehe, Ihr erinnert Euch. Ich bin Raoul Deleau.

Hauptmann der Stadtwache von Nantour. Wir sind uns schon einmal begegnet.«

Jetzt sah er den Tag wieder klar vor sich. »Ihr habt mich freundlich plaudernd aus der Stadt geleitet, weil Ihr befürchtet habt, ich könnte Ärger machen.« Er hatte ein Gefühl, als habe sich etwas in seinem Kopf bewegt. Der Druck und der Schmerz hatten plötzlich nachgelassen.

»Ihr seid ein berühmter Mann geworden.«

»Und Ihr seid der Hauptmann der königlich ... « Nein, das Wort für das Königshaus war immer noch aus seinem Gedächtnis gelöscht. » ... der königlichen Haustruppe.«

»Ein zweifelhafte Ehre.« Plötzlich wirkte der alte Krieger angespannt.

»Und? Werdet Ihr mich nun freundlich plaudernd durch das Tor geleiten, damit ich keinen Ärger mache?«

»Seid Ihr denn hier, um Ärger zu machen?« Der Hauptmann sah ihn durchdringend an. Etwas erschien Adrien seltsam an diesem Blick.

»Wenn ich Euch darauf eine ehrliche Antwort gäbe, müssten wir wohl beide die Schwerter ziehen.«

»Dann würde ich vorschlagen, wir reden über etwas Unverfänglicheres. Vielleicht das Wetter? Ein wunderbarer Tag für den Spätherbst, nicht wahr?«

Adrien traute seinen Ohren nicht. War das eine Falle? Oder spielte ihm das Gift einen Streich? Das konnte der Hauptmann nicht wirklich gesagt haben!

Die Krieger und Höflinge an der Hauswand waren auseinandergetreten. Alle starrten ihn an. Plötzlich kniete eine Frau nieder und erhob die Hände zum Gebet. Etliche andere taten es ihr gleich. Sogar einige der Wachen!

Ein blauer Umhang lag auf dem Boden ausgebreitet. Darunter lugte ein Paar Stiefel hervor.

»Werdet Ihr Euren Schild brauchen, mein Freund?«

»Vielleicht...«, antwortete Adrien vorsichtig. Der Hauptmann musste doch ahnen, was er im Sinn hatte.

Raoul reichte ihm den großen Rundschild mit dem Wappen des Aschenbaums. Er war schwer! Adrien schob den Arm durch den Schildriemen. Seine Hand schloss sich um den hölzernen Griff. »Was geht hier vor sich?«

Der Hauptmann deutete in Richtung des Menschenauflaufs. »Balduin, der alte Hofmeister, ist aus dem Fenster gestürzt. Jeder hier im Palast mochte ihn. Es gibt hier wohl keinen, dem Balduin nicht schon einen Gefallen getan hatte. Er war die gute Seele des Palastes. Was rede ich ... des ganzen Königreichs!«

»Er könnte sich zu weit aus dem Fenster gebeugt haben …«

Raoul lachte zynisch. »Ein Unfall? Nein, in diesem Palast fällt man nicht versehentlich aus dem Fenster. Kommt, mein Freund.« Der Hauptmann führte ihn die Stufen zum Palasttor hinauf. Die beiden Wachen dort öffneten es auf einen Wink von ihm.

»Ich muss Euch gestehen, dass ich bis auf den heutigen Tag kein sonderlich gläubiger Mann war und dass meine Sympathien eher den alten Göttern als der Tjuredkirche galten. Von nun an werde ich Euren Glauben mit anderen Augen sehen. Euch hat wahrlich Gott geschickt! Ihr predigt doch, dass Euer neuer Orden Schwert und Schild Gottes sei ...«

»Der Kirche«, verbesserte Adrien ihn. »Gott braucht kein Schwert und keinen Schild.«

»Einerlei. Seid heute das Schwert Gottes!«

Schweigend gingen sie eine weite Treppe hinauf. Die vielen Stufen zehrten an Adriens Kräften. Er musste zweimal stehen bleiben, um Atem zu schöpfen.

Raoul sah ihn besorgt an. »Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«

»Alles Blut!«

»Was?«

»Ich sag doch, alles Blut!«

Adrien konnte sehen, wie der Hauptmann schluckte. Raoul streckte ihm die Hand entgegen. »Die nehmt Ihr jetzt, oder ich lass Euch hier stehen!«

Er sah, wie der Hauptmann seine Rechte packte, aber er konnte es nicht spüren. Die letzten Stufen waren leichter zu schaffen. Sie erreichten eine Tür, vor der zwei Wachen standen.

»Ihr könnt nach unten gehen, Abschied von Balduin nehmen. Ich übernehme die Wache.«

Die beiden Krieger sahen Raoul und ihn an. Dann entfernten sie sich, ohne zu zögern.

»Ich schaff das allein.« Adrien hatte seine Stimme wieder im Griff. Aber sein Kopf schmerzte. Er fühlte sich an, als wolle er platzen. Wieder schien die Welt in zwei Bilder zerbrochen zu sein, die sich nicht zusammenfügten.

Er stieß die Tür auf.

Dünne, weiße Schleier wogten vor ihm. Verwundert sah er sich um. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Adrien zog sein Schwert. Er hatte Schwierigkeiten, die Hand um den Griff zu schließen.

Ein Schatten erschien zwischen den Schleiern. Ein großer, kahlrasierter Krieger. Der Kerl schrie ihn an, aber seine Stimme schien an Adriens Ohren abzuprallen. Ein silberner Bogen schnitt durch die Luft.

Adrien taumelte zurück. Eine Streitaxt verfehlte ihn knapp. Der Krieger rammte ihn mit der Schulter. »Dir prügel ich die Scheiße aus dem Leib, du aufgeblasener Wicht mit deiner Zauberrüstung!«

Adrien wurde nach hinten gerissen. Etwas schrammte kreischend über seinen Helm.

Er hei hart und lag halb auf seinem Schild. Der Krieger stand breitbeinig über ihm.

Sein Gesicht war eine Grimasse der Mordlust. Er hob seine Axt mit beiden Händen.

Dann sauste sie nieder.

Adrien kniff die Augen zu. Der Schlag war unglaublich. Sein Kopf hämmerte auf den Boden. Lichtpunkte tanzten ihm vor den Augen. Dann ließ der Druck in seinem Kopf nach. Der Krieger starrte ihn ungläubig an. Niemand hätte einen solchen Hieb überleben dürfen. Kein Helm hielt einem solchen Schlag stand. Kein Helm, den Menschenhände gefertigt hatten.

»Mach die Rüstung nicht kaputt«, erklang eine schwache Stimme irgendwo im Zimmer.

Adrien konnte das Schwert in seiner Hand wieder spüren. Er stieß die Klinge gerade nach oben, dem Krieger geradewegs ins Gemächt und weiter hinauf in die Därme. Sie glitt in den Körper, ohne dass er Widerstand gespürt hätte.

Der Krieger schrie. Er packte ihn beim Arm. Der Kerl war unglaublich stark; obwohl ein Strom von Blut aus ihm quoll, schaffte er es, Adriens Arm zu Boden zu drücken, so dass die Klinge wieder freikam. Er presste sich beide Hände auf die Wunde und ging in die Knie. Dabei starrte er ihn an.

Adrien rappelte sich auf. Er schaffte es, den Schild unter sich hervorzuziehen.

Schwankend kam er auf die Beine. Das Blut perlte vom weißen Leder seiner Rüstung, ohne Spuren zu hinterlassen. Es war unheimlich.

Zwischen den wogenden Vorhängen entdeckte er ein Lager. Eine schmale, ausgezehrte Gestalt lag dort. Der nackte Körper war von Krankheit gezeichnet. Der Kopf wenig mehr als ein Totenschädel. »Tu mir nichts«, wisperte die heisere Stimme. »Bitte. Ich bin der König.

Tu mir nichts. Ich werde dich reich machen.«

Adrien fühlte sich benommen. »Im Namen Tjureds erkläre ich deine Herrschaft für beendet, König Cabezan.« Er hob sein blutiges Schwert und senkte die Spitze auf die Brust des Königs. »Ich bin ein Ritter. Ich töte keine Wehrlosen.«

Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Unschlüssig blickte er dorthin, wo irgendwo hinter den wogenden Schleiern die Tür sein musste. Konnte er Cabezan durch dessen eigene Leibwachen in den Kerker bringen lassen? Würden sie sich fürchten? Würden sie ihn wieder freilassen, sobald er fort war? Er konnte den Alten nicht einfach so töten. Er konnte ihn nicht...

Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihn. Etwas musste durch seine Rüstung gedrungen sein. Dicht über seiner rechten Hüfte. Das war doch unmöglich.

Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Sie knickten ein. Der schwere Schild rutschte von seinem Arm. Er drehte sich halb um. Der Griff eines Dolches ragte aus seiner Hüfte. Ein dünner Blutfaden sickerte über den Lederpanzer. Das war doch unmöglich.

Keine Waffe konnte die Rüstung durchdringen.

Er atmete flach, und doch durchfuhr ihn bei jedem Atemzug neuer Schmerz. Er kippte vornüber und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Die Finger seiner Rechten zuckten.

Er presste sie flach auf den Boden und versuchte sich wieder hochzustemmen. Aber seine Kraft reichte dazu nicht mehr.

Er dachte an Elodia. So durfte es nicht enden. Er hatte ihr versprochen, zu ihr zurückzukehren. Er schloss die Augen. Es galt, seine Kräfte zu sammeln. Er würde in ihren Armen sterben, nicht hier.

Stiefel erschienen vor ihm. Er versuchte den Kopf zu he ben, schaffte es aber nicht. Jemand nahm ihm das Schwert aus den schlaffen Fingern.

»Sehr gut, Hauptmann. Gebt ihm den Rest. Aber beschädigt die Rüstung dabei nicht.

Stecht ihm unter der Achsel hindurch ins Herz. Hauptmann ... Was ...« Ein gellender Schrei. Adrien hörte wuchtige Schwerthiebe. Immer neue Hiebe. Dann endlich herrschte Stille.

Die Stiefel standen wieder vor ihm. »Ich bringe Euch hier fort.« Der Hauptmann schob ihm sein blutiges Schwert in die Scheide. »Ihr müsst verzeihen, aber ich werde sagen, dass Ihr es wart, der Cabezan tötete. Ihr seid ein Held, der einen Tyrannen ermordet hat. Ich hingegen wäre womöglich nur ein Hauptmann, der sich gegen seinen Herrn gewandt hat, und würde dafür aufgeknüpft.«

Adrien hatte keine Kraft zu widersprechen. »Der Dolch ...«

»Ich kann ihn nicht aus der Wunde ziehen. Ihr würdet dann sehr schnell verbluten. Ich will Euch nichts vormachen. Auch wenn ich ihn nicht bewege, werdet Ihr verbluten.

Nur langsamer ... «

»Pferd ... «

»Ihr wollt zu Eurem Pferd? Ich glaube nicht, dass Ihr ... «

»Bitte.«

Raoul hob ihn vorsichtig auf seine Arme. »Ich hätte Euch nicht allein hier hineinlassen dürfen. Ihr seid krank, nicht wahr?«

Adrien hatte nicht mehr die Kraft zu sprechen. Er hätte gern seinen Helm abgenommen. Er wollte die kühle Nachtluft auf seinem Antlitz spüren. Und er wollte nicht hinter dieser starren Maske seinen letzten Atemzug tun.

Der Hauptmann bedrängte ihn nicht mehr. Er erfüllte ihm seinen letzten Wunsch und hob ihn in den Sattel. Behutsam schob Raoul seine Füße in die Steigbügel. Wachen und Höflinge standen um sein Pferd. Ihre Gesichter waren wie versteinert. Manche weinten.

»Lasst ihn durch!«, sagte der Hauptmann mit fester Stimme. »Lasst ihn.«

Adrien schaffte es, den Kopf ein wenig zu heben. Hoch im Weinberg leuchtete ein Fenster in goldenem Kerzenlicht. Die kleine Hütte. Er musste es bis dort schaffen. Er hatte es Elodia versprochen!

Emerelle

Emerelle blickte auf die Palasttürme Vahan Calyds. Nebel stieg aus den Reisfeldern vor der Stadt. Das letzte Abendlicht tauchte sie in Rosa und Gold. Hinter den Schleiern aus wogendem Licht sah die Stadt verwunschen aus. Sie verbargen die Narben des Angriffs vor achtundzwanzig Jahren. Seit achtundzwanzig Jahren herrschte Krieg. Sie musste dem ein Ende setzen in dieser Nacht! Doch sie wusste nicht wie ... Sie wünschte sich, der Traum, den der Sänger ihr gesandt hatte, wäre deutlicher gewesen.

Sie strich über den Hals der Stute, die ihr die Maurawan gegeben hatten. Etliche von ihnen waren jetzt irgendwo in der Stadt und kämpften vielleicht ihre letzte Schlacht.

Sie hatte es nicht glauben wollen, als man ihr erzählt hatte, dass Ollowain König werden wollte. Sie hatte ihn unterschätzt. Falrach war immer für eine Überraschung gut gewesen.

Ihre Stute tänzelte unruhig. Das Rumoren der Stadt drang über die weiten Reisfelder.

Jetzt sammelten sich die Fürsten, die den König wählen sollten. Sie schloss die Augen und hauchte ein Wort der Macht. Ein Wort, das der Nebel in die Wälder trug.

Sie hatte ein langes weißes Seidenkleid mit hochgeschlossenem Kragen und engen Ärmeln angelegt. Es war ganz ohne Schmuck und Stickerei.

Sie spürte, wie ihr Ruf gehört wurde. Spürte das Erwachen. Bald war leiser Flügelschlag zu hören. Fast lautlos. Ein Schmetterling landete auf ihrer Hand. Seine zarten Schwingen erstrahlten in allen Regenbogenfarben. Hunderte kamen aus dem Dschungel. Manche so klein wie ein Fingernagel. Andere groß wie zwei aneinandergelegte Hände. In unstetem Flug gaukelten sie durch den Nebel.

Glühwürmchen kamen mit ihnen und spendeten ihr grüngelbes Licht. Überall auf ihrem Kleid ließen sie sich nieder. Aneinandergekauert wurden sie zu einer lebenden Schleppe. Blütenduft haftete ihnen an. Der Duft des Frühlings. Des Erwachens. Sie sollten ihre Ehrengarde sein. Ihr festliches Geleit.

Das tausendfache Flügelsirren machte ihre Stute unruhig. Sie ließ sie in Schritt verfallen. Nebel griff wie Geisterfinger nach ihr. Sie wob ihn in ihren Zauber. Gab ihm das magische Leuchten der Glühwürmchen.

Die Stute ging in leichten Trab über. Die schmalen Wege zwischen den Reisfeldern waren verwaist. Alles, was Beine hatte, war in der Stadt.

Die Gefühle von Tausenden überwältigten sie, als sie in die Stadt einritt. Sie hielten Frieden. Trolle und Kentauren gingen nebeneinander. Kobolde sangen ihre anzüglichen Lieder. Einige Blütenfeen mischten sich aufgeregt unter die Schmetterlinge, als sie sie erkannten.

Eine Gasse bildete sich vor ihr in den überfüllten Straßen. Die Menge teilte sich vor ihr.

Sie hörte ihren Namen flüstern. Sah die ungläubigen Blicke und auch jene, die beschämt ihr Haupt senkten. Das Raunen wurde lauter. Dann eilte es ihr voraus und wuchs zu einem wahren Stimmensturm.

»Emerelle!«

Der Saal der fallenden Wasser

»Ist es noch weit bis zum Hafen? Wir sind spät!«

»Wir sind ganz nah«, log Anderan und lauschte auf das Lied des Wassers. Er deutete auf einen kleinen Durchgang, der vom Kanal abzweigte. »Dort vorne liegt mein Palast.

Das Herz des verborgenen Reichs des Herrn der Wasser von Vahan Calyd.« Warmes Licht fiel von dort in den Kanal.

»Ein Palast ... Hier unten?«

»Du solltest ihn gesehen haben, Elija. Es gibt keinen zweiten Ort wie diesen in Albenmark.«

»Wir sind spät«, drängte jetzt auch der Spinnenmann, der ihren kleinen Trupp anführte. Elijas Leibwächter achteten darauf, dass stets einer von ihnen zwischen dem Lutin und ihm stand.

Anderan duckte sich durch die Öffnung. Er trat auf einen kleinen Balkon, der hoch über dem Kuppelsaal lag, und nahm das einzigartige Bild in sich auf.

Ein Spinnenmann erschien neben ihm. Er blickte in die Tiefe. Es war gerade genug Platz für sie beide auf dem Balkon. Anderan bemerkte, dass auch der kaltherzige Meuchler länger verharrte, als notwendig gewesen wäre. Niemand entzog sich leicht diesem Anblick.

Elija trat auf den Balkon. Feine Wasserperlen legten sich auf sein Fell. Es war angenehm kühl hier.

Vor ihnen erstreckte sich ein weiter Kuppelsaal, dessen Wände aus makellos weißem Stein gefügt waren. Unter ihnen ging es mehr als zwanzig Schritt in die Tiefe. Die De-ckenwölbung lag vielleicht fünf oder sechs Schritt höher als ihre Aussichtsplattform.

Hell leuchtende Barinsteine waren darin eingelassen. Überall aus den Wänden ragten goldene Rohre, aus denen sich Kaskaden klaren Wassers in die Tiefe ergossen. Die meisten Rohre hatten kunstvoll geschmückte Mündungen. Sie zeigten Vogelköpfe mit gebogenen Schnäbeln, Delfine oder auch Wölfe. Sogar einige Drachenköpfe waren zu sehen. Die weit aufgefächerten Wasserfontänen, die sich aus ihren goldenen Rachen ergossen, schillerten im hellen Licht wie flüssiges Kristall. Die Luft war erfüllt vom feinen Dunst winziger Wasserperlchen. Schillernde Regenbögen spannten sich zwischen den Kaskaden.

Im Becken tief unter ihnen gab es mehr als zwanzig große Abflüsse. Das Wasser dort unten war zu schäumender Gischt aufgewühlt.

Die Stimmen des Wassers erhoben sich hier mit solcher Macht, dass man sich selbst schreiend kaum verständigen konnte. Manche empfanden das als einen Makel an diesem magischen Ort. Anderan sah das nicht so. Hier sprach das Wasser zu den Holden. Er mochte es, dem kraftvollen Lied zu lauschen. Der Kuppelsaal war das Herz der unterirdischen Stadt. All der Kanäle und Zisternen, der Sammelbecken und Verteiler. Einst hatten die Normirga, jenes Elfenvolk, dem die Königin entstammte, große Pumpen erschaffen, die das Wasser in Bewegung hielten wie riesige Herzen.

Man musste das Wasser hegen, sonst gäbe es in Vahan Calyd nur eine fahle abgestandene Brühe wie in den Mangroven rings um die Stadt. Die Holden waren die Hüter des Wassers, sie hielten das Wasser lebendig. Hier in diesem weiten Saal atmete es, wenn es aus großer Höhe stürzte und in brodelnder Gischt aufschäumte. Hier zeigte es sich in all seiner Schönheit.

Der Lutin tastete nach dem verborgenen Hebel unter dem Geländer.

»Schön. Wir sollten jetzt gehen«, rief Elija gegen das Donnern des Wassers an, als ein Laut wie ein dutzendfacher Gongschlag ertönte. Überall senkten sich zolldicke goldene Schotte und versperrten alle Abflüsse aus dem Saal.

»Hier, im Saal der fallenden Wasser, haben, als ich ein Kind war, all meine Träume begonnen. Hier sollen sie enden«, rief Anderan. Er blickte hinab. Man konnte zusehen, wie das Wasser stieg. Es würde nicht lange dauern, bis sich der ganze Saal gefüllt hatte.

»Was redest du da?«, fuhr Elija ihn an. »Bist du verrückt geworden?« Der Lutin drehte sich um. Jetzt erst sah er die massive, goldene Wand, die den Durchgang zu den Kanä-

len versperrte. »Mach das sofort auf!«

»Es gibt keine Möglichkeit, die Schotte von innerhalb des Saals zu öffnen.« Anderan fühlte zum ersten Mal seit vielen Monden inneren Frieden. Den ganzen Tag hatte er überlegt, ob er es wirklich tun sollte.

Elija hämmerte mit seinen Fäusten gegen das Metall. Es war hoffnungslos. Schließlich wandte er sich um. »Warum?«

Anderan hob die Pfeilspitze auf seiner Brust. »Du hast den Pfeil bezahlt, der dem Leben meines Sohnes ein Ende setzte. Durch dich sind Hunderte unserer treuesten Weggefährten im Windland zu Tode gekommen.«

Das Donnern des Wassers ließ langsam nach. Fast die Hälfte der goldenen Wasserspeier war bereits in den steigenden Fluten versunken.

»Du weißt, ich hatte keine Wahl.«

»Nein, ich weiß es nicht! Seit dem ersten Verdacht versuche ich zu begreifen, warum du es getan hast. Warum?«

»Es war eine historische Notwendigkeit. Die Königsherrschaft der Trolle konnte nur eine Übergangsphase auf dem Weg zur vollkommenen Gesel schaft sein. Um die Herrschaft der Trolle zu verkürzen, musste ich sie destabilisieren. Deshalb habe ich offiziell ihren Gesetzeskodex unterstützt und auch die Snaiwamark-Karawane. Sie mussten sich dadurch unter den entscheidungstragenden Schichten der Bevölkerung diskreditieren. Außerdem sollte ein siegloser Krieg im Windland ihren Willen zur Herrschaft aushöhlen. Auch ich habe Opfer gebracht. Von meiner ganzen Sippe leben nach dem Untergang der ersten Snaiwamark-Karawane nur noch Liza und mein Bruder Nikodemus. Versteh doch, Anderan! Diese Opfer waren notwendig, damit wir schneller den nächsten Schritt tun konnten. Jetzt öffne die Schotten! In einer Stunde wirst du König sein! Dann können wir endlich die Gesel schaft erschaffen, von der wir träumen! Ja, wir mussten Hunderte opfern. Ich habe diese Entscheidung bewusst allein getroffen, um niemanden aus dem Kreis der Kommandanten mit dieser Seelenqual zu belasten. Aber Tausende werden gerettet sein, wenn wir die Herrschaft der Trolle in dieser Nacht beenden. Jetzt öffne die verdammten Tore! Wenn du es so enden lässt, dann sind alle vergebens gestorben. Verhöhne nicht den Tod deines Sohnes, mein Freund! Lass uns gehen!«

Die Macht seiner Worte war ungebrochen, dachte Anderan. Alles erschien ganz plausibel, wenn Elija so sprach. Er durfte sich dieser Art des Denkens nicht öffnen!

Welche einsamen Entscheidungen würde Elija als Nächstes fällen? Dass die Elfen eine latente Gefahr für den Frieden innerhalb der neuen Gesellschaft waren? Dass Städte den Verfall der Moral förderten und alle Albenkinder in kleinen Siedlungen auf dem Lande leben sollten?

Es gab viele Streitschriften Elijas, denen er selbst jetzt noch mit ganzen Herzen anhing.

Aber der Lutin hatte in den langen Jahren des Kampfes um die Macht seinen Weg verloren.

»Du kannst doch nicht einfach alles zerstören, Anderan! So kurz vor dem Ziel!

Bedeutet dir die Freiheit der Koboldvölker von jeglicher Tyrannei denn gar nichts mehr?«

»Es bedeutet mir alles. Deshalb werden wir beide hier sterben.« Das Wasser drang auf den Balkon. »Ich rette Albenmark vor unserer Tyrannei. Und ich rette all deine guten Werke.«

»Du Narr!« Elija packte ihn. »Jetzt öffne endlich die Tore! Es muss eine Möglichkeit geben! Wenn das Wasser nicht mehr abfließen kann, würdest du deine geliebten Kanäle zerstören. Das würdest du niemals tun.«

Anderan bewunderte ihn für seinen klaren Verstand, selbst jetzt im Angesicht des Todes. »Es stimmt, ich würde diese Kanäle niemals zerstören. Ich bin der Herr der Wasser, ihr Hüter. Wenn der Saal vollgelaufen ist, wird sich das Wasser in den Zuflüssen zurückstauen. Nach einer Zeit öffnet sich dann eine Überlaufschleuse. Wir werden dann längst ertrunken sein. Der Strom des abfließenden Wassers wird uns weit hinaus in die Mangroven tragen, wo unsere Kadaver zum Fraß der Winkerkrabben werden.« Das Wasser reichte ihnen beiden jetzt bis über die Hüften. »Wir werden niemals gefunden werden. Deine Leibwächter werden geheim halten, was geschehen ist. Sie werden nicht die Geschichte ihres eigenen Versagens verbreiten. Weil wir auf so geheimnisvolle Weise am Tag der Königswahl verschwunden sind, wird die Erinnerung an uns weiterleben, Elija. Das ist mein Geschenk an dich, den Mörder meines Sohnes. Ich hätte dich als König vor ein Gericht stellen können. Doch mit deiner Verurteilung wäre alles untergegangen, was du Gutes bewirkt hast. Du warst auf dem richtigen Weg. Und ich habe nicht bemerkt, wann du ihn verloren hast.«

Das Wasser hob Anderan empor. Er kämpfte nicht dagegen an. Er ließ sich treiben.

Elija streifte seinen Ledermantel ab und die Stiefel. Er begann zu schwimmen.

Das Wasser war eisig. Anderan spürte, wie es seinem Körper langsam die Wärme des Lebens entzog. Immer schneller füllte sich der Saal. Die Barinsteine der Kuppel waren schon fast zum Greifen nahe.

»Du hast Albenmark der Willkür der Trolle ausgeliefert!«, schrie Elija.

Der Herr der Wasser dachte an den langen Brief, den er den Maurawan zugespielt hatte. Den Brief, in dem alles beschrieben war. Wer zur Königswahl berufen war, wo die Geschütze am Hafen verborgen standen, welche Intrigen Elija gesponnen hatte.

Selbst wenn die Maurawan nicht nach der Macht griffen, standen jetzt die Stimmen von Katander, Nestheus und Alvias gegen nur zwei Trolle. Nein, die Herrschaft der Trolle war vorüber. Er hatte alles bedacht. Er konnte jetzt in Frieden gehen.

Der strahlend helle Barinstein, der in der Mitte der Kuppel in die Decke eingelassen war, befand sich nun direkt über ihm. Als er ein Kind gewesen war, hatte er davon geträumt, den unerreichbaren Stein eines Tages zu berühren. Er hatte ihm sogar einen Namen gegeben. Regenbo-genstein. Sein Licht war das stärkste. In seiner Vorstellung war es vor allem dieser Barinstein gewesen, der die Regenbögen zwischen die Wasserkaskaden zauberte. Er hatte sich ausgemalt, dass dem, der es schaffte, diesen unerreichbaren Stein zu berühren, alle Wünsche in Erfüllung gingen. Anderan streckte die Hand nach dem Stein aus. Er fühlte sich warm an. Angenehm.

Das Wasser stand nur noch wenige Handbreit unter dem Zenit der Kuppel. Elija kämpfte noch immer darum, den Kopf über Wasser zu halten. Er würde niemals aufgeben. Das war nicht seine Art.

Anderan stieß sich mit beiden Armen vom großen Barinstein ab. Dann atmete er aus.

Er sah den Silberkugeln nach, die dem Licht entgegenstrebten. Er nahm all seinen Mut zusammen. Er war der Herr der Wasser. Er würde nicht kämpfen. Er würde sich ihm öffnen. Er atmete ein. Eisiges Wasser füllte seine Lungen.

Mit ausgebreiteten Armen ließ er sich sinken. Vorbei an goldenen Vogelköpfen. Dem Dunkel entgegen. Tiefer Frieden überkam ihn.

Ein penibler Buchhalter

Silwyna lugte vorsichtig über den Mauerrand hinweg. Es war geschafft. Die Geschütze auf der anderen Seite waren endlich zum Schweigen gebracht. Sie betrachtete die Überlebenden ihrer kleinen Schar. Niemand war unverwundet.

»Haltet euch weiterhin von den Fenstern fern«, sagte sie ruhig. »Es sind noch etliche Armbrustschützen auf den Dächern.« Aber ihre Waffen würden nicht bis zur Prunkbarkasse reichen. Die Schlacht war entschieden. Jetzt lag es nur noch an Falrach. Ihr Fürst war sich ganz sicher gewesen, dass er die Wahl gewinnen würde. Warum, das hatte er auch ihr nicht verraten. Er war ein seltsamer Mann. Unergründlich.

»Silwyna!« Fenryl hatte sich schon eine Weile an den Kisten zu schaffen gemacht. Jetzt winkte er ihr mit einem Blatt Papier. »Das musst du sehen! Es ist noch nicht vorbei. Es ist…«

Ärgerlich ging sie zu ihm hinüber. »Was hast du da?«

»Eine Frachtliste. Sie lag in einer der Kisten. Die Geschütze stammen von den Hafenbefestigungen in Meliamer. Ein Kobold hat sie angefertigt. Er war sehr verärgert, dass man ihm seine Geschütze wegnahm. Jetzt sieh dir einmal an, was dort steht.«

Silwyna stand nicht der Sinn nach irgendwelchen Listen von Buchhaltern. Sie wollte sehen, was an Bord der Prunkbarkasse geschah. Vielleicht sol te sie die Geschütze hier oben wieder gefechtsbereit machen lassen. Sie sah zu den ordentlich geschichteten Haufen aus Steinkugeln. Wer immer den Transport hierher organisiert hatte, er hatte dafür gesorgt, dass reichlich Munition vorhanden war.

»Silwyna!«

Sie sah sich das Papier an. Fenryl deutete auf die letzte Zeile.

».. bestätige ich hiermit die Leihgabe von dreizehn Torsionsgeschützen an den Hafen von Vahan Calyd.«

»Dreizehn! Es muss noch irgendwo eins geben. Eins, von dem wir nichts wissen! Eins, das den Ausgang der Königswahl mit einem einzigen Hebelruck verändern kann.

Falrach ist in höchster Gefahr!«

Silwyna trat ans nächste Fenster. Ohne auf ihre Deckung zu achten, blickte sie auf das weite Hafenrund. Sechs Palasttürme lagen in einer Entfernung zur Prunkbarkasse, die einen zielsicheren Schuss erlaubte. Es gab Hunderte von Fenstern, hintern denen sich das Geschütz verbergen konnte. Ganz zu schweigen von den Terrassen und Baikonen. Dutzende Häuser waren hoch genug, dass man das Geschütz auf ihr Dach hätte stellen können. Allein auf den ersten Blick sah sie sieben Schiffe, die die Prunkbarkasse überragten und ein freies Schussfeld auf ihr Deck hatten.

Ein Armbrustbolzen verfehlte sie um Armeslänge und schlug in die Rückwand des Saals ein. Sie duckte sich und betrachtete weiter den Hafen.

»Was sollen wir tun?«, drängte Fenryl.

»Ruhe bewahren und gut nachdenken.« Wo würde sie das Geschütz aufstellen, wenn sie ganz sicher sein wollte, dass es nicht entdeckt wurde?

Königswahl

Skanga hörte den Tumult und trat an die Reling. Die wogenden Auren von Hunderten Schaulustigen im Hafen vereinigten sich einem vielfarbigen Leuchten ohne Konturen.

Sie musste den Blick abwenden.

»Da unten steht Ollowain«, flüsterte Birga ihr ins Ohr.

»Das kann nicht sein«, fuhr sie ihre Schülerin an. »Das ist ... « Sie musste sich selbst überzeugen. »Er soll hochkommen!«

Birga rief den Wachposten etwas zu. Augenblicke später war der Elf an Bord. »Alvias und die beiden Kentauren starren ihn an.«

Skanga blickte zu den drei Fürsten. In ihren Auren spiegelte sich Überraschung. Die Ankunft des Elfen war also zumindest nicht Teil eines Komplotts, in das die drei mit verwickelt wären.

»Ollowain«, sagte sie forschend. Etwas an der Aura des Elfen war seltsam. Sie war durch ein leichtes Flackern gestört. Als sei da noch ein zweites Licht, das durch die kraftvolle Ausstrahlung des Elfen überlagert wurde.

»Was willst du hier?«

»Der Königswahl beiwohnen.«

Nicht die kleinste Spur vom Blau der Furcht zeigte sich in dem Licht, das ihn umgab.

»Er ist unbewaffnet, wie es scheint«, flüsterte Birga ihr zu.

Manchmal war ihre Schülerin in der Tat nützlich!

Skanga hatte davon gehört, dass die Maurawan ihn zu ihrem Fürsten gemacht hatten.

Zunächst war sie darüber verwundert gewesen. Aber jetzt lag klar auf der Hand, was er vorhatte. »Du machst dir Hoffnungen, König von Albenmark zu werden?«

»Zunächst einmal bin ich nur Gast bei der Königswahl«, entgegnete er höflich.

Die Schamanin blickte zu der Festtafel. Alle waren zugegen. Nur die beiden verdammten Kobolde fehlten noch! Wo steckten sie nur? In der Ferne erklangen Rufe.

Ein Name. Er war nur undeutlich zu hören.

»Siehst du die Kobolde?«

Birga streckte sich. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Nein, Herrin«, sagte sie schließlich.

Die Schamanin massierte mit Daumen und Zeigefinger ihre blinden Augen. Was ging da vor sich? Waren die beiden abgefangen worden, um der Wahl einen anderen Verlauf zu geben? Sie hatte so etwas befürchtet. Sie hätte niemals zustimmen dürfen, dass Feinde Gilmaraks zu den Fürsten gehörten, die über die Wiederwahl des Königs entschieden.

Sie blickte über das Deck. »Alle anderen sind da?«

»Ja«, entgegnete Birga. »Nur der Fuchskopf und der Herr der Wasser fehlen.«

Damit war der gesamte Kronrat versammelt. Sie konnte das Blatt noch wenden. »Als Sprecherin des Kronrates möchte ich vorschlagen, Elija Glops und Anderan von Vahan Calyd das Stimmrecht für die Königswahl zu entreißen, da sie immer noch nicht hier sind. Will dem jemand widersprechen?«

Sie sah Ärger und Sorge in den Auren der anwesenden Kobolde. Aber niemand erhob seine Stimme gegen sie. Ollowain schien immer noch ganz gelassen. In Gilmaraks Aura hingegen spiegelte sich seine Sorge. Er stand ein Stück entfernt von ihr am Kopf der großen Tafel. Alle verharrten in feierlicher Starre und erwarteten, dass die Königswahl begann.

»Da die Wahl noch nicht begonnen hat, möchte ich zwei neue Fürsten als Ersatz vorschlagen. Herzog Growak vom Blutberg und Herzog Orgrim von der Nachtzinne.«

Skanga tastete nach dem Albenstein, den sie zwischen ihren Amuletten verborgen trug, und legte die Macht der Furcht in ihre Worte. »Möchte jemand dagegen etwas einwenden?«

Sie sah, wie sich die Auren der Anwesenden wandelten. Selbst bei Ollowain entdeckte sie eine Spur Blau.

»So hat der Kronrat nun also einstimmig beschlossen, zwei neue Fürsten zur Königswahl zuzulassen. Möge die Wahl beginnen!«

Gilmarak trat an ihre Seite. »Danke«, flüsterte er ihr zu.

Skanga seufzte. Könige bedankten sich nicht! Später am Abend, wenn ihnen niemand zuhörte, würde sie ihn zurechtweisen. »Bleib hier und sei unbesorgt! Zeige ihnen Macht und Würde!«

Das Raunen, das ihr vorhin schon aufgefallen war, hatte nun den Hafen erreicht.

Immer mehr der Feiernden dort unten riefen einen Namen. Ihren Namen. Emerelle!

Atemlose Stille lag über der Prunkbarkasse. Skanga blickte über den Hafen. Diese Aura war unverwechselbar. Ein weißgoldenes Licht, so stark, dass es in ihren blinden Augen schmerzte. Aber sie kam zu spät! Sie schwebte über der Menge. Wahrscheinlich saß sie auf einem Pferd.

Sie kam zu spät, sagte sich Skanga noch einmal. »Die Königswahl kann beginnen!«

»Emerelle! Emerelle!«, erklang ein tausendfacher Ruf. Warum jubelte das Volk ihr zu?

Sie war jahrelang einfach verschwunden gewesen!

»Nestheus!« Skanga legte erneut Magie in ihre Stimme, um das Lärmen zu übertönen.

»Ich stimme gegen Gilmarak!«, sagte der Kentaur laut und deutlich.

»Sie sieht eindrucksvoll aus«, flüsterte Birga ihr ins Ohr. »Sie trägt ein Kleid aus Schmetterlingen und lebendem Licht. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Billige Tricks, mit denen Emerelle den Pöbel beeindruckte, dachte Skanga ärgerlich.

Das könnte sie auch, wenn sie es nur wollte. Aber es war erbärmlich, sich derart anzubiedern!

»Snaif vom Mordstein!«, rief sie.

»Für Gilmarak«, sagte der Trollherzog mit tiefer Stimme.

Plötzlich verebbte der Jubel.

»Sie hat nur die Arme ausgebreitet, und sie schweigen«, flüsterte Birga.

»Fauler Zauber«, zischte Skanga ärgerlich.

»Nein, ich glaube nicht, dass sie zaubert.«

Stille lag über dem Hafen. Skanga sah, wie die Wachen am Aufgang zum Schiff ehrfürchtig vor Emerelle zurückwichen. Sie konnte die Elfe nicht ansehen, so sehr brannte das Licht ihrer Aura in ihren Augen. Jetzt hatte wohl jeder den Eindruck, dass sie vor Emerelle das Haupt beugte, dachte sie wütend.

»Katander, Fürst von Uttika.«

»Ich stimme gegen den Troll Gilmarak.«

Die Stimmen waren nun deutlich zu hören. Wie weit sie wohl über den Hafen hinaus trugen? Die Menge blickte mit angehaltenem Atem auf das Schiff.

Emerelle stellte sich schweigend neben Ollowain. Wohin auch sonst! Verwundert betrachtete Skanga die Aura des Elfen. Er wirkte überrascht. Was hatte das alles zu bedeuten?

»Derg, Herzog der Wolfsgrube!«

»Für Gilmarak, meinen König!«

Skanga blickte wieder zu Emerelle. »Du weißt, dass es verboten ist, den freien Willen der Fürsten durch Magie zu beeinflussen.«

»Sie neigt ihr Haupt vor dir«, flüsterte Birga. Ein Raunen ging durch die Menge auf den Kais. »Das sah ganz so aus, als wolle sie sich dir unterwerfen, Skanga.«

Das würde sie niemals tun, dachte die alte Schamanin. Aber jetzt war wichtiger, was das Volk dachte.

»Alvias!« Was für ein Fürst war er auch gleich? Egal...

»Ich stimme gegen die Barbarei und somit gegen Gilmarak.«

Skanga spürte, wie sich der Trollkönig neben ihr spannte. »Ruhig, lass dich nicht von Emerelles Speichellecker erzürnen.«

»Growak, Herzog vom Blutberg!«

»Für Gilmarak, den Drachentöter!«

Etwas zu viel des Guten, dachte Skanga. Aber Growak war noch nie der Hellste gewesen. Einen Gelgerok zu erlegen, war keine Kleinigkeit. Aber Drachen waren doch etwas anderes! Nun gab es also drei Stimmen für Gilmarak und drei gegen ihn. Skanga blickte zu Orgrim und lächelte. Die Sache war entschieden.

»Orgrim, Herzog der Nachtzinne. Deine Stimme!«

Letzte Peilung

Madrog peilte über sein Geschütz. Ganz deutlich konnte er ihren Kopf sehen! Und sie bewegten sich fast gar nicht. Er dachte an die zerplatzte Melone. Schade, dass er nicht sehen könnte, wie es geschah. Für diejenigen, die in ih rer Nähe standen, würde es gewiss ein unvergessliches Erlebnis.

Er kniete nieder und nahm jede einzelne der verbliebenen Steinkugeln in die Hand. Er entschied sich für die dritte. Bald wäre die Wahl vorüber. Noch einmal peilte er über die Führungsschiene des Torsionsgeschützes. Er blickte zu der Markierung, die ihm den Tidenhub anzeigte. Dann rief er sich das Raster in Erinnerung, in das der Hafen unterteilt war. Er suchte nach den Referenzmarkierungen und berechnete die Entfernung. Er korrigierte den Neigungswinkel des Geschützes leicht.

Ihm war klar, dass etwas grundlegend anders verlief, als Elija es geplant hatte. Dass die beiden Kobolde nicht auf der Prunkbarkasse erschienen waren, konnte eigentlich nur bedeuten, dass sie tot waren.

Er peilte ein letztes Mal nach ihrem Kopf. Sie hatten sich kaum bewegt. Alle standen sie auf ihren Plätzen wie angeklebt. Gut so! Er legte die Kugel auf die Führungsschiene. Jetzt konnte er sein Ziel nicht mehr sehen.

Er legte die Hand auf den Abzugshebel. Der Lauf der Geschichte würde sich ändern.

Er legte den Hebel um.

Wie ein Hammerschlag auf Fleisch

»Orgrim, Herzog der Nachtzinne. Deine Stimme!« Emerelle hielt den Atem an.

»Ich enthalte mich der Stimme«, sagte der Herzog der Nachtzinne stockend.

»Was!«, fuhr Skanga ihn an. »Du ... «

Gilmarak trat vor. Fassungslosigkeit spiegelte sich in seinem Gesicht. Er machte noch einen Schritt. »Du ... « Der Troll wurde nach vorne gerissen. Es gab ein Geräusch, als sei ein Hammer auf Fleisch niedergefahren.

Blut sickerte aus dem Mund des Trollkönigs. Alle auf dem Schiff standen wie versteinert.

Skanga kniete neben ihm nieder.

Emerelle drängte sich an den beiden Kentauren vorbei.

Die gichtkrummen Finger der Trollschamanin tasteten über Gilmaraks Rücken. Sie wirkte alt und hilflos. Noch nie hatte Emerelle sie so gesehen.

Die Elfe kniete sich ebenfalls neben den Troll. Schmetterlinge ließen sich in Gilmaraks Nacken nieder.

Skanga verscheuchte sie mit einer ärgerlichen Handbewegung. »Nimm deine Viecher weg, Elfenschlampe!«

Emerelle berührte den Troll und zuckte zurück. Der Schmerz hätte sie fast betäubt. Das Fleisch über seiner linken Schulter war zerquetscht, das Schulterblatt zersplittert. Die Rippen darunter waren gebrochen und hatten seinen linken Lungenflügel durchbohrt.

Eine Knochenspitze drückte auf sein Herz.

»Darf ich helfen?«, fragte Emerelle ruhig.

»Du?« Skangas tote Augen durchbohrten sie förmlich. »Du hast doch den Befehl dazu gegeben!«

»Ich schwöre dir, dass es nicht so ist.«

»Gib mir deine Hand!«

Die Elfe reichte ihr die Rechte. Skangas Klauenfinger schlossen sich darum. Sie hob die Hand an ihre Stirn und presste sie fest dagegen. Zwei, drei Herzschläge nur. Dann ließ sie sie sinken. »Hilf ihm«, sagte sie sehr leise. »Du kannst es besser als ich.«

Emerelle atmete tief ein. Sie bereitete sich auf den Schmerz vor, der sie treffen würde.

Sie lauschte auf das leise Rascheln der Schmetterlingsflügel. Auf die unheimliche Stille der Menge auf den Kais. Bald würde Panik ausbrechen. »Du musst zu ihnen sprechen, Skanga. Und bitte nicht von Mord und Todschlag. Du spürst ihre Angst auch, nicht wahr?«

Emerelle legte beide Hände flach auf Gilmaraks Rücken und ergab sich dem Schmerz.

Die rote Laterne

Nikodemus war, so weit er konnte, den Achtersteven hinaufgeklettert, um einen besseren Blick zu haben. Die Prunkbarkasse war etwas mehr als fünfzig Schritt entfernt. Es herrschte ein heilloses Durcheinander auf Deck, seit Gilmarak gefallen war.

Alle drängten sich um den Trollfürsten. Wolken von Schmetterlingen und Glühwürmchen tanzten über den Trollen, Elfen und Kobolden.

»Ist er tot?« rief er zu Liza hinauf, die vom Mastkorb aus einen besseren Blick hatte.

»Ich kann es nicht erkennen«, antwortete sie nach einer Weile.

»Und siehst du Elija?«

Sie schwieg. Er hatte sie das mindestens zwei Dutzend Mal in der letzten halben Stunde gefragt. Elija würde niemals zu spät kommen. Nicht in dieser Nacht! Es musste etwas passiert sein. Seit Emerelle auf dem Schiff erschienen war, war Nikodemus am Rande der Panik. Er hätte nicht damit gerechnet, dass sie kommen würde. Stand ihr Erscheinen mit dem Verschwinden seines Bruders in Zusammenhang?

Gilmarak ermordet, Elija verschwunden. Die Dinge lagen ganz klar. Sie würde sich ihren Thron zurückholen. Und er hatte sich für die falsche Seite entschieden. Er hatte nicht mit Fairachs Spitzeln Kontakt aufgenommen, obwohl diese mehrfach versucht hatten, an ihn heranzutreten. Er hatte ihn und Emerelle verraten. Nicht seinen Bruder. Wo waren die Elfen gewesen, als Birga ihn folterte! Elija hatte ihn gerettet! Elija war immer für ihn da gewesen, solange er sich erinnern konnte.

Er hatte ihn nicht verraten können. Seinen wunderbaren Plan, einen Kobold auf den Thron Albenmarks zu bringen.

»Du musst die rote Laterne hissen!«, rief Liza ihm zu.

Er stieg vom Achtersteven herab und betrachtete die rote Laterne, die neben dem Hauptmast auf dem Deck des verlassenen Frachtschiffs stand. Er wusste, dass in diesem Moment mindestens hundert Augenpaare das Schiff beobachteten. All die Anführer der Rotmützen, die hierhergekommen waren und sich mit ihren Männern verbargen. Gut bewaffnete Kobolde, Elija und ihm treu ergeben. Wenn er die rote Laterne am Mast hochzog, dann würden sie losschlagen. Aber gegen wen? Sie hätten für Elija und Anderan kämpfen sollen, falls die Trolle sich dagegen aufgelehnt hätten, dass der Herr der Wasser König wurde.

Aber alles war anders gekommen. Was würde geschehen, wenn er die Laterne hisste?

Wahrscheinlich würden sie die Prunkbarkasse beschießen. Und die Spinnenmänner mit ihren Geschützen würden ebenfalls schießen. In der Menge auf den Kais würde Panik ausbrechen. Hunderte würden totgetrampelt oder verletzt werden. Weil eine rote Laterne an einem Mast gehangen hatte.

Es gab keinen großen Bruder mehr, der ihm Rat geben konnte. Nun musste er allein entscheiden. Er nahm die Laterne und ging zur Reling. Mit weitem Schwung warf er sie in den Hafen.

»Was tust du da?«, schrie Liza vom Mast herab.

»Ich gehe«, sagte er ruhig. Die Revolution war beendet. Ohne Angriffsbefehl würden sich die Rotmützen wahrscheinlich bald zerstreuen. Die Klügeren von ihnen nahmen vielleicht am Fest teil. Er blickte zum Nachthimmel. Das Lichterspektakel, das die Magier veranstalten würden, war berühmt. Es war die einzige Gelegenheit in seinem Leben, es zu sehen. In achtundzwanzig Jahren wäre er gewiss nicht hier. Falls er dann überhaupt noch lebte.

Liza war vom Mast geklettert. Sie ging mit den Fäusten auf ihn los. »Was hast du getan! Du Verräter!«

Er dachte daran, was das Orakel ihm ins Gesicht geschrieben hatte. Es war tatsächlich so gekommen, am Ende hatte er alle verraten, Falrach ebenso wie Elija. Und dennoch war er einen geraden Weg gegangen, dachte er.

Liza vermochte ihn nicht niederzuringen, dachte er verwundert. Durch den Zeitsprung mit Emerelle war er jetzt viele Jahre jünger als sie. Er hielt sie fest und drückte sie aufs Deck, bis sie aufhörte zu kämpfen. Er kannte sie. Er würde nicht den Fehler machen, sie jetzt loszulassen. Sie würde ihn mit dem nächstbesten Belegnagel, oder was immer sie sonst zu packen bekam, niederschlagen. Er musste warten, bis ihr Zorn verraucht war.

»Es ist aus, Liza. Ohne Elija und Anderan haben wir in diesem Kampf nichts mehr zu gewinnen. Stell dich der Wahrheit! Wenn wir die Rotmützen rufen, wird es nur zu sinnlosem Blutvergießen kommen. Ich bin müde. Ich habe genug Schlachten gesehen.

Zum ersten Mal liegt es in meiner Hand, eine Schlacht zu verhindern. Und genau das werde ich tun. Es ist vorbei, Liza! Und ich kann dir nicht einmal sagen, wer gewonnen hat. Nur eins ist sicher, wir waren es nicht.«

Sie bäumte sich auf, versuchte ihn niederzuschlagen, aber er hielt sie mit eisernem Griff. Sie versuchte sogar ihn zu beißen. Sie war immer noch hübsch. So lange war er in sie verliebt gewesen, und sie hatte ihm kaum Beachtung geschenkt.

»So darf es nicht enden. Unsere Sippe ist ausgelöscht. Alle sind tot! Sogar die Hornschildechsen. Sie können doch nicht alle für nichts gestorben sein!«

»Das sind sie auch nicht.« Er hatte Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. »Sie sind für einen Traum gestorben. Für Elijas Traum von einer besseren Welt. Sie war zum Greifen nah, diese Welt. Aber sie ist nicht Wirklichkeit geworden.«

»Was willst du jetzt tun?«

»Ich werde mir das Fest ansehen. Und morgen werde ich ins Windland aufbrechen. Ich hoffe, dass ich dort keinen Kentauren über den Weg laufe. Ich werde eine wilde Hornschildechse fangen und ein Haus auf ihrem Rücken bauen. Dann werde ich einen neue Sippe gründen.«

»Du bist verrückt!«

Er lächelte. »Vielleicht... Vielleicht liege ich schon in einem Mond mit einem Kentaurenpfeil im Rücken irgendwo in der Steppe. Sie werden uns in hundert Jahren noch nicht verziehen haben, dass wir ihre Ahnen an Trolle verfüttert haben. Aber vielleicht habe ich auch Glück und reite im Nacken einer Hornschildechse.«

Liza sah ihn auf eine Art an, wie sie es früher nie getan hatte. Sie schielte dabei ein wenig. Die Jahre waren doch nicht ganz spurlos an ihr vorübergegangen. Plötzlich bleckte sie die Zähne. »Du bist immer noch ein Dummschwätzer, Nikodemus. Wie willst du ganz allein eine Sippe gründen?«

Er lächelte zurück. »Vielleicht gehe ich ja nicht ganz allein.« Er hob seine verstümmelte Hand. »Ideal wäre ein halb blindes oder schielendes Weib, das nicht sofort merkt, dass es sich mit mir beschädigte Ware einhandelt.«

»Ich schiele nicht«, sagte sie scharf.

»Dann ist wohl mit meinen Augen auch was nicht in Ordnung.«

Sie entspannte sich, und er riskierte es, ihre Arme loszulassen.

»Ich schiele nur ein wenig, wenn ich sehr wütend bin.« »Also doch oft!« Er grinste.

»Du bist frecher als früher.«

Er wagte es aufzustehen. »Noch ein Punkt, in dem ich mich verschlechtert habe.«

»Das finde ich nicht.« Sie setzte sich auf. Dabei sah sie ihn unverwandt an. Ihre Augen waren jung geblieben! »Und du meinst es ernst damit, eine neue Sippe zu gründen?«

»Todernst! Weißt du ... Ich möchte ein ganzes Rudel kleiner Fuchswelpen in die Welt setzen. Und wenn sie alt genug sind, dann möchte ich ihnen von Elija erzählen. Und von Ganda und Torkelschritt. Von Meister Gromjan, dem großartigsten griesgrämigen Lehrer, dem ich je begegnet bin. Und von Madra, einem Troll, der mein Freund war.

Habe ich dir je erzählt, dass ich auf einem Troll geritten bin?«

»Du bist ein Angeber.«

»Ja, da hast du wohl Recht. Aber wenn ich von ihnen erzähle, dann werden sie alle nicht vergebens gestorben sein. Sie werden in den Köpfen der Kleinen weiterleben.

Das ist alles, was wir für sie noch tun können. Wirst du mit mir kommen?«

»Ich bin vielleicht zu alt, um ein ganzes Rudel kleiner Lutin in die Welt zu setzen ...«

Er seufzte. »Ja, vielleicht.« Er sah sie lange an. Wartete darauf, dass sie noch irgendetwas sagte. Aber sie blieb stumm. Ihr Blick war in sich gekehrt. Schließlich gab er auf und ging zur Reling. Die Frachtschiffe im Hafen waren eng miteinander vertäut.

Zwischen ihnen lagen Laufplanken, über die man bis zu den Kais gelangen konnte.

»Nikodemus?«

Er blickte zurück. Sie war aufgestanden. »Ja?«

Liza bleckte die Zähne zu einem Lächeln. »Ich glaube, ich würde mir gerne anschauen, wie du versuchst eine wilde Hornschildechse zu fangen. Mehr verspreche ich dir nicht.

Außer vielleicht noch, dass ich die kümmerlichen Überreste der beschädigten Ware in der Steppe verscharren werde, wenn du so dämlich sein solltest, dich von einer Echse tottrampeln zu lassen.«

Flucht

Madrog peilte über die Schiene des Torsionsgeschützes. An Deck der Prunkbarkasse herrschte Tumult. Er rieb sich zufrieden die Hände. Dann sah er sie. Skanga! Sie lebte.

Er hatte nicht sie getroffen. Wie hatte das passieren können? Wer war ihm in die Schussbahn gelaufen?

Jetzt kniete sich die Schamanin nieder. Andere Trolle verstellten ihm die Sicht auf sie.

Emerelle kam auch noch. Verflucht! Wen hatte er nur getroffen?

Unschlüssig blickte er auf die drei verbliebenen Steinkugeln. Ob Skanga ahnen würde, dass eigentlich sie das Ziel gewesen war? Und würde sie erraten, wer geschossen hatte? Jahre waren vergangen, seit sie die Shi-Handan hinter ihm hergehetzt hatte. Er hatte ihr das nie verziehen.

Noch einmal peilte er über das Geschütz. Es war unmöglich zu sagen, wann er noch einmal freies Schussfeld haben würde. Er sollte fliehen. Er legte seine Waffen ab. Alles, was ihn als Spinnenmann hätte verraten können. Nur ein Stiefelmesser behielt er.

Dann streifte er sich eine der albernen, bunten Jacken über, die so viele Kobolde zum Fest der Lichter trugen.

Er tätschelte zum Abschied das Geschütz. »Deine Schuld war es nicht.«

Eilig stieg er die Leiter hinab. Am Grund des Verstecks angekommen, spähte er durch ein Astloch. Unglaublich, wie viele Albenkinder sich da draußen drängten. Er spürte ihre Unruhe. Keiner wusste, was auf der Prunkbarkasse geschehen war.

Er schob die Tür in der Kistenseite auf. Ein Faun blickte verwundert auf ihn hinab.

»Ein wunderbar trockener Platz zum Schlafen«, sagte Madrog freundlich lächelnd.

Dann schob er sich in die Menge. Er wurde eins mit ihr. Diskutierte über die geheimnisvollen Vorfälle auf der Prunkbarkasse, rief Emerelles Namen und entfernte sich immer weiter von dem Kistenstapel. Eine dunkel gekleidete Elfe erregte seine Aufmerksamkeit. Sie hatte ihr Haar zu einem strengen Zopf zurückgebunden. Ihr Gesicht war mit dem Saft des Dinko-Buschs bemalt. Eine Maurawani. Ob sie gesehen hatte, von wo der Schuss gekommen war? Das war fast unmöglich! Aber sie bewegte sich auf den Kistenstapel zu. Andere Elfen folgten ihr. Gut, dass er fort war!

Emerelle trat an die Reling der Prunkbarkasse. Schmetterlinge und Glühwürmchen umschwirrten sie. Albern! Aber irgendwie schaffte sie es, gut dabei auszusehen. Sie breitete die Arme aus, und die unruhige Menge verstummte.

»König Gilmarak wurde verletzt, aber er wird sich von seiner Verwundung erholen! Er wurde nicht wiedergewählt. Drei Fürsten stimmten für ihn. Drei gegen ihn. Einer enthielt sich. Nun wird ein zweites Mal gewählt. Dieses Mal werden sie über mich entscheiden.«

»Emerelle!«, blökte ein unüberhörbar angetrunkener Minotaur.

»Emerelle!« Andere fielen ein, und bald riefen Tausende.

Auch Madrog hüpfte auf und nieder, winkte mit beiden Armen und schrie sich die Lunge aus dem Leib. »Emerelle! Emerelle!« Bloß nicht auffallen, solange diese Maurawani durch die Menge schlich. Hoffentlich gewann Emerelle die Wahl.

Anschließend begann das Lichterspektakel, und die Menge würde sich in den Straßen der Stadt verteilen. Dann konnte er entkommen.

Bruder Jules

Jules sah schon von weitem, dass etwas mit Adrien nicht stimmte. Der Junge hing so unglaublich schief im Sattel, wie er es selbst am ersten Tag seines Reitunterrichts nicht getan hatte. Der Wanderprediger begann zu laufen.

Adrien kam von Cabezans Palast. Er ritt ihm auf dem Weg entgegen, der in die Weinberge führte. Er sah aus, als hätte er mit der ganzen Leibwache des Tyrannen gekämpft. Wie war es möglich, dass er verwundet war?

Blut lief an der Flanke des Schimmels hinab. Es kam von irgendwo unter Adriens Umhang.

Jules packte nach den Zügeln des Pferdes und schob den Jungen wieder in eine aufrechtere Haltung. »Erkennst du mich nicht?«

Die Augen hinter der silbernen Helmmaske blinzelten. »Elodia?«

Der Junge fantasierte. Jules sah sich verzweifelt um. Er brauchte einen Platz, wo er seinen Sohn versorgen konnte. Es roch nach Regen. Wenn er Adrien helfen wollte, dann durfte er nicht hier draußen bleiben!

Nicht weit entfernt brannte in einer Hütte ein Licht. Wer immer dort lebte, er würde ihn hinaus in die Nacht jagen! Er nahm das Pferd beim Zügel und zog es hinter sich her. Immer wieder blickte er zurück, besorgt, dass der Junge aus dem Sattel fallen könnte.

Eine Frau kam den Weg hinabgelaufen. Sie war zu gut gekleidet, um eine Weinbäuerin zu sein!

»Adrien!«

Jules stieß einen Stoßseufzer aus. Hatte der Junge denn alles vergessen? Wie konnte er dem ersten dahergelaufenen Weib, in deren Bett er stieg, seinen wahren Namen nennen! So viele Jahre hatte er ihm eingeschärft, dass er Michel Sarti war!

»Adrien!« Sie klammerte sich an einen seiner Stiefel. »Dem Jungen wäre sehr geholfen, wenn du ihn nicht aus dem Sattel schmeißt.« »Wer bist du, Priester?«

»Bruder Jules. Sein alter Lehrmeister. Gibt es dort oben in der Hütte ein Bett?« »Ja.«

»Gut.«

Adrien bewegte die Lippen, aber es war unmöglich, zu verstehen, was er sagte. Es war eine Hilfe, dass sie ihn hielt. So musste er sich nicht mehr dauernd umdrehen, und sie kamen schneller voran.

Vor der Hütte hob er Adrien aus dem Sattel. Sie öffnete ihm die Tür. Behutsam trug er ihn zum Bett. Er konnte riechen, dass sich die beiden hier geliebt hatten. Unglaublich, all die Jahre tat der Kleine so keusch, und dann das!

Er legte ihn auf den Bauch und zog den Umhang zur Seite. Ein Dolch ragte aus Adriens Rücken. Eine uralte Waffe, nicht von Menschenhand geschaffen. Cabezan war immer schon ganz versessen auf Überbleibsel aus der Vergangenheit gewesen. Aber dass er an eine solche Waffe gelangt war, hätte Jules nicht erwartet. Und offensichtlich hatte Adrien dem alten König den Rücken zugewandt. Hatte er denn alles vergessen?

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte die junge Frau.

Jules sah sie abschätzend an. Hübsch war sie, das musste man dem Kleinen lassen.

»Bring mir eine Schüssel kalten Wassers. Schnell!«

Sie stellte keine Fragen, sondern eilte nach draußen. Das war gut so. Jules legte dem Jungen die Hand in den Nacken. Er versuchte, sich auf ihn einzustimmen. Zu erfassen, wie schlimm es um ihn stand. Zweifellos hatte er eine Menge Blut verloren. Jules spürte jetzt die Klinge im Fleisch. Sie hatte alle lebenswichtigen Organe verfehlt. Der Junge hatte Glück. Er ...

Jules stockte. Da war noch etwas. Er tastete über Adri ens Kopf und drehte ihn vorsichtig zur Seite. Die Augen ... Ihre Pupillen waren winzig.

Er wedelte mit seiner Hand vor ihnen. Keine Reaktion! Adrien war blind.

»Elo...«, stammelte er. Ein Mundwinkel hing seltsam herab.

Er legte ihm beide Hände auf den Kopf und schloss erneut die Augen. Kopfschmerz befiel ihn. Dumpfer, peinigender Schmerz. Einige Adern im Inneren des Kopfes waren verletzt. Blut floss ins Hirn. Teile seines Gehirns waren schon tot.

Jules schrie auf vor Wut und Verzweiflung.

Etwas krachte zu Boden.

Er fuhr herum. Das Weib stand mitten im Zimmer. Sie hatte die Wasserschale fallen lassen. In Scherben lag sie auf dem gestampften Lehmboden.

»Eine großartige Hilfe.«

»Warum habt Ihr geschrien? Was ist? Bitte, sagt es mir!«

»Es geht ihm schlecht. Jetzt geh hinaus und hol Wasser!«

»Könnt Ihr ihm helfen?«

»Vielleicht, wenn ich Wasser habe, um seine Wunden zu säubern.«

Endlich eilte sie davon. Jules strich über den Kopf des Jungen. Er hätte ihn nicht verlassen dürfen. »Elo... Elodia.«

Jules seufzte. Selbst jetzt, wo es ans Sterben ging, hatte der Junge nichts als sein Blumenmädchen im Kopf.

Das Weib kehrte zurück. Sie hatte einen ganzen Eimer voller Wasser geholt. Sie kam ihm bekannt vor. Er sah sie scharf an. Er vergaß nie ein Gesicht. Sie hatte früher anders ausgesehen. Mädchenhafter. Jetzt hatte sie einen harten Zug um die Mundwinkel.

Aber es konnte keinen Zweifel geben. Adrien hatte zuletzt doch noch sein Blumenmädchen gefunden!

»Lass mich allein mit ihm!«

»Das geht nicht!«, sagte sie entschieden. »Ich habe ihm versprochen, bei ihm zu sein, wenn es … Wenn er …« »Wenn er stirbt?« Sie nickte.

»Du bist Elodia, nicht wahr?« Sie nickte erneut.

»Hör mir gut zu, Elodia. Ich brauche jetzt niemanden, der mir im Weg steht, der mir über die Schulter gafft und dumme Fragen stellt. Ich werde all meine Kraft aufbieten müssen, wenn ich um sein Leben kämpfe! Wenn ich diesen Kampf verliere ... wenn es ans Sterben geht, dann werde ich dich rufen. Dann gehört er dir. Bis dahin lass mich mit ihm allein!«

»Aber ... «

»Ich werde dich rufen. Wenn du ihn sterben sehen möchtest, bitte dann bleib hier. Ich verrichte mein Werk am besten allein. Wenn du ihm helfen willst, dann vergeude nicht länger meine Zeit und warte draußen.«

Ihre Lippen zitterten, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Sie beugte sich hastig vor und hauchte Adrien einen Kuss auf sein Haar. Dann ging sie endlich.

»Elo...«, stöhnte der Junge.

Jules wurde klar, dass Adrien ihn nicht mehr erkennen würde. Nur ein Wunder könnte den Jungen noch retten. Es war verrückt mit den Menschenkindern. Da vergeudete er seinen letzten Atem, um den Namen eines Mädchens zu flüstern, das er kaum gekannt hatte.

Er griff nach der Hand des Jungen und drückte sie sanft. Dann sprach er mit der Stimme Elodias. »Ich bin bei dir. Hab keine Angst. Alles wird wieder gut.«

Jules schluckte. Es war lange her, dass ihm eine Lüge so schwer über die Lippen gegangen war.

Adrien tat einen tiefen Seufzer. Er hatte mit aller Kraft darum gekämpft, noch einmal ihre Stimme zu hören.

Die letzte Stimme

»Orgrim, Herzog der Nachtzinne. Deine Stimme!« Diesmal war es Falrach, der die Fürsten zur Wahl aufrief.

Emerelle war unruhig. Ihre Zukunft lag in den Händen eines Trolls, und sie konnte nichts dagegen tun. Nachdem sie Gilmarak gerettet hatte, hatte sie Skanga gebeten, noch zwei weiteren Fürsten das Wahlrecht zuzustehen. Doch die alte Schamanin hatte abgelehnt. Sie beide waren keine Todfeinde mehr. Aber Unterstützung würde sie von ihr wohl nie erwarten dürfen. Jetzt durchbohrte Skanga Orgrim geradezu mit ihren Blicken.

Der Trollherzog zögerte immer noch. Auch Falrach wurde jetzt ungeduldig.

»Orgrim, Herzog der Nachtzinne. Deine Stimme!«, sagte er noch einmal, fordernder jetzt.

Es genügte, wenn der Troll sich ein zweites Mal der Stimme enthielt, dann würde sie die Krone ebenso wenig erlangen wie Gilmarak.

»Ich stimme für Emerelle.«

Emerelle atmete erleichtert auf. Es war vollbracht! Der Alpraum von einem Land in Asche abgewendet. Doch sie musste auch an das blonde Mädchen aus ihren Träumen denken, dem sie nun niemals begegnen würde.

»Herrin, gestattet Ihr, dass ich Euch zur Wahl zur Königin gratuliere?« Alvias verstrahlte eine etwas steife, konservative Eleganz wie immer. Allerdings konnte sich Emerelle nicht erinnern, ihn jemals so herzlich lächeln gesehen zu haben.

»Danke, mein Freund.«

»Wäre es kühn, zu hoffen, dass Ihr womöglich noch einmal in Erwägung zieht, mich zu Eurem Hofmeister zu machen?«

Jetzt musste sie lächeln. »Wer sonst sollte es sein?«, sagte sie freundlich. »Ich freue mich, dich wieder an meiner Seite zu wissen. Und nun walte deines Amtes. Verkünde dem Volk den Ausgang der Königswahl.«

Voller Stolz trat er an die Reling der Prunkbarkasse. Er straffte sich noch einmal.

»Kinder Albenmarks!« Er legte Magie in seine Stimme, so dass sie weit in die Straßen Vahan Calyds trug, ohne dass er geschrien hätte. »Unsere Völker haben eine neue Königin.«

Erste Jubelrufe erklangen.

»Es ist die Elfe Emerelle aus dem Volk der Normirga. Möge ihre Herrschaft uns Frieden und Wohlstand bringen!«

Emerelle sah, wie die Trolle die Prunkbarkasse verließen, während sie mit frenetischen Rufen gefeiert wurde. Sie ging zu Skanga und hielt die alte Schamanin zurück. Ihre ständige Begleiterin, die vermummte Birga mit ihren abstoßenden Masken, flüsterte ihrer Herrin etwas ins Ohr.

»Wollt ihr nicht bleiben?«

»Das ist nicht unser Fest«, entgegnete die Alte. Mit toten, weißen Augen starrte sie Emerelle an. »Wir kehren zurück in die Snaiwamark.«

»Wird es Frieden geben?«

Skanga schüttelte den Kopf. »Dafür ist zu viel geschehen. Aber wir könnten die Kämpfe einstellen. Sehen wir, was danach kommt.«

Die Trolle zogen ab. Sie ragten unter der Masse der Feiernden auf. Erste Lichter erstrahlten am Nachthimmel. Magier aus ganz Albenmark würden sich nun ein friedliches Duell liefern und versuchen, sich gegenseitig zu überbieten. Erste Blumen erblühten vor dem Schwarz des Firmaments. Das waren noch die Übungen der Novizen.

Sie blickte zu Orgrim. Er war als einziger Troll auf der Barkasse geblieben. Mit seiner tapferen Entscheidung hatte er sich wahrscheinlich zum Geächteten in seinem eigenen Volk gemacht.

Ein Drache aus blauweißem Licht stieg über dem Mond türm auf, Alathaias Palast in Vahan Calyd. Ein Raunen lief durch die Menge. Gewiss war es die Elfenfürstin selbst, die diesen Zauber gewoben hatte. Der Drache weitete seinen Flügel, durch die das Licht der Sterne schimmerte.

Ein Schauder überlief Emerelle. Sie dachte an die lang vergangenen Kämpfe mit den Drachen. Doch dies war nur eine Illusion, ermahnte sie sich in Gedanken.

Der Drache stürzte vom Himmel herab, den Kais entgegen. Etliche Zuschauer schrien auf. Er glitt dicht über ihnen hinweg, gewann mit einem Flügelschlag wieder etwas an Höhe, doch nicht schnell genug. Einige der Mastspitzen glitten durch seinen Leib. Er drehte ab und flog auf das Meer hinaus. Dort verblasste er.

Emerelle sah zum Mondturm. Was für eine machtvolle Zauberin Alathaia geworden war!

Wie ein Wunder

Silbernes Licht rahmte die Berge am Horizont. Endlich war diese endlose Nacht vorüber, dachte Elodia müde. Sie ging vor der Hütte auf und ab. Manchmal hielt sie inne und lauschte an der Tür. Doch sie hatte schon lange keinen Laut mehr dort drinnen gehört. Mitten in der Nacht hatte der alte Wanderpriester das Fenster verhängt.

Die ganze Nacht über hatte sie immer wieder gebetet. Unermüdlich hatte sie Tjured um ein Wunder angefleht. Sie sah zum Schimmel, der bei der Tränke stand. Als sie befürchtete, vom untätigen Warten wahnsinnig zu werden, hatte sie das Blut von seinem Sattel gewaschen und aus seinem Fell. So viel Blut!

Wieder sah Elodia zur Tür. Wenn die Sonne aufging, würde sie in die Hütte gehen, ganz gleich, was der griesgrämige Priester sagte.

Lebte Adrien noch? War es ein gutes Zeichen, dass der Priester sie nicht gerufen hatte, oder hielt er sich einfach nicht an sein Versprechen? Der Alte war ihr unheimlich. Er erinnerte sie an den Priester, der vor vielen Jahren bei den Stadtwachen gewesen war, als man sie und ihren Bruder aus Nantour verschleppt hatte.

Ein Geräusch ließ sie aufblicken. Die Tür! Innen war der Riegel zurückgeschoben worden. Kam der Alte sie nun holen? War es so weit? Sie hatte oft gehört, dass der Tod mit dem ersten Morgenlicht kam. Sie unterdrückte ihre Tränen und fuhr sich mit fahrigen Händen durchs Haar, um es zu richten. Adrien sollte sie zum Abschied nicht zerzaust und weinend sehen!

Adrien trat durch die Tür. Sie zuckte erschrocken zusammen, so überrascht war sie.

»Adrien!«

Er lächelte sie an.

Sie stürmte auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Ihre Hände tasteten über sein Haar. Sie überschüttete ihn mit Küssen. Dann schob sie ihn auf Armeslänge von sich, um ihn besser betrachten zu können. Er wirkte ein wenig unsicher.

»Das ... das ist ein Wunder«, stammelte sie fassungslos. Sie fiel auf die Knie, breitete die Arme dem Himmel entgegen und betete voller Inbrunst zu Tjured. Es war nicht weniger als ein Wunder! Gott hatte seinen ersten Ritter gerettet!

»Der alte Priester hat mich wieder auf die Beine gebracht«, sagte Adrien leise. »Dann danke ich auch ihm!«

Adrien versperrte ihr mit dem Arm den Zugang zur Hütte. »Besser nicht. Er ist ein griesgrämiger, alter Bock. Und er hält nicht viel von dir, Elodia. Ich möchte nicht, dass er dich mit seinen harschen Worten verletzt.«

Sie sah ihn überrascht an. »Das halte ich schon aus.«

»Ich aber vielleicht nicht. Bitte, geh nicht in die Hütte!« Seine Augen erstrahlten im ersten Morgenlicht in fast schon magischem Blau. Er war so schön! So unglaublich schön! Und nach Cabezan hatte er nun auch noch den Tod besiegt, um ihrer Liebe willen. Sie strich ihm zärtlich über die Wange. »Ich liebe dich, Adrien.«

Er wirkte plötzlich traurig.

»Was ist mit dir?«

»Du musst viel Geduld mit mir haben. Es kann sein, dass ich dir manchmal ein wenig merkwürdig erscheine ... « Er senkte den Blick. »Ich ... ich fürchte, die Verwundungen haben ihren Preis gefordert, auch wenn ich körperlich wieder unversehrt erscheine. Ich erinnere mich nicht mehr an alles.« Er stockte. »Ich weiß nicht mehr, wann wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Ich fürchte, ich werde manchmal ein etwas seltsamer Liebhaber sein ... «

Sie nahm ihn wieder in den Arm. Es hatte ihr einen Stich versetzt, dass er sich daran nicht erinnerte. Es waren doch gerade einmal zwei Tage seit ihrem ersten Kuss vergangen! Aber er hatte dem Tod ins Angesicht gesehen! Er hatte alles Recht, ein wenig seltsam zu sein! »Ich glaube, wir sind immer schon ein seltsames Paar gewesen. Du hast dich als Junge in mich verliebt, obwohl du wusstest, was ich tue ... Und ich habe dich vergiftet, als Tjured dich mir schenkte und ich dich nicht wiedererkannte.« Sie lä-

chelte. »Vielleicht ist es ganz gut, wenn du dich an ein paar Dinge nicht mehr erinnerst.

Du bist heute neugeboren. Fangen wir ein neues Leben an. Vergessen wir beide, was war!«

Er nickte, tief in Gedanken. »Ja, neugeboren ... Das ist wohl wahr.« Plötzlich küsste er sie mit einer Leidenschaft, wie sie sie von ihm gar nicht kannte. Jetzt war er nicht mehr von dem Gift geschwächt.

»Gehen wir, Elodia!«

Sie blickte durch die Tür. Die Hütte lag ihm Dunkel. Undeutlich sah sie eine Gestalt auf dem Lager liegen. »Aber dein Lehrer ... der Priester. Du kannst doch nicht einfach so ohne ein Wort gehen!«

»Ich trage ihn in meinem Herzen. Er ist immer bei mir. Jetzt muss er ruhen. Wir sollten ihn nicht stören. Wenn er wach wird, haben wir von ihm nur Schelte zu erwarten. Er war sehr wütend auf mich. Lassen wir ihn. Mich zu heilen, hat ihn all seine Kräfte gekostet. Er wird lange schlafen ... «

»Wohin sollen wir jetzt gehen, mein Liebster?«

Er schenkte ihr ein hinreißendes Lächeln. »Ich bin neugeboren. Du sagtest, wir fangen ein neues Leben an. Wir können überall hingehen. Uns gehört die ganze Welt!«

Abschied

Emerelle trat auf die weite Terrasse, die hoch über der Stadt lag. Sie blickte auf den Hafen und das Meer. Der Morgennebel lichtete sich. Noch immer hörte sie weit unten in den Straßen den Lärm letzter Feiernder. Die ganze Nacht über hatte sie Gratulationen und Glückwünsche über sich ergehen lassen. Sie hatte unzählige Hände geschüttelt. Auch Hände von Fürsten, die am Vortag noch vermeintlich treue Anhänger Gilmaraks gewesen waren.

Nur einer war nicht gekommen. Der, auf den sie am meisten gewartet hatte. Falrach war irgendwann von der Barkasse verschwunden.

Die Königin trat dicht an die Brüstung der Terrasse. Je mehr die Nebel wichen, desto deutlicher sah man die Wunden der Stadt. Niedergebrannte Häuser. Leere Fenster, über denen Rußfahnen das Mauerwerk zeichneten. Es würde noch lange dauern, bis Vahan Calyd wieder in seiner alten Pracht erstrahlte.

Die Stadt war ein Spiegel Albenmarks, dachte sie traurig. Überall gab es Spuren des dritten Trollkriegs. Des schlimmsten. Sie hoffte, dass Gilmarak und Skanga Frieden halten würden. In der vergangenen Nacht hatte sie viel über die Herrschaft der Trolle und Kobolde zu hören bekommen. Und nicht nur Schlechtes! Sie würde prüfen, welche Änderungen Gutes bewirkt hatten. Häuser konnte man wieder aufbauen. Doch die Herrschaft der Trolle konnte sie nicht einfach tilgen. Ihr neues Königreich würde ein anderes sein als jenes, das vor achtundzwanzig Jahren im Feuersturm von Vahan Calyd untergegangen war. Es gab keinen Weg dorthin zurück.

»Herrin?« Alvias war in der Tür zur Terrasse erschienen.

»Ja?«

»Ihr habt Besuch.«

Sie seufzte. Ihr stand wirklich nicht der Sinn danach, noch mehr Hände zu schütteln.

»Wer ist es?« »Olowain.«

»Du kannst ihn vorlassen!« Sie sagte das mit mehr Begeisterung, als sich für eine Königin geziemte. Alvias hob in stummem Tadel eine Braue. Dann holte er Falrach.

Der Elf verbeugte sich tief, als er auf die Terrasse trat, und wedelte dabei seltsam mit seinem rechten Arm. »Eure durchlauchtigste Majestät...«

Sie musste lachen. »Was soll das?«

Er richtete sich auf. Schwankte er leicht?

»Ich bin Euch noch nie als Königin begegnet, Majestät. Ich feile noch an meinen Umgangsformen.«

»Ich hoffe, zwischen uns hat sich nichts geändert.«

Er wirkte plötzlich traurig. »Wenn Ihr das sagt!«

Dieser Dummkopf! So hatte sie es nicht gemeint! »Ich hatte gehofft, dass du an meinem Hof bleibst. Welches Amt möchtest du haben?«

»Ist das ein Befehl?«

»Natürlich nicht!«

Falrach breitete die Hände aus. »Ich glaube, es ist nicht klug, wenn ich bleibe. Ein Spieler mit einem Amt bei Hofe.« Jetzt lächelte er wieder. »Vielleicht als Schatzmeister.

Das wird nur zu Gerede führen. Und du wirst keine Zeit haben, so wie gestern Nacht.«

»Wo warst du?«

»Ich war mit Orgrim trinken.« Er blinzelte, als schmerze das Licht in seinen Augen.

»Der säuft wie ein Fass. Eigentlich ist er gar kein übler Kerl... für einen Troll. Wir haben uns ganz gut verstanden. Du wirst nicht glauben, was er mich gefragt hat.« Er schüttelte den Kopf. Aber auf eine Art, die Emerelle ahnen ließ, dass er sich schon entschieden hatte. »Er hat gefragt, ob ich ihn als sein Leibwächter auf die Nachtzinne begleiten möchte. Er hat einfach nicht verstehen wollen, dass ich nicht wirklich Ollowain bin.«

»Wozu sollte ein Troll einen Elfen als Leibwächter brauchen? Das ist absurd!«

»Nein, du musst die ganze Geschichte hören. Er hat Sorge wegen eines Elfen. Farodin heißt der. Er ist sich ganz sicher, dass dieser Farodin versuchen wird, ihn zu töten.«

Emerelle nickte wissend. Sie kannte die Geschichte dieser alten Seelenfehde. »Und du willst mit ihm gehen?«

»Nur für eine Weile ... Ich habe den Verdacht, dass er ein ganz guter Falrach-Spieler sein könnte. Er hat mir von seinen Schlachten erzählt.« Er lächelte entwaffnend. »Ich freue mich, dass du von dem Albenhaupt zurückgekommen bist. Um dir das zu sagen, bin ich hier. Ich hoffe, du hast gefunden, was du dort gesucht hast.«

»Man könnte sagen, ich bin Ollowain begegnet ... Ich konnte ihn nicht mitnehmen. Er ist auf dem Berg geblieben. Für immer.« Ihr versagte fast die Stimme. Wieder sah sie deutlich das Gesicht des blonden Mädchens vor sich.

»Vielleicht magst du mir ja von ihm erzählen.«

Sie sah Falrach überrascht an. »Warum?«

»Wenn du von ihm redest, dann wird dein Herz frei. Und vielleicht ist er uns sogar näher, als du denkst.«

»Wirst du plötzlich romantisch, Falrach?«

»Nein, du weißt, ich bin ein leidenschaftlicher Spieler. Alles, was ich tue, hat Kalkül.

Vielleicht erhoffe ich mir ja, von ihm zu lernen, wie man dein Herz erobern kann.«

»Das hast du schon einmal geschafft, ohne ihn zu kennen.«

»Du meinst also, es wäre nicht hoffnungslos?« Sie antwortete mit einem Lächeln.

»Bleib nicht zu lange fort.«

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