Zwei weitere Jahre später

Steppenschiffe

Der Falke landete auf der Brustwehr des Steppenschiffs. Ungeduldig wartete Orgrim darauf, dass der Elf, der mit geschlossenen Augen im Schneidersitz vor ihm auf dem Boden saß, endlich aus seinem magischen Schlaf erwachte. Der Troll misstraute den wenigen elfischen Verbündeten in seiner Streitmacht zutiefst. Sie waren allesamt Wendehälse oder aber Verräter, die ihre Unterwürfigkeit nur heuchelten. Er wünschte sich, über mehr Lutin zu verfügen, die er als Späher einsetzen könnte.

Als der Elf endlich die Augen öffnete, waren sie schreckensweit.

»Was?«, herrschte ihn der Trollfürst an. »Was hast du gesehen?«

»Es sind Tausende. Sie sind überall. Rings herum im Hügelland. Auf viele Lager aufgeteilt. Aber es sind Tausende! Und es sind auch Elfen unter ihnen. Sie haben Jagd auf mich gemacht. Einen habe ich erkannt. Fenryl von den Normirga, den Grafen vom Rosenberg in Carandamon. Er unterstützt die Rebellen. Ich habe auch Bogenschützen von den Maurawan gesehen. Und Kentauren aus Uttika. Sie haben ein eigenes großes Heerlager im Westen von hier. Da war auch ein Lamassu. Und Heerscharen von Dienern. Aber das Wichtigste ist eine Botschaft für dich, Herzog.«

Orgrim musste an sich halten, um dieses Elflein nicht beim Kragen zu packen. »Mit dem Wichtigsten kommst du zum Schluss? Heraus damit!«

»Sie haben gesagt, dass sie von dieser Stunde an jeden Falken, der nicht zu ihnen gehört, vom Himmel holen werden.« Der Elf deutete nach Westen. »Siehst du? Dort, nahe dem Heerlager der Uttiker, stehen zwei Falken am Himmel. In jeder Himmelsrichtung haben sie Falken. Wir können sie nicht mehr ausspähen.«

Orgrim ließ sich Zeit, den Himmel zu betrachten. Es stimmte. Sieben Falken konnte er erkennen. »Dann sind wohl schlechte Zeiten für die Steppenfalken dieser Gegend angebrochen«, sagte er schließlich mit einem Lächeln.

»Was sollen wir nun tun?« Baidan, dem Sprecher der Kobolde, war ganz offensichtlich nicht zum Schmunzeln zumute. »Sie werden uns unsere Augen nehmen. Wie werden wir uns wehren?«

»Ich werde nach einer Schamanin schicken. Dieser Kampf ist nicht verloren. Er wird sie am Ende mehr Blut kosten als uns. So wie diese ganze seltsame Belagerung. Mir macht es keine Sorgen, dass sie jetzt auch noch ein paar Falken gegen uns aufgeboten haben. Mich beunruhigt, dass ich nicht erkennen kann, welchen tieferen Zweck diese Belagerung hat. Nestheus hat es geschafft, die Kentaurenstämme der Steppe zu einigen und sich sogar wieder mit Katander von Uttika auszusöhnen, obwohl der Bronzefürst sein Todfeind war. Nestheus ist gewiss kein Narr! Ich kann nicht verstehen, warum er dieses Gemetzel veranstaltet. Er muss sich einen Nutzen davon versprechen. Und dass ich diesen Nutzen nicht erkennen kann, das beunruhigt mich, Baidan. Ein paar Vögel sind da nebensächlich.«

»Ach, hört doch auf«, mischte sich Zargub ein. Der stämmige Troll lehnte lässig am Mast der König Gilmarak und kaute an einem Kentaurenschinken. »Diese Gäule sind einfach dämlich!« Er spuckte ein Stück Knorpel aus. »Was für Schlachtenlenker sollte ein Volk hervorbringen, das sein Leben damit beschäftigt ist, dummem Viehzeug in der Steppe hinterherzulaufen? Die werden wieder und wieder gegen unsere Schiffsburg anlaufen. Und wir schießen sie ab. Ich habe an allen Feldzügen seit Vahan Calyd teilgenommen und noch nie so viel frischen Kentaurenschinken zu futtern bekommen. Nehmen wir es als ein Geschenk!« Er machte eine lässige Geste hinaus zur Steppe. Hunderte von Geiern und Raben hockten im hohen Gras. So vollgefressen, dass sie nicht mehr fliegen konnten. »Der Tisch ist reich gedeckt. Nie haben wir sie so einfach geschlagen. Wir sollten noch mehr Armbrustschützen anfordern.«

Orgrim sagte nichts dazu. Er schätzte Zargub als guten Rudelführer und tapferen Krieger. In der Schlacht war er ein zuverlässiger Gefährte, der seine Befehle ausführte, ohne Fragen zu stel en, aber ein Feldherr war er nicht. Und wie bei so vielen Trollen hatten die Jahre der Herrschaft auch ihn überheblich gemacht. Orgrim war nicht geneigt, seinen Gedankengängen zu folgen. Der Trollfürst war sich sicher, dass Nestheus einen geheimen Plan verfolgte.

Nachdenklich blickte er über die weite Schiffsburg. Die Steppenschiffe, die ihr König Gilmarak ersonnen hatte, waren zu einer gewaltigen Festung aufgefahren. Der äußere Kreis umfasste mehr als zweihundertfünfzig der großen Karren. Den inneren Kreis bildeten die fünfzig größten Gefährte mit Ausnahme der König Gilmarak, die Orgrim als seinen Befehlsstand nutzte. Sie hatten die Schiffsburg um einen Albenstern aufgefahren, in dem sich sechs Albenpfade kreuzten. Das magische Portal befand sich in der Mitte des inneren Kreises. Er war bestens geschützt. Dort lagerten die Trolle des Heeres. Die wichtigsten Versorgungsgüter waren in der Nähe untergebracht und eine Reserve mit dreißig Wasserwagen.

Orgrim kratzte sich nachdenklich die Schnauze. Wenn sie nicht den Albenstern mitten im Lager hätten, dann würde er die Strategie der Kentauren begreifen. Dann wäre die Snaiwamark-Karawane abgeschnitten. Die Übermacht der Kentauren machte es unmöglich, Vorräte durchzubringen. Die Steppenreiter könnten sie aushungern. Oder besser gesagt austrocknen, denn zuerst würden ihnen die Wasservorräte ausgehen. Allein die mehr als fünftausend Karrenochsen soffen jeden Tag einen kleinen Teich leer. Die ganzen Karren voller Wasserfässer würden für zwei Tage reichen. Drei Tage, wenn sie das Wasser rationierten. Sieben Tage, wenn ihm egal wäre, dass die Ochsen verdursteten.

An jedem anderen Ort als diesem hätte die Belagerung Sinn gemacht.

Ihre Schiffsburg hatte einen Durchmesser von knapp einer Meile, was bedeutete, dass die Außenlinie der Verteidigung mehr als drei Meilen lang war. Um diese Linie zu halten, verfügte er über mehr als sechstausend Kobolde und eintausendsiebenundachtzig Trolle. Viel zu wenig, wäre da nicht diese Flotte von Steppenschiffen, die auf König Gilmaraks Wunsch gebaut worden war. Orgrim hielt das ganze Unternehmen für völlig verrückt, aber wie sagte man so etwas einem König?

Die Steppenschiffe waren Karren, die zwischen zehn und fünfzehn Schritt lang waren.

Einige vereinzelte Gefährte maßen auch mehr als fünfundzwanzig Schritt. Diese ungelenken Ungeheuer machten nichts als Ärger. Dauernd gab es bei ihnen Achs- oder Radbrüche!

Ein Steppenschiff einen Karren zu nennen, war, gemessen an normalen Karren, eine gewaltige Untertreibung, und doch waren sie trotz ihres Namens den Karren ähnlicher als Schiffen.

Nahm man einen normalen Karren und schlug die Bodenbretter der Pritsche heraus, um dann die Zugochsen ins Innere des Karrens zu stellen, statt an eine Deichsel davor, dann hatte man die Grundidee des Steppenschiffs vor Augen. Als der junge Trollkönig die Steppenschiffe ersann, war er sich dessen bewusst, dass seine Snaiwamark-Karawane mit Sicherheit von den Kentauren angegriffen würde. Die Kentauren aber galten als begnadete Bogenschützen. Ein einziger erschossener Zugochse würde ei nen ganzen Karren lahmlegen. Man konnte also nicht mit gewöhnlichen Ochsenkarren durch die weiten Steppen der Snaiwamark ziehen.

Gilmarak hatte dafür die Lösung ersonnen, die Ochsen im Inneren des Fuhrwerks unterzubringen. Und um sie zu schützen, umgab er sie mit einem Schutzwall aus einen Zoll dicken Eichenbrettern. Man hätte auch sagen können, er sperrte sie in eine Holzhütte ohne Boden, aber mit großen Karrenrädern.

Selbst die kleinsten Steppenschiffe waren noch fünf Schritt weit. Mindestens drei Ochsen gingen nebeneinander, um ein Steppenschiff zu bewegen. Und mindestens drei dieser Gespanne waren in so einem Gefährt untergebracht. Die Zahl der Ochsen schwankte zwischen neun und sechsunddreißig wie bei der König Gilmarak.

Die Räder der Steppenschiffe waren fast zwei Schritt hoch. Um sie leichter zu machen, verwendete man Speichenräder. Nur versanken gewöhnliche Speichenräder zu leicht im Boden. Gilmaraks Lösung für dieses Problem war, jeweils zwei Räder durch fünfzehn Zoll breite Eisenplatten miteinander zu verbinden. Die Eisenplatten waren auf die Eisenreifen genietet, die wiederum den hölzernen Radkranz umfassten.

Zwischen den Platten ließ man je einen Zoll Platz, so dass keine glatte Metallaußenhaut entstand und die Eisenplatten besser ins Erdreich fassen konnten.

Manche munkelten über König Gilmarak, er habe einen Koboldverstand. Freilich wagte das niemand zu sagen, wenn Skanga in der Nähe war. Unbestreitbar war jedoch, dass es noch nie zuvor einen Trollherrscher gegeben hatte, der sich mit solcher Begeisterung an den Bau von etwas Vergleichbarem gewagt hätte.

Unter den Mechanikern, Bastlern, Zimmerleuten und Sonderlingen in den Völkern der Kobolde hatte sich Gilmarak mit dem Bau seiner Flotte aus Steppenschiffen sehr beliebt gemacht. Sie hatten sich in Scharen aus allen Ge genden Albenmarks bei Burg Elfenlicht eingefunden, um an der gewaltigen Aufgabe des Flottenbaus teilzunehmen.

Selbst die kleineren unter den Steppenschiffen waren fünfeinhalb Schritt hoch. Über dem Ochsendeck, in dem neben den Ochsen auch ein Teil der Koboldbesatzung untergebracht war, gab es noch drei weitere Decks. Orgrim würde niemals begreifen, wie man darauf kommen konnte, sich ein schwankendes Netz über den Köpfen von stinkenden Ochsen als Schlafplatz auszusuchen, aber soviel er wusste, waren es die Kobolde selbst gewesen, die diese Art der Unterbringung für einen Teil der Schiffsbe-satzung gewählt hatten. Über dem Ochsendeck lag das Frachtdeck. Hier war in unzähligen Truhen die geheime Fracht der Karawane verstaut. Allerdings gab es auch einen Raum für Vorräte und einige große Wasserfässer auf diesem Deck.

Über dem Frachtdeck lag das Geschützdeck. Zum einen befanden sich hier weitere Koboldquartiere sowie die Segelkammer, in der das große, dreieckige Segel untergebracht war, mit dessen Hilfe die Steppenschiffe auf den weiten Schnee- und Eisflächen der Snaiwamark segeln sollten. Vor allem aber war hier eine Reihe von Torsionsgeschützen untergebracht. Im Grunde handelte es sich dabei um größere und durchschlagskräftigere Varianten der Windenarmbrüste, die unter Koboldkriegern so beliebt waren. Je nach Ausführung des Geschützes konnten große Bolzen, kurze Speere oder Steinkugeln unterschiedlicher Größe verschossen werden.

Den Abschluss bildete das Gefechtsdeck, eine von hölzernen Zinnen umgebene Plattform. Obwohl die Zinnen für einen Troll kaum mehr als hüfthoch waren, benötigten die Kobolde einen eigenen Wehrgang, um über den Zinnenkranz hinwegblicken zu können. Neben etlichen schweren Windenarmbrüsten gab es auch auf diesem Deck zwei schwere Torsionsgeschütze. Sie waren so aufgebockt, dass man sie im Kreis drehen konnte. So war es möglich, in jede Himmelrichtung zu schießen. Sobald das Geschütz geladen und abschussbereit war, klappten die Kobolde einen Teil der hölzernen Brustwehr herab, um ein freies Schussfeld zu haben. Die einzige Beschränkung im Schussfeld war der wuchtige Mast, der bis hinab zum Frachtdeck reichte. An seiner langen Rah konnte ein großes, dreieckiges Segel aufgezogen werden, um das Steppenschiff auf dem Eis der Snaiwamark zu segeln. Ein Teil der Kobolde war der Überzeugung, dass man auch in der Steppe und auf Rädern stehend segeln könnte, doch Orgrim hatte strikten Befehl gegeben, dies zu unterlassen.

Die Steppenschiffe waren unglaublich schwer und ungelenk. Selbst auf trockenem Untergrund kamen sie nur langsam voran. Ein leichter Regenguss genügte schon, und die schweren Räder fuhren sich im Schlamm fest.

Orgrim hasste die ganze Unternehmung, aber es war der ausdrückliche Wille des Königs, die Snaiwamark-Karawane zu einem Erfolg werden zu lassen. Deshalb bauten sie die Straße. Zwölf Schritt breit, bot sie mehr als genügend Platz selbst für die größten Steppenschiffe. Auch diese Straße war von Kobolden ersonnen! Sie war wie eine in die Erde versenkte Mauer. Zwei Schritt tief schachtete man die Erde aus, um dann verschiedene Schichten aus Sand und Geröll als Fundament zu verlegen.

Abgedeckt wurde das schließlich mit einer Schicht fast fugenlos aneinanderpassender Steinquader. Eine weniger aufwendig gebaute Straße hätte das Gewicht der Steppenschiffe nicht getragen. Auch durfte die Straße an keiner Stelle eine größere Steigung als zwei Grad haben, weil die Ochsen die schwerfälligen Gefährte sonst nicht mehr von der Stelle bewegen konnten. Damit das überhaupt möglich war, mussten auf dem Weg von Herzland bis zur Schneegrenze in der Snaiwamark nicht weniger als dreiundsiebzig steinerne Brücken gebaut werden. Jede dieser Baustellen im Windland glich einem Heerlager, denn die Arbeiten mussten gegen die Übergriffe der Kentauren geschützt werden. Anderenorts trug man Hügel ab, um die Straßentrasse so eben wie möglich zu halten.

Für Orgrim war die Idee des Königs ein einziger Alptraum! Zehntausende arbeiteten an der Straße. Aus ganz Albenmark hatte man Arbeiter geholt. Sie wurden bestens versorgt und erhielten einen fürstlichen Lohn. Ein Jahr im Straßenbau brachte einem Arbeiter mehr Tauschwaren, als er in fünf Jahren anderswo hätte verdienen können.

Aber die Arbeit war gefährlich. Die Straße war von unzähligen Gräbern gesäumt.

Dennoch herrschte nie Mangel an Freiwilligen.

Es war unmöglich, alle Baustellen angemessen zu beschützen. Und die Kentauren, die ihnen wohl niemals vergeben würden, dass die Trolle auf ihrem Marsch auf Burg Elfenlicht die Hügelgräber der Pferdemänner als Fleischlager genutzt und versehentlich auch deren tote Fürsten verspeist hatten, führten einen unbarmherzigen Krieg. Es war schwer, sich gegen sie zu wehren. Bisher hatten sie nur kleinere Überfälle verübt. Hatten Baustellen angegriffen, ihre Köcher leergeschossen, ein paar Zelte abgebrannt und waren dann wieder in der Weite der Steppe verschwunden. Nie hatten sie sich auf die Belagerung eines Bautrupps eingelassen. Diese Schlacht konnten sie nicht gewinnen. Nicht bei dem unglaublichen Geschosshagel, den ein Ring aus zweihundertfünfzig Steppenschiffen entfesseln konnte. Warum waren sie hier? Seit Tagen zermarterte sich der Trollherzog das Hirn. Hier zu kämpfen, war vollkommen verrückt. Sie gaben freiwillig ihre größte Stärke auf.

Orgrim konnte sie nicht in die Steppe hinein verfolgen. Er hatte keine Truppen, die sich so schnell bewegten wie die Pferdemänner. Ihm blieb nichts weiter übrig, als deren Angriffe abzuwarten.

Auch die Versuche einiger Rudelführer, die Lager ausfindig zu machen und niederzubrennen, waren kläglich gescheitert. Das wenige Hab und Gut der Steppenkrieger war zu schnell aufgeladen.

Und die Kundschafter der Pferdemänner waren zu aufmerksam, als dass man jemals eines ihrer Lager überraschend angreifen konnte.

Orgrim blickte über sein Lager innerhalb der mächtigen Schutzmauer aus Steppenschiffen. Dicht an dicht drängten sich Arbeiter und Vieh. Hunderte einfacher Karren waren da, beladen mit Steinplatten und Geröll. Alle erdenklichen Arten von Zelten gab es. Große Garküchen, sogar Freudenhäuser. Es war unglaublich, wie die Schar ihrer Begleiter von Mond zu Mond weiter anwuchs. Näherinnen und Wäscher, Schmiede, Zimmerleute, Pfeilmacher -unmöglich, sie alle aufzuzählen. Im Süden lagerte eine Gruppe von Lutin mit Hornschildechsen. Sie waren dafür zuständig, die Vorratskarawanen über die Albenpfade zu lenken. Um ihren verwundbaren Nachschubweg abzukürzen, hatte Orgrim schon vor zwei Jahren befohlen, den größten Teil der benötigten Güter durch das Goldene Netz zu bringen. Die Trolle schreckten davor zurück, die Gefahr einer Reise über die Albenpfade einzugehen, aber die meisten Kobolde waren da weniger zimperlich. Schließlich verdienten sich die Händler trotz des Gesetzes gegen Wucherei an diesem Handel eine goldene Nase.

Im Norden, so weit wie möglich von den Hornschildechsen entfernt, weidete eine kleine Mammutherde. Die riesigen Tiere wurden gebraucht, um festgefahrene Steppenschiffe wieder flottzumachen. Nur ihre unglaubliche Kraft vermochte die schweren Räder aus dem Schlamm der Steppe zu holen, der die riesigen Karren manchmal wie durch Zauberbann festzuhalten schien.

Freilich hätte man auch die Hornschildechsen der Lutin für solche Arbeiten heranziehen können, doch die aufmüpfigen kleinen Magier weigerten sich, ihre gepan-zerten Echsen niedere Dienste tun zu lassen, wie sie es nannten. Nur die unbarmherzige Anwendung des neuen Gesetzwerkes des Königs machte es möglich, in diesem riesigen Lager, in dem Angehörige aus mehr als zwanzig Völkern lebten und arbeiteten, eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten. Doch mit jedem Tag, den die Belagerung dauerte, kam es zu mehr Unruhen. Es gab nichts, das sicherer die Disziplin eines solchen zusammengewürfelten Haufens zerstörte als Müßiggang. Da die Straße nicht mehr weitergebaut werden konnte, solange sie im Lager eingeschlossen waren, wurde es von Tag zu Tag schwerer, die Heerschar von Arbeitern zu beschäftigt zu halten. Die Folge waren unzählige kleine Streitereien. Al ein gestern hatte es deshalb gar zwei Hinrichtungen gegeben.

Orgrim hasste es, hier auf dem Hintern zu sitzen. Er musste eigentlich weiterbauen und das Lager als Schutzschild für die langsam vorrückende Baustelle nutzen, aber dann würde er vom Nachschub abgeschnitten werden. Solange er genau auf dem Albenstern saß, bestand diese Gefahr nicht. Wie sollte er aus dem Dilemma herauskommen?

Er sah seine beiden Berater an. Der König musste erfahren, was hier vor sich ging.

Zargub würde Unsinn erzählen und um Verstärkung bitten. Das Letzte, was er hier brauchte, waren noch mehr nutzlose Männer. »Baidan, du wirst mit der nächsten Versorgungskarawane nach Burg Elfenlicht gehen! Du sollst den König über die Lage unterrichten. Und versuche, ihm mit freundlichen Worten klarzumachen, dass seine Steppenschiffe in der Klemme sitzen. Um hier Krieg führen zu können, brauchen wir Reiter. Und die haben wir nicht. Ich empfehle einen Rückzug, damit wir uns an anderer Stelle neu formieren können.«

»Rückzug!«, schrie Zargub. »Die haben bei jedem Angriff doppelt so viele Tote wie wir! Wir werden sie vernichten.«

Orgrim verzichtete darauf, ihm zu antworten. Der Rudelführer würde es nicht verstehen. Was hier geschah, ging weit über seinen militärischen Horizont.

»Dein Vater ist doch der Herr der Wasser«, wandte sich der Herzog erneut an Baidan. »Sitzen wir hier in einem trockenen Flussbett?«

Der Kobold schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe das eingehend überprüft und an verschiedenen Stellen graben lassen. Es gibt keine Lehmablagerungen und auch keine Kiesel oder Geröll, nichts, was darauf hinweist, dass hier einmal Wasser geflossen wäre. Ich hatte auch schon den Verdacht, dass wir in einem trockenen Flussarm festgehalten werden sollen, damit uns bei Regen vielleicht eine plötzliche Flutwelle hinwegspült.«

»Es wäre erfreulich, wenn du mich das nächste Mal an deinen Gedanken teilhaben lässt«, murrte Orgrim. Er kam sich ein wenig einfältig vor, weil der Kobold diesen Einfall schon vor ihm gehabt hatte. Aber Baidan war der Sohn des Herrn der Wasser von Vahan Calyd. Vermutlich hatte er seine halbe Kindheit in den Kanälen unter der Stadt verbracht. Es war naheliegend, dass er auf solche Gedanken kam, und es war wünschenswert, dass ein Anführer von sich aus Verantwortung übernahm.

»Du hast deine Sache gut gemacht«, schob Orgrim in freundlicherem Tonfall nach.

»Ich hoffe, du bist ein ebenso guter Redner wie Krieger. Du sollst den König davon überzeugen, dass wir uns von hier zurückziehen müssen!«

Verblassender Ruhm

Katander preschte zur Hügelkuppe hinauf und blickte auf das Heerlager der Trolle. Es war eindrucksvoll, das ließ sich nicht von der Hand weisen. Genauso wie die Straße, die sie bauten. Er hatte etwas andere Ansichten als die Steppenkentauren. Seine Krieger griffen keine Brücken an.

Die Straße würde vielleicht eines Tages nützlich sein. Sie führten Krieg gegen die Trolle und nicht gegen die Dinge, die sie bauten. Aber es war unabdinglich, sie hier beschäftigt zu halten. Wenn Orgrim tun könnte, was er wollte, dann würde er mit Sicherheit Uttika angreifen. Sie hatten vor fünf Monden ihre Trollstatthalter davongejagt und sich dem Aufstand der Steppenkentauren angeschlossen. Dieser verdammte Nestheus war so beliebt geworden, dass er keine andere Wahl gehabt hatte, wenn er Herrscher in Uttika bleiben wollte, dachte Katander wütend. Seine Männer wollten gegen die Trolle kämpfen wie ihre Vettern in der Steppe. Sie hatten den Verstand verloren! Die Kentauren von Uttika waren keine herumziehenden Vagabunden. Sie besaßen große Höfe und Stadthäuser. Sie waren angreifbar! Wenn die Trolle kamen, dann könnten sie nicht einfach in die Steppe ausweichen. Und sie würden kommen, das war sicher. Aber er hatte einfach keine Wahl gehabt. Die Wirtschaft seines Fürstentums war ruiniert. Die Abschaffung des Geldhandels und die Beschlagnahme aller greifbaren Edelmetalle waren ein weit härterer Schlag gewesen als die Tatsache, dass diese Dreckskerle ein paar tote Ahnen ihrer Vettern in der Steppe verspeist hatten. Aber es hörte sich natürlich besser an, deshalb in die Schlacht zu ziehen. Damit war es eine Sache der Ehre und nicht die Fortführung eines Wirtschaftskriegs mit militärischen Mitteln.

»Herr, sie haben uns entdeckt«, warnte ihn sein Schildträger.

»Ja, ja!« Er sah selbst, wie die schweren Torsionsgeschütze einiger Steppenschiffe auf ihren Hügel ausgerichtet wurden. Diese Wagenfestung war wirklich das mit Abstand Eindrucksvollste, was er je gesehen hatte. Er würde gerne wissen, ob sie mit ihren herunterklappbaren Kufen tatsächlich auch als Lasteissegler zu verwenden waren.

Die Brustwehren mehrerer Wagen wurden umgelegt. Katander biss die Zähne zusammen. Er würde nicht davonlaufen wie ein geprügeltes Hündchen.

»Herr, bitte!« Sein Schildträger duckte sich, was bei einem Kentauren überaus lächerlich aussah und fast gar nichts nutzte. Ihre Anatomie ließ es einfach nicht zu, in die Hocke zu gehen oder ihren Leib weit vorzubeugen.

Eine Steinkugel zog über sie hinweg. Sie machte im Flug ein Geräusch wie ein wuchtiger Keulenhieb. »Steh gerade, Junge! Wenn eine Kugel oder ein Pfeil für dich bestimmt sind, dann werden sie treffen, egal, ob du herumhampelst oder dem Feind entgegenblickst wie ein Mann.«

Sein Schildträger richtete sich auf. Er war noch sehr jung, der Bart auf seinen Wangen nur zarter, blonder Flaum. Er wurde rot wie eine Jungfer, mit der Krieger ihre derben Spaße trieben. »Herr, warum willst du dein Leben wagen?«

»Weil ich der Fürst bin. Die da unten sollen wissen ...« Eine Steinkugel schlug nur ein paar Schritt vor Katander ein. Sie riss die Grasnabe auf und rollte gemächlich auf ihn zu. Er wich ohne Eile aus, wohl wissend, welche Kraft noch immer in der Kugel steckte.

»Die da unten sollen wissen, dass wir keine Angst vor ihnen haben. Wenn sie das erkennen, dann wird die Angst zu ihnen kommen, nicht zu uns.«

Zwei weitere Kugeln durchpflügten das Gras.

»Gehen wir, Junge. Das war genug für heute.«

Katander trabte langsam den Hang hinab, jedoch nicht auf der sicheren Seite. Er hielt stattdessen genau auf das riesige Lager zu. Der Schildträger hielt sich dicht an seiner Seite.

Eine Steinkugel streifte den Haarbusch auf seinem Helmkamm. Katander zuckte leicht zusammen, während der Junge leise aufschrie. Überall um sie herum schlugen nun Kugeln ein. Sie konnten die Rufe von der Schiffsburg hören. Weitere Geschützmannschaften machten ihre Waffen bereit. Die ganze Front ihnen gegenüber war in helle Aufregung geraten. Katander war sich sicher, dass die Kobolde miteinander wetteten und ihre Anführer eine Prämie für den ausriefen, der ihn von den Hufen holte. Der Fürst schätzte, dass vielleicht fünfzig Schuss notwendig sein würden, um ihn zu treffen. Aber sicher war er sich nicht. Es war ein Glücksspiel. Und seine Stunde war noch nicht gekommen. Darauf vertraute er einfach.

Der Boden unter ihren Hufen erbebte, als mehrere Steinkugeln gleichzeitig in den Hang einschlugen. Dreck und ausgerissene Grasbüschel spritzten gegen seine Kuppe.

Aber der Junge an seiner Seite hielt sich jetzt besser. Er machte wenigstens keine jämmerlichen Versuche mehr, sich zu ducken.

Katander konnte hören, wie dem Jungen die Zähne klapperten, aber er hielt sich aufrecht. Sie passierten die sterblichen Überreste des Schildträgers, den es drei Tage zuvor auf diesem Hang erwischt hatte. Der Fürst betrachtete den entstellten Leichnam gleichmütig. Es war immer wieder erstaunlich, was Hitze und Maden in so kurzer Zeit aus einem stattlichen Krieger machten.

Er bemerkte, wie sein junger Gefährte den Atem anhielt.

»Atme ruhig durch, Junge. Das ist der Duft des Schlachtfelds, das Parfüm des Kriegers.

Besser, du gewöhnst dich frühzeitig daran. Diesen Geruch wirst du nie mehr aus der Nase bekommen, wenn du einmal mittendrin gesteckt hast.«

»Mitten in was?«

»In der Schlacht. Im Töten. Wenn du erlebst, wie sich dein bester Freund neben dir noch im Sterben die Hinterläufe bescheißt. Du wäschst dich. Du trinkst, um zu vergessen. Du lässt den Kampf hinter dir. Wochen und Monde vergehen. Aber den Geruch, den wirst du nicht mehr los. Er schleicht sich immer wieder in deine Nase. So wie die Erinnerung an das, was du gesehen hast, dich nachts aus dem Schlaf reißt. Das ist unser Preis für den Ruhm. Und nur wer einmal selbst mittendrin gewesen ist, kann ermessen, wie hoch dieser Preis ist.«

Der Hügel krümmte sich von der Schiffsburg fort. Sie zeigten dem Feind jetzt den Rücken. Das war der schwerste Teil, denn so sahen sie die Geschosse nicht mehr kommen. Katander musste sich zusammenreißen, um nicht über die Schulter zu blicken oder seinen Trab zu beschleunigen. Jedes Mal, wenn das Zischen einer Kugel so nah kam, dass er den Luftzug spürte, zogen sich seine Gedärme zusammen. Früher war er kaltblütiger gewesen. Je älter er wurde, desto vertrauter wurde ihm die Angst.

Er kämpfte gegen sie an. Mit diesen Ausritten. Er musste sich selbst beweisen, dass er noch immer der unerschrockene Krieger von einst war. Und er wollte seinen Ruf festigen. Er wusste, dass seine Männer ihn respektierten. Aber Nestheus verehrten sie.

Nestheus, dieser kleine Bastard, der es abgelehnt hatte, seine Tochter zu heiraten, und mit irgendeiner Schlampe in die weite Steppe geflohen war - der war zur lebenden Legende geworden.

Katander lächelte mürrisch. Nestheus war begabt. Er hatte sich seinen Ruhm verdient.

Er sollte nicht eifersüchtig auf den verdammten Mistkerl sein. Aber es war hart, schon zu Lebzeiten Zeuge zu werden, wie der eigene Ruhm verblasste und von den Taten eines anderen weit überstrahlt wurde.

Endlich waren sie aus der Reichweite der Torsionsgeschütze. Katander atmete auf. Für heute war es geschafft. Er hatte dem Schicksal einen weiteren Tag abgetrotzt. Er beschleunigte seine Gangart und preschte dem Lager auf der anderen Seite des Hügels entgegen.

Er fand Nestheus bei den Elfen. Sie waren nur eine kleine Gruppe, aber beim Schwafeln und Pläneschmieden waren sie immer ganz vorne dabei. Graf Fenryl hatte das Lager der Trolle nachbauen lassen. Für jeden der Wagen gab es einen kleinen Holzklotz. Die flachen Hügel, die das Feldlager einschlossen, waren mit Sandhaufen nachempfunden.

»Wie ich sehe, hat dich immer noch keine Kugel gefunden.« Nestheus hob den Blick vom Tisch. Es lag keine Verachtung in seinem Tonfall, aber eine gewisse Schärfe. So sprach ein Vater mit einem Sohn, der irgendeinen Unfug angestellt hatte.

Der Blick des jungen Kentauren war wie eine frisch geschliffene Klinge. Seine Haut war dunkel vom Leben im Wind. Feine Falten zeichneten sein Gesicht. Die Jahre der Flucht hatten ihn vor der Zeit altern lassen. Wie sein Vater hatte er das lange Haar mit einem geflochtenen Lederband zurückgebunden. Sein Fell war makellos weiß, der Leib gestählt. Auf Brust und Armen sah man feine weiße Linien. Narben aus Dutzenden von Kämpfen.

Wie immer war Kirta an seiner Seite. Sie war immer noch hübsch, das musste Katander ihr zugestehen. Aber zu mager. Man konnte ihre Rippen zählen. Daran hatte sich nichts geändert! Wie hatte Nestheus diese halbverhungerte Schimmelstute nur seiner Tochter vorziehen können! Das weißblonde Haar fiel ihr über die Schultern. Sie trug einen Köcher um die Hüften, und ein breiter, mit silbernen Amuletten geschmückter Schwertgurt lief zwischen ihren kleinen Brüsten hindurch. Eine Stute zu einem Kriegsrat einzuladen! Das war gegen jede Tradition. Aber Traditionen hatte der Bastard ja schon immer mit den Hufen getreten. Es hieß, er dichte Verse über sie. Ein dichtender Kriegsherr!

»Gibt es etwas Neues von ihnen, Fürst?« Ihre Stimme klang angenehm. Sie fragte höflich. Sie war immer freundlich zu ihm, obwohl er einst Kopfgeldjäger hinter ihr her-geschickt hatte. Und sie wusste das!

»Orgrim steht auf dem einzigen großen Wagen im äußeren Wall und glotzt sich die Augen aus dem Kopf. Er beobachtet die Hügel. Nicht mehr lange, und er wird einen Ausfall befehlen. Trolle sind nicht dazu geschaffen, auf ihren fetten Hintern zu sitzen und einfach abzuwarten.«

»Er ist zu klug, um aus dem Lager herauszukommen«, widersprach Nestheus. »Er weiß, dass es für ihn hier draußen zwischen den Hügeln nichts zu gewinnen gibt. Wir sind zu schnell. Wir bestimmen, wann und an welchem Ort gekämpft wird. Er wird warten.«

»Aber nicht mehr lange«, wandte der Elfenfürst Fenryl ein. Er trug selbst jetzt, im Spätsommer, ein weißes Wams, was ihn im trockenen, goldbraunen Gras zu einem unübersehbaren Ziel im Kampf machte. Als Veteran der Schlacht um Phylangan hatte er sich einen Ruf für seine Tapferkeit erworben. Leider hatte er so gut wie gar keine Truppen mitgebracht, als er sich den Kentauren angeschlossen hatte. In Katanders Augen sollten hier Befehlshaber stehen, die auch Truppen hinter sich hatten und die nicht lediglich Gäste in einem fremden Krieg waren.

»Warum, glaubst du, wird er gehen?«, fragte ihn der Fürst von Uttika herablassend.

»Gehörst du zu der seltenen Sorte von Elfen, die wie Trolle denken?«

Fenryl reagierte auf den Spott, indem er lediglich eine einzelne Braue hob, und das auf eine so selbstgefällige und verachtende Art, wie es nur Elfen konnten. »Ich würde eher sagen, dass Orgrim zu den wenigen Trollen gehört, die wie Elfen denken können. Er braucht seine Fähigkeiten als Feldherr nicht mehr zu beweisen. Er weiß, dass er hier nicht siegen kann. Deshalb wird er sich zurückziehen, es sei denn ... « Der Elf sah ihn an, als erwarte er, dass er nun den Satz vollendete.

»Was?«, schnaubte Katander gereizt.

»Es sei denn, wir überzeugen ihn von unserer Dummheit. Was würdest du denn für eine Strategie vorschlagen, Fürst von Uttika?« Fenryl lächelte ihn an, aber er hätte ihm genauso gut ins Gesicht spucken können, so frech war dieses Grinsen.

»Willst du unterstellen, ich sei dumm?«

»Habe ich das gesagt?«, fragte Fenryl mit aufreizender Gelassenheit.

»Ruhig. Wir schlagen unsere Schlachten hinter dem Hügel dort, nicht hier«, unterbrach Nestheus sie beide. »Ein Elf, der feige auf einem Hügel steht, während an dere kämpfen, kann mich nicht beleidigen«, sagte Katander und hoffte, der kleine Aufschneider würde sich dazu verleiten lassen, beim nächsten Kampf seinen Mut zu zeigen. »Ich finde, wir sollten noch einmal versuchen, eine Bresche in die Wagenburg zu schlagen.«

»Und wie, Fürst? Glaubst du, du könntest mit deinem mächtigen Strahl einen der Wagen umpinkeln?«

Ruhig bleiben, ermahnte sich der Uttiker stumm. Der wartet nur darauf, dass du ihn anschreist. »An etwas Ähnliches hatte ich tatsächlich gedacht. Ich glaube, die Wagen sind sehr kopflastig. Wenn mein Strahl sie nur weit genug oben trifft, dann werden sie stürzen. Ich habe folgenden Plan ... «

Eine bessere Welt

»Würdest du bitte weitergehen, Bruder? Man weiß nie, wer als Nächstes durch den Albenstern tritt.«

Baidan folgte dem Befehl, doch trat er nur wenige Schritte zur Seite, um sich erneut staunend umzusehen. So oft hatte er von Emerelles Thronsaal gehört. Doch er war ganz anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Ein Vorhang fallenden Wassers verbarg die Wände. Es gab keine Decke, und er konnte sehen, wie sich hoch über den Türmen der Burg dunkle Gewitterwolken ballten, die die Hitze des Spätsommertages bald in einem Sturzregen ertränken würden.

Der Lichtbogen des magischen Tors erzitterte. Farben wirbelten durcheinander. Die Schlangen des großen Bodenmosaiks schienen sich zu bewegen. Aber in dem überfüllten Saal nahm niemand Notiz davon.

Ein bocksbeiniger Faun erschien unter dem Lichtbogen und zog ein verängstigtes Maultier hinter sich her. Eine ganze Karawane, eskortiert von bis an die Zähne bewaffneten Minotauren, folgte ihm und wanderte durch das hohe Portal des Thronsaals in eine weite Halle, die sich anschloss.

Eine Gruppe von vier Lutin wachte über das Tor. Wieder tanzten die Schlangen des Mosaiks, und erneut änderte sich das Farbspiel des Lichtbogens. Es herrschte ein Kommen und Gehen wie auf einem Markt! Der Thron Albenmarks war verwaist. Das prächtige Fell eines Schneelöwen lag darauf ausgebreitet. Auf den Stufen zum Thron hockte ein Trupp Trolle, die ein Lagerfeuer entzündet hatten, über dem sie irgendein großes, vierbeiniges Tier brieten.

Hunderte Stimmen redeten durcheinander. Alle Sprachen Albenmarks schienen hier versammelt zu sein und zumindest die Hälfte aller Völker.

Ein Schwärm Blütenfeen flatterte an ihm vorüber. Auf dem Mauerkranz des Thronsaals kauerten ein Gargoyle und eine Harpyie, in ein Gespräch vertieft.

»Kann ich dir helfen? Bist du zum ersten Mal hier, Bruder?« Einer der Lutin, die über den Albenstern wachten, war an seine Seite getreten.

Baidan nickte verlegen. »Ja. Ich bin ein Gesandter des Herzogs Orgrim und ersuche in dringender Angelegenheit um eine Audienz beim Kronrat.«

»Natürlich ist es dringend«, sagte der Lutin müde. »Das ist es immer. Und immer sind es Herzöge, Könige oder andere bedeutende Würdenträger, die Boten schicken. Du gehörst zur Snaiwamark-Karawane?«

»Willst du einen Befehl des Herzogs infrage stellen?« Baidan war entsetzt darüber, behandelt zu werden, als sei er irgendein dahergelaufener Bittsteller.

»Das Einzige, was ich mich frage, ist: Warum kommt Orgrim nicht selbst, wenn die Angelegenheit von solcher Bedeutung ist?«

»Weil ein Feldherr mitten in der Schlacht seine Truppen nicht verlässt! Und nun bring mich zum Thronrat, oder die Sache wird ein Nachspiel für dich haben, Bruder!«

Der Lutin leckte sich über die Lippen. »Ich bin am Albenstern leider unabkömmlich.

Das ist ein direkter Befehl Skangas. Es sollen immer mindestens vier Lutin im Thronsaal sein.« Er deutete auf die hohe Pforte. »Geh dort entlang bis zum Drachenbrunnen. Da findest du den Hauptmann der Wache. Er wird einen Boten abstellen, der dich zum Kronrat im Südflügel der Burg bringt.« Der Lutin verneigte sich knapp und zog sich zurück, während der Albenstern eine Herde Rinder ausspie, die von verwegen aussehenden Kobolden geritten wurden, die ihre Reittiere laut schreiend in den angrenzenden Saal trieben.

Baidan folgte den Rindviechern und wich den Kuhfladen auf dem zerschlagenen Mosaikboden aus. Die Halle, die sich an den Thronsaal anschloss, war noch größer.

Hoch über seinem Kopf wölbte sich eine vom Ruß unzähliger Lagerfeuer geschwärzte Decke. Eines der Rinder war ausgeglitten und hatte sich ein Bein gebrochen. Ungeachtet der lautstarken Proteste eines Kobolds wurde es gleich vor Ort geschlachtet.

Ein mächtiger Brunnen beherrschte den großen Saal. Nur aus zweien seiner Fontänen tröpfelte noch Wasser, das sich in einem großen Becken sammelte, in dem allerlei Unrat lag. Die Gestalt eines turmhohen Sonnendrachen beherrschte die Figurengruppe des Brunnens. Er holte zu einem tödlichen Prankenhieb aus, während ein Elfenritter eine andere Elfe zur Seite stieß, um an ihrer Stelle zu sterben. Das Bildnis der geretteten Elfe war enthauptet. Der Kopf fehlte. Vielleicht lag er irgendwo am Brunnengrund.

Vom Hals des Sonnendrachen hing an einem Strick der Kadaver eines Gelgerok.

Vielleicht wollten die Trolle damit zeigen, dass auch sie Drachentöter waren, wenngleich ein Gelgerok neben einem Sonnendrachen wie eine Katze neben einem Löwen aussah.

Baidan war in der verfallenden Pracht Vahan Calyds aufgewachsen. Er mochte die Steinbilder und anderen Kunstwerke, die ganze Generationen von Künstlern im Dienst der Elfen erschaffen hatten. Für die Barbarei der Trolle hatte er nur Verachtung übrig.

Niedergeschlagen sah er sich um, bis er einen Kobold entdeckte, dessen übertrieben üppiger Helmschmuck ihn als Befehlshaber der Wache auswies.

Kurz dachte Baidan daran, einfach nach seinem Vater zu fragen. Anderan, der Herr der Wasser, gehörte dem ständigen Rat an, dem Elija Glops vorstand. Der innere Zirkel um den Lutin nannte seinen Vater auch Kommandant Wasserbringer. Sie alle erfanden so eigentümliche Namen für sich.

Baidan ging zu dem Helmträger. »Herzog Orgrim schickt mich mit einer dringenden Nachricht für den König! Es geht um Leben und Tod von Tausenden Kobolden!« Das hätte er vorhin schon sagen sollen. Dieser kleine Zusatz zeigte große Wirkung. Der Befehlshaber der Wache führte ihn persönlich zum Kronrat. Vorbei an den langen Reihen der Wartenden, die ihn verfluchten, weil er sich nicht wie sie geduldete, bis er aufgerufen wurde.

Auf einen Wink des Kobolds wurde die Tür zum Versammlungssaal des Thronrats aufgerissen. Der Raum war kleiner als der Thronsaal. Auch er hatte sichtlich unter der jahrelangen Nutzung durch Trolle gelitten. Alle Möbel waren entfernt worden. Die Mitglieder des Rates saßen auf Kissen oder Fellen entlang der Wände. Selbst König Gilmarak!

Inmitten des Saals stand ein Elf, der offenbar ein Anliegen vorgetragen hatte. Er wandte sich zur Tür. Nur im Funkeln seiner Augen mochte man Ärger ablesen. Ansonsten hatte er sich vollkommen in der Gewalt.

»Mein König, Nachrichten von der Snaiwamark-Karawane!«

Gilmarak erhob sich und entließ den Elfen. »Wir wer den über eine Entschädigung für das Gold, das aus deinem Wohnsitz entfernt wurde, morgen weiter beraten, doch mache ich dich darauf aufmerksam, dass laut Zusatz sieben zu den allumfassenden Grundgesetzen jegliches Gold Albenmarks allein dem König gehört.«

»Man könnte dich auch des Diebstahls am König anklagen, da du das Gold nicht freiwillig abgegeben hast«, fügte ein Lutin mit leicht ergrauter Schnauze und einer randlosen Brille hinzu. Baidan vermutete, dass es sich bei ihm um Elija Glops handelte.

Der junge Kobold sah sich weiter um. Die Mehrheit der Anwesenden entstammte den verschiedensten Koboldvölkern. Er entdeckte auch seinen Vater. Der blieb sitzen. Diese Unhöflichkeit verunsicherte Baidan.

»Nun, junger Freund, was für Nachrichten hast du uns zu überbringen?«, fragte der König. Baidan wusste, wie viel Gilmarak an den Steppenschiffen und der Karawane gelegen war. Und er würde sich hüten, ehrlich zu sagen, was er davon hielt.

Der Elf wurde von zwei Trollwachen durch die Tür geschoben.

»Der König hat das Wort an dich gewandt!«, blaffte ihn Elija Glops an. »Antworte!«

Baidan legte die Gedanken Orgrims dar, vermied aber sorgfältig, das Wort Rückzug zu gebrauchen. Als er seinen Bericht beendet hatte, wagte er es nicht, zum König aufzusehen.

»Orgrim möchte also davonlaufen.« Das war die Stimme Elija Glops’.

Auch ihn wagte Baidan nicht anzusehen. »Orgrim sprach von einem taktischen Rückzug, um sich an günstigerer Stelle neu zu formieren. Nicht von Flucht!«

»Glaubst du, ich kenne die Phrasen von euch Kriegshelden nicht? Was du da sagst, bedeutet nichts anderes, als dass Orgrim fliehen will. Ich verstehe sehr gut, dass er nicht abkömmlich ist, um diese Nachricht selbst zu über bringen! Und sieh mich gefälligst an, wenn du mit mir sprichst!«

Baidan gehorchte. Sein Vater hatte ihm einiges über Elija erzählt. Er wusste, dass man sich seiner nie wirklich sicher sein konnte. Seine Höflichkeit mochte ebenso gespielt sein wie sein harscher Auftritt jetzt. Vor Trollen zeigte er stets eine Maske. Sie sollten nie im Zweifel sein, dass Kobolde fügsame Diener waren. Heimlich aber übte Elija mehr Macht aus als selbst König Gilmarak.

»Es war hilfreich, wenn wir Reiter hätten«, sagte Baidan sachlich. »Im Augenblick bestimmen allein die Kentauren, wann und wo gekämpft wird. Wenn wir uns vom Albenstern entfernen, werden sie den Nachschub blockieren. Daran besteht kein Zweifel.«

»Aber umgekehrt können sie auch nicht die Schiffsburg erstürmen«, wandte der Trollkönig ein. »Unsere Stellung ist für sie uneinnehmbar, und sie werden sich in sinnlosen Angriffen aufreiben.«

»Nur befürchtet Orgrim, dass ein verborgener Sinn hinter dem steckt, was sie tun.

Wenn wir dort bleiben, sind wir in die Rolle des Verteidigers gezwungen, und wer nur das zu tun vermag, was der Feind ihm diktiert, der wird auf Dauer verlieren. Eine Entscheidung drängt!«

»Wir werden über die Lage beraten«, sagte Gilmarak schroff, und Baidan wurde bewusst, dass es nicht klug war, einem König gegenüber ein Wort wie drängt in den Mund zu nehmen.

»Du kannst gehen, Bruder.« Elija entließ ihn mit einer großspurigen Geste.

Baidan war erleichtert, als sich die Türen des Ratssaals hinter ihm schlossen.

Aufatmend trat er auf den Flur hinaus und stellten sich den missgünstigen Blicken all der anderen, deren Anliegen seinetwegen übergangen worden waren.

Ein wenig steif ging er zurück zum Brunnensaal und von dort weiter auf einen der Höfe. Er brauchte frische Luft! Obwohl die Hallen des Palastes hoch waren, erschienen sie ihm stickig. Zu viele Albenkinder waren dort versammelt!

Endlich fand er auf einen Balkon. Doch was er vor der Burg sah, steigerte nur sein Gefühl der Beklemmung. Er hatte das Heerlager in der Wagenburg immer für groß gehalten. Doch es war nichts im Vergleich zum Lager vor den Mauern von Burg Elfenlicht. Es erstreckte sich fast bis zum Horizont. Tausende und Abertausende Zelte und Baracken umstellten die Mauern. Es machte den Anschein, als werde die Burg belagert. Nirgends sah man mehr grüne Wiesen. Die Pfade zwischen den Zelten waren Schlammbahnen. Kein Baum oder Busch war weit und breit zu sehen. Dafür erhob sich der Rauch unzähliger Lagerfeuer. Viehherden waren in Pferche gesperrt, dazu Pferde und alle erdenklichen Reittiere der Bittsteller und Gesandten. Im Westen waren Baukräne und Gerüste zu erkennen. Dort wurden weitere Steppenschiffe gezimmert.

»Wer hätte gedacht, dass dieses Gemäuer ausgerechnet unter der Herrschaft von Trollen zum lebendigen Herzen Albenmarks werden würde.«

Es tat gut, diese Stimme zu hören. »Vater.«

Anderan legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Dein Auftritt gerade hat mir noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt, warum du Krieger geworden bist und nicht Diplomat.« Er lachte leise. »Man sagt einem König nicht, dass die Zeit drängt.«

Baidan drehte sich um. »Muss ich mir Sorgen machen?«

»Die Frage kommt reichlich spät.« Sein Vater lächelte. »Das musst du nicht. Elija hat den Wunsch nach einem Rückzug ausdrücklich unterstützt. Allerdings tut er es allein aus machtpolitischem Kalkül, fürchte ich. Wenn Orgrim abziehen muss, dann wird das seinem Namen schaden. Und indirekt wird es auch König Gilmarak schaden.«

Baidan sah seinen Vater verwundert an. »Warum sollte er sich das wünschen? Er ist durch die Trolle an die Macht gekommen.«

»Er glaubt, dass wir Kobolde auch ohne Trolle herrschen könnten. Er träumt vom Thron.« »Und du, Vater?«

»Ich muss gestehen, dass ich manche seiner Ideen bestechend finde. Er ist ein unglaublicher Denker. Er hat Visionen. Auf gewisse Weise ist Gilmarak sein Geschöpf, auch wenn der Troll gelegentlich dazu neigt, die Ideen Elijas zu weit zu treiben.«

Anderan deutete hinab zur Zeltstadt. »Das ist sein Werk!«

»Und du heißt das da unten gut?«

»Ich heiße es gut, wenn das Volk sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt. Zu Emerelles Zeiten haben diese Mauern nur selten Gäste gesehen, die keine Elfen waren.

Gilmarak und Elija greifen nach ganz Albenmark. Man mag über den Gesetzeskodex der Trolle denken, was man will, aber er ist in alle Himmelsrichtungen getragen worden. Es gibt kaum eine Siedlung nennenswerter Größe, in der dem neuen Gesetz nicht Geltung verschafft wurde. Und die Kinder Albenmarks haben verstanden, dass sie hierherkommen können. Sie werden hier angehört. Sie haben einen Herrscher, der ein offenes Ohr für ihre Sorgen hat. Und wenn sie nicht zu ihm selbst gelangen, so kommen sie doch zumindest vor einen von ihm einberufenen Rat. Hast du eine Vorstellung, wie tiefgreifend die Abschaffung des Geldhandels und die Aufhebung aller alten Schulden diese Welt verändert haben? Das einfache Volk ist nun frei. Werte werden wieder durch Arbeit erschaffen. Niemand lebt mehr in Schuldknechtschaft von Wucherern, die allein ihre blutsaugerischen Zinsen fett gemacht haben. Geld gebiert nicht mehr neues Geld. Niemand kommt auf die Idee, dass er, wenn er eine Kuh verleiht, ein Jahr später ein Mammut zurückverlangen könnte. Albenmark ist gerechter geworden.«

»Besonders wenn man ein Troll ist!«

Sein Vater nickte. »Das lässt sich nicht leugnen. Doch die Veränderungen sind noch nicht abgeschlossen. Ich wünschte, du könntest dabei sein, wenn Elija von der Welt spricht, die er erschaffen möchte. Es ist eine Welt, wie die Alben sie sich gewünscht hätten. Gerecht und friedlich. Doch dahin ist es noch ein weiter Weg. Zunächst gilt es, sicherzustellen, dass wir nie wieder in die Tyrannei der selbstherrlichen Elfen zurückfallen.«

Baidan blickte auf das heillose Durcheinander der Zeltstadt. »Ist das die Ordnung der Welt, von der du träumst?«

»Wir befinden uns im Übergang, Junge. Da kann es keine Ordnung geben, weil alles sich ändert. Und denk einmal darüber nach, wie viel Ordnung die Freiheit verträgt.«

Baidan schüttelte den Kopf. »Ich komme von einem Ort, an dem es den Tod bedeutet, wenn ich mich hundert Schritte von der schützenden Schiffsburg entferne. Die Steppe steht in Flammen, Vater. Das kann doch nicht die Welt sein, von der du träumst. Dort tobt ein mörderischer Krieg. Emerelles Herrschaft hat Frieden gebracht.«

»Einen Friedhofsfrieden, Junge. Es war die Ruhe der Gräber, die herrschte. Wir haben hier in der Burg Beweise dafür gefunden, dass sie mehre Meuchler gedungen hat, um Freidenker ermorden zu lassen. Und das waren keine Einzelfälle.«

»Im Windland wird auch nicht vereinzelt gestorben. Wenn der Wind aus der falschen Richtung bläst, vermag man in der Schiffsburg kaum noch zu atmen, so viele faulende Kadaver liegen dort im Gras.«

»Das ist die Unruhe des Übergangs in eine freiere Welt. Jedes Opfer, das wir heute bringen, wird in Zukunft Hunderte Leben retten.«

Baidan dachte an die schreckliche Hungersnot, die auf die Abschaffung des Geldhandels gefolgt war. An die gestürmten Getreidespeicher. An die langen Flüchtlingskolonnen all jener, die ihre Städte verlassen hatten, weil diese sie nicht mehr zu ernähren vermochten. Er musste eingestehen, dass dieser Schrecken Vergangenheit war. Viele neue Dörfer waren entstanden. Und weil aller alte Besitz aufgelöst worden war, besaß niemand mehr Land, als er durch eigene Arbeit bewirtschaften konnte.

Baidan hatte die Elfen nie gehasst, und doch hatte er große Genugtuung empfunden, als er zum ersten Mal einen Elfen an einem Pflug hatte stehen sehen. Manchmal jedoch hatte er auch das Gefühl, dass die Welt an Schönheit verloren hatte. Er dachte an die verwüstete Burg, die immer mehr einer Trollhöhle ähnelte. Und er fragte sich, welch blühende Parklandschaft sich wohl einst dort erstreckt hatte, wo sich nun das gewaltige Zeltlager befand. Hatten sie ihre Welt besser gemacht? Er wusste es nicht.

Und er war froh, dass er nur ein Krieger war und nicht einer von jenen, die mit den besten Absichten die Welt veränderten und dabei Ströme von Blut vergossen. Ihre einzige Legitimation war dabei die Hoffnung auf eine Zukunft, die niemand kannte.

Sosehr sein Vater auch eine goldene Zukunft heraufbeschwor - nein, er sollte lieber sagen: eine bessere Zukunft, denn Gold war ja nichts mehr wert und wurde von Gilmarak eingezogen -, Baidan wusste, wie viele der einfachen Handwerker und Bauern der Herrschaft Emerelles nachtrauerten. Und wie sollte man es ihnen verübeln?

Sie wussten nichts von den Visionen seines Vaters oder Elija Glops’. Sie hatten nur tief zu spüren bekommen, was es hieß, in einer Welt zu leben, in der altes Recht nichts mehr galt und in der ein neues Recht noch nicht tief verwurzelt war.

»Woran denkst du, Junge?«

»An die Schiffsburg«, antwortete er nach kurzem Zögern. Er wusste, dass sein Vater seine Gedanken nicht billigen würde.

Anderan lächelte. »Du bist ein schlechter Lügner. Gut, dass du ein Krieger geworden bist.«

Horner und Kesselpauken

Orgrim beobachtete, wie sich im letzten Tageslicht die Kentauren formierten.

Tausende. Überall rings auf den Hügelkuppen. Gerade außerhalb der Reichweite der Torsionsgeschütze. Sie bliesen Hörner und schlugen mächtige Kesselpauken. Der infernalische Lärm übertönte die Geräusche des Lagers. Nur das Fauchen einer unruhigen Hornschildechse, die mit ihren Schwanzschlägen das Erdreich aufwühlte, war noch lauter.

Orgrim drehte sich um und blickte über den weiten Kreis des Lagers. Er spürte die Anspannung der Arbeiter und Viehtreiber, Steinmetzen, Köche, Schuhmacher und Huren. Aber sie hielten sich ganz gut. Es war nicht der erste Angriff der Kentauren, und nie hatten sie den schützenden Wall der Steppenschiffe durchbrochen. Allerdings schlugen ihre Pfeile ins Lager, wenn sie dicht genug herankamen. Die Kentauren schössen steil in den Himmel, und ihre Geschosse schlugen ungezielt auf. Die Heerschar der Arbeiter aber war so dicht gedrängt, dass jeder siebte Pfeil ein Ziel fand.

Baidan hatte das errechnet. Der Kobold kam auf seltsame Ideen. Für ihn war Krieg nicht der Kampf Mann gegen Mann. Es war ein Krieg der Zahlen. Orgrim wusste, dass Mut oder Feigheit Zahlen bedeutungslos machen konnten. Dennoch kamen sie beide fast immer zu denselben Schlussfolgerungen. Und dass Baidan aus eigenem Antrieb den Boden des Lagerplatzes hatte prüfen lassen, um sicher zu sein, dass sie nicht in einem trockenem Flussbett standen, hatte dem Troll gut gefallen. Er würde Baidan an seiner Seite behalten!

»Schießt doch endlich ein paar von diesen Pferdeärschen die Köpfe weg!«, fuhr Zargub den Kobold an, der die beiden schweren Torsionsgeschütze auf dem Gefechtsdeck des Steppenschiffs befehligte.

»Sie sind zu weit entfernt. Sie kennen unsere Reichweiten inzwischen genau. Das wären vergeudete Schüsse.«

»Unruhig?« Orgrim wusste inzwischen, dass Zargub kein Troll für eine Belagerung war. Er war ein tollkühner Angreifer, aber das hier ging gegen sein Naturell. Leider konnte er den Rudelführer nicht einfach austauschen, ohne dass dieser sein Gesicht verloren hätte.

»Unruhig?« Zargub lachte auf. »Den Tag, an dem dieses stinkende Steppengeschmeiß mich unruhig macht, wirst du nicht erleben. Ich möchte nur einfach raus und den verdammten Gäulen die Beine brechen.«

Orgrim kratzte sich am linken Arm. Mittags hatte ihn bei einem Scharmützel ein Pfeil getroffen. Einer von diesen verdammten Kriegspfeilen, bei denen die eiserne Spitze nur aufgesteckt war, so dass sie mit ihren Widerhaken im Fleisch hängen blieb, wenn man am Schaft zog. Er hätte sich den Arm aufschneiden lassen müssen, um die Spitze herauszuholen. Das Eisen brannte in seinem Fleisch. Immer wieder kratzte er an der Wunde. Wenn er zu sehr darauf drückte, konnte er spüren, wie sich das Metall bewegte. Wenn sie endlich Ruhe gaben, würde er sich selbst den Arm aufschneiden und dieses verfluchte Stück Metall herausholen.

Die Sonne war hinter den Hügeln versunken. Die Schatten der Nacht eroberten von Osten her den Himmel. Bald würden die Umrisse der Kentauren auf den Hügeln mit der Dunkelheit eins. Den ganzen Tag über hatte es immer wieder kleinere Gefechte gegeben. Ob es in der Nacht so weitergehen würde?

Orgrim blickte auf sein Lager. Schon jetzt waren dort Hunderte Feuer entfacht. Das Licht des magischen Tors im inneren Wagenkreis erstrahlte hell. Die Verteidiger auf den Wagen wären gut zu sehen und leichte Ziele für die Kentauren. Er sollte Befehl geben, das Tor am Albenstern zu schließen. Zumindest das. Es wäre klug, auch alle Lagerfeuer löschen zu lassen. Aber das würde jeden im La ger beunruhigen. Sollten sie an ihren Feuern sitzen und sich ein Essen köcheln, dann dachten sie weniger über die Kentauren nach.

Bisher hatten die Kentauren noch keinen großen Nachtangriff gewagt. Noch immer lärmten die Hörner und Kesselpauken. Die dumpfen Schläge der großen Trommeln schienen ihm in den Bauch zu fahren.

Heute Mittag hatte Orgrim beobachtet, wie sie einige ihrer Toten zur Seite schafften.

Sie hatten sie nicht mitgenommen, sondern die Kadaver nur um zwanzig oder dreißig Schritt bewegt, als wollten sie Platz für etwas machen. Wieder kratzte er an seiner Wunde.

»Unruhig?«, fragte Zargub spöttisch.

Natürlich, dachte Orgrim. Er wäre ein Narr, wenn er nicht beunruhigt wäre. Es gab etwas, das die Kentauren völlig siegessicher machte. Etwas, das sie dazu veranlasste, diese Belagerung aufrechtzuerhalten, obwohl es für sie unmöglich war, in die Schiffsburg einzudringen. Und solange er nicht wusste, was das war, würde er unruhig bleiben. Hoffentlich hatte Baidan bei Hof Erfolg, und sie erhielten die Erlaubnis, sich zurückzuziehen!

Hebelgesetze

Katander stand vor dem vordersten der vier großen Zelte, in denen in den vergangenen Tagen so hart gearbeitet worden war. Nestheus war von seinem Plan nicht überzeugt gewesen. Er verfolgte seine eigenen Ziele. Aber Katander wusste, dass diese Nacht die Wende bringen konnte. Sie mussten die verdammte Schiffsburg aufbrechen! Wenn sie erst einmal Mann gegen Mann mit den Trollen kämpften, konnten sie siegen. Seine Uttiker waren größer und stärker als die Steppenkentauren.

Sie fürchteten sich nicht davor, die Trolle hart anzugehen, wo ihre Vettern am liebsten nur Pfeile verschossen und dann davon preschten. So konnte man keine Schlacht gewinnen!

Wenigstens hatte ihm Nestheus freie Hand für diesen Angriff gelassen.

Die Zeltplane wurde zurückgeschlagen. Ein Karren mit großen Rädern rollte heraus.

Es waren die Räder eines aufgegebenen Steppenschiffs, das ein paar Meilen entfernt neben der neuen Straße gelegen hatte. Katander hatte sich das Wrack lange angesehen und mit seinen Baumeistern beraten. Er wusste, wo die Schwäche der riesigen Karren lag.

Seine beiden Wagen bestanden nur aus Rädern, Achsen und einem Gerüst wuchtiger Balken, stark genug, das zu tragen, was auf sie aufgesetzt wurde.

Hieron, der oberste Baumeister Uttikas begutachtete die beiden Wagen. Er war ein großer Rappe mit breiten Schultern und wuchtigem Nacken. Mit seinem mächtigen, schwarzen Bart und dem langen Haar, das durch ein rotes Stirnband gehalten wurde, glich er mehr einem Krieger als einem Gelehrten. Der Mathematiker hatte bereits einen Brustpanzer angelegt, und es bestand kein Zweifel, dass er mit ihnen in die Schlacht reiten würde.

Katander mochte den störrischen Mann, der ansonsten nicht sehr beliebt war. Hieron nahm kein Blatt vor den Mund. Er nannte Probleme beim Namen, und im Gegensatz zu den übrigen Gelehrten, die sich gerne in stundenlangen, ermüdenden Disputen ergingen, war er ein Mann der Praxis.

»Werden wir siegen?«

»Sehe ich aus wie ein Orakel?«, entgegnete der Mathematiker mürrisch.

»Nein«, entgegnete Katander gut gelaunt. »Deshalb bedeutet mir deine Antwort ja auch so viel.«

Hieron würdigte ihn keines Blickes. Er beobachtete, wie die beiden verbliebenen Zelte abgebaut wurden und man vier Flaschenzüge aufstellte.

»Unsere beiden Wagen geben verflucht große Ziele ab. Wenn die Kobolde an den Geschützen auch nur einen Furz wert sind, dann haben wir verloren.«

»Es ist Nacht. Sie werden uns erst sehen, wenn es zu spät ist. Und Nestheus wird sie mit seinen Kriegern ablenken. Die werden so viele Pfeile abfeuern, dass kein Kobold es wagt, den Kopf über die Zinnen zu erheben.«

»Dann bleibt immer noch die Gefahr des Weges.«

»Keine Sorge, mein Freund. Ich habe im Laufe des Nachmittags persönlich dreimal Spähtrupps in die Nähe von Orgrims Steppenschiff geführt. Es gibt keine verborgenen Erdrinnen oder Bodensenken. Auf meinen Befehl sind sogar die Toten zur Seite geschafft worden.«

Hieron wandte zum ersten Mal den Blick von den Wagen und sah ihn an. »Die Toten sind nicht meine Sorge. Unsere beiden Wagen sind so schwer, dass die Leichen unter den Rädern zerquetscht werden, vorausgesetzt, wir machen genug Fahrt. Was mich beunruhigt, ist, dass unsere Gefährte so kopflastig sind, dass sie leicht umstürzen können. Es sind die Hebelgesetze, die über Sieg oder Niederlage entscheiden werden. Und zunächst arbeiten sie gegen uns, das muss dir klar sein, Katander. Wenn einer der Wagen zu schlingern beginnt, dann bleibt uns nur, davonzulaufen. Wir können nicht mehr gegensteuern, wenn es so weit kommt. Schaffen wir es aber bis zur Schiffsburg, dann werden nämliche Hebelgesetze Orgrim besiegen.«

»Wir können uns den Verlust eines Karrens leisten«, bemerkte Katander lakonisch.

»Deshalb habe ich dir befohlen, zwei zu bauen. Kein Plan überlebt die Wirklichkeit der Schlacht. Aber mit zwei Karren werden wir es schaffen!«

Katander beobachtete, wie mit den Flaschenzügen die wuchtigen Aufsätze für seine Karren angehoben wurden. Sie würden fünf Schritt hoch sein, wenn sie fertig waren.

Fast so hoch wie die Steppenschiffe.

Elfenkugeln

»Brandgeschosse!«, rief Orgrim und duckte sich hinter den großen Schild, den Zargub hielt.

Einer der Kobolde eilte zu dem Mast, der sich mitten aus dem Rumpf des Steppenschiffs erhob, und zündete zwei grüne Laternen, die dann am Mast aufgezogen wurden.

Mit dumpfem Ton schlugen Pfeile in den Schild. Einige der Schützen mussten seinen Schattenriss erkannt haben. Noch nie zuvor hatten die Kentauren einen so heftigen Nachtangriff durchgeführt. Der bewölkte Himmel, der das Licht der Sterne schluckte, begünstigte ihren Angriff noch. Sie waren nur schwer auszumachen, doch das würde sich bald ändern.

»Ich mag es nicht, wenn die Kobolde mit Feuerschalen hantieren«, murrte Zargub.

Orgrim konnte ihn nur zu gut verstehen. Es hatte lange nicht geregnet, und sie saßen auf einem großen Haufen gut abgelagerten Holzes. Es war so, als säße man auf einem Scheiterhaufen und überlege sich, mit Feuer zu spielen. Aber sie mussten etwas sehen.

Die Überlegenheit ihrer zahllosen Geschütze war dahin, wenn es für die Kobolde keine Ziele gab!

Das Signal wanderte weiter. Auch auf den benachbarten Steppenschiffen waren inzwischen grüne Laternen gesetzt worden.

Trotz der Schmerzensschreie der Verwundeten im Lager und auf den benachbarten Karren konnte er das Rumoren unter sich auf dem Geschützdeck hören. Er stel te sich vor, wie die mit ölgetränkten Lappen umwickelten Tonkugeln fertig gemacht wurden.

Wie die eiserne Feuerschale auf ihrem Dreibein vom Geschützmeister mit Holzkohle gefüllt und entzündet wurde.

Ein weiterer Pfeil schlug in das dicke Holz des Schildes.

Ganz nah brüllte ein verwundeter Ochse seinen Schmerz heraus. Die beiden großen, auf Drehkränzen gelagerten Torsionsgeschütze des Gefechtsdecks schwenkten nach links. War da was? Orgrim wagte es, kurz den Kopf hinter dem Schild hervorzustrecken.

Im selben Augenblick flammte in der Feuerschale beim Mast eine Flamme auf. Fast augenblicklich prasselten Pfeile auf das Gefechtsdeck nieder. Das Licht zog sie an wie Honig die Fliegen.

Fackeln wurden in die Flammen über der Feuerschale gehalten. Zwei Kobolde liefen los, um die Fackeln zu den Geschützen zu bringen.

»Worauf schießen die, wenn sie nichts sehen?«, fragte Zargub.

»Das erste Mal auf die Hügel. Die werden immer noch dort sein, wo sie auch bei Sonnenuntergang waren. Danach werden sie sehen.« Orgrim beobachtete, wie auch hier oben eine der Tonkugeln auf die Schiene des Geschützes gelegt wurde. Die Fackel berührte sie nur sanft. Augenblicklich war die Kugel in Flammen gehüllt.

»Backbordwand eins nieder!«, rief der Geschützführer.

»Weg hier!« Orgrim zog Zargub zur Seite, während die hölzerne Schutzwand mit den Zinnen hinabkippte.

»Schießt!«

Der Geschützführer riss den Sicherungshebel des Katapults zurück. Zischend schnellte die Flammenkugel in die Nacht. In flacher Flugbahn eilte sie dem nächsten Hügel entgegen, um sein trockenes Gras in eine Flammenwand zu verwandeln.

Kaum zwei Herzschläge später wurde auch das zweite Geschütz abgefeuert.

Eine Fontäne aus Flammen stieg auf, wo die erste Kugel einschlug. Orgrim wusste nicht, was im Inneren der Tonkugeln verborgen war. Man hörte eine Flüssigkeit in ihnen schwappen, wenn man sie anhob. Die Geschosse stammten aus dem Arsenal der Kriegsflotte von Reilimee.

Elfen hatten sie erschaffen. Überall auf den Hügeln stiegen nun Flammen empor. Sie rissen die Kentauren aus der Geborgenheit der Nacht. Auch die kleineren Ballisten auf dem Geschützdeck schössen nun. Die schweren Windenarmbrüste, die fest zwischen den Zinnen montiert waren, stimmten in die Melodie des Todes ein. Das Zischen von Kugeln und Bolzen. Das metallische Klacken der Geschütze, die neu gespannt wurden.

Nie hatte er sich ausgemalt, welches Inferno seine Streitmacht entfesseln konnte. Das war kein Krieg mehr! So musste es ausgesehen haben, als die Zerbrochene Welt fiel.

Krieg, das waren Heerscharen, die aufeinander zumarschierten. Bogenschützen hatten immer schon dazu gehört. Tod aus der Ferne. Kein ehrlicher Keulenhieb. Hier sah man nicht mehr, wer wen tötete.

Auf der Ebene bewegten sich Tausende Schatten. Kentauren, aber auch berittene Bogenschützen. Pfeilspitzen blitzten golden im Licht der Flammen. Pferde scheuten vor dem Feuer. Er sah einen brennenden Kentauren, der einfach weitergaloppierte und seinen Bogen hob, um einen letzten Schuss abzugeben.

Dann plötzlich zerbarst eine der Feuerkugeln im Flug, und nur einen Augenblick später stand eines der Steppenschiffe in Flammen.

»Wechselt zu Steinkugeln!«, rief Orgrim.

Der Kobold, der die Geschütze befehligte, gab den Befehl weiter.

Eine weitere Flammenkugel zerbarst mitten in der Luft.

»Was geschieht da?«, flüsterte Zargub.

»Maurawan. Nur sie können eine Kugel im Flug treffen. Sie sind irgendwo dort draußen. Bestimmt nicht auf den Pferden. Wir werden sie nicht sehen, selbst wenn wir die ganze Steppe in Brand setzen.« Orgrim hob die Stimme. »Setzt Signal zum Wechsel auf Steingeschosse. Verschließt die Kisten mit den Brandkugeln. Schnell!«

Ein Kobold mit Fackel, der nahe bei ihm auf der erhöh ten Geschützposition stand, wurde nach hinten gerissen. Seine Fackel flog in hohem Bogen durch die Luft.

Orgrim schnappte sie im Flug und warf sie vom Geschützdeck. Über ihm an einem der beiden Ladebäume des Mastes schwebte die nächste Brandkugel für das Ach-tergeschütz.

»Runter mit den Kugeln. Sofort! Sperrt sie in die Kisten.«

Ein weiteres Steppenschiff ging in Flammen auf. Die Feuerfontäne stieg höher als der Mast empor. Brennende Gestalten sprangen vom Gefechtsdeck.

Eine blaue und eine grüne Laterne schnellten am Mast empor. Ein Kobold streute Sand auf das Gefechtsdeck, der sich sofort dunkel verfärbte. Der Geruch von gebratenem Fleisch hing in der Luft. Orgrim ertappte sich dabei, wie er sich die Lippen leckte.

»Herzog, seht dort vorne!« Der Geschützmeister, ein Kobold mit einer roten Lederkappe, deutete auf zwei Schatten, die von den Hügeln her kamen.

Orgrim konnte es nur undeutlich erkennen. Rollende Balkengerüste. Und sie kamen auf sein Steppenschiff zu.

Sturmlauf

»Schneller!« Zu schreien half gegen die Angst. Katander stemmte sich mit aller Macht gegen die hölzerne Stange. Drei Stangen ragten auf jeder Seite aus dem großen Karren.

Drei seiner Uttiker bemannten jede Stange. Er hatte nur die Kräftigsten für diese Aufgabe ausgewählt. Hieron führte das Kommando über den zweiten Wagen.

Katander hatte damit gerechnet, beschossen zu werden. Aber das hier übertraf seine schlimmsten Vorstellungen.

Überall brannte es. Der Himmel selbst schien in Flammen zu stehen. Geschosse zogen Feuerschweife hinter sich her.

Dem Krieger an seiner Seite standen Tränen in den Augen. Einem Veteranen des Steppenkrieges!

»Weiter!«, schrie er aus Leibeskräften. Achtzehn Uttiker trieben den Wagen voran.

Jedem anderen Karren hätte ihre Kraft Flügel verliehen, nicht aber diesem wuchtigen Ungeheuer. Hoch über ihren Köpfen, fest verankert in einem Gerüst aus Holzstreben, hing ein Baumstamm, der bedenklich weit über den Karren hervorstand. Wie die Faust eines Riesen sollte er das Steppenschiff Orgrims treffen. Er würde den Herzog der Nachtzinne und dessen Hochmut in den Staub stürzen. Eine wuchtige Holzscheibe mit mehr als dem doppelten Durchmesser des Stammes war vorne auf den Rammbock genagelt. Die Waffe sollte nicht die Brustwehr des Steppenschiffes zertrümmern.

Hieron hatte ihm erklärt, dass es besser war, wenn die Kraft auf eine große Fläche wirkte. Sie wollten nicht weniger als das Steppenschiff stürzen und damit eine Bresche in den schier unüberwindlichen hölzernen Festungswall schlagen.

Eine der Flammenkugeln schlug so nah ein, dass er die Hitze des Feuers schmerzhaft auf dem linken Arm spürte. Eine Schar von Kentauren eskortierte sie, um Verwundete und Gefallene zu ersetzen. Ihre Ramme durfte nicht langsamer werden. Die schweren Räder fraßen sich, obwohl sie so breit waren, tief ins Erdreich, und Katander befürchtete, dass sie die Ramme nicht mehr würden anschieben können, wenn sie erst einmal zum Halten kam.

Einige Maurawan begleiteten ihren Vorstoß. Und ganze Schwärme von Steppenreitern hatten sich auf dem Abschnitt vor Orgrims Steppenschiff versammelt, um die Wagen mit Pfeilsalven einzudecken und die Geschützbedienungen daran zu hindern, sich auf die Rammen einzuschießen.

Ein scharfer metallischer Knall ließ Katander herum fahren. In der Reihe hinter ihm ging ein Krieger zu Boden. Sein Bronzehelm war auf einer Seite eingedrückt. Blut rann dem Stürzenden aus Mund und Nase. Er wurde zur Seite gedrängt. Sofort eilte ein anderer Uttiker herbei, um den Platz an der Holzstange einzunehmen.

Ein scharfes Krachen erklang über ihm. Holzsplitter flogen durch die Luft. »Vorwärts!«

Katander entschied, den Blick nicht mehr von Orgrims Steppenschiff zu wenden.

Eine sanfte Bodenwelle brachte die Ramme ins Schwanken. Der Fürst hielt fest die Holzstange umklammert. Etwas strich kreischend über die Wangenklappe seines Helms.

Immer stärker schlingerte die Ramme. Vor ihnen lag ein Steppenkentaur mit zerschmettertem Bein. Er hob einen Arm und schrie ihnen etwas zu, was Katander nicht verstand. Sie durften nicht anhalten! Wenn sie es taten, war die Ramme verloren.

Zwei Schritt hoch waren die Räder mit dicken Eisenplatten miteinander verbunden.

Die Ramme war schwer wie ein Haus.

»Verzeih«, murmelte der Fürst. Er biss die Zähne zusammen, als er den Ruck spürte, der durch den so schlecht ausbalancierten Wagen lief.

Die kopflastige Belagerungswaffe schwang noch etwas weiter aus. Katander stemmte sich mit all seiner Kraft gegen die Stange und wurde leicht angehoben. Schreckens-schreie hallten ihm in den Ohren. »Nicht loslassen!«, brüllte er aus Leibeskräften.

Wieder drückte die Stange des schlingernden Wagens ihn in die Höhe. Ein bisschen mehr noch als eben. »Nicht loslassen!«

Krachend traf eine Steinkugel die schweren Balken. Einem Kentauren aus der Eskorte schlug ein anderes Geschoss ein fast kopfgroßes Loch durch den Brustpanzer.

Keine zehn Pferdelängen mehr, dann war es geschafft! Noch neun.

Katander wurde wieder von den Hufen gerissen. »Nicht loslassen!« Er drückte nach unten, auch wenn diese Bemühung ohne jede Bedeutung war.

Noch sieben Pferdelängen! Gleich war es geschafft. Krachend schlugen die Räder auf seiner Seite auf den weichen Erdboden. Ein splitterndes Geräusch jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Das Rad neben ihm drehte sich nicht mehr rund. Die Achse war gebrochen! Und jetzt neigte sich der verfluchte Karren in seine Richtung.

»Lauft, Fürst!« Die beiden Kentauren neben ihm ließen die Stange los und scherten seitlich aus.

»Bleibt, ihr verdammten Feiglinge! Ich werde euch ... « Seine Worte gingen in ohrenbetäubendem Splittern und Bersten unter. Die Holzverstrebungen, die den massigen Baumstamm hielten, knickten ein wie Kornähren im Hagelschlag.

Das Rad neben ihm geriet aus der Spur. Die wirbelnden Speichen berührten ihn fast.

Erschrocken ließ Katander die Stange los. Fast augenblicklich traf ihn ein wuchtiger Hieb in den Rücken und fegte ihn von den Beinen. Stürzend wurde ihm klar, wo sein Fehler lag: Als er losgelassen hatte, während der Karren weitergerollt war, hatte ihn die Stange hinter ihm in den Rücken getroffen. Selbst seine eiserne Rückenplatte hatte den Schlag kaum abgemildert.

Er bekam keine Luft mehr, fühlte sich vom Treffer aber nicht benommen. Im Gegenteil, er nahm alles um sich herum mit größter Deutlichkeit war. Zugleich fühlte er sich unbeteiligt, als sei er nicht mitten im Geschehen, sondern ein Zuschauer, der alles aus großer Ferne betrachtete. Fühlte sich so der Tod an? Hatte die schwere Holzstange ihm das Rückgrat zerschmettert?

Ein zersplitterter Balken stieß neben ihm in die Erde wie ein Speer. Der Karren war vollends aus der Bahn geraten. Ein Rad lief schlingernd davon. Die Stangen pflügten durch die Erde und zersplitterten. Katander blickte auf und sah den Baumstamm hinabstürzen. Und er war hilflos, konnte sich nicht bewegen, nur noch schauen.

Der Sturz

»Schießt!«, schrie der Geschützmeister. Eine der beiden Rammen hatten die Geschütze vernichtet, doch die zweite war nur noch wenige Schritt entfernt. Sie würde das Steppenschiff etwa in der Mitte des Gefechtsdecks treffen.

Die Kobolde hatten vergessen, die Seitenwand herunterzuklappen. Die Geschützkugel riss eine der hölzernen Zinnen mit sich fort. Der Schuss war gut gezielt, nur ein wenig zu hoch. Er traf den Baumstamm der Ramme, riss eine helle Spur in die Rinde und verschwand in der Nacht.

»Komm!« Orgrim packte Zargub beim Arm.

Der Rudelführer blickte noch immer fassungslos auf die Ramme, als könne er nicht begreifen, warum das Schicksal ausgerechnet dieses Steppenschiff dem Untergang weihte. Für Orgrim stand das außer Frage. Es war das größte in der vordersten Linie.

Hier würde die breiteste Bresche in die Verteidigungslinie geschlagen, wenn es fiel.

»Los!« Der Herzog zerrte Zargub mit Gewalt von der Bordwand fort. Die Ramme war nur noch vier oder fünf Schritt entfernt. Unter den Kobolden auf dem Geschützdeck war bereits heillose Panik ausgebrochen. Auch sie versuchten, das Schiff zu verlassen und in den vermeintlich sicheren Lagerkreis zu gelangen.

»Spring nicht von der Breitseite!«

Zargub riss sich los. Sein Staunen war blankem Entsetzen gewichen. Er stürmte mit den Kobolden. Es blieb keine Zeit mehr, ihn zurückzuholen. Orgrim stürmte nach achtern. Da traf die Ramme das Steppenschiff. Der Schlag riss Orgrim von den Beinen.

Die hölzernen Zinnen splitterten. Eines der schweren Torsionsgeschütze wurde aus seiner Verankerung im Deck gerissen und rutschte hinter den flüchtenden Kobolden her.

Das ganze Steppenschiff lehnte sich zur Seite. Die Ko bolde auf dem Geschützdeck unter ihm kreischten in Panik. Und noch weiter unten keilten die Ochsen aus und brüllten ihre Angst heraus.

Orgrim rutschte zusammen mit Tauen, Kobolden, Kisten und steinernen Geschützkugeln über das sich immer steiler erhebende Deck. Der Troll ruderte mit den Armen und versuchte etwas zu packen bekommen, was ihm Halt gab. Doch nichts in der Welt schien mehr fest an seinem Ort zu stehen. Er schlug hart gegen den Laufgang der rückwärtigen Zinnen. Neben ihm wurde ein Kobold von einer rollenden Steinkugel zermalmt.

Der Troll drehte sich. Griff nach den Zinnen und erinnerte sich an seine eigenen Worte.

Er durfte nicht hier springen. Nicht hier!

Neben ihm warf sich der Geschützführer der Kobolde über Bord.

Orgrim trampelte über Gestürzte hinweg. Immer steiler ragte das Deck zum Himmel.

Im Inneren des Steppenschiffs hörte er Hölzer brechen. Ein Torsionsgeschütz aus dem unteren Deck schlug durch die Bordwand, verfing sich mit seinen Armen aber in dem klaffenden Loch, das es geschlagen hatte, und stürzte hinab.

Die Rah des Mastes bohrte sich in die Grasnabe. Ein Zittern durchlief das Steppenschiff. Orgrim erklomm den Wehrgang und setzte einen Fuß auf die Zinnen.

Ein Pfeil streifte seine Schulter. Der Feldherr wusste, dass die dünne Rah das gewaltige Gewicht des Steppenschiffs nicht halten konnte. Er stieß sich vom Wehrgang ab.

Im selben Augenblick zersplitterte die Rah, und der riesige Karren stürzte.

Orgrim landete hart. Ein Bein knickte um. Der Kriegshammer, den er am Gürtel trug, schlug ihm tief in die Achselhöhle. Stechender Schmerz pochte in seinem Knie.

Das gestürzte Steppenschiff lag so nah vor ihm, dass er es mit ausgestreckter Hand berühren konnte. Er hatte Glück gehabt, entkommen zu sein. Die meisten, die über die Längsseite gesprungen waren, waren dem stürzenden Koloss nicht entkommen.

Orgrim sah Zargub und wandte den Blick ab. Was für ein Ende! Fast hätte der Rudelführer es geschafft… Fast…

Das Steppenschiff war so massig, dass sich durch seinen Sturz nur rechts und links zwei schmale Lücken geöffnet hatten. Selbst querliegend stellte der massige Körper des riesigen Karren für Kentauren noch ein unüberwindliches Hindernis dar.

Orgrim zog sich hoch und versuchte vorsichtig sein linkes Bein zu belasten.

Unmöglich. Sofort stach ein Schmerz durch sein Knie, als habe ihm jemand einen Dolch ins Gelenk gestoßen.

Durch die Lücke neben ihm preschten einige Kentauren aus Uttika ins Innere der Schiffsburg. Die Handwerker und Straßenarbeiter, die durch den Sturz des Steppenschiffs ohnehin schon geschockt waren, liefen panisch davon. Aber in dem völlig überfüllten Kreis zwischen äußerer und innerer Wagenburg gab es keinen Platz zum Flüchten. Sie strauchelten übereinander oder versuchten unter die Steppenschiffe zu kriechen.

Immer mehr der in Bronze gewappneten Uttiker kamen durch die beiden Engen.

Tagelang hatten sie vergeblich gegen die waffenstarrende Schiffsburg angekämpft.

Dutzende ihrer Krieger waren durch die Steinkugeln der Torsionsgeschütze zerrissen worden. Nun kannten die Uttiker keine Gnade mehr. Sie machten jeden nieder, der ihnen vor ihre wuchtigen Doppelschwerter kam, merkwürdige Waffen, die aussahen, als habe man auf einen armlangen Griff zwei Schwertklingen gesteckt, so dass eins in jede Richtung wies. Sie vermochten diese tückischen Waffen wie Windmühlenflügel zu drehen und waren tödlich schnell im Wechselspiel von Parade und Angriff.

Orgrim zog den Kriegshammer aus seinem Gürtel. Er war hier, um die Arbeiter an der verrückten Straße des Königs zu beschützen. Und er war noch in der Lage, seinen Kriegshammer zu halten. Er würde sich nicht einfach in den Schatten ducken und darauf hoffen, dass die Bronzereiter ihn nicht entdeckten!

Er musste sich mit der Linken an der Flanke des gestützten Wagens festhalten, um sein verletztes Bein zu entlasten. Die Kobolde auf den angrenzenden Steppenschiffen reagierten auf die Eindringlinge. Sie besetzen die Windenarmbrüste, die zum Lager hin wiesen, und begannen zu schießen. Doch trafen sie nicht nur Kentauren.

Orgrim trat in die Bresche. Ohne eine Herausforderung zu rufen oder förmlich den Kampf zu erklären, ließ er seinen Kriegshammer niedersausen und zerschmetterte einen Bronzehelm. Der Trollfürst war so groß und wuchtig, dass er allein die halbe Bresche füllte.

Alarmrufe gellten durch die Reihen der Uttiker. Feige waren sie nicht. Die hochgewachsenen Kentauren wichen nicht vor ihm zurück, wie ihre Vettern aus der Steppe es getan hätten. Sie riefen ihm Schmähungen entgegen und griffen an. Die Kentauren im Innern des Wagenkreises hatten noch nicht bemerkt, dass durch eine der beiden Engstellen keine Verstärkung mehr kam.

Orgrim stand mit dem Rücken zum Steppenschiff, so dass er von dort nicht angegriffen wurde, und verwehrte den nachrückenden Feinden den Durchgang. Schon hatten einige Kobolde auf dem Steppenschiff, das ihm gegenüberstand, die größer werdende Gruppe von Kentauren als lohnendes Ziel für ihre Armbrüste entdeckt.

»Ich habe gehört, eure Steppenbrüder nennen euch auch Goldbrüstchen«, rief Orgrim den Uttikern entgegen. »Glaubt ihr, eure Rüstungen helfen gegen das hier?« Er hob drohend seinen Kriegshammer.

Ein Kentaur mit kupferrotem Bart preschte vor. Geschickt duckte er sich am schwingenden Kriegshammer vorbei, um geradewegs in einen linken Haken zu laufen.

Orgrim hatte auf den Hals den Angreifers gezielt, doch er traf nicht richtig. Seine Faust prallte gegen die spitz zulaufenden Wangenklappen des Helms. Das Metall riss ihm den Handrücken auf, aber der wuchtige Hieb holte den Kentauren von den Hufen. Noch bevor er sich wieder auf-rappeln konnte, fuhr Orgrims Kriegshammer nieder.

»Will jemand dem Kerl Gesellschaft leisten?«

Zorn und Angst hielten sich bei den Uttikern die Waage. Sie fluchten, hoben drohend die Waffen, doch es dauerte eine Weile, bis ein weiterer Krieger den Mut fand anzugreifen. Er schwang eines der tödlichen Doppelschwerter und ließ es so schnell wirbeln, dass die Bewegungen zu fließendem Silber verschmolzen. Orgrim wusste, dass er mit seiner schwerfälligen Waffe niemals einen dieser Hiebe würde parieren können. Er ließ den Kentauren kommen und hob den Kriegshammer, als wolle er jeden Moment zum Schlag ausholen. Doch dann stieß er die Waffe gerade vorwärts. Es war ein Angriff, wie man ihn eigentlich nicht mit einem Hammer führte. So konnte nicht die ganze zermalmende Kraft des Hammerkopfes eingesetzt werden. Das Doppelschwert traf auf den zähen Holzschaft der Waffe. Es gab einen mächtigen Ruck.

Die Stahlklinge prallte zurück und traf den Kentauren am Helm. Es war ein Wunder, dass ihm die Waffe nicht aus der Hand gerissen worden war.

Orgrim versetzte ihm eine wuchtige Ohrfeige mit der Linken. Seine Hand klatschte auf den Helm. Der Kopf des Kriegers wurde zur Seite gerissen.

Der Kentaur wollte tänzelnd zur Seite ausweichen, trat aber auf den Kadaver seines gefallenen Gefährten und strauchelte. Im selben Augenblick ließ Orgrim erneut den Kriegshammer niederfahren. Diesmal war es ein Hieb mit der vollen Wucht der Waffe.

»Ist das alles, was ihr zu bieten habt?«, spie er ihnen entgegen. Durch die Enge konnten ihn höchstens zwei Krieger zur gleichen Zeit angreifen. Und mit jedem Gefallenen erhob sich der Schutzwall aus Fleisch vor ihm höher. »Mehr habt ihr nicht zu ... «

Zwischen den Uttikern erschien eine Elfe. Orgrim hatte das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Ihr Gesicht war mit dem rotbraunen Saft des Dinko-Buschs bemalt. Stilisierte Wolfsköpfe schmückten ihre Wangen. Das Haar hatte sie zu einem straffen Zopf zurückgebunden. Sie sah ihn, zog in fließender Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Sehne, spannte und schoss, scheinbar ohne zu zielen.

Ein wuchtiger Schlag traf Orgrim im Oberarmgelenk. Sengender Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Seine rechte Hand öffnete sich gegen seinen Willen. Der Kriegshammer fiel ins zertretene Gras. Er versuchte den Arm zu bewegen, doch der Schmerz brannte in seinen Nerven, so dass ihm schwarz vor Augen wurde. Er konnte den Arm nicht mehr bewegen.

»Geht hin und tötet ihn«, rief die Elfe. Und die Uttiker folgten ihrem Befehl.

Der letzte Gardist

Adrien konnte Kampflärm hören, doch im dichten Wald war er sich nicht ganz sicher, aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Er ließ die Zügel locker. Sein Pferd fand immer den Weg in die Schlacht.

Der junge Ritter duckte sich unter einem tief hängenden Ast hindurch. Eine Böe fuhr rauschend durch das dichte Blätterdach von Eichen und Buchen. Der Boden war schlammig. Vor einer Stunde noch hatte es geregnet. Es regnete viel zu oft hier. Er mochte die Wälder Drusnas nicht. Sie waren zu nass. Zu dicht. Zu feindlich.

Eine Bewegung im Astwerk einer Eiche ließ ihn aufblicken. Er sah einen Fuß. Etwas weiter links schimmerte Metall durch das dichte Blätterdach. Kaum einen Herzschlag lang.

Hast du sie gesehen?

»Zwei, würde ich sagen.«

Wenn man zwei sieht, sind es mindestens drei.

Adrien lächelte. Sein Schimmel liebte es, das letzte Wort zu haben.

Wie machen wir es?

»Arglos. Das glückt immer ganz gut.«

Du verlässt dich zu sehr auf deine Rüstung, Junge.

»Ich vertraue auf Gott.«

Erzähl mir nichts! Du vertraust auf deine Rüstung und führst leichtfertig den Namen Tjureds im Munde, du scheinheiliger Tunichtgut.

Adrien kratzte sich unter der linken Achsel. So war seine Hand dicht über dem Schwertgriff, und er hoffte, dass die Männer im Baum dennoch nicht misstrauisch wurden.

Der Schimmel bewegte sich genau auf die Eiche zu. Ein gellender Todesschrei übertönte den Kampflärm. So oft hatte er solche Schreie schon gehört. Er hasste den Krieg im Wald. Hier gab es keine Ritterlichkeit, nur Heimtücke und Mord. Wenn er tatsächlich einmal einen großen Ritterorden gründen sollte, dann würde er in den Ordensregeln festschreiben, dass niemals in diesen dunklen Wäldern gekämpft werden sollte. Die Ritter würden die Grenze Fargons verteidigen und die Gläubigen beschützen. Aber in den finsteren Wäldern der Heiden hätten sie nichts verloren!

Ein bärtiger Kerl sprang vom Baum herab hinter ihm in den Sattel. Ein Zweiter und Dritter landeten unmittelbar vor ihm auf dem weichen Waldboden. Etwas traf ihn in den Rücken, vermochte die Rüstung aber nicht zu durchdringen. Er konterte mit einem Ellenbogenstoß in den Magen.

Sein Pferd stieg. Ein Huftritt verwandelte das Gesicht des Drusniers, der den Fehler gemacht hatte, die Hand nach den Zügeln auszustrecken, in eine blutige Masse.

Adrien versetzte dem Mann hinter sich noch einen zweiten Stoß, der ihn zu Boden schickte. Der Ritter ließ sich aus dem Sattel gleiten.

Noch bevor seine Füße den Boden berührten, hatte er sein Schwert gezogen.

Zwei weitere Männer sprangen vom Baum. Der Ritter stürmte vor. Er stieß den ersten von ihnen mit seinem Schild nieder, noch bevor er richtig auf den Beinen stand. Der andere schwang eine kurze Spaltaxt. Er war noch jung. Ihm spross gerade der erste Flaum auf den Wangen.

Adrien griff an. Mit der kurzen Axt war der Junge ihm hoffnungslos unterlegen.

Adrien täuschte einen Hieb auf den Kopf an. Der Drusnier riss die Waffe hoch und versuchte zu parieren. Statt die Klinge niedersausen zu lassen, ging Adrien in Kontakt und rammte den Eberknauf des Schwertes ins Gesicht des Jünglings. Dessen Nase brach. Blut schoss ihm aus den Nasenlöchern und der aufgeplatzten Lippe. Er taumelte zurück. Ein Hieb mit der flachen Seite des Schwertes traf seine Hand. Die Axt fiel zu Boden. Adrien trat die Waffe zur Seite, so dass sie im dichten Unterholz verschwand.

»Berühr nie wieder diese Axt! Lauf in die Wälder und lebe!«

Adrien wandte sich ab. Keinen Augenblick zu früh. Der bärtige Krieger, den er eben niedergestoßen hatte, war wieder auf den Beinen und griff an. Der Heide stieß einen markerschütternden Schlachtruf aus. Er führte einen Schwerthieb mit mehr Wut als Geschick. Adrien machte sich nicht die Mühe, den Schlag zu parieren. Er wich aus und ließ den Mann an sich vorbeitaumeln; dabei sah er, wie sein Schimmel einen weiteren Drusnier zu Tode trampelte. Manchmal war das Pferd ihm unheimlich!

Sein Gegner hatte sich gefangen und griff erneut an. Ein wahrer Hagel von Schlägen ging auf Adrien nieder. Der Barbar hatte dabei noch genug Atem, ihm irgendwelche wirren Beleidigungen über das Liebesleben seiner Mutter ins Gesicht zu brüllen.

»Betest du auch den Gott der blauen Priester an?«

Adrien trat einen Schritt zurück. »Warum?«

»Alle erzählen, dass der weiße Ritter diesem Tjured dient. Vergiss diesen Gott. Das ist ein Gott für Weichlinge und zahnlose alte Weiber. Kein Kriegergott. Gestern haben wir einen der blauen Priester gefangen. Nachdem wir ihm zwei Finger abgeschnitten hatten, hat er uns allen winselnd die Füße saubergeleckt. Kein Priester aus unseren To-tenhainen würde so etwas tun, und wenn man ihn noch so lange prügelt. Dein Priester hingegen hat sogar den Arsch seines Pferdes geküsst, damit wir ihn laufen lassen.«

»Was habt ihr mit ihm gemacht?«, fragte Adrien kühl.

»Dasselbe, was ich mit dir tun werde. Wir haben ihm den Schwanz abgeschnitten und ihn unseren Jagdhunden überlassen. Du hättest sehen sollen, wie …«

Adriens Klinge stieß vor. Pfeilschnell. Es war ein gerader Stoß, der dem Drusnier die Zähne zerschmetterte, bevor der Stahl durch dessen Gaumen drang.

Mit einem Ruck befreite Adrien seine Waffe.

Hinter sich hörte er platschende Schritte auf dem Waldboden. Sie waren nah! Er ließ sich auf ein Knie fallen und stieß das Schwert unter seiner linken Achsel hindurch. Er spürte einen kurzen Widerstand. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass die Klinge etwa eine Hand breit unter dem Nabel des Jungen getroffen hatte.

Er drehte die Waffe leicht und zog sie zurück. Mit einem gurgelnden Schrei fiel der Junge gegen seinen Rücken. Adrien stieß ihn fort.

Eines Tages wird deine verdammte Ritterlichkeit dich noch umbringen. Man dreht einem Feind nicht einfach den Rücken zu, wenn man Gelegenheit hatte, ihn zu töten!

»Das ist der Unterschied zwischen denen und mir.«

Nein, das ist einfach nur dumm!

»Es muss einen Unterschied geben.« Er blickte auf die Toten und Sterbenden. »Es muss einen Unterschied geben! Es darf nicht sein, dass wir alle gleich sind! Dann wäre dies hier nur Wahnsinn!«

Der Schimmel schnaubte.

Der Schlachtlärm vor ihnen im Wald hatte nachgelassen.

Du kommst zu spät.

Adrien saß auf. Das durfte nicht sein. Irgendwo dort vorne im Wald war der Mann, den alle nur den Dicken nannten. Der letzte der versetzten Stadtgardisten aus Nantour, der noch lebte. Der letzte Mann, der ihm noch sagen konnte, was aus Elodia geworden war.

Führungslos

Baidan konnte es nicht fassen. Sie hatten den Rückzug verweigert! Sie wollten stattdessen weitere Verstärkungen schicken. Sechstausend Koboldarmbrustschützen.

Sie hatten ihn kein zweites Mal vor dem Kronrat sprechen lassen.

»Du darfst das nicht persönlich nehmen«, sagte sein Vater ruhig. »Es steckt mehr dahinter, als du ahnst. Sie befürchten, wenn sie sich in der Steppe zurückziehen, dann wird das ein Signal für Unzufriedene in ganz Albenmark sein. Die Enteignung der großen Vermögen, die Abschaffung des Geldhandels und der Trollkodex haben viele mächtige Männer und Frauen zu Todfeinden des Kronrats gemacht. Wenn man eine gerechtere Welt schaffen möchte, ist es unausweichlich, in Konflikt mit den Herrschenden zu geraten. Den einfachen Bauern und Handwerkern geht es besser. Es ist eine Freude, ihr Leben aufblühen zu sehen und auch zu wissen, dass die fetten Pfeffersäcke ihre Gürtel enger schnallen müssen, weil es schwerer geworden ist, auf dem Rücken anderer reich zu werden.«

Baidan hatte das Gefühl, dass ein Fremder zu ihm sprach, so sehr hatte sein Vater sich in den letzten Jahren verändert. Er redete buchstäblich in fremden Zungen. Seine Worte hörten sich an wie eine der Streitschriften des Elija Glops. »In der Steppe wird jeden Tag für deine Ideen gestorben, Vater. Ist es das wert?«

»Wer die Welt verändern will, muss Opfer bringen ... « Die Antwort kam so schnell; Baidan spürte, dass sie wohl eingeübt war. Selbst seinem Vater schien das bewusst zu werden. Er hielt inne, wirkte betroffen. »Es tut mir leid um die Toten und die Schrecken, die du dort erlebst. Aber die Snaiwamark-Karawane ist wichtig. Ihre Fracht muss wohlbehalten in den Norden kommen! Wir müssen zehn Jahre durchhalten, dann werden sich die Verhältnisse auf eine Art geändert haben, dass sie für immer unumkehrbar sind. Jede Veränderung bedeutet Schmerzen und Aufruhr. Aber wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren. Unser Ziel ist zutiefst ehrenwert. Es rechtfertigt jedes Opfer. Unsere Gesellschaft ist wie ein Schmetterling! Eine gefräßige, zerstörerische Raupe, ein Schrecken der Bauern, das war die Gesellschaft der Elfen.

Aber bald wird die Verpuppung beendet sein. Und was der abgestreiften Haut des alten Lebens entsteigt, ist ein wunderbarer Schmetterling!«

Er steckte wohl noch zu sehr in der alten Welt, um diesen Phrasen etwas abgewinnen zu können. Er würde seine Befehle ausführen. Er hatte den Weg des Kriegers gewählt.

Was hier auf Burg Elfenlicht geschah, war ihm fremd. Er wusste nicht einmal, was sich in den schweren Frachtkisten der Karawane befand, um die so erbittert gekämpft wurde. »Bringst du mich noch zum Stern?«

Anderan nickte. »Es war gut, dich zu sehen, Sohn. Wir hatten zu wenig Zeit. Ich wünschte, ich könnte dir mehr von den Wundern der neuen Welt erzählen, die wir erschaffen. Ich spüre deine Missbilligung.« Er lächelte ihn freundlich an. »Ich bin dein Vater. Glaube nicht, dass du

deine Gefühle vor mir verbergen könntest. Du machst dasselbe verschlossene Gesicht, das du schon als kleiner Junge gemacht hast, wenn ich dir einen Ausflug zum Fischen in den Mangroven abgeschlagen habe.«

Sie gingen durch die weite Halle, die zum Thronsaal führte. Trotz allen Schmutzes, der zerrissenen Seidenbanner, der rußgeschwärzten Decke und eines Mosaikbodens, auf dem dicht an dicht Kuhfladen und anderer Unrat lagen, konnte man die einstige Pracht von Burg Elfenlicht noch immer sehen. Das war die Welt gewesen, die der Sieg der Trolle hinweggefegt hatte. Und nun ... War das ihre Zukunft? Schmutz und Unordnung! Oder war dies immer noch die Zeit des Übergangs, in der sich die neue Welt erst noch aus der Asche des Vergangenen erheben musste? Baidan schmunzelte, jetzt gebrauchte er auch schon Phrasen, die sich anhörten, als habe der große Elija Glops sie ersonnen. Oder aber sein Vater. Anderan, der Herr der Wasser, war ein bedeutender Mann geworden. Einer der engen Vertrauten Elijas.

Der Thronsaal war leerer als bei seiner Ankunft. Die Trollwachen schliefen fast alle.

Eine Koboldmutter hatte ihr Kind in das Schneelöwenfell auf dem Thronsessel gebettet und war erschöpft neben ihm eingeschlafen. Niemand störte sich daran. Baidan entschloss sich, dies als das Bild der neuen Welt, die sein Vater erschaffen wollte, im Herzen zu behalten.

Die vier Lutin, die in der Mitte des Schlangenmosaiks beieinander kauerten, wirkten müde. Ganz offensichtlich kannten sie seinen Vater. Als er auf sie zuging, erhoben sie sich und grüßten freundlich. »Mein Sohn ist Gesandter des Kronrats.« Er sagte das voller Stolz. Baidan spürte einen Kloß in seinem Hals aufsteigen. So stolz war sein Vater nicht mehr auf ihn gewesen, seit er vor vielen Jahren eine Winkerkrabbe erlegt hatte, die fast so groß wie er selbst gewesen war.

»Öffnet für ihn ein Tor zur Snaiwamark-Karawane. Er reist mit dringenden Nachrichten für den Herzog Orgrim.« Jetzt klang die Stimme seines Vaters anders. Hart. Befehlsgewohnt. Anderan war von Geburt an ein Fürst gewesen. Doch so hatte er früher nur gesprochen, wenn er zu Gericht saß. Burg Elfenlicht hatte ihn verändert.

Einer der Fuchsmänner sprach ein Wort der Macht.

Baidan sah, wie sich das Kind auf dem Schneelöwenfell unruhig im Schlaf wand. Die Schlangen des Mosaiks schienen lebendig zu werden. Eine wurde zu smaragdenem Licht und erhob sich.

Kein einziger Schläfer im Saal erwachte! Sie hatten die Magie entzaubert, dachte Baidan. Sie ins Alltägliche hinabgezerrt. Die Goldenen Pfade der Alben wurden zum Viehtrieb genutzt. Er wusste, dass ihr Lager im Windland nicht anders zu versorgen war. Und doch machte es ihn traurig. Eine Welt, die ihre Geheimnisse und Wunder verlor, war eine traurige Welt.

Sein Vater trat neben ihn und schlug ihm derb auf die Schulter. So etwas hatte er früher nie getan. »Pass auf dich auf, Junge.«

Baidan betrachtete den Mann, der sich so sehr verändert hatte. »Du auch, Vater«, sagte er leise. Dann trat er durch den Bogen aus Licht. Sofort umgab ihn Finsternis, in der allein der schmale goldene Pfad vor seinen Füßen Schutz verhieß. Er fühlte sich belauert. Ein klammes Gefühl machte sich in seinem Bauch breit.

Baidan ging mit schnellen Schritten. Dann öffnete sich vor ihm das zweite Tor. Hastig trat er hindurch - und wurde in ein Chaos aus Schreien, Hitze und Rauch geworfen.

Fast wäre er in das sich schließende Tor zurückgetaumelt. Ein Lutin mit angstweiten Augen zerrte ihn vom Albenstern fort. »Kommt Hilfe?«, schrie der Fuchsmann.

Baidan brauchte Zeit, um sich zu sammeln.

»Kommt Hilfe?«, drang der Lutin erneut auf ihn ein.

Der Horizont jenseits des äußeren Wagenkreises stand in Flammen. Einzelne Pfeile steckten im Boden. Im inneren Kreis! Das war noch nie geschehen. Die hohen Wagen des inneren Kreises verstellten ihm den Blick auf die Ereignisse, doch konnte es keinen Zweifel daran geben, dass die Kentauren es irgendwie geschafft haben mussten, die äußere Verteidigungslinie zu überwinden.

Baidan sah sich nach dem Wagen mit dem Stander des Kommandanten um. »Orgrim ist gefallen!«, rief der Lutin. »Wir sind alle verloren, hörst du! Orgrim ist tot!«

Baidan weigerte sich, das zu glauben. Er lief auf den höchsten Wagen der inneren Verteidigungslinie zu. Trupps von Trollen standen untätig herum. Sie wirkten verunsichert. Niemand gab ihnen Befehle. Konnte es stimmen, was der Lutin gesagt hatte?

Der Kobold erklomm die Sprossen an der Außenseite des Wagens und enterte das Gefechtsdeck. Was er sah, raubte ihm den Atem. Kentauren waren durch den äußeren Kreis eingebrochen. Zwei Wagen des äußeren Kreises standen in hellen Flammen.

Orgrims Steppenschiff war gestürzt.

Eine schwere Steinkugel zog dicht über Baidan hinweg. »Was geht hier vor? Wo ist der Kommandant? Wer gibt hier die Befehle?«

»Bruder ... « Ein blutbespritzter Kobold mit breiter grüner Schärpe stieg von der Geschützplattform. »Der Kreis ist durchbrochen.«

»Das sehe ich!«, fuhr Baidan ihn wütend an. »Was... « Da sah er den Troll. Neben dem Mast lag er lang hingestreckt. Sein Rumpf war eine einzige klaffende Wunde. »Wer?«

»Rustur«, sagte der Geschützmeister. »Er hatte den Befehl über den inneren Kreis.«

Baidan kannte ihn. Er war einer der Vertrauten Orgrims gewesen. Ein Krieger, der für einen Troll ungewöhnlich besonnen gewesen war.

Es krachte. Ein Treffer erschütterte das Steppenschiff. Splitter flogen über das Gefechtsdeck. Etwas schrammte über Baidans Gesicht. Im Schanzkleid klaffte ein troll-kopfgroßes, gezacktes Loch.

»Elfen. Sie haben mindestens zwei der Steppenschiffe im äußeren Ring gestürmt. Wir wissen nicht genau, welche.«

Baidan stieg auf den Wehrgang. »Warum schießen wir nicht?«

»Ein Befehl von Rustur. Dort unten sind zu viele Arbeiter ... Wir ... « Schrilles Trompeten übertönte jeglichen Kampflärm.

Erschrocken blickte Baidan nach links. Die Mammuts! Sie waren kurz davor, in Panik zu verfallen. Ihr Leitbulle warf wild den Kopf hin und her. Wenn die Mammutherde durchging, würden Hunderte sterben. Entweder rannten sie kopflos durch die Wagenburg und trampelten alles nieder, was ihnen vor die Füße geriet, oder aber sie stürzten die Steppenschiffe um. Sie wären stark genug dazu. Dann würden die Kentauren über die Arbeiter kommen.

Baidan blickte zum Steppenschiff Orgrims. Die beiden Lücken waren eng. Nur einzelne Kentauren kamen hindurch. »Wo sind Orgrim und Zargub?«

»Mit ihrem Steppenschiff gefallen.«

Baidan fluchte leise. Er musste etwas unternehmen. Die Elfen hatten es geschafft, sie zu enthaupten. Al ihre Anführer waren tot oder verschollen. »Du weißt, wer ich bin, Geschützmeister?«

»Ja …«

»Ich übernehme hiermit das Kommando. Mein erster Befehl ist, dass ihr auf die Wagen zurückschießt, die uns beschießen.«

»Aber Rustur ... «

»Rustur ist tot. Ich übernehme den Befehl, und du gehorchst mir, Bruder! Ich trage die Verantwortung. Ihr schießt, und du lässt sofort Signal setzen, dass alle Wagen im äußeren Kreis zu beschießen sind, bei denen der Verdacht besteht, dass sie von Elfen besetzt sind.«

»Dafür gibt es kein Signal.«

»Dann schickst du Boten, verdammt nochmal. Und ich rate dir, meine Befehle ernst zu nehmen. Ich gehe jetzt dort runter zu den Trollen, und wenn ich wiederkomme und weiß, dass meinen Befehlen nicht Folge geleistet wurde, dann lass ich dich an der Rah dieses Steppenschiffs aufknüpfen. Vergiss nicht, ich bin ein Vertrauter Orgrims. Ich werde deine Hinrichtung durchsetzen, und wenn ich dafür bis zum Kronrat gehen muss, in dem mein Vater sitzt. Schick jetzt Boten los. Sofort!«

Der Geschützmeister nahm die Beine in die Hand. Wieder sah Baidan auf das Durcheinander. Wann würden die Elfen die Brandkugeln in den besetzten Steppenschiffen finden? Wie lange blieben die Mammuts noch ruhig? Er musste handeln. Die Einzigen, die jetzt noch Rettung bringen konnten, waren die Hornschildechsen der Lutin.

Baidan kletterte vom Steppenschiff hinab und ging geradewegs zu dem Trupp Trolle, der im inneren Kreis lagerte. »Wer führt hier den Befehl?«

Ein riesiger Krieger mit vernarbter Schnauze trat vor. Er sah aus, als habe ihn ein Stiertritt ins Gesicht getroffen. Seine Oberlippe war zerfetzt, so dass man seine Zähne sehen konnte. Baidan erinnerte sich, den Kerl schon einmal gesehen zu haben.

Hoffentlich erinnerte sich der Troll auch an ihn. »Orgrim schickt mich! Ihr sollt mich zu den Hornschildechsen bringen.«

»Orgrim ist nicht tot?«, fragte der Rudelführer misstrauisch.

»Wie sollte er mich dann mit einem Befehl zu dir schicken?«

Der Troll nickte langsam. Baidan war sich nicht ganz sicher, ob der Rudelführer ihm glaubte. Doch zumindest war dem Kerl klar, dass es dumm war, noch weiter herumzustehen und auf einen echten Befehl zu warten, der womöglich niemals kommen würde.

Baidan musste den Kopf in den Nacken legen, um zu dem Troll aufzublicken. Der Kerl war selbst unter seinesgleichen ein Hüne. Baidan ging ihm nicht einmal bis zum Knie. »Du bringst mich mit den zehn besten deiner Männer als Begleitschutz zu den Hornschildechsen. Alle Übrigen gehen die Kentauren an, die in den Wagenkreis eingebrochen sind. Noch irgendwelche Fragen?«

Der Rudelführer schüttelte den Kopf. Dann wiederholte er mit lauter Stimme Baidans Befehle.

Der Kobold deutete auf das niedrigste der Steppenschiffe. Es lag abgewandt von dem Durchbruch, den die Kentauren geschafft hatten. »Dort gehen wir rüber zum äußeren Kreis! Los!«

Baidan ging entschieden voran. Die Trolle überholten ihn. Sie kletterten über die breiten Sprossen, die an die Außenwand des Steppenschiffs genagelt waren, und hinweg über die hochgeklappten Kufen, die den riesigen Karren einmal über das Eis der Snaiwamark tragen würden.

Als der Kobold das Gefechtsdeck erreichte, kletterten bereits die ersten Trolle auf der anderen Seite des Steppenschiffs wieder hinab. Baidan gab dem Geschützmeister den Befehl, auch mit seinem Wagen das Feuer auf Steppenschiffe zu eröffnen, die er für von Elfen besetzt hielt.

Die niedergedrückte Stimmung der führungslosen Krieger schlug um. Als Baidan über die Zinnen kletterte, um den Trollen zu folgen, begleiteten ihn Hurrarufe. Noch nie hatte ihn jemand mit Hurrageschrei angefeuert. Er hatte fast den Boden erreicht, als er auf einer blutbespritzten Sprosse abrutschte. Er stürzte ins Gras. Benommen schüttelte er den Kopf. Dort, wo er eben noch geklettert war, steckte zitternd ein Pfeil im Holz des Steppenschiffs. Auch andere waren auf ihn aufmerksam geworden!

Die Trolle hatten ihre wuchtigen Schilde zurücklassen müssen, um über den Wagen zu klettern. Der Rudelführer stellte sich breitbeinig über ihn. »Komm auf meinen Arm, dann sind wir schneller.«

Es widerstrebte Baidans Stolz, wie ein Kind auf den Arm genommen zu werden. Aber ein einziger Blick auf das Lager machte klar, wie falsch es gewesen wäre, auf seinen Stolz zu hören. Überall hatten die Arbeiter nun begonnen, die Wagen des inneren Kreises zu bestürmen. Er sah, wie sich Männer gegenseitig an die Kehle gingen, um an die Sprossenleitern auf den Außenwänden zu gelangen. Einige Geschützmeister hatten offensichtlich Befehl gegeben, die Heranstürmenden abzuwehren. Kobolde mit langen Speeren stachen an den Wagenseiten hinab. War ein Gefechtsdeck erst einmal voller Flüchtlinge, dann würden die Geschütze nicht mehr feuern, ja, es stand zu befürchten, dass die großen Wagen kippen könnten, wenn ganze Trauben von Faunen, Minotauren, Kobolden und anderen an den Sprossenleitern hingen.

Baidan sah eine junge Elfe, die verzweifelt schreiend versuchte, ihr Kind zu den Zinnen emporzustrecken. Nicht weit entfernt fuhren Kentauren in Bronzerüstungen unter die Arbeiter. Wahllos hieben sie mit ihren Schwertern auf jeden ein, der in ihre Nähe kam. Sie kamen der Elfe immer näher ...

Sie warf das Bündel mit ihrem Kind zu den Zinnen empor. Baidan sah, wie ein Kobold sich vorbeugte und versuchte es zu schnappen. Er erwischte nur einen Zipfel vom Tuch. Das Bündel fiel zurück und verschwand in der Menge, die wie lebende Gischt gegen das Steppenschiff anbrandete.

»Trag mich«, stimmte Baidan mit tonloser Stimme zu. Der Troll hob ihn auf und begann zu laufen. Doch nun hatte sich ein Trupp der gerüsteten Kentauren zwischen sie und die Hornschildechsen geschoben. Ihr Anführer deutete mit einem wilden Schrei auf die Trolle. Dann preschten sie ihnen entgegen.

Der Ordensgründer

Adrien erreichte eine Lichtung. Sie war zum Schlachthaus geworden. Er hatte nach dem Entsatz für eine der entlegenen Waldburgen gesucht. Wie es schien, waren sie überrascht worden, als sie gerade ihr Lager aufschlagen wollten. Es war nur ein kleiner Trupp. Zwanzig Krieger. Und er musste dabei sein. Wenn er noch lebte. Mehr als die Hälfte der Männer war schon am Boden. Die Drusnier metzelten sie gnadenlos mit ihren großen Äxten nieder.

Adrien trieb seinen Schimmel geradewegs in die Kämpfenden hinein. Diesmal waren es die Drusnier, die überrascht waren. Sein Schwert sauste in funkelndem Bogen hinab.

Er hieb blindwütig um sich. Panik brach unter den Heiden aus. Einige flohen zurück in den Wald. Die Krieger Fargons kämpften nun mit neuer Hoffnung.

Adrien glitt aus dem Sattel und nahm seinen Schild. Er tötete kaltblütig. Er wusste, dass er geschickter war als sie. Im Steinernen Wald hatte er nicht ermessen können, was er lernte. Doch nach den Jahren in Drusna war ihm klar, dass Jules unendlich viel mehr als nur ein Priester gewesen war. Ganz gleich, auf wen Adrien traf. Alle Gegner kamen ihm verglichen mit Jules langsam und ungeschickt vor. Wie ein Schnitter durch das Korn ging er durch die Reihen der Feinde. Die letzten Drusnier warfen ihre Waffen fort, um schneller laufen zu können. Keiner setzte ihnen nach.

Keuchend ließen sich die überlebenden Fargoner zu Boden sinken, wo sie gefochten hatten. Adrien blickte die Männer an. Einen nach dem anderen.

»Danke«, sagte ein abgehärmter, hagerer Mann. Sein schwarzes Haar war vom Schweiß zu dicken Strähnen verklebt. Blutspritzer sprenkelten sein Gesicht. Er stieß sein Schwert in den Boden und kam auf Adrien zu. »Danke.

Ohne dich wären wir jetzt alle tot. Du bist der weiße Ritter. Der Kirchenritter, nicht wahr?«

Adrien nickte. Unter den Lebenden war kein Mann, auf den die Beschreibung zutraf, die er vom Dicken bekommen hatte. Clovis hieß er mit richtigem Namen.

»Wie kann ich dir danken?«

»Danke Tjured«, sagte Adrien, ohne den Mann weiter zu beachten.

Du sol test ein wenig höflicher sein. Du bist ein Ritter Gottes. Da sol test du ein anderes Benehmen an den Tag legen.

Adrien straffte sich. Er zwang sich, den Blick vom Boden zu heben. Der Krieger, der vor ihm stand, war offensichtlich der Anführer. Er trug einen teuren Schuppenpanzer.

Adrien lächelte. Dann wurde ihm bewusst, dass man das durch seinen Maskenhelm natürlich nicht sehen konnte. Er ließ sein Schwert sinken, öffnete den Helm und klemmte ihn unter den Arm. »Ich wünschte, ich wäre früher bei euch gewesen.«

»Ich bin froh, dass du überhaupt gekommen bist. Es ist ein Wunder! Ohne dich hätten sie uns alle umgebracht. Dich hat wahrlich Tjured geschickt.«

»Vielleicht war es Vorsehung.« Er wollte dem Krieger nicht alle Illusionen nehmen.

»Ich bin hier, weil ich einen deiner Männer suche. Clovis.«

Der Hauptmann sah ihn mit großen Augen an. »Der Dicke hat dich gekannt? Dich! Er hat nie davon erzählt.«

»Er hat ein Mädchen gekannt, das ich suche.«

Sein Gegenüber sah ihn überrascht an. Dass er nach einem Mädchen suchte, passte offensichtlich überhaupt nicht in das Bild, das sich der Schwarzhaarige von ihm gemacht hatte.

Jetzt musst du ihm nur noch sagen, dass sie eine … Dass sie ein Mädchen war, deren Gunst käuflich war. Dann kannst du dir ganz sicher sein, dass man noch lange von dir reden wird.

Adrien ignorierte Weißer Donner. Er blickte über die kleine Lichtung. »War Clovis nicht bei deiner Truppe? Ich sehe ihn nicht.«

Der Hauptmann deutete auf ein Brombeerdickicht. »Er ist irgendwo dort hinten. Kaum dass wir angehalten hatten, hat er sich zurückgezogen. Er wollte sich ... erleichtern.«

Neue Hoffnung keimte in Adrien. Vielleicht hatte der Dicke es geschafft, unter die Büsche zu kriechen?

Der Hauptmann blieb zurück. Er kümmerte sich um seine Männer. Hielt er die Suche für aussichtslos? Adrien sah die Spuren der Angreifer im Gras. Sie kamen genau aus der Richtung, in die Clovis gegangen war. Aber wie leicht konnte man einen Mann übersehen, der sich in ein Dornendickicht duckte!

Es dauerte nicht lange, bis er den letzten Stadtgardisten fand. Clovis’ Hose war halb heruntergelassen und hatte ihn beim Versuch zu fliehen gehindert. Sie hing ihm immer noch um die Knie. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht im Dreck. Seine blaue Tunika war blutgetränkt. Ein Axthieb hatte ihn in den Rücken getroffen.

Adrien kniete sich neben dem Krieger nieder. Clovis’ Hände hatten den weichen Waldboden zerwühlt. Er schien noch ein Stück gekrochen zu sein. Der junge Ritter berührte die Hand des Dicken. Sie war noch warm. Adrien schluckte. Er kämpfte gegen die Tränen an. Mehr als zwei Jahre hatte er in Drusna nach den Stadtgardisten aus Nantour gesucht, die auf die verschiedensten Garnisonen verteilt worden waren.

Ein Fluch schien auf den Männern gelegen zu haben. Keiner hatte überlebt. Jetzt hatte er auch den letzten verloren. Um wie viel war er zu spät gekommen, um zu erfahren, wohin man Elodia gebracht hatte? Um eine Stunde? Oder zwei? War es Gottes Wille, dass er das Mädchen nicht fand? Sollte er sich mit all seiner Kraft der Schaffung des neuen Ritterordens widmen?

Ihm war kalt. Er hockte sich auf den Waldboden. Die Arme um die Knie gelegt. Er fühlte sich kraftlos. Leer! Seit er den Steinernen Wald verlassen hatte, war Elodia immer sein erster Gedanke gewesen. Ihrer Spur zu folgen, hatte all seine Wege bestimmt. Die Aufgabe, zu der er eigentlich auserkoren war, hatte er sträflich vernachlässigt. Er hatte zwei Ordenshäuser gegründet. Aber das war mehr zufällig geschehen. Ohne Plan und Überlegung. Er hatte den Kriegern, unter denen er nach den Stadtgardisten suchte, von Tjured erzählt. Von der Idee, dass die Kirche einen bewaffneten Arm haben sollte, um sich selbst schützen zu können. Manche der Krieger waren so begeistert gewesen, dass sie sich ihm anschließen wollten. Doch er wollte allein sein. Und so hatte er sie überzeugt, dass es klüger war, wenn sie feste Häuser gründeten, um an einem Ort zu bleiben, wo ihr Orden wie eine Eichel zu einem starken Baum wachsen konnte. Sie hatten an seinen Lippen gehangen. Offenbar war es wahr, was Jules immer gesagt hatte. Es fiel ihm leicht, Menschen von etwas zu überzeugen. Er war ein guter Prediger. Er hatte sie überzeugt, dass es seine Aufgabe war, herumzuwandern und den neuen Orden bekanntzumachen, während sie die ersten Schösslinge hüten sollten.

Adrien zog Clovis die Hosen hoch und schloss dessen Gürtel. Der untersetzte Krieger mit dem fleischigen Gesicht sollte nicht in der ganzen Jämmerlichkeit seines Todes als Rabenfraß im Wald liegen bleiben. Er drückte Clovis die Augenlider zu. Der Gardist sollte eine anständige Beerdigung haben. Mit ihm begrub er zugleich auch Elodia. Er hatte ihre letzte Spur verloren. Sie war jetzt wie tot. Vielleicht war sie das ja auch schon lange, und er war die ganze Zeit über nur einem Traum nachgejagt.

Adrien konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. Traum oder nicht, sie war, seit er Nantour verlassen hatte, das Ziel all seiner Bemühungen gewesen. Die Gedanken an sie hatten ihm die Kraft gegeben, die endlosen Stunden des Laufens und Grabens im Tal der Türme durchzustehen. Und als er in die Welt, die ihm fremd geworden war, zurückkehrte, hatte sie seinen Weg bestimmt. Wie ein Leuchtfeuer, das ein Schiff in gefährlicher See zum Hafen führte. Nun gab es kein Leuchtfeuer mehr. Sein Schiff war dazu verdammt, immer auf See zu bleiben. Ziellos zu kreuzen und sich den Stürmen zu stellen, bis es eines Tages spurlos im dunklen Meer verschwand.

Heiße Tränen rannen ihm über die Wangen. Nein, spurlos verschwinden würde er nicht! Er war Michel Sarti! Er würde den Orden vom Aschenbaum gründen, die Kirche beschützen und den Schwachen und Rechtlosen zur Seite stehen.

Kopfüber in die Schlacht

Der Rudelführer drückte Baidan so fest an seine Brust, dass der Kobold fast keine Luft mehr bekam. Nie in seinem ganzen Leben hatte sich Baidan so hilflos gefühlt wie in jenem Augenblick, als Trolle und die großen Kentauren aus Uttika mit wildem Kriegsgeschrei aufeinander zustürmten. Wer das Pech hatte, ihnen in die Quere zu kommen, wurde gnadenlos niedergetrampelt.

Hinter ihnen kletterten immer weitere Trolle vom Steppenschiff hinab. Zu Beginn des Gefechtes würden sie in der Unterzahl sein.

Der Rudelführer, der ihn im Arm hielt, führte eine Kriegskeule mit einem großen, runden Steinkopf, um den sich knorriges Wurzelholz klammerte. Aus dem Steinkopf ragte ein Stoßzahn von einem Seeelefanten. Dass die Trolle keine vernünftigen Metallwaffen verwendeten, würde eines Tages noch ihr Untergang sein.

Über ihre Köpfe pfiffen Geschosse hinweg, kobold faustgroße Steinkugeln, die von den leichteren Torsionsgeschützen auf den Geschützdecken verschossen wurden. Mit lautem Scheppern prallten einige auf Brustpanzer und Helme der Uttiker. Erfreuliche Lücken klafften plötzlich in der Schlachtreihe ihrer Feinde. Dann trafen Trolle und Kentauren aufeinander.

Die Uttiker waren geschickte Kämpfer. Sie waren etwas mehr als zwei Köpfe kleiner als die Trolle, aber mit ihren massigen Pferdeleibern bestimmt nicht viel leichter. Zumindest kam es ihm so vor. Der Nahkampf wurde schnell zu einem mörderischen Drücken und Schieben. Und es machte sich bemerkbar, dass die Trolle ohne Schilde ins Gefecht gezogen waren.

Sein Troll konnte mit seiner großen Keule im dichten Handgemenge nicht mehr richtig ausholen. Zweimal hob er wohl im Reflex den Arm, mit dem er ihn festhielt und an dem er sonst den Schild trug. Eine silberne Klinge hackte dicht an Baidans linkem Ohr vorbei in das Fleisch des Trolls. Nie würde Baidan das leise zischende Geräusch vergessen, mit dem scharfer Stahl lebendes Fleisch zerteilt. Warmes, dunkles Blut durchnässte Baidans Kleider. Der Troll stieß einen grunzenden Laut aus und rammte dem Uttiker mit einem graden Stoß den Seeelefantenzahn seiner Keule ins Gesicht.

Der Kentaur brach in die Knie. Der Rudelführer drängte in die Lücke der Schlachtreihe. Mit dumpfem Klatschen schlug ihm einer der kleineren Steine, die von den Torsionsgeschützen verschossen wurden, gegen die Stirn. Der Troll fluchte. Auch er wusste, dass dieses Geschoss wohl aus den eigenen Reihen gekommen war.

»Ich werde den Kerl finden, der das war«, versicherte Baidan.

Der Troll schien seine Worte nicht zu beachten. Kaum dass er durch die Reihe der Kentauren gebrochen war, drehte er sich um. Er holte weit mit seiner Keule aus und ließ die Waffe mit all ihrer zerstörerischen Kraft auf den Rückenpanzer eines Uttikers krachen. Er trat dem Sterbenden in den Pferderumpf und ging gleich den nächsten Gegner an. Die Reihe der Uttiker brach auf. Einer der Kentauren ging den Troll an.

Baidan wurde hochgeschoben. »Setz dich in meinen Nacken und halt dich an meinen Ohren fest. Auf dem Arm störst du.«

Der Kentaur schaffte es, dem Angriff des Rudelführers auszuweichen. Pfeifend ging die wuchtige Keule ins Leere, während das Doppelschwert des Uttikers einen tödlichen Bogen beschrieb. Wieder war das zischende Geräusch von zerteiltem Fleisch zu hören. Der Troll strauchelte. Ein klaffender Schnitt ging quer über seine Brust.

Als er in die Knie ging, führte er einen Schlag nach den Läufen des Kentauren. Der Uttiker stieg, um dem Hieb auszuweichen. Dann sausten seine massigen Hufe nieder.

Baidan sprang von den Schultern des Trolls und landete auf einem sterbenden Faun, der das Pech gehabt hatte, zwischen die Kämpfenden zu geraten.

Der Kobold sah, wie ein weiterer Uttiker auf den Rudelführer eindrang und ihm aus sicherem Abstand mit Lanzenstichen zusetzte. »Lauf«, stöhnte der Troll und warf sich seinem Peiniger entgegen.

Baidan nahm all seinen Mut zusammen und rannte zwischen den stampfenden Pferdebeinen hindurch. Er schrie seine Angst hinaus. Alle rings herum schrien. In Wut, im Kampfrausch, vor Schmerzen. Er dachte an seinen Vater. An all die friedlichen Tage in Vahan Calyd. Er wünschte, er wäre noch einmal ein Kind und gemeinsam mit ihm weit draußen in den Mangroven.

Vielleicht war es die Kraft dieser alten Erinnerungen, die ihn lebend aus dem Gefecht von Kentauren und Trollen trug. Vielleicht war es auch einfach nur Glück. Er erreichte die Hornschildechsen. Schreiend und winkend versuchte er auf sich aufmerksam zu machen. Die Lutin hatten alle Strickleitern hochgezogen. Frauen und Kinder bemannten die schweren Armbrüste. Das Fuchsvolk baute seine Hütten auf den breiten Rücken der großen Echsen. Die kleine Herde hatte sich im Kreis aufgestellt. Sie waren eine Festung innerhalb der Festung. Eine lebende Festung! Die wuchtigen Hornkrägen der Echsen bildeten einen Wall. Sie standen dicht an dicht, ihre drei langen, geschwungenen Hörner auf Schnauze und Stirn drohend gesenkt. Selbst Trolle würden zögern, sie anzugreifen.

Sie kannten ihn! Sie mussten ihn erkennen. Er schrie sich schier die Seele aus dem Leib.

»Ich bin Baidan, Bote des Orgrim!«

Um ihn herum kreischten Hunderte andere, die in die Sicherheit der lebenden Festung gelangen wollten. »Holt mich herauf, oder auch ihr werdet verloren sein!« Wäre er mit den verdammten Trollen hier, dann würden sie gewiss nicht zögern, ihn auf die Echsen zu lassen. Hinter einem der Hornkrägen entdeckte er Liza. Die junge Lutin führte die Sippe, die mit der Snaiwamark-Karawane zog. Es war die Sippe, der auch Elija Glops entstammte. Sie waren als Erste ein Bündnis mit den Trollen eingegangen.

Würden sie jetzt als Erste zu Verrätern?

Baidan trat zurück von den schreienden Flüchtlingen, die sich um die unruhigen Echsen drängten. Wenn er in der Menge auffallen wollte, dann musste er etwas völlig anderes tun als die Übrigen. Etwas Absurdes, mit dem er Aufmerksamkeit erregte.

Schreiend und fluchend verlor er sich zwischen all den anderen. Er war ein Anführer!

Vielleicht der Letzte, der hier noch klar dachte und richtig entscheiden konnte. Er spürte, dass es ganz allein in seiner Hand lag, ob die Karawane die Schlacht überstehen würde.

Baidan besann sich auf die Kunststückchen, mit denen er als kleiner Junge seinen Vater erfreut hatte. Würde das allein genügen? Er musste sicher sein. Die Zeit lief ihnen davon. In einer halben Stunde würde es zu spät sein, das Blatt noch einmal zu wenden.

Er zog sein Hemd aus. Er hatte sich angepasst. Er trug schon lange nicht mehr die klassischen Kleider der Holden, seines Volkes.

Er setzte sich und streifte die Stiefel ab. Dann zog er auch noch die Hose aus. Er verneigte sich vor den Echsen. Er war vielleicht dreißig Schritt von ihnen entfernt. War er noch nah genug? Würde Liza ihn erkennen können? Er streckte seine Glieder, winkte mit hoch über den Kopf erhobenen Armen und dann schlug er einen Salto rückwärts. Er hatte das lange nicht mehr gemacht und landete unsanft auf seinem Allerwertesten. Sofort war er wieder auf den Beinen. Erneut winkte er mit den Armen.

Diesmal schlug er ein Rad.

Er lief zurück zu seinem Ausgangspunkt und winkte erneut. Er war der Verrückteste in einer Welt, die in Wahnsinn versunken war. Würden sie ihn sehen? Er durfte nicht aufgeben! Wieder schlug er einen Salto. Und noch einen. Diesmal landete er auf den Füßen.

Verzweifelt blickte er zu den Echsen. Er hob die Arme und winkte. Und diesmal winkte eine Gestalt hinter einem der Hornkrägen zurück. Sofort lief Baidan auf die Echsen zu. Ein Lutin, der sich an einem Seil festhielt, kletterte an einem der Kragen hinab. Andere, die mit Speerschäften nach den Flüchtlingen schlugen, schirmten ihn ab. Tretend und um sich schlagend, schaffte es Baidan bis zur Echse. Der junge Lutin wurde noch ein wenig tiefer hinabgelassen. Baidan schaffte es, seine Hand zu packen.

Sofort wurde das Seil wieder hochgezogen.

»Liza!«

Die Lutin sah ihn abschätzend an. Wie konnte sie inmitten dieses Mordens einfach ruhig zusehen. Sie ... Plötzlich begriff Baidan. Sie hatte entschieden, einfach abzuwarten. Und falls der innere Kreis bedroht wurde, würde sie mit den Hornschildechsen womöglich eines der Steppenschiffe dort stürzen und durch den Albenstern flüchten. Sie waren Lutin. Niemand bewegte sich so geschickt durch das Goldene Netz wie sie. Sie würden entkommen, wenn sie es schafften, das magische Tor zu öffnen.

Die Fuchsfrau trug ein kurzes, seitlich geschlitztes Kleid, dazu enge Hosen und Stiefel.

Sie sah sinnlich aus. Sie lächelte. »Das ist selbst unter diesen Umständen ein ungewöhnlicher Aufzug.«

Baidan erwiderte das Lächeln. »Ich weiß eben, wie man selbst unter widrigsten Umständen die Aufmerksamkeit einer schönen Frau erregt.«

Ihr Lächeln entblößte kleine spitze Zähne.

»Du hast großes Glück, dass die Schlacht dich nicht so sehr fesselt, dass du mich übersehen hättest. Das ist auch ein großes Glück für die Deinen.«

»Glück? Ich verstehe dich nicht.«

»Rustur, der Troll, der den inneren Kreis befehligt, hat schon zwei Boten zu euch geschickt, ohne dass ihr seinen Befehlen gefolgt seid.«

»Hier sind keine Boten angekommen!« Sie deutete hinab auf das Gedränge. »Nur ein Troll kann auf die Idee kommen, dass mich in diesem Durcheinander ein Bote erreichen könnte.«

»Er hält dich für eine Verräterin, Liza. Dich und deine ganze Sippe. Er tobt vor Wut.«

Ihre Augen wurden ein wenig schmaler. »Wie kommt er darauf, dass ich eine Verräterin bin?«

»Nun, das liegt doch auf der Hand. Ihr tut das Naheliegende nicht, um die Schiffsburg zu retten. Wie viele Kentauren sind jetzt im äußeren Kreis? Vierhundert? Fünfhundert?

Wer weiß ... Gewiss ist nur, es werden mit jedem Herzschlag mehr. Und ihr tut nichts, um die Breschen zu schließen. Ihr müsstet nur mit den Hornschildechsen vorrücken.

Mit ihren breiten Kragen könnten sie ganz leicht die Breschen blockieren.«

»Wir sind keine Krieger«, entgegnete sie kühl. »Das Kämpfen überlassen wir stets anderen.«

»Ich hatte befürchtet, dass du das sagen würdest. Dann lass mich bitte wieder herunter. Ich möchte noch nicht sterben!«

»Du machst Scherze, Baidan.« Wieder maß sie ihn vom Scheitel bis zur Sohle. »Jeder kann sehen, dass du in dieser Nacht zu seltsamen Scherzen aufgelegt bist.«

»Hast du auch gesehen, dass Rustur einige Wagen im äußeren Kreis beschießen lässt?

Jedes Steppenschiff, bei dem auch nur der Verdacht besteht, dass es von Elfen besetzt ist und einen Schuss auf die innere Schiffsburg abgegeben hat, wird unter Feuer genommen. Und dabei ist ihm ganz egal, dass auch die Kobolde auf den Geschützdecks unter dem Gefechtsdeck sterben. Kobolde, die an Orten kämpfen, die kein Elf betreten kann, weil die Decks zu niedrig sind. Ich stand neben Rustur, als er dich und alle Lutin verflucht hat. Auf dem Gefechtsdeck seines Steppenschiffs gibt es eine große Sanduhr. Man muss sie vier Mal in einer Stunde drehen. Als er mich zu dir geschickt hat, hat er sie drehen lassen und dem Geschützmeister den Befehl gegeben, mit Brandkugeln auf die Hornschildechsen schießen zu lassen, sobald das letzte Sandkorn durchgelaufen ist.«

Sie leckte sich über die Schnauze. »Das glaube ich nicht. Alle Lutin stehen unter dem Schutz König Gilmaraks!«

»Du kennst Rustur, Liza. Als ich ging, hat er mir hinterhergeschrien, dass er euch lieber persönlich umbringen würde, als euch den Kentauren zu überlassen. Und du siehst ja, was er mit den halb vom Feind besetzten Steppenschiffen macht. Lass mich bitte herunter! Das Viertel der Stunde muss bald verstrichen sein. Ich bin lieber dort unten zwischen den Hufen der Kentauren als hier oben, wenn sie anfangen, mit den Feuerkugeln zu schießen.«

Lizas Augen durchbohrten ihn. Sie war nicht leicht zu täuschen. Er trat ein Stück zurück. »Das Seil«, sagte er ruhig. »Lebt wohl.«

»Halt!«

»Du wirst mich nicht aufhalten. Wenn du glaubst, Rustur würde nicht schießen lassen, weil ich hier oben bin, irrst du dich. Ihm sind Koboldleben egal.«

Sie nickte. »Ich weiß.« Sie winkte einem jungen Lutin zu. »Wir nehmen Torkelschritt, Mondkragen, Wolfsbeißer und Zweistoß. Das sind allesamt erfahrene Kämpfer. Zieh dich mit den übrigen Echsen zum Inneren Kreis zurück. Sie sollen einen Halbkreis mit dem Rücken zu den Steppenschiffen bilden.«

Baidan jubelte innerlich. Er musste darauf achten, dass Liza es nicht bemerkte. »Bitte, beeil dich. Die Sanduhr kann jeden Augenblick durchgelaufen sein.«

»Er wird sehen, dass wir uns bewegen. Hornschildechsen sind keine Rennpferde.« Sie rief der Echse, auf der sie standen, etwas zu.

Ein junger Lutin brachte ihr zwei eiserne Halbkugeln, die von schmalen Schlitzen durchbrochen waren. »Hast du Mut?«

Baidan verstand nicht, was sie meinte. Daraufhin drückte Liza ihm eine der Halbkugeln in die Hand. »Über den Augenlidern sind drei eiserne Haken in den Knochenwulst eingelassen, der die Augen abschirmt. Da hängst du das ein. Hast du mich verstanden?«

Der Kobold sah sie verständnislos an.

»Wir sind zu wenige, verdammt, und ich werde weder Kinder noch Alte zum Klettern dort hinabschicken. Was glaubst du, worauf Elfen und Kentauren schießen werden, wenn die Hornschildechsen in den Breschen stehen? Die Augen sind ihre verwundbarste Stelle.«

»Du willst, dass ich mit nacktem Arsch über den Hornkragen einer übellaunigen Riesenechse hinabsteige, um an ihren Augenbrauen dieses Ding hier aufzuhängen? Ich bin doch nicht verrückt!«

»Du schlägst nackt Saltos mitten auf einem Schlachtfeld und erzählst mir, du seist nicht verrückt? Bitte, Baidan, nimm mich nicht auf den Arm.« Sie drückte ihm ein Seil-ende in die Hand. »Komm jetzt!«

Mit diesen Worten stieg sie über den Hornkranz. Er schluckte. Verdammtes Lutinflittchen! Wenn er es ihr nicht nachtat, dann würde er bis ans Ende seiner Tage als ein Feigling gelten, der nicht wagte, zu tun, was sogar Frauen auf einem Schlachtfeld taten.

Er band sich das Seil um den Bauch und stieg über den Hornkragen der Echse. Ich hätte die Mangroven nie verlassen sollen, dachte er verzweifelt. Das war überflüssig!

Den Lutin bedeuteten die Echsen alles. Sie lebten mit ihnen. Aber ihm war vollkommen egal, ob eines dieser Viecher vielleicht ein Auge verlor. Es war Lizas Rache dafür, dass er sie so sehr unter Druck gesetzt hatte. Dass er sie gezwungen hatte, die sichere, lebende Festung der Hornschildechsen aufzubrechen, um vielleicht die Schlacht zu retten.

Der große Hornkragen war zwar nicht glatt, doch boten die feinen Rillen nicht einmal Koboldfingern Halt. Er schlitterte daran hinab und schrammte sich die Ellenbogen auf.

Mit dem Hintern voran landete er auf einem der wuchtigen Stirnhörner. Es war unüberhörbar, dass die riesige Echse es gar nicht mochte, wenn man auf ihrem Kopf herumkletterte. Sie schnaubte ärgerlich und schüttelte sich.

Baidan rutschte ein wenig vor, schob den Augenpanzer unter seine Brust und umschlang das Horn dann mit beiden Armen. »Scheiße!«, fluchte er. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Was hatte er auf dem Horn eines Geschöpfes verloren, vor dem sogar Trolle schreiend davonliefen, wenn sie halbwegs bei Verstand waren? Er war völlig verrückt geworden!

Der Holde blickte zu Liza, um zu sehen, was sie tat. Er musste sich übel den Hals verdrehen, um einen kurzen Blick zu erhaschen. Die Lutin hatte beide Beine um das Horn geschlungen und hing mit dem Kopf nach unten, um die eiserne Halbkugel über das Auge der Echse zu bringen.

Baidan wurde schlecht. Wenn sie es so machte, war das vermutlich die sicherste und effektivste Methode, um das Rüstungsteil an den Haken aufzuhängen.

Wieder schüttelte die verdammte Echse den Kopf. Baidan klammerte sich krampfhaft am Horn fest. Er musste hier weg. Also sollte er möglichst schnell den verfluchten Augenschutz anbringen. Je länger er hier blieb, desto sicherer würde er draufgehen. Er nahm all seinen Mut zusammen, presste beide Beine fest um das Horn, packte die eiserne Halbkugel und schwang sich mit dem Kopf voran hinab. Er blickte in ein Auge, das so groß wie seine Hand war, wenn er die Finger spreizte. Ein gelbes Auge, mit geschlitzter, schwarzer Pupille. Es funkelte wütend, und Baidan schwor sich, nie wieder in die Nähe dieser Echse zu kommen, wenn die Schlacht vorüber war. Das Vieh würde ihn in den Boden trampeln, wenn sie sich noch einmal begegneten.

»Ich will dich nicht ärgern. Ich will dich beschützen«, redete er auf die Echse ein. »Wir sind Freunde! Ich war schon immer ein Echsenfreund. Ich hab nie zu den Kindern gehört, die Echsen die Schwänze abreißen. Ehrlich!«

Seine Hände zitterten, als er versuchte, den Augenschutz aufzuhängen. Und das blöde Mistvieh schüttelte wieder den Kopf. »Ich will dir doch nur helfen!«, schrie er gleichermaßen empört und verzweifelt.

Die drei Metallringe auf der eisernen Halbkugel waren klein. Und zu allem Überfluss waren sie auch noch beweglich und kippten immer wieder nach innen, wenn er versuchte, die Halbkugel aufzuhängen. Dabei sah er die ganze Zeit in das wütende gelbe Auge. Die Echse würde ihn niemals vergessen!

»Bitte, bitte, bitte, halt doch einmal einen Augenblick lang still.«

Ein Pfeil schrammte über das Horn, auf dem er kauerte, und schlug in den großen Nackenschild der Echse. Baidans Herz raste. Jetzt schössen auch noch irgendwelche Kentauren auf ihn. Zumindest schienen ihn noch keine Elfen entdeckt zu haben. Die hätten getroffen!

Es war sein fünfter Versuch, der die Halbkugel endlich zum Halten brachte. Er hatte es geschafft, die beiden äußeren Ringe über die Haken zu bekommen, während der mittlere wieder umgekippt war. Das musste halten! Er würde es nicht nochmal versuchen.

Wieder schüttelte die Echse wild den Kopf. Sie musste jetzt so gut wie blind sein. Wie viel sie wohl durch die schmalen Schlitze in den Halbkugeln noch sehen konnte? Egal!

Das war nicht seine Sorge! Ein Speer verfehlte ihn knapp. Ein Steppenkentaur preschte neben der Echse her und versuchte ihn aufzuspießen. Und er hing unbewaffnet kopfüber von einem Echsenhorn herab.

Ein neuerlicher Speerstoß streifte seinen Rücken. Baidan pendelte hin und her, um aus der Bewegung heraus den Schwung zu holen, wieder bäuchlings auf das Horn zu gelangen.

Er spuckte nach dem Kentauren. »Feigling!«, schrie er ihn an. Wenn er schon keine Waffe in der Hand hatte, konnte er wenigstens die Ehre des Steppenkriegers verletzen.

Der Kentaur wirbelte den Speer herum. »Du bist tot, Kleiner!«

Baidan schwang jetzt wie ein Blatt im Sturmwind. Und die Echse brachte ihn mitten hinein in die größte Ansammlung von Kentauren. Das war der einzige Weg zu den Breschen!

Ein neuerlicher Speerstoß verfehlte ihn knapp. Er spürte sein Blut über den Rücken laufen. Wenn er den Hals verdrehte, tropfte es ihm ins Gesicht. Schmerzen spürte er nicht. Jetzt galoppierte noch ein zweiter Kentaur neben ihnen her.

Baidan packte hoch zum Horn, doch seine Hand glitt ab. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Steppenreiter versuchte, noch dichter an die Echse heranzukommen. Sein Arm fuhr zurück, um neuerlich zuzustoßen. Da brach die Hornschildechse aus ihrer Bahn aus, senkte den Kopf und führte einen wuchtigen Stoß gegen die beiden Kentauren. Einen erwischte sie mit der Spitze ihres Horns, während der zweite Kentaur einfach nur zur Seite geschleudert wurde.

Jetzt riss sie den Kopf hoch. Der aufgespießte Kentaur musste tot sein, dachte Baidan.

Dennoch zuckten Läufe und Arme des Steppenkriegers noch. Blut lief über das Horn und rann Baidan warm die Beine herab.

Überraschend riss die Echse den Kopf zur Seite. Der Kadaver des Kentauren flog davon, und Baidan verlor den Halt. Hilflos am Seil pendelnd, rutschte er ab, bis er mit einem Ruck zum Halten kam. Er drehte sich und hing jetzt wenigstens mit den Füßen voran nach unten. Das raue Seil schnitt ihm in die Achseln. Wie ein Halsschmuck baumelte er von der Echse hinab. Keinen halben Schritt über dem Boden.

Ein weiterer Kentaur kam heran. Ein Uttiker, der sein Doppelschwert wild schreiend über dem Kopf schwang.

Baidan packte das Seil mit beiden Händen und zog sich mit der Kraft der Verzweiflung daran hoch. Dabei schwang er immer noch wild hin und her. Das war vielleicht sein bester Schutz gegen einen Angriff des Kentauren. Er prallte gegen die Brust der Echse.

Jetzt bemühten sich die Lutin, ihn hochzuziehen. Baidan stieß sich den Kopf am unteren Rand des Hornschilds. Ein Schrei ließ ihn über die Schulter blicken. Das Schwert des Kentauren sauste auf ihn zu. Baidan zog die Beine an. Ein weiterer Ruck am Seil brachte ihn ein Stück weiter hoch. Das Schwert strich so knapp an seinen Fußsohlen vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte.

Verzweifelt zog er weiter am Seil. Endlich wurde er über den Hornkragen gehoben.

Die Lutin legten ihn auf den breiten Nackensattel der Echse. Sein Rücken schmerzte.

Liza beugte sich über ihn. Ihre Lefzen waren zurückgezogen. So sah wohl ein Lächeln bei einer Lutin aus, aber Baidan hatte eher den Eindruck, dass sie ihn gleich beißen würde. »Du hast lange gebraucht, Holder.«

»Wenn wir es das nächste Mal machen, werde ich schneller sein.«

»Zweistoß findet, dass du Mut hast!«

»Zweistoß?«

»Der Name der Echse, auf der du sitzt«, entgegnete Liza. »Ich kann in seinen Gedanken lesen. Er meint auch, du solltest das nächste Mal, wenn du auf seinem Kopf herumkletterst, weniger Unsinn reden. Und er ist erfreut darüber, dass du noch nie einer Echse den Schwanz abgerissen hast. Was er damit meint, verstehe ich nicht ganz.«

»Aber ich«, entgegnete Baidan lächelnd. Er fühlte sich leicht, ja unbesiegbar. Das Leben war schön!

Die Ahnung

Orgrim trat an das Lager, auf dem der kleine Kobold aufgebahrt lag. Seine braungrüne Haut hob sich deutlich gegen das weiße Laken ab. Er war ganz nackt. Man hatte ihn gewaschen. Die Wunde in seiner Brust klaffte wie ein kleiner, rotbrauner Krater in seinem Fleisch. Offensichtlich hatte jemand mit viel Kraft und wenig Geschick die Pfeilspitze herausgeholt.

Ein Kobold, der sein strähniges Haar mit einem roten Stirnband bändigte, stand bei dem Toten. Außer einem Lendenschutz war er nackt. Orgrim erinnerte sich, den Holden schon mehrfach bei den Versammlungen des Kronrats gesehen zu haben.

»Liza von den Lutin hat mir von ihm erzählt«, sagte der Troll. »Sie hat ihn auch hierhergebracht.« Orgrim hasste solche Augenblicke. Er wusste nie, was die richtigen Worte waren, wenn man von einem Toten Abschied nahm. »Er hat die Snaiwamark-Karawane gerettet. Und mich. Er hat die Breschen mit den Hornschildechsen geschlossen. Der Feind wurde zurückgeschlagen. Über hundert Kentauren wurden gefangen genommen. Sie wurden gegen andere Gefangene ausgetauscht, die an den übrigen Baustellen in die Hände der Steppenkrieger geraten sind.«

»Als er klein war, haben ihn die anderen Kinder immer gehänselt, weil er den wirklich großen Krabben aus dem Weg gegangen ist. Er hatte Angst, sie könnten ihm einen Arm oder ein Bein abzwacken. Als Kind war er immer sehr besonnen. Seine Spielkameraden haben ihn oft Feigling genannt.«

Orgrim wollte dem Alten die Hand auf die Schulter legen, aber fürchtete, sie beide könnten zu Boden stürzen. Der Troll stützte sich schwer auf eine Krücke. Er hatte siebzehn Wunden davongetragen. Noch nie war er in einer einzigen Schlacht so oft verletzt worden. Ein Bein war gebrochen. Sein Schultergelenk durch einen Pfeil verletzt, so dass er den rechten Arm nicht bewegen konnte. Der Heiler, der ihn behandelt hatte, hatte gescherzt, er habe eine ganze Rolle Zwirn gebraucht, um ihn wieder zusammenzunähen. Und so fühlte sich sein Leib auch an. Seine Haut schien zu eng auf seinen Muskeln zu sitzen. Sie spannte überall. Selbst die leichteste Bewegung bereitete ihm Schmerzen. Skanga und König Gilmarak hatten ihm verboten, sich von seinem Lager zu erheben. Aber er musste zur Karawane. Er würde sie zurückbringen, ganz gleich, was der Kronrat ihm befahl. Baidan würde noch leben, hätte er den Mut gehabt, diese Entscheidung ein paar Tage früher zu fällen.

Der alte Kobold strich sanft über die Brust seines toten Sohnes. Er vermied es, die Wunde zu berühren. »Wie ...«

»Es war wohl einer der letzten Pfeile, die in der Nacht abgeschossen wurden. Er stand hinter dem Kragen einer Hornschildechse und führte den Befehl an einer der beiden Breschen. Liza sagt, sie hätten sieben Angriffe der Kentauren zurückgeschlagen. Das Gemetzel muss fürchterlich gewesen sein. Eine der Echsen wurde getötet. Ich weiß nicht, ob du jemals eine Hornschildechse gesehen hast, Holder. Sie im Nahkampf zu töten, ist wahrlich nicht leicht. Dein Sohn hat mich dort an der Bresche zwischen den Toten entdeckt und Befehl gegeben, mich hierher nach Burg Elfenlicht zu bringen. Sonst wäre ich wohl verblutet.« Orgrim stockte. Er hätte niemals erwartet, dass er einmal einem Kobold sein Leben verdanken würde. Bisher hatte er ihre kleinen Verbündeten zwar freundlich behandelt, aber als Krieger hatte er stets hochmütig auf sie herabgesehen.

Der Holde legte eine Pfeilspitze auf das weiße Tuch der Bahre. »Das hier hat ihn getötet.« Er stockte. »Wer ... Von wem ist dieser Pfeil?«

Orgrim konnte verstehen, dass sich der Vater diese Frage stellte, aber sie war absurd.

Was würde es ihm nutzen, zu wissen, wer den Pfeil abgeschossen hatte. Baidan wurde davon nicht mehr lebendig.

»Es ist kein Elfenpfeil ...« Er hob in hilfloser Geste die Hände. »Es sind viele hundert Kentauren dort gewesen. Es ist unmöglich, herauszufinden, wer den Pfeil abgeschossen hat. Diese Gedanken werden nur dein weiteres Leben vergiften. Vergiss es besser.«

»Auf dem Pfeil ist ein kleines Zeichen. Könntest du einen Blick darauf werfen, Bruder Herzog? Nur das. Bitte!«

Widerwillig nahm Orgrim das geschmiedete Eisen in die Hand. Es verursachte ihm keine Schmerzen, aber die Berührung war ihm unangenehm. Tatsächlich gab es ein kleines, verschnörkeltes Symbol auf der Tülle der Pfeilspitze. »Ein Schmiedezeichen.

Das ist in der Tat ungewöhnlich. Schmiede markieren Rüstungen und Schwerter.

Große Arbeiten. Aber eine Pfeilspitze ... Ich kenne mich nicht mit Schmiedezeichen aus, aber ich kann dir versichern, dass dich dieses Symbol zu der Werkstatt führen wird, in der dieser Pfeil entstanden ist. Mehr weiß ich dazu nicht zu sagen.«

»Danke«, sagte der Alte mit brüchiger Stimme. Er nahm die Pfeilspitze zurück. »Er war auch nie besonders kriegerisch ... Keiner, der es mochte, unter wehenden Bannern in eine Schlacht zu ziehen. Er versuchte Kämpfe zu ver meiden, wo es möglich war. Er war kein Feigling! Aber doch anders als die meisten Krieger, denen ich begegnet bin. Ich war sehr überrascht, als er mit der Snaiwamark-Karawane ging.«

»Er war einer meiner besten Männer.« Dem Troll gingen die Worte aus. Was sollte man auch sagen? Du hattest einen guten Sohn? War das nicht Salz in die Wunde streuen?

Wortlos wandte er sich ab.

Schwer auf seine Krücke gestützt, hinkte er zu den weiten Sälen, die zum Thronsaal führten. Jede Bewegung bereitete ihm Schmerzen. Und es quälte ihn, wie er angestarrt wurde. Dass man ihm nachsah, war er seit langem gewohnt. Er war Orgrim, Herzog der Nachtzinne, Sieger in unzähligen Schlachten, ein Troll, der vom einfachen Krieger zu einem der bedeutendsten Herzöge Albenmarks aufgestiegen war. Doch jetzt, auf Krücken, über und über bandagiert. Auch dort, wo keine Verbände lagen, schillerte seine Haut in allen Farben, von Prellungen und kleinen Schnitten, die mit nur wenigen Stichen vernäht waren. Er war ein Symbol des Untergangs, die Fleisch gewordene Niederlage!

Niemand hatte ihm bisher sein Kommando abgenommen. Und so lange dies noch nicht geschehen war, musste er die Zeit nutzen und die Karawane zurückholen. Er war zuversichtlich, dass er einen geordneten Rückzug organisieren konnte. Allerdings würde er wohl etliche Steppenschiffe zurücklassen müssen. Sein letzter Befehl würde lauten, die großen Karren in Brand zu setzen. Orgrim lächelte bitter. Er konnte sich vorstellen, was König Gilmarak dazu sagen würde. Wenn der junge König nicht sein Gesicht verlieren wollte, müsste er die Hinrichtung des Herzogs der Nachtzinne befehlen.

»Herzog?« Baidans Vater lief neben ihm her. »Wäre es sehr vermessen, wenn ich mich dir anschließen möchte? Ich würde gerne den Ort sehen, an dem mein Sohn sein Leben verloren hat.«

Orgrim seufzte. Er wollte den alten Kobold nicht bei sich haben. Andererseits würde er sehr bald auf Fürsprecher im Kronrat angewiesen sein! Es wäre dumm, Baidans Vater diesen Wunsch abzuschlagen.

»Du störst nicht im Mindesten! Im Gegenteil! Ich begrüße es, dass sich endlich ein Mitglied des Kronrates ein Bild vom Schlachtfeld machen möchte. So wird es meinem nächsten Boten vielleicht leichterfallen, offene Ohren für meine Sorgen zu finden.«

Er sah, wie sehr die Worte dem Alten zusetzten. Inzwischen wusste Orgrim, dass Baidans Mission vor dem Kronrat gründlich fehlgeschlagen war.

»Verstärkungen«, brummte der Troll. »Den ganzen Kronrat sollte man zur Schiffsburg schleppen. Ein Tag, und sie würden verstehen, was ich meine.« Er hatte nicht sehr laut gesprochen. Außer Baidans Vater sollte ihn niemand hören.

Es war noch vor Sonnenaufgang. Die hohen Säle des Palastes waren voller Schlafender.

Niemand trieb Herden hinaus zum Lager der ewig hungrigen Bittsteller. Die Wachen waren müde und sehnten sich nach ihrer Ablösung.

Orgrim war unruhig. Es war die Stunde, in der er Angriffe führte, wenn er den Zeitpunkt für eine Schlacht frei wählen konnte. Jetzt hatte er ein ungutes Gefühl. Sein Verstand verspottete ihn dafür. Sie waren inmitten des Herzlands, und abgesehen von den Kentauren gab es niemanden, der in großem Umfang Widerstand leistete. Die überwiegende Mehrheit der Elfen hatte sich erstaunlicherweise unter die Herrschaft Gilmaraks gefügt. Viel eicht lag es daran, dass den meisten von ihnen in der viele Jahrhunderte währenden Herrschaft Emerelles jeder Gedanke an Rebellion gründlich ausgetrieben worden war.

Aber ganz gleich, was sein Verstand sagte, er fühlte sich unwohl. Eine Gefahr lauerte.

Er spähte in die fernen Winkel des langen Saales, den er durchquerte. Suchte auf den Podesten hoch über sich nach einem verborgenen Bogenschützen. Ein Schaudern überlief ihn. Er hielt inne und drehte sich um. Alles war ruhig! Eine der Wachen sah ihn an. Spürte er es auch? Oder war ihm nur aufgefallen, dass sich der bandagierte Krüppel merkwürdig verhielt?

Er erreichte den Thronsaal. Auch hier schien alles ruhig. Es gab nichts, das seine Sorgen rechtfertigte. Selbst die Lutin beim Albenstern waren schläfrig. Am Himmel hoch über dem Saal standen noch Sterne. Der erste silberne Streif Morgenlichts lagerte noch dicht über dem Horizont. Den hohen Himmel aber regierte noch immer Dunkelheit.

»Ich will zur Snaiwamark-Karawane«, sagte Orgrim ruhig. Er spürte, dass sie ihn erkannten, und fürchtete, die Lutin würden den Wachen befehlen, ihn aufzuhalten.

Aber nichts dergleichen geschah. Sie schienen noch nicht informiert zu sein, dass König und Kronrat ihn zum Bleiben verdammen wollten.

Einer der Fuchsmänner rief ein Wort der Macht. Orgrim hatte schon oft erlebt, wie ein Tor zum Goldenen Netz geöffnet wurde. Dennoch hatte er nie seinen Respekt davor verloren. Es jagte ihm Schauer über den Rücken. Das waren keine Wege, die den Trollen bestimmt waren. Aber er hatte keine Wahl. Ein Fußmarsch zur Karawane hätte viele Wochen gedauert. Wer zu den Herren Albenmarks gehören wollte, der musste auch bereit sein, durch das Netz der Albenpfade zu reisen. Anders war eine ganze Welt nicht zu beherrschen. Er lächelte zynisch. Dabei war es das Letzte, wonach er strebte ... Weltherrschaft! Hätte er die Wahl gehabt, würde er sich auf die Nachtzinne zurückziehen, um seine toten Welpen trauern und neue Weiber nehmen. Er war des Krieges müde. Die endlosen Kämpfe mit den Kentauren führten zu nichts. Weder konnten sie die verdammten Pferdemänner besiegen, noch hatten diese die Macht, die Herrschaft der Trolle zu beenden. Alle zahlten mit Blut. Mit ganzen Strömen davon.

Und was konnte gewonnen werden? Nichts!

Was wohl aus Baidan geworden wäre? Er war ein guter und umsichtiger Planer gewesen. Sicherlich hätte er eines

Tages einen guten Fürsten abgegeben. Jetzt war er tot. Gestorben für die wirren Träume Gilmaraks. Trolle waren nicht dazu berufen, die ganze Welt zu beherrschen!

Der Bogen aus Licht erhob sich über den stillen Thronsaal. Orgrim blickte mit Sorge in das Dunkel jenseits des goldenen Pfades. Das Nichts. Die Heimat der Yingiz. Sie war nur eine Handbreit entfernt, wenn man die Albenpfade betrat. Gebannt durch die Magie der Alben. Für wie lange?

Klackend hinkte er auf das Tor zu, als ein Schatten das Licht überlagerte. Einer der Lutin musste den Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkt haben. Er trat vor, um durch das Tor zu blicken.

»Was ist...« Orgrim warf sich zur Seite und zog Baidans Vater mit sich. Das Nichts spie eine riesige, haarige Kreatur aus. Lange, gebogene Stoßzähne schnitten durch die Luft.

Der Lutin, der durch das Tor geblickt hatte, wurde von einem gewaltigen Fuß zermalmt.

Orgrim kroch rückwärts von dem Tor fort.

Ein Mammut! Schrill trompetend stürmte es auf das hohe Tor des Thronsaals zu. Seine Augen in Panik geweitet. Der Palastboden erbebte unter seinen Tritten.

»Schließt das Tor!«, rief Orgrim den Wachen zu. Doch keiner hatte den Mut, sich dem riesigen Tier in den Weg zu stellen.

Das Leichenfeld

Der Gestank überlagerte jegliche anderen Sinneswahrnehmungen. Er dominierte alles.

Und drückte allen anderen Empfindungen seine Note auf. Warmer Dunst stieg aus den unzähligen toten Körpern. Er berührte einen, wenn man über das Schlachtfeld ging. Und es gab keinen gnädigen Wind, der ihn davontrug.

Mit jedem Atemzug drängte sich ein fauliger Geschmack auf die Zunge und in den Rachen. Er legte sich wie eine zweite Haut dorthin. Und ganz gleich, wie oft man aus-spuckte, diese Haut blieb.

Die Toten waren nicht still, wie es sich gehört hätte und wie es auf einem winterlichen Schlachtfeld in der Snaiwamark gewesen wäre. Ihre Körper rumorten. In ihren Därmen arbeitete es. Sie waren aufgequollen von Gasen, die sich ab und an einen Weg brachen. Selbst die Augen wurden belagert. Es war nicht allein das unsägliche Grauen.

Die Tausenden von Toten, so zerschunden, dass man sie kaum wiedererkennen konnte. Da waren auch die Fliegen. Wie ein schwarzer Schleier hingen sie in der Luft und ließen den Horizont verschwimmen. Ihr Geräusch übertönte selbst das Rumoren der faulenden Gedärme. Und überall quoll ihre Brut aus dem zerrissenen Fleisch.

Orgrim hatte schon viele Schlachtfelder gesehen. Dieses war das erste, auf dem er ein Gast war. Er hätte hier sein sollen. Sie alle waren ihm anvertraut gewesen. Von der Karawane lebten nur noch jene, die mit ihm evakuiert worden waren. Von all den Kriegern, die mit ihm die Nachtzinne verlassen hatten, waren ihm noch drei verblieben. Drei! Er hätte schreien können! Dabei hätte er es wissen müssen. Er hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Es hatte einen Grund dafür gegeben, dass diese Belagerung stattfand. Die Belagerung, die die Kentauren nicht hatten gewinnen können.

Ihr Angriff in jener Nacht hatte ihn auf den falschen Weg gebracht. Ihm waren Zweifel gekommen, ob sie nicht doch das Zeug hatten, die Schiffsburg zu überrennen. Und seine Zweifel hatten ihm den klaren Blick verstellt! Er hätte sie alle fortbringen müssen, statt den Kronrat um Erlaubnis zu fragen! Er war der Befehlshaber. Das war seine Verantwortung gewesen! Er hatte versagt!

Kein einziges der Steppenschiffe hatte es überstanden. Er hätte das für unmöglich gehalten. Feuer, ja. Eine vernichtende Flut. Daran hatte er gedacht. Die Kentauren hatten eine ganz andere Waffe gefunden. Vom ersten Tag an, an dem sie hier beim großen Albenstern ihr Lager aufgeschlagen hatten, hatten sie gewusst, was kommen würde.

Vielleicht nicht die Stunde oder den Tag. Aber sie hatten es gewusst. Und sie hatten ihn dazu verführt, hierzubleiben.

Fünf Tage waren vergangen, seit das Mammut in den Thronsaal gestürmt war. Er hatte das magische Tor öffnen lassen, als das hier geschah. Es war durch den Lichtbogen gestürmt. Vielleicht auch noch andere Tiere. Bestimmt. Es mussten Hunderte gewesen sein. Doch nur das eine war nicht ins Nichts gestürzt.

Schon am nächsten Tag hatten sie Späher geschickt. Es waren noch Kentauren in der Nähe. Nur einer der Späher hatte es zurückgeschafft. Und auch der mit einem Pfeil in der Brust. Sie hatten Zeit verstreichen lassen. Gilmarak hatte alle Trollkrieger bei Hof versammelt, die sich im Herzland aufhielten. Es waren über Tausend gekommen.

Skanga hatte es nicht gewollt ... Seit ihrem ersten Angriff auf Burg Elfenlicht schreckte sie davor zurück, mit Heerscharen das Goldene Netz zu betreten. Doch Gilmarak hatte selbst ihr getrotzt. Er hatte es durchgesetzt. Sie war mit ihm gekommen. Und mit ihr ihre vermummte Dienerin. Auch der gesamte Kronrat war hier.

Die meisten der Kobolde hielten sich parfümierte Tücher vor ihre langen Nasen.

Allerdings nicht Elija Glops. Und auch nicht Anderan, Baidans Vater. Der Herr der Wasser wanderte über das Leichenfeld und starrte. Die meisten anderen wollten schnell fort von hier. Anderan nicht. Er nahm all das in sich auf. Er stellte sich dem Grauen. War ihm bewusst, welche Mitschuld er trug?

Der Kronrat hatte Gilmarak darin unterstützt, die Snaiwamark-Karawane Wirklichkeit werden zu lassen.

Und diese verrückte Straße. Hätte sich der Kronrat entschieden gegen die Pläne des Königs gestellt, dann hätte sie den jungen Herrscher vielleicht umgestimmt. Orgrim konnte sich immer noch nicht erklären, welchem Zweck diese Straße diente. Er wusste, was in den Karren gewesen war. Gold. Unglaublich viel Gold. Noch immer konnte man Goldstücke, zerhackten Schmuck und Perlen im Schlamm aus Blut und schwarzer Steppenerde sehen. Das meiste Gold hatten die Kentauren eingesammelt. Gilmarak hatte zwar alle Münzwährungen abgeschafft und den Tauschhandel wieder eingeführt, aber nicht alle hielten sich daran. Entgegen dem Willen des Königs war Gold immer noch nicht wertlos. Warum hatte er es in die Snaiwamark schaffen wollen?

»Wir könnten Uttika niederbrennen«, hörte er Elija sagen. »Die Steppenstämme bekommen wir nicht zu fassen. Aber die Uttiker können nicht vor uns davonlaufen.

Ihre Fürsten haben große Ländereien. Landhäuser, auf deren Felder Hunderte Kobolddiener arbeiten. Wie Sklaven!«

»Das war nicht Katanders Werk«, sagte Orgrim laut. »Ich kenne ihn. Er kämpft nicht auf diese Weise. Er hat sich jeden Morgen dem Beschuss der Katapulte ausgesetzt, um seinen Mut zu beweisen. Tapfer, aber völlig sinnlos. Das hier ist das Werk von Nestheus. Katander war nur sein Verbündeter. Dann könnten wir auch gleich losziehen und die Wälder der Maurawan niederbrennen. Auch sie haben mit den Kentauren gekämpft.«

»Und was schlägst du vor, großer Kriegsherr?« Skangas Stimme war leise. Sie stand mehr als dreißig Schritt von ihm entfernt, und doch hörte er sie so deutlich, als wäre sie neben ihm und würde ihm ins Ohr flüstern. Und er hätte geschworen, dass alle anderen genauso empfanden. Alle Gespräche auf dem Schlachtfeld waren verstummt.

Alle blickten zu ihm. Manche besorgt. Andere voll boshafter Neugier. Ihr Tonfall hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er ihre Gunst verloren hatte. Man konnte ohne die Gunst des Königs leben. Man zog sich dann einfach zurück. Aber wer Skangas Missfallen erregte, der blickte in sein offenes Grab.

»Ein kluger Mann vermeidet einen Krieg, den er nicht gewinnen kann.«

»Du glaubst, wir verlieren?« Selbst das Fliegengesumm verstummte jetzt. Unheimliche Stille lag auf dem Schlachtfeld.

Orgrim machte eine weit ausholende Geste. »Sieht das nach einem Sieg aus?«

»Wir haben gelernt, uns nicht noch einmal einer Mammutherde in den Weg zu stellen, würde ich sagen.« Es war Gilmarak, der nun sprach. »Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass du, mein Feldherr, noch nicht ganz begriffen hast, worum wir kämpfen.

Wir werden nun ins Herzland zurückkehren. Es wird eine neue Flotte von Steppenschiffen gebaut werden. Heute Abend besuchst du mich, Orgrim. Du und Skanga. Unsere Schamanin wird dich daran erinnern, dass Trolle ihrem König gehorchen. Und ich werde dich lehren, worum es wirklich geht. Ich glaube, wir haben grundverschiedene Vorstellungen vom Sieg, der zu erreichen ist. Du willst nur Schlachten gewinnen, Orgrim. Ich aber, ich werde die Welt verändern. So tiefgreifend, dass niemand es mehr rückgängig machen kann!«

Загрузка...