»Was siehst du am Horizont?«
Die Königin hatte wieder diesen entrückten Blick. Eine Ewigkeit war vergangen, seit er für sie gestorben war, auch wenn für ihn erst wenige Wochen verstrichen zu sein schienen. Falrach hatte eine ganz andere Emerelle gekannt. Neben ihm stand eine Fremde. Er durfte sie nicht einmal bei ihrem Namen nennen, dem letzten Wort, das in seinem vergangenen Leben über seine Lippen gekommen war. Sie gab sich als Nandalee aus. Dies war der Name ihrer Mutter gewesen.
»Die Zukunft.« Emerelles Antwort kam spät. Falrach hatte nicht mehr damit gerechnet, dass sie noch etwas sagen würde.
Er blickte über die verschneiten Hügel. Es war windstill und so kalt, dass seine Haut an dem silbernen Knauf seines Schwertes festkleben würde, sollte er es unvorsichti-gerweise mit bloßer Hand berühren.
Hinter den Hügeln am Horizont stand Rauch wie die Wolken eines heraufziehenden Unwetters am Nachthimmel. Der Glanz der Sterne, der vom frisch gefallenen Schnee in den Nachthimmel zurückgeworfen wurde, wob ein magisches Licht. Die Rauchwolke störte die Harmonie dieses Zaubers. Dicht und bedrückend hing sie tief am Himmel und schimmerte rotorange, in der Farbe frisch vergossenen Drachenblutes.
Es war der Widerschein der Essen von Feylanviek.
Makarios stapfte unruhig mit den Hufen. Sie hatten den Viehtrieb des Kentaurenfürsten begleitet. Ihr Lohn waren zwei alte Pferde gewesen. Falrach mochte sie nicht, aber Emerelle hatte es geschätzt, nicht länger zu Fuß gehen zu müssen.
»Ihr solltet der Stadt nicht näher kommen«, warnte der Kentaur. »Das Leben eines Elfen ist dort keinen Büffelfurz wert.«
»Warum?« Sie kannte die Geschichten über Feylanviek. Und Makarios wusste das.
Kentauren waren nicht dafür berühmt, ihre Gefühle zu beherrschen. Allerdings hatten die meisten von ihnen großen Respekt vor Elfen. An Makarios Schläfe schwoll eine Ader so sehr an, dass man das Blut darin pochen sehen konnte. »Du weißt um den Fürsten Shandral, edle Dame. Und du weißt, wie sehr die Kobolde in der Stadt unter seinen Grausamkeiten gelitten haben. Ein Elf sollte dort nicht hingehen.«
»Eben weil sie so sehr gelitten haben, muss ich gehen.«
Der Kentaur schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich glaub es nicht! Wie deutlich muss ich es noch sagen, Nandalee. Die werden mit deinem kleinen Elfenarsch Dinge anstellen, die du dir nicht einmal im Entferntesten …«
Falrach trat vor den Kentauren. Er konnte nicht zulassen, dass dieser so mit der Königin sprach. Auch wenn der Kentaur keine Ahnung hatte, wer wirklich vor ihm stand. »Das genügt.« Er sagte das leise, und seine Augen fingen den Blick des Kentauren.
Makarios’ Unterlippe zitterte vor Wut. Eiskristalle funkelten in seinem struppigen blonden Bart. Lange maßen sie einander mit Blicken. Endlich seufzte der Steppenfürst.
»Elfen tun immer, was sie für richtig halten, nicht wahr? Selbst jetzt noch, nach all dem, was geschehen ist.« Seine Wut war verraucht. Er klang enttäuscht. Sie würden ihn nach dieser Nacht wahrscheinlich nie mehr wiedersehen, dachte Falrach.
»Du irrst dich, Makarios. Elfen wissen, was richtig ist.«
Falrach zuckte innerlich zusammen, als die Königin sprach. Früher war sie taktvoller gewesen.
Der Kentaur schnaubte wie ein zorniger Bulle. »Das habe ich gesehen. Ich war am Mordstein, als deinesgleichen Feuer vom Himmel regnen ließen. Ihr habt die Schlacht gewonnen, aber ihr habt die Trolle nicht besiegt. Wie konnte das geschehen? War das der Plan? Mein Bruder ist damals gestorben. War das der Plan?« Die letzten Worte hatte er förmlich hinausgeschrien.
»Frag Ollowain. Er war der Heerführer an jenem Tag.«
Der Kentaur ballte die Fäuste. »Der Schwertmeister war der anständigste Elf, der jemals gelebt hat. Du wirst seinen Namen nicht in den Schmutz ziehen, du ... «
»Du hast Ollowain gekannt?« Der Tonfall, in dem Emerelle fragte, versetzte Falrach einen Stich. In ihrer Stimme schwang mehr mit als nur allgemeines Interesse an einem geschätzten Freund.
»Nicht gekannt ... « Die Frage brachte Makarios offensichtlich durcheinander. »Aber ich habe ihn gesehen, von Ferne. Als er das Heer vor Feylanviek gesammelt hat. In meinem Volk gibt es viele Lieder über ihn.« Er bedachte sie beide mit einem vernichtenden Blick. »Und Kentauren singen nicht oft über Elfen.«
»Und doch kamt ihr, als die Königin Emerelle euch zu den Waffen gerufen hat.«
Er lachte bitter auf. »Natürlich! Schließlich mussten die Trolle auf ihrem Weg zur Elfenkönigin zuerst durch unser Land.« Seine Schultern sanken herab. Plötzlich sah er um Jahre gealtert aus. »Wir hätten davonlaufen sollen. Meine Brüder und Freunde sind auf den Schlachtfeldern des Grasmeers zum Rabenfraß geworden. Der Grabhügel meiner Ahnen ist geschändet. Man hat ihn zum Schlachthaus gemacht. Die über Jahrhunderte wohl verwahrten Leichname der Fürsten meines Volkes füllten Trollmägen. Die Lutin, mit denen uns Kentauren ein Pakt verband, so alt wie die Steppe ... diese Lutin haben uns verkauft. Haben den Zauber, der meine Ahnen vor dem fauligen Atem der Zeit bewahrte, missbraucht, um die Grabhügel mit Büffelfleisch zu füllen. Sie haben unsere heiligsten Stätten heimlich zu den Vorratslagern des Trollfeldzugs gemacht. Sie ...« Er ballte in hilfloser Wut die Fäuste.
»Und doch treibst du Handel mit den Trollen«, stellte Emerelle unerbittlich fest.
»Was soll ich tun?«, fauchte der Kentaur. »Die Meinen brauchen Salz. Und Eisen für Waffen, mit denen wir die Trolle eines Tages vertreiben werden.«
»Wirst du, nach all dem, was du verloren hast, kommen, wenn die Elfen noch einmal zum Kampf rufen?«
»Um die Trolle zu vertreiben? Lieber heute als morgen. Aber die Elfen sind besiegt.
Eure Königin hat einfach aufgegeben. Alle im Stich gelassen, die an sie geglaubt haben.
Ohne sie sind die Elfen zu uneins. Sie sind verrückt. So wie du. Du solltest nicht nach Feylanviek gehen. Dort spielt man deinesgleichen übel mit. Du solltest dein Schicksal nicht unnötig herausfordern, Nandalee.«
Die Worte waren Falrach aus dem Herzen gesprochen, aber er wusste, dass Emerelle sie einfach abtun würde. Sie wollte sich der Gefahr ausliefern, warum auch immer. Für den Kampf, in dem er einst gestorben war, hatte es einen guten Grund gegeben. Aber das hier ... Wem wollte sie etwas beweisen? Sie blickte wieder zum Horizont. Dorthin, wo die Feuer Feylanvieks die Wolkenränder in die Farbe von Drachenblut tauchten.
»Unsere Wege trennen sich hier«, sagte Makarios, der es augenscheinlich müde geworden war, Emerelle von ihrer Entscheidung abbringen zu wollen. »Ich wünsche euch beiden Glück. Ihr werdet es gewiss brauchen. Wenn ihr Ärger bekommt, erwartet nichts von mir. Ich werde sagen, dass ich euch nicht kenne.«
»Ich weiß, du brauchst Salz.«
Der Kentaur schnitt eine Grimasse, als habe man ihm einen Dolch zwischen die Rippen gestoßen. Er sah zu Emerelle zurück, doch diese würdigte ihn keines Blickes. »Du solltest nicht mit ihr gehen«, flüsterte er Falrach zu.
»Sie ist unerbittlich. Solche Frauen ziehen Unheil an.«
»Ich kann nicht anders«, entgegnete er dem Kentauren. »Ich ...«
»Ja, ich sehe schon, dass es kein Eid ist, der dich an sie bindet. Es ist schlimmer. Gib acht auf dich. Die dümmsten Dinge, die wir Männer tun, sind jene Dinge, die wir aus Liebe zu einer Frau tun. Wenn du alt wirst...« Er runzelte die Stirn. »Nein, du wirst es nie verstehen. Denn du wirst nicht alt werden, wenn du ihr folgst. Diese Elfe ist dein Tod. Komm mit mir!«
Obwohl die Straßen Feylanvieks so belebt waren, dass man nur langsam vorankam, war kein einziger Elf zu sehen. Emerelle drehte sich im Sattel und blickte zu der Schmiede, die auf einer steinernen Brücke mitten im Fluss lag. Sie hatte von diesem Ort gehört. Hier hatte Shandral seine grausamen Exzesse an den Kindern Albenmarks betrieben. Sie hätte ihm Einhalt gebieten müssen. Vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen.
Die große Schmiede war niedergebrannt, das Dach eingestürzt. Ein paar rußgeschwärzte Steine waren alles, was von den Wänden übrig geblieben war. Ein Großteil des hölzernen Räderwerks, das die pferdekopfgroßen Schmiedehämmer betrieben hatte, schien auf wundersame Weise die Feuersbrunst überstanden zu haben.
Auch eines der drei großen Wasserräder, die unter den Brückenbögen in die Fluten eines Seitenarms des Mika eintauchten, war augenscheinlich noch intakt.
Neben einem der mächtigen Ambosse stand ein Troll und beobachtete sie misstrauisch. Trotz der großen Kälte trug er nur einen Lendenschurz. Er stützte sich auf einen mannshohen Streitkolben, der mit schwarz glänzenden Obsidiansplittern besetzt war. Vulkanglas aus der Snaiwamark. Obwohl sie mächtige Krieger waren, mieden die Trolle jegliches Metall. All ihre Rüstungen und Waffen waren allein aus Holz, Stein und Leder gefertigt. Wulstige Narben zogen sich von der Stirn bis zu den Wangen hinab. Einen merkwürdigen Geschmack für Ästhetik hatten die Trolle. Das waren keine Kampfverletzungen, sondern Schmuck. So auszusehen, ehrte einen Kämpfer.
Die Königin ließ den Blick über die Häuser am Ufer schweifen. Dort standen Fachwerkbauten aus Lehm, Weidengeflecht und mit üppigen Schnitzereien verzierte Balken. Grellbunte hölzerne Schilder hingen an rostigen Eisenarmen und priesen die Güter der Handwerkssippen, die sich entlang des Flussarms niedergelassen hatten.
Robbenfellmäntel, Bernsteinschnitzereien, Silberschmuck und dickwandige Tontöpfe in jeder Größe, die vollmundig als härter denn ein Trollschädel gepriesen wurden.
Dabei war jedes der Häuser in einer anderen Farbe gehalten. Gelb-, Rot- und Türkistöne waren vorherrschend. Aber man sah auch Lindgrün und vereinzelt ein Knochenweiß. Sie alle hatten gemein, dass Schmutzschlieren über die Wände liefen und den üppigen Farben den Glanz nahmen. Erker wucherten wie geometrische Geschwüre aus den windschiefen Wänden.
Keines der Häuser war in einem einheitlichen Baustil gehalten. Selten sah man zwei gleich große Fenster, und auch die Etagen hatten sehr unterschiedliche Höhen.
Scheunengroße Eingangstüren lagen unter winzigen Balkonen mit Geländern aus vergoldetem Schmiedewerk. Alle Giebel schnitten in spitzen Winkeln in den rauchverhangenen Himmel. So boten sie dem Schnee nur wenig Halt, der in den lan gen Wintermonden so reichlich fiel, dass viele der kleineren Häuser eine zweite Haustür im Dachgiebel besaßen.
Falrach ritt mit ausdrucksloser Miene an ihrer Seite. Seit gestern Abend hatte er keine Fragen mehr über den Sinn dieses Ausflugs gestellt. Er hielt ihn für eine Laune und für äußerst gefährlich. Sie wusste, dass er so dachte, obwohl er für sie Partei ergriffen hatte. Seine Liebe machte ihn bedingungslos loyal. Es war seltsam, Ollowain vor Augen zu haben und mit Falrach zu sprechen. Der Schwertmeister hätte ihr sehr deutlich gesagt, was er davon hielt, zu zweit in eine mutmaßlich feindlich gesonnene Stadt zu reiten. Aber auch er wäre bei jeder Torheit an ihrer Seite geblieben. In manchen Dingen waren sich die beiden sehr ähnlich, auch wenn sie grundverschiedene Beweggründe für ihr Handeln hatten. Ollowain hatte sie nicht geliebt. Er vermochte den Verlust Lyndwyns nicht zu verwinden. Sie war eine begabte Magierin gewesen, doch von zweifelhafter Vertrauenswürdigkeit wie alle Elfenadligen aus dem Fürstenhaus von Arkadien. Lyndwyn war bei den Kämpfen um die Felsenburg Phylangan gefallen.
Emerelle zog an den Zügeln. Ihr Grauer verharrte. So viele Tote hatte es gegeben! Und doch hatten die Trolle zuletzt den Thron Albenmarks gewonnen. Alle Kämpfe waren vergebens gewesen. So schien es zumindest...
Sie blickte hinab auf den zugefrorenen Kanal. Das Eis hielt die Frachtkähne gefangen.
Bunt bemalte Boote mit Augen, die hoch im Rumpf über das Wasser wachten. Farbe blätterte an manchen Stellen ab und legte tiefere Schichten frei. Blau, das auf Rot gemalt war. Schmutziges Weiß über Flaschengrün.
Alles, was einmal Ollowain gewesen war, war abgeblättert. Die Seele Fairachs, jenes Mannes, den sie einst geliebt hatte, war wieder freigelegt. Wie war es für ihn zurückzukehren? In seinem Empfinden war wohl nur ein Augenblick vergangen, seit der sengende Drachenatem sein Leben ausgelöscht hatte. Für sie hingegen unzählige Jahrhunderte.
Wie viele Schichten neuer Farbe lagen über der Emerelle, die er einmal gekannt hatte?
Gab es einen Weg zurück zu ihr? Schimmerte noch etwas hindurch, so wie bei den alten Booten, die der Fluss in eisigem Griff gefangen hielt?
Sie hatte ihren Thron verloren. Sie war heimatlos. Eine fahrende Ritterin, so wie damals, als sie Falrach zum ersten Mal begegnet war. Doch damals hatte sie eine Aufgabe gehabt. Ein Ziel, für das sie alles geopfert hätte. In den Wochen, die verstrichen waren, seit ihr Thron verloren war, hatte sie sich einfach treiben lassen.
Emerelle wusste nicht, welches neue Ziel sie ihrem Leben geben sollte. Sie lächelte melancholisch. Immerhin wusste sie, was sie nicht wollte. Nie wieder würde sie in den Thronsaal Burg Elfenlichts zurückkehren. Nie wieder die Last der Krone tragen!
Sie sah hinab auf das Eis. An manchen Stellen hatten sich scharf gezackte Schollen übereinandergeschoben und türmten sich zu flachen Tafelbergen. Ruß und allerlei Unrat sprenkelte das Weiß. In der Mitte, wo die Strömung des Kanals am stärksten war, schien das Eis nur dünn zu sein. Man konnte das dunkle Wasser hindurchschimmern sehen.
Verstohlen blickte die Königin zu ihrem Begleiter. Ollowain hatte sich Lyndwyn gegenüber nach ihrem Tod wohl bis ans Ende aller Zeiten schuldig gefühlt. Hatte er sie wirklich geliebt? Oder war es allein diese Schuld, die ihn an Lyndwyn gebunden hatte? Sie würde es nie mehr erfahren.
Emerelle wusste nicht, was genau mit ihrem Schwertmeister nach der Schlacht am Mordstein geschehen war, aber die Persönlichkeit Ollowains hatte sich vollständig aufgelöst. Wahrscheinlich war er das Opfer eines heimtückischen Zaubers geworden, während er der Sklave der Lutin gewesen war. Er war wie ein Stück Pergament, das gründlich mit einer feinen Klinge abgeschabt worden war. Die Geschichte seines jahrhundertelangen Lebens war vollständig ausgelöscht. Zurück blieb allein ein leeres Blatt.
So hatte Falrach von Ollowains Leib Besitz ergreifen können. Er war eine frühere Inkarnation der Seele des Schwertmeisters, der wohl berühmteste Feldherr der Elfen. Ein genialer Taktiker, ein Spieler und Frauenheld, ein wahrer Blender. Ihre erste Liebe.
Falrach hatte im Drachenkrieg sein Leben gegeben, um sie zu retten. Jahrhundertelang hatte sie um ihn geweint. Jede Inkarnation seiner Seele hatte sie aufgespürt. Lange hatte sie geglaubt, ihre Trauer und ihr Schmerz würden niemals enden. Wohl verborgen hinter der Maske der kühlen Herrscherin aber waren sie stets nahe gewesen.
Doch mit der Zeit waren diese Gefühle zu eitlem Beharren geworden.
Zeit, die Granitgebirge zu flachen Ebenen schleifte. Zeit war die Herrin von allem.
Selbst die Liebe und ihr selbstsüchtiger Schmerz unterwarfen sich ihr. Sie hatte Falrach nicht vergessen, doch ohne es zu wollen, hatte sie sich in Ollowain verliebt. Ihren Schwertmeister, den selbstlosen Ritter, der seine Ideale nie den Kompromissen unterworfen hatte, die die komplexe Dialektik der Herrschaft ihr aufzwang. Als sie einander zum letzten Mal begegnet waren, hatten sie heftig gestritten. Er hatte sie in eine ausweglose Lage gebracht. Sie hatte ihn in die Bibliothek von Iskendria geschickt, um nach verschollenem Wissen zu forschen. Dabei begleitete ihn die Lutin Ganda.
Eben diese Lutin war es, die ein Buch stahl, das einst von Meliander verfasst worden war. Der kluge, zärtliche Meliander. Noch ein Opfer der Zeit, dachte Emerelle traurig.
Ihr Bruder war um so vieles empfindsamer gewesen als sie. Er hatte sich einst selbst entleibt, um seinen Weltschmerz zu beenden. Melancholie löschte sein Leben, das nach Jahrhunderten zählte.
Wer die Bibliothek von Iskendria betrat, wurde darüber unterrichtet, dass das schwerste aller Verbrechen am dortigen Ort darin bestand, einen Text zu stehlen oder zu vernichten. Ein Verbrechen, das stets mit der Todesstrafe gesühnt wurde. Emerelle war sich ganz sicher, dass Ollowain nicht das Buch Melianders gestohlen hatte. Gewiss war es die Lutin Ganda gewesen. Aber der Schwertmeister hatte alle Schuld auf sich genommen und darauf bestanden, dass Ganda unschuldig sei.
Was zählte eine Königin, die sich über die Gesetze stellte? Was zählten Gesetze, wenn sie nicht für jeden gleich waren?
Sie hatte es nicht fertiggebracht, ein ehrenvolles Leben mit einer Hinrichtung im Hof ihrer Burg zu beenden. Zugleich war sie zornig darüber gewesen, dass Ollowain offensichtlich darauf vertraut hatte, sein Rang und ihre Liebe würden ihn vor der Strafe schützen. Sie hatte ihn in die Schlacht gegen die Trolle geschickt und befohlen, nicht lebend zurückzukehren. Und er hatte gehorcht, wie immer. Sie würde wohl niemals erfahren, was genau danach geschehen war. Ollowain gab es nicht mehr. Der Bote, der ihren Befehl widerrufen sollte, hatte ihn nicht mehr erreicht. Niemand würde je wieder Ollowain erreichen, dachte sie bitter.
»Nandalee.«
Es dauerte zwei Herzschläge, bis Emerelle begriff, dass sie gemeint war.
»Ich denke, die sind unseretwegen hier«, sagte Falrach leise.
Die Königin folgte seinem Blick. Drei Trolle und eine ganze Schar Kobolde mit roten Mützen kam die Straße entlang auf sie zu. Ihr Anführer, ein Kerl in hohen Schaft-stiefeln, deutete mit seinem Säbel, der kaum so groß wie ein Brotmesser war, in ihre Richtung. »Nehmt die Feinde des Volkes fest.«
Die Trolle gehorchten dem Befehl, doch die Kobolde, die mit Spießen und Heugabeln mehr schlecht als recht bewaffnet waren, zögerten.
»Jetzt ist der Zeitpunkt, auf Makarios’ Rat zu hören.« Falrach zog sein Pferd um den Zügel.
»Ich bleibe«, sagte Emerelle entschieden. Sie wollte wissen, was geschehen würde.
Deshalb war sie hierher gekommen. »Wir haben nichts Unrechtes getan.«
»Manchmal reicht das nicht. Komm!«
Die Königin strich ihrem Grauen über den Hals. Der Hengst stampfte unruhig mit den unbeschlagenen Hufen. Die Trolle machten ihm Angst. Sie waren nur noch wenige Schritt weit entfernt.
Falrach griff nach ihren Zügeln. »Sei nicht so verdammt halsstarrig.«
Ein Stück hinter ihnen wurde ein Heuwagen quer über die Straße geschoben. Jetzt war jeder Fluchtweg versperrt. Falrach hörte das Knirschen der eisenbeschlagenen Karrenräder auf dem Pflaster. Er drehte sich um und fluchte. Mit Elfenpferden hätten sie hinab auf das schmutzige Eis des Kanals springen können. Aber die struppigen, kleinen Steppenpferde der Kentauren würden durch die Eiskruste brechen und elendig im Kanal ersaufen. Es gab keinen Ausweg mehr.
Ein Troll packte in die Mähne ihres Hengstes. Der Graue stieß ein schrilles Wiehern aus. Er versuchte zu steigen, doch gegen den eisernen Griff des Trollkriegers kam er nicht an. Obwohl Emerelle im Sattel saß, überragte sie der Troll um mehr als Haupteslänge. Der Krieger sah sie misstrauisch an. »Leg deine Hand ans Schwert, und ich mach dich tot«, stieß er hervor und schien dabei ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass sie ihn verstand.
Der Hengst keilte aus. Ein Huf traf den Troll am Knie. Er grunzte und schlug dem Grauen den Ellenbogen gegen den Kopf. Der plötzliche Schlag riss den Hengst zu Boden. Emerelle war mit einem Satz aus dem Sattel. Sie landete sicher auf den Füßen.
Fast hätte sie nach ihrem Schwert gegriffen, einfach aus Gewohnheit. Auch wenn sie seit langem nicht mehr in die Schlacht gezogen war, hatte sie doch regelmäßig ihre Fechtübungen absolviert.
Ihr Hengst schlug schwer auf das Pflaster. Blutiger Schaum troff aus seinem Maul.
Emerelle zwang sich, ruhig zu bleiben.
»Ihr beide seid verhaftet!«, rief eine schnarrende Stimme. Hinter dem Troll stand der Kobold in den Stulpenstiefeln.
Er deutete mit dem Säbel auf ihre Brust. Jetzt erst bemerkte Emerelle, dass ihm die rechte Hand fehlte.
»Warum willst du uns festnehmen?«, fragte sie, um Gelassenheit bemüht.
»Weil du eine der Trollwachen angegriffen hast.«
»Ich glaube, das war mein Pferd«, sagte sie in der Sprache der Trolle. »Wirst du es in den Kerker werfen?«
Der große Krieger verzog das vernarbte Gesicht zu einem Grinsen.
»Du machst dich lustig über mich? Über Dalmag Paschendrab, den Vogt von Feylanviek und Hüter der Gerechtigkeit?«, ereiferte sich der Kobold. Er stand jetzt dicht vor ihr; er reichte ihr kaum bis zum Knie. »Du bist als Reiterin für dein Pferd verantwortlich. Dir wird dein spöttisches Gerede noch leidtun, Elfe.« Der Kobold deutete auf Falrach. »Den Kerl nehmt ihr auch mit. Er ist ebenfalls angeklagt.«
»Was hat er getan? Dich mit einem Blick verletzt?«
Der Kobold schob seinen Säbel in die Schärpe. Er stützte seine verbliebene Hand in die Hüfte und bemühte sich augenscheinlich, würdevoll auszusehen.
»Nein, er trägt die Hauptschuld am Angriff auf den Troll. Ich gehe davon aus, dass der Fürst ihn zum Tode verurteilen wird.«
Für einen Augenblick verschlug es Emerelle die Sprache. »Das ist kein Recht«, stieß sie schließlich hervor.
»Jetzt beleidigst du auch noch unsere Gesetze. Mach nur so weiter, du redest dich um Kopf und Kragen.«
»Er hat doch gar nichts getan.«
»Eben«, sagte der Kobold mit selbstzufriedenem Nicken. »Das ist Teil seines Verbrechens. So wie du auf dein Pferd hättest achtgeben müssen, hätte dein Mann auf dich achtgeben müssen, Weib. Er hätte wissen müssen, was für eine schlechte Reiterin du bist. Es wäre seine Aufgabe gewesen, dir zu verbieten, zu Pferd nach Feylanviek zu kommen. Stell dir vor, es wäre durchgegangen und hätte ein paar spielende Kinder auf der Straße totgetrampelt.«
»Ich bin nicht sein Weib!«
»Oh!« Dalmag rollte mit den Augen. »Dann pflegt ihr also liederlichen Umgang miteinander, ohne euch ein Eheversprechen gegeben zu haben.« Er stieß einen keckern-den Laut aus. »Elfen! Völlig sittenlos und verkommen! Das ändert natürlich nichts daran, dass er verpflichtet gewesen wäre, auf dich aufzupassen.«
Emerelle hatte Mühe, ernst zu bleiben. Dieser Kobold sollte das Recht in Feylanviek verkörpern? Das konnte nicht sein! Es musste hier einen Trollfürsten geben. »Wie lösen wir unseren Streit? Werde ich vor ein Gericht gestellt?«
»Natürlich! Hier hat sich viel geändert, seit Shandral geflohen ist.« Er hob den Armstumpf. »Er hat behauptet, mein Bruder habe ihn bestohlen. Jeder in meiner Sippe hat dafür die rechte Hand verloren. Sogar Neugeborene! Er hat unsere Hände in seinem Haus ausgestellt. Mit vielen anderen. Sieh dich um in dieser Stadt und wundere dich, wie viele meinesgleichen mit nur einer Hand leben! Vor ein Gericht wurde keiner von ihnen gebracht. Du wirst es also viel besser haben als wir, Elfe.«
Sie war hier, um genau das zu erleben, was gerade mit ihr geschah. Als Königin war sie so sehr in die Sorge um die Zukunft Albenmarks verstrickt gewesen, dass sie die Gegenwart vernachlässigt hatte. Grausamkeiten wie die Taten Shandrals hätten niemals geschehen dürfen. Das würde sich von nun an wieder ändern. Als fahrende Ritterin würde sie sich gegen die Tyrannei stellen, so wie sie es einst getan hatte. Im Großen war sie gescheitert. Nun konnte sie sich einer Aufgabe stellen, der sie gewachsen war.
»Gerne werde ich mich der Gerechtigkeit deines Herrn überantworten. Ich vertraue tief darauf, dass ihr aus der Vergangenheit gelernt habt.« Sie hörte Falrach hinter sich scharf einatmen. Doch ihr Gefährte erhob keinen Widerspruch.
Dalmag wirkte enttäuscht, dass sie nicht versuchte, sich zu widersetzen. »Wir schieben es nicht lange hinaus«, sagte er schließlich. »Ich bringe dich zum Rudelführer Gharub. Er wird das Urteil fällen.«
Emerelle blickte auf den Grauen hinab. Der Troll hatte ihren Hengst bewusstlos geschlagen. Aber er würde wieder zu sich kommen. »Was wird aus meinem Pferd?«
»Ja, das Pferd ...« Der Kobold kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Dies ist eine der wenigen gepflasterten Straßen. Und der Schnee ist fortgeräumt, damit hier Karren fahren können. Dein Pferd stört den Fluss der Waren. Und Feylanviek ist eine Stadt des Handels. Da du vor Gericht kommst und dich um dieses Ärgernis nicht kümmern kannst, werde ich meinen Freund beauftragen, das Problem zu lösen.« Er stieß dem Troll mit dem Ellenbogen gegen das Bein. »Hörst du, Madra. Du wirst dieses verdammte Pferd hier wegschaffen. Es gehört dir. Ich erwarte aber, dass es umgehend von der Straße verschwindet.«
»Egal wohin?«, fragte der Troll.
»Egal«, entgegnete Dalmag und wandte sich wieder Emerelle zu. »Du wirst selbstverständlich für die Kosten aufkommen, die dadurch entstehen, dass ein Teil der Wachen dieser Stadt damit beschäftigt ist, sich um den Ärger zu kümmern, den du verursacht hast.«
»Das kostet nix«, sagte der Troll und kniete neben dem Pferd nieder. Er packte den Kopf des Tieres mit beiden Händen und riss ihn in einem Ruck herum. Ein scharfes Knacken ertönte. Er ließ den Kadaver auf das Pflaster zurücksinken und zog ein in seinen mächtigen Pranken geradezu zerbrechlich wirkendes Steinmesser hervor.
Emerelle wandte den Blick ab, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr der Blutgeruch in die Nase stieg.
Der Troll rief seine Kameraden herbei, während Falrachs Pferd ängstlich schnaubte.
»Halt deinen Gaul still«, herrschte ihn der Kobold an, der ungerührt zusah, wie seine Wachen sich als Metzger versuchten. Die lange Zunge glitt ihm über die schmalen Lippen. Er fand offenbar Gefallen an diesem blutigen Schauspiel. Emerelle fragte sich, wie er wohl gewesen war, bevor er seine Hand verloren hatte.
Bald lagen nur noch die Röhrbeine, der Kopf und ein Haufen Eingeweide auf der Straße. Dutzende Schaulustige hatten sich um sie versammelt. So ausgemergelt, wie die meisten von ihnen aussahen, war sich Emerelle sicher, dass sie nur darauf warteten, dass die Trolle etwas übrig ließen.
»Wir hätten das Blut auffangen sollen«, murrte einer der Trollkrieger. »Das hätte eine schöne Wurst gegeben.«
Der Kobold stieß ein kurzes, schnarrendes Lachen aus. »Dann weicht mir jetzt nicht von der Seite. Vielleicht gibt es ja bald noch eine andere Gelegenheit, Blutwurst zu machen.« Bei diesen Worten bedachte er Emerelle mit einem boshaften Blick. »Glaubst du ans Mondlicht, Elfenschlampe? Du würdest meine Wachen maßlos enttäuschen, wenn du einfach nur verblasst.«
Adrien schob die Dachschindeln auseinander und bemühte sich, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Er lag ausgestreckt im Schnee. Feuchtigkeit drang durch seine Kleider, aber er achtete kaum darauf. Zu groß war sein Hunger. Es gab hier keinen Hund, darauf hatte er als Erstes geachtet, als er das Haus ausgewählt hatte. Allerdings konnte man ihn vom Haus auf der anderen Seite des Hofes sehr gut sehen, falls jemand zufällig aus dem Fenster blickte. Die Gefahr war jedoch nicht sehr groß. Die Läden waren alle geschlossen, die Riegel vorgelegt. Zum einen wegen der Winterkälte, vor allem aber wegen des Wider gängers, der die Stadt seit Tagen in Schrecken versetzte. Nach Einbruch der Dämmerung wagte sich nur noch auf die Straße, wer keine andere Wahl hatte oder kein anderes Zuhause.
Warme, rauchgesättigte Luft schlug Adrien entgegen. Und das Aroma der Eselswürste. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen. Er schob sich ein Stück vor.
Ein Schneeklumpen fiel hinab in die Dunkelheit und schlug mit sattem Klatschen auf den Boden.
Adrien hielt den Atem an. War dort unten jemand? Der Fleischhauer war noch nicht gegangen, das wusste er. Genauso wie er wusste, dass der bullige Kerl immer abgelenkt war, wenn ihn das Blumenmädchen vom Heumarkt besuchte. So leicht hätte er es auch gerne! Sie trug jedes Mal eine kleine Räucherwurst in ihrem Korb, wenn sie ging. Und die hatte sie nicht gegen geflochtene Strohblumen getauscht.
Er seufzte. Er hatte ihr oft schöne Augen gemacht, aber sie beachtete ihn nicht einmal.
Und er konnte es ihr nicht verdenken. Was hatte er schon zu bieten, außer vielleicht genau diesen schönen Augen. Ganz gewiss keine Würste, die man nach Hause tragen konnte. Manchmal stel te er ihr im Verborgenen nach. Deshalb wusste er, dass sie hierherkam. Und oft galten seine letzten Gedanken ihr, bevor der Schlaf ihn übermannte.
Sie war so schön. Und er wusste nicht einmal ihren Namen ... Er hatte nicht gewagt, danach zu fragen. Es würde ihr gewiss zu Ohren kommen. Er sollte sie sich aus dem Kopf schlagen! Jetzt galt es, dafür zu sorgen, dass er wieder einen vollen Bauch bekam.
Von Träumen konnte man nicht leben!
Vorsichtig erweiterte Adrien das Loch zwischen den Schindeln. Sie waren nicht sonderlich fest gefügt. Brüchige, gebrannte Pfannen. Bedeckt mit eisverkrustetem Moos und nassem, pappigem Schnee. Als das Loch groß genug war, dass er bequem mit dem Arm hinablangen konnte, tastete er ins Dunkel. Bald bekam er einen der Dachsparren zu packen. Seine Finger glitten an dem Holz entlang, das vom alten Ruß ganz ölig war, bis er eine der Lederschnüre ertastete.
Adrien malte sich aus, was seinen Augen verborgen blieb. Die Räuchergerüste, die schräg unter der Decke der Dachkammer standen, behängt mit langen Reihen von Würsten. Vor ein paar Monden war er schon einmal hier gewesen. Er nahm nie viel.
Natürlich machte er sich nichts vor. Wenn zwei Würste in einer Reihe fehlten, dann blieb das nicht verborgen. Aber es war bescheiden genug, dass der Zorn über den Dieb schnell verrauchte.
Der Junge stellte sich vor, wie der Fleischhauer unter ihm im Dunkel stand, eines der großen Messer in den massigen Händen. Der Kerl war nicht zartbesaitet. Das sah man sofort.
Adrien verfluchte sich für seine Einbildungskraft. Manchmal war sie ein Segen, nämlich dann, wenn er sich ausmalte, dass die paar Abfälle, die er mit geschlossenen Augen herunterschlang, köstliche Spezereien von einer Festtafel waren. Weitaus häufiger war diese Gabe jedoch ein Fluch. Zu gut konnte er sich vorstellen, was bei seinen Diebereien alles missglücken mochte. Immerzu dachte er an alle möglichen Ungeschicke und Strafen, die ihm drohten.
Mit den Fingerspitzen machte er sich an der Lederschnur zu schaffen. Endlich bekam er das herabhängende Ende zu packen. Das Ende mit dem eisernen Haken, von dem die Wurst hing. Vorsichtig zog er sie durch das Loch im Dach. Sie roch köstlich. Er ließ den Haken an der Lederschnur zurückfallen. Eine noch ... War er maßlos? Nein, eine noch! Er wollte Nantour verlassen. Er war zu lange schon in der Stadt. Fast ein Jahr.
Das konnte nicht gutgehen. Er musste fort! Am besten in eine noch größere Stadt, wo er in der Masse der gesichtslosen Gossenkinder verschwinden konnte.
Adrien streckte sich. Wieder tastete er ins Dunkel. Eine Wurst noch. Dort unten in der Räucherkammer hingen bestimmt hundert Würste. Was waren da schon zwei. Er er tastete das Gerüst. Die erbeutete Wurst hatte er unter sein Hemd geschoben. Sie drückte gegen seine Brust. Heute Nacht würde er nicht hungern. Zum ersten Mal seit vielen Wochen.
Er erhaschte eine weitere Lederschnur. Mit dem Fingernagel des Mittelfingers zog er sie zu sich heran. Unendlich langsam.
Wieder rutschte Schnee durch die Lücke im Dach und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden der Räucherkammer. Adrien fluchte stumm. Hörte er da nicht Schritte im Haus? Er sollte nicht bleiben. Er gab es auf, nach der zweiten Wurst zu angeln. Vorsichtig schob er die beiden losen Dachschindeln zusammen. Wenn keine Lücke zu sehen war, dann würde der Fleischhauer vielleicht ein wenig länger brauchen, bis er begriff, was geschehen war. Das bedeutete ein wenig mehr Zeit, um zu entwischen.
Er ließ sich auf das Dach des Erkers rutschen und sprang von dort auf einen niedrigen Anbau. Noch ein Sprung und er war im Hof. Sein Herz raste. Es gab nur zwei Wege, die vom Hof fortführten. Den Torbogen, der neben dem Fleischerladen auf die Straße zum Heumarkt führte. Und den schmalen Durchgang zwischen den Weberhäuschen auf der anderen Seite. Durch den Torbogen würde der Fleischhauer kommen.
Adrien hastete geduckt über den Hof. Er mied es, in Pfützen zu treten. Der nasse Schnee griff schmatzend nach seinen nackten Füßen. Er spürte die Kälte kaum. Das würde erst später kommen. Noch im Laufen biss er in die Wurst. Was er im Bauch hatte, dass konnte ihm keiner mehr nehmen.
Als er den Durchgang zwischen den Weberhäusern erreichte, hielt er inne. War der Fleischhauer jetzt in seiner Räucherkammer? Vielleicht blieb sein Diebstahl noch die ganze Nacht unentdeckt. Vielleicht hatte das Blumenmädchen ihm gerade ins Ohr geflüstert, was für ein wunderbarer Liebhaber er war?
Auf jeden Fall sollte er nicht auf die Straße hinter den Weberhäusern hinauslaufen.
Wer rannte, erregte Aufmerksamkeit. Und die Straßen waren leer. Adrien dachte an die Geschichten über den Widergänger und biss erneut von der Wurst ab. Köstlich!
Der Fleischhauer verstand sein Handwerk! Was er wohl alles unter das Fleisch mischte?
Adrien trat in den Durchgang. Es stank nach Pisse. Bestimmt wurden hier jeden Morgen die Nachttöpfe der Webersippschaft entleert. Der Junge hielt den Atem an und watete durch den Matsch. Diesen Weg nahm gewiss nur, wem sein Schuhwerk egal war oder wer sich keines leisten konnte.
Er trat hinaus auf den langen, geraden Seilersteig. Keine Menschenseele war zu sehen.
Durch einige Fensterläden fiel gelbes Licht. Im Mondschein leuchteten die Kreidezei-chen auf den freigeschaufelten Simsen und Türschwellen. Zeichen, die den Widergänger fernhalten sollten.
Wo sollte er die Nacht verbringen? Bei der Armenstube ließ er sich besser nicht blicken. Die würden an seinem Atem riechen, was er gegessen hatte. Und sie wüssten, dass diese Wurst kein Geschenk war.
»Diebesgut mundet gut«, erklang eine Stimme unmittelbar neben ihm.
Vor Schreck fiel ihm die Wurst aus der Hand. Ein Schatten löste sich aus der Türnische des Weberhauses, eine dunkel gewandete Gestalt mit langem Wanderstock.
Adrien bückte sich hastig nach der Wurst und wischte sie an seinem Hosenbein ab.
Sollte er loslaufen? Das Gesicht des Fremden war im Schatten seiner Kapuze verborgen. Er trug ein dunkelblaues Gewand wie ein Wanderpriester. Bestimmt könnte er ihm entwischen!
»Ich muss weiter«, sagte er und wollte gehen, doch der Fremde hielt ihm den Wanderstab quer vor die Brust.
»Dies ist die letzte Nacht, in der du hungern musst, wenn du es so willst.«
Adrien legte die Hand auf den Stab. Ihm stand jetzt nicht der Sinn nach dem Gerede eines Wanderpriesters. Worte waren allzu billig. Als ob es Gerechtigkeit und einen vollen Bauch für einen Jungen wie ihn geben könnte!
»Wenn dein Gott so ein netter Kerl ist, warum musst du dann in einer Nacht wie dieser auf einer Straße stehen, die nach Pisse stinkt?«
»Weil ich ein Seelenfischer bin und dies nun einmal der Ort ist, an dem ich in dieser Nacht deiner Seele begegnen kann, Adrien.«
Der Junge wich ein Stück zurück. Woher kannte der Priester seinen Namen? Adrien war sich sicher, dem Mann noch nie begegnet zu sein. »Wer bist du?«
»Ich bin das Geschenk Tjureds an dich.« Er schlug die Kapuze ein Stück zurück. Das Mondlicht spiegelte sich in leuchtend blauen Augen. »Ich bin Bruder Jules.«
»Was willst du von mir?« Adrien wich noch etwas weiter zurück. Hinter der Gasse auf dem Hof hörte er einen Wutschrei. Der Fleischhauer!
»Das sagte ich schon. Ich will deine Seele. Aber ich werde sie nicht nehmen. Ich will sie als Geschenk.«
»Ja, ja.« Es war an der Zeit zu verschwinden.
»Du hast zwei Wege. Der eine beginnt damit, dass du dich zum Silberstrick aufmachst.
Vor dem Pferdestall sitzt ein alter Bettler. Leg ihm deine Wurst in seine Schale, ohne von jetzt an auch nur noch ein Stück von ihr abzubeißen. Dann lauf zur Brücke am Rosstor. Unter dem ersten Brückenbogen wirst du erwartet. Dort beginnt dein Weg zu Stolz und Ruhm. Jeder andere Schritt, den du tust, führt dich an den Schandpfahl für Diebe. Dort wirst du im Sturm morgen Nacht erfrieren, weil sich dein Wächter betrinken wird und dabei vergisst, dich loszumachen.« Der Priester nahm den Wanderstab zurück. Er drehte sich um und trat in die schmale Gasse zum Hof. »Lauf, Junge, mach dein Glück. Gott will es!«
Adrien nahm die Beine in die Hand. Wer war der Kerl? Ein Verrückter? Der Junge rannte, ohne auf den Weg zu achten. Ihm war egal, dass jeder, der lief, Aufmerksamkeit erregte. Der Duft der Wurst stach ihm in die Nase. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er hatte erst zweimal abgebissen. Es wäre dumm, sie wegzugeben.
Es war stickig in dem großen Raum, in den sie gebracht wurden. Wahrscheinlich hatte hier seit dem Tag, an dem die Trolle die Herrschaft an sich gerissen hatten, niemand mehr gelüftet. Es stank nach Schweiß und altem Fett. Ein runder Aschenkreis in der Mitte des gefliesten Bodens und der Ruß an der kostbaren Kassettendecke verrieten, dass man gelegentlich in dem prachtvollen Saal eine Feuerstelle entzündete.
Falrach wusste nur wenig über Feylanviek. Zu seiner Zeit hatte es diese Stadt noch nicht gegeben. Die großen Koboldfamilien hatten hier wohl Händlerpaläste mit Emp-fangsräumen für alle Arten von Kunden besessen. Von Blütenfeen bis hin zu den verrückten Lamassu.
Der Elf blickte zu der massigen Tür, vor der zwei Trollwachen standen. Ganz offensichtlich war dieser Teil des riesigen Hauses, in das man sie gebracht hatte, schon immer für Trolle vorgesehen gewesen. Doch hatten die Erbauer sich nicht ganz mit der primitiven Art der erwarteten Gäste arrangieren mögen.
Auf einem grob zusammengezimmerten Thron saß ein Troll von ungewöhnlicher Größe. Falrach war sich sicher, dass der Kerl, sollte er sich erheben, seine gesammelten Wachen um mindestens zwei Köpfe überragen würde. Sehnen, dick wie Hanfseile, spannten sich unter seiner grauen, mit hellen Einsprengseln übersäten Haut. An den Thron lehnte eine Keule, deren Kopf von einem mächtigen, fast runden Stein beherrscht wurde, aus dem ein einzelner Stoßzahn ragte.
Der Elf schätzte, dass er selbst wohl kaum mehr als diese Waffe wog, die wie dazu geschaffen schien, Festungstore einzuschlagen. Auf der anderen Seite des Throns führte eine Stehleiter hinauf zu einer hölzernen Plattform, die etwa in Kopfhöhe des Trollfürsten durch massive Balken mit der Holzwand verbunden war. Ein niedriges Stehpult, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, war dort aufgestellt.
Dalmag Paschendrab erklomm die Leiter. Kurz machte er sich am Pult zu schaffen.
Dann zog er ein rot getigertes Katzenfell dahinter hervor, an dem noch der halbe Kopf des Tiers hing. Mit würdevoller Geste setzte er sich den Katzenkopf, dem der Unterkiefer fehlte, auf das Haupt, so dass das Fell ihm wie ein Umhang über den Rücken hinabhing.
Der Troll auf dem Thron nahm von dem ganzen Schauspiel kaum Notiz. Er hielt mit beiden Händen eine Fleischkeule, die wohl ein Mammutschinken sein musste, so groß war sie. Genüsslich schmatzend kaute er auf dem zähen Fleisch. Nur ein kurzer Blick, den er Dalmag zuwarf, ließ ahnen, dass ihm dieses Spektakel nicht behagte.
Falrach glaubte eine Spannung zwischen dem Rudelführer und dem Kobold zu spüren. Er hatte das Gefühl, dass die beiden einander zwar brauchten, aber nicht respektierten. Vielleicht ließe sich daraus ein Vorteil ziehen.
In dem weiten Saal lagerten mehr als ein Dutzend Trolle. Sie hatten sich entlang der Wände Schlafplätze aus Stroh und stinkenden Decken eingerichtet. Falrach sah, wie unter ihnen Brocken aus blutigem Fleisch herumgereicht wurden. Emerelles Pferd?
Die Kobolde lagerten auf der anderen Seite. Über eisernen Feuerschalen hingen Bratspieße mit Würsten. In einem Kessel gluckerte eine Suppe, die nach halb verfaultem Kohl stank. Die meisten Kobolde waren passabel gekleidet. Über die Hälfte trugen sogar Schuhe. Ihre Spieße waren ordentlich zusammengestellt. Alle hatten rote Mützen auf.
Falrach hatte schlimme Geschichten über diese Mützen gehört. Es hieß, dass die rebellischen Kobolde ursprünglich mit weißen Mützen in den Krieg gezogen waren und sie dann auf den Schlachtfeldern im Blut der Elfen rot gefärbt hatten.
Den Trollen waren er und Emerelle gleichgültig. Sogar ihr Rudelführer Gharub beachtete sie beide kaum. Bei den Kobolden war das anders. Sie alle starrten sie an. Sie fieberten der Anklage entgegen. Sie waren wie Dalmag: Sie wollten Elfenblut sehen, und sei die Anklage noch so lächerlich.
Ein scharfes Pochen ließ das leise Murmeln in dem Saal ersterben. Dalmag hatte seinen Säbel gezogen und mit dem Knauf auf sein Pult geschlagen. »Volk von Feylanviek! Im Namen des ehrenwerten Rudelführers Gharub eröffne ich den Prozess gegen diese beiden Elfen, die sich in arroganter Manier über die Gesetze unserer Stadt hinweg-gesetzt haben. Nicht nur, dass sie öffentlich Unzucht trieben, nein, sie griffen auch einen der Trolle in meiner Leibwache an. Seht sie euch an und denkt an Shandral, den die meisten von euch noch in schrecklicher Erinnerung haben. Seht ihr nicht denselben Hochmut wie beim Fürsten von Arkadien in den Augen dieser beiden funkeln?«
Falrach blickte zu Boden. Das war grotesk! Die Anklage war ein einziges Possenspiel!
Wann würde Emerelle etwas unternehmen, um diesem Treiben ein Ende zu setzen? Er blickte sie aus den Augenwinkeln an. Sie wirkte wie versteinert. Was ging in ihr vor?
Suchte sie den Tod?
»Wen haben die beiden angegriffen?«, fragte der Rudelführer. Er sprach mit vollem Mund, und seine Worte waren kaum zu verstehen.
Der Troll mit den auffälligen Schmucknarben im Gesicht trat vor. »Mich hat der Gaul von dem Weibsbild getreten.«
»Und dabei hat sie mit dem Kerl Unzucht getrieben?«, fragte Gharub mit gerunzelter Stirn. »Wie haben sie das geschafft?«
»Bitte, edler Gharub ... «, zischte Dalmag. »Du darfst es nicht ganz wörtlich nehmen ... «
»Wieso hast du dich von dem Gaul treten lassen?«, setzte der Trollfürst nach, ohne auf den Kobold zu achten. »Warst du besoffen?«
»Es ist nur eine Schramme. Nicht...«
»Man wird mich verspotten, wenn meine Krieger nicht einmal mit Pferden fertigwerden!«, polterte der Rudelführer los. »Willst du, dass man über mich lacht?«
»Das Pferd ist tot«, sagte Madra.
»Und jetzt willst du mich noch belehren?« Gharub stand auf. Er hob den gewaltigen Schinken wie eine Kriegskeule. Plötzlich leuchteten seine kleinen Augen auf. In weitem Bogen warf er Madra den Schinken zu.
Falrach duckte sich, um nicht getroffen zu werden.
Selbst der stämmige Trollkrieger hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben, als er den Schinken fing.
»Das bringst du zum Wachposten am Steinernen Wald. Ein Geschenk von ihrem Rudelführer. Ich erwarte dich morgen früh zurück.«
»Das sind mehr als vierzig Meilen«, wandte der Krieger ein.
»Dann ist es wohl besser, wenn du sofort aufbrichst und nicht mehr lange schwätzt.
Nach diesen Fußmarsch wirst du das nächste Mal ein wenig geschickter sein, wenn ein Gaul neben dir auskeilt, hoffe ich.«
Die beiden Wachen öffneten grinsend das Tor, und Madra machte sich davon, ohne noch ein Wort zu sagen.
War der Kerl einfältig oder ein Schlitzohr, fragte sich Falrach. Er wagte es nicht, den Rudelführer direkt anzusehen, um ihn nicht zu reizen.
»Großartiger Gharub«, sagte Dalmag mit in Anbetracht seiner geringen Größe erstaunlich volltönender Stimme. »Wenn wir auf die beiden Elfen zurückkommen könnten?«
Der Troll nickte. »Du hast Recht. Ich sollte den beiden dankbar sein. Sie haben mich darauf hingewiesen, dass meine Wachen dick und träge werden. Sich von einem Gaul treten zu lassen ... « Er schüttelte den Kopf.
Es war jetzt totenstill. Alle Trolle sahen zu ihrem Anführer. Sie schienen weitere Strafen zu fürchten. Die Kobolde hingegen wirkten verärgert. Sie hatten offensichtlich einen spektakulären Schauprozess erwartet, der mit einem grausamen und ungerechten Urteil gegen ihre Feinde, die Elfen, endete.
»Allerverehrtester, weiser Gharub«, versuchte Dalmag es erneut. »Ich kenne die Elfen mein ganzes Leben lang. Und ich kenne ihre Heimtücke, so wie all meine Brüder hier.«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich unter den Kobolden.
»Glaube mir, sie würden niemals etwas zu deinem Nutzen tun. Im Gegenteil, sie treiben ihren Spott mit dir und deinen Wachen. Sie wollen die Trolle lächerlich machen. Sie wollen sie wie tumbe Toren aussehen lassen, damit das Volk im Verborgenen über seine neuen Herren lacht und jegliche Achtung vor ihnen verliert.«
»Nichts liegt uns ferner«, begehrte Falrach auf. Warum, zum Henker, sagte Emerelle nichts? Wollte sie, dass sie beide noch an den Galgen kamen?
»Schweig!«, schalt ihn der Kobold.
Der Rudelführer knetete nachdenklich sein Kinn. »Wenn Madra sich von einem Pferd treten lässt, dann ist das doch seine eigene Dummheit«, murmelte er schließlich.
»Aber genau das wollen sie doch, Herr. Sie sind hier, um dich und die Deinen dumm aussehen zu lassen.«
»Verleumdung!«, begehrte Falrach auf. »Das ist alles ... «
»Schweig!«, schrie der Kobold. »Angeklagte und Bittsteller reden nur, wenn sie dazu aufgefordert werden!«
Emerelle legte Falrach die Hand auf den Arm. »Lass sie«, flüsterte sie.
»Worauf wartest du noch? Du warst einmal eine unübertreffliche Schwertkämpferin!
Wir müssen hier fort!« Er sah sich um. Durch das zweiflügelige Portal konnten sie nicht entkommen. Sie würden den schweren Balken nicht heben können. Nur die hohen schmalen Fenster, dicht unter dem Dach, kamen als Fluchtweg infrage. Doch wie sollten sie dahingelangen, ohne von den siebzehn Trollen im Festsaal in Stücke gerissen zu werden?
»Worauf ich warte?« Emerelles Stimme klang seltsam entrückt. »Auf die Poesie des Herrschens.«
»Was?« Falrach traute seinen Ohren nicht. Trolle und Poesie! War sie verrückt geworden?
»Ein Herrscher muss eine Vision haben. Er muss etwas in seinem Geiste sehen, das für alle anderen noch unfassbar ist. Sein Ziel. Das, was durch seine Herrschaft Gestalt gewinnen soll.«
»Du kannst sie nicht an dir messen. Ich glaube, Gharubs einzige Vision ist ein voller Bauch, und Dalmag wünscht sich eine Stadt, in die nie wieder ein Elf seinen Fuß setzt.«
»Was Dalmag angeht, stimme ich dir zu. Aber Gharub ... Er ist dumm, aber ehrlich.
Das ist nicht das schlechteste für einen Herrscher. Wenn er es schafft, eigene Entscheidungen zu treffen, dann wird er vielleicht ein guter Stadtfürst werden.«
»Er hat sich diesen Ohrenbläser Dalmag zugelegt, weil er zu faul ist, eigene Entscheidungen zu treffen. Bring uns hier heraus, bevor aus dieser Groteske eine Tragödie wird.«
»Schweigt!«, fuhr Gharub sie plötzlich an. »Elfen sprechen in diesen Hallen nur, wenn sie jemand dazu auffordert, ihr Schandmaul aufzureißen.«
Falrach fluchte stumm in sich hinein. Statt sich die versponnene Philosophie Emerelles anzuhören, hätte er besser darauf gelauscht, was Dalmag seinem Herrn einflüsterte.
»Ihr lasst es an Respekt gegenüber dem Rudelführer Gharub fehlen«, deklamierte der Kobold mit wohl artikulierter Stimme. »In seiner Großmut sieht der Herr von Feylanviek davon ab, euch für euer liederliches Verhalten zu verurteilen, das zu den Eigenarten eures Volkes gehört.
Schließlich könnte man einem Mistkäfer auch niemals beibringen, sich nicht in Scheiße zu wühlen. Außerdem ... «
»Genug Worte«, unterbrach ihn Gharub. »Wenn Madra so dämlich war, sich von einem Gaul treten zu lassen, ist das seine Sache. Das Vieh ist ja auch schon gefressen, soweit ich gehört habe. Damit hat es seine Strafe gehabt.« Er klatschte in die Hände.
»Wir sind fertig!«
Falrach traute seinen Ohren kaum. Frei? Das war das Letzte, was er erwartet hätte.
Hatte Emerelle das geahnt? Plötzlich kam er sich sehr dumm vor. Wie wenig er diese Welt kannte. Sie hatte kaum noch etwas mit der gemein, in der er einst gelebt hatte.
Unter den Kobolden herrschte eisiges Schweigen. Keiner wagte, den Trollen zu widersprechen, aber es war unübersehbar, was sie von diesem Urteil hielten.
»Da wäre noch eine Sache, Herr«, sagte Dalmag in unterwürfigem Tonfall.
Der Rudelführer verzog verärgert das Gesicht. »Was?«
»Es war vor allem die Elfe, die mit ihrem herrischen und arroganten Auftreten dafür gesorgt hat, dass dieses Gericht tagen musste. Sieh sie dir an, verehrter Rudelführer.
Sie hat das Gericht noch keines Wortes gewürdigt und tuschelt verschwörerisch mit ihrem Buhlen. Ja, sie besitzt die Frechheit, dich zu bestehlen, während sie vor dir steht.
Freilich mit dem Geschick, das ihrem intriganten Volk in allen Dingen, die es beginnt, eigen ist.«
Falrach war sprachlos. Was kam jetzt?
Gharub tastete über die Amulette, die an Lederriemen von seinem massigen Hals hingen. Dabei zählte er leise. Er schüttelte den Kopf. »Was stiehlt sie mir?«
Dalmag, der seinen Herrn sehr gut zu kennen schien, lächelte breit. »Nun, zunächst einmal den köstlichen Schinken, den du in der Hand gehalten hast, als sie eintrat. Er hat sich in Luft aufgelöst. Natürlich magst du einwenden, dass du selbst es warst, der ihn Madra zugeworfen hat, aber sie hat die Ereignisse in Gang gebracht, die dazu führten. Hätte sie diese Stadt niemals betreten, dann hieltest du den köstlichen Schinken noch in deiner mächtigen Faust und würdest dich an ihm laben und deine Kraft mehren.«
»Das ist lächerlich!«, begehrte Falrach auf.
»Du sollst schweigen!«, herrschte ihn Dalmag an.
Der Rudelführer hatte die Augen geschlossen und die Stirn ihn Falten gelegt. Er sah so aus, als bereite es ihm Qualen, den Gedankensprüngen des Kobolds zu folgen.
»Vergiss nicht, ehrwürdiger Gharub, die beiden sind Elfen. Sie sind die Fleisch gewordene Heimtücke. Nichts, was sie tun, geschieht ohne Hintersinn. Sicherlich hatten sie geplant, dich um dein Mahl zu betrügen. Aber dies ist noch der geringere Frevel. Viel schwerer wiegt der zweite Diebstahl, den sie begangen haben. Sie haben dir das Kostbarste gestohlen, was ein Herrscher besitzt. Etwas, das du nie wieder zurückerlangen kannst.«
Falrach beobachtete, wie der Trollfürst sich nachdenklich im Schritt kratzte. Oder überprüfte er, ob dort etwas fehlte?
»Was dir niemand mehr zurückgeben kann und was dir diese Elfe gestohlen hat, ist nichts Geringeres als Zeit! Du hättest hier in diesem prächtigen Saal sitzen können, essen und mit den Gefährten deiner heldenhaften Kämpfe plaudern können. Oder auf deinem Lager mit deinem Weib ruhen können, wie du es gerne tust zur Mittagsstunde.
Aber deine Zeit verrinnt. Fruchtlos, ohne Nutzen. Al ein durch die Schuld der Elfe Nandalee und ihres Buhlen.«
»Mit Verlaub, Rudelführer, doch ist es nicht das Geschwätz des Kobolds, das dir deine Zeit raubt?«
Endlich ergriff Emerelle die Initiative, dachte Falrach erleichtert. Sie war redegewandt.
Sie würde den Troll einlullen.
»Und schon wieder dauert diese Verhandlung etwas länger, weil die Elfe das Offensichtliche leugnet«, sagte Dalmag. Der Troll rieb sich über das Kinn. »Eine Zeitdiebin ...
Das ist heimtückisch. Man merkt es erst, wenn es zu spät ist, und selbst wenn man den Dieb fasst, kann man seine Zeit niemals zurückerlangen. Was ist die Strafe für Zeit-diebe?«
»Ich würde vorschlagen, es wie schweren Diebstahl zu behandeln, allermächtigster Gharub. Immerhin wurde der Herrscher von Feylanviek bestohlen. Dafür sollte ein Dieb seine rechte Hand verlieren.«
»So sei es! Hackt dem Weib die Hand ab. Und ihr Buhle soll dabei zusehen.«
Unter den Kobolden brach gehässiger Jubel aus.
»Tyrannei fällt stets auf den Despoten zurück.« Emerelles Worte waren trotz des Geschreis überdeutlich zu hören, ohne dass sie sonderlich laut gesprochen hätte. Sie umgab plötzlich eine Aura kalter Macht, die selbst Falrach unwillkürlich einen Schritt von ihr zurückweichen ließ.
Gharub wirkte erschrocken. Er wandte sich an den Kobold. »Was für ein Ei? Und von welchem Boten redet sie? Meint sie Madra?«
»Herr, sie benutzt Magie, um uns Angst zu machen.«
Der Trollführer atmete schwer. Deutlich war zu sehen, welche Überwindung es ihn kostete, seine Fassung zurückzuerlangen. »Pack sie und schneid ihr die Hand ab, Dalmag. Aber nicht hier! Bring sie fort!«
Adrien sah zu der kauernden Gestalt hinüber. Der Alte regte sich nicht. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand des Stalls. Die Beine hatte er angezogen. Neben ihm stand eine Bettlerschale. Er trug einen Hut mit breiter Krempe.
Undeutlich erkannte der Junge einige aus Blei gegossene Glücksbringer, die an das Hutband gesteckt waren.
Adrien drückte die Wurst. Sie gab nur wenig nach. Es war eine harte, eine gute Wurst.
Er würde zwei Tage lang nicht mehr hungern ... »Heh!«, rief er leise.
Der Bettler reagierte nicht.
Wind verfing sich heulend in den Dachtraufen der Schenke. Es war still auf der Straße.
Auf dem Weg hierher war ihm niemand begegnet. Auch der Fleischhauer war ihm nicht gefolgt. Ob dieser merkwürdige Betbruder ihn aufgehalten hatte? Nie mehr Hunger leiden ... Ob er dem Versprechen von Bruder Jules trauen konnte?
Adrien sah zu dem Bettler hinüber. Der würde nicht merken, ob an der Wurst ein Stück fehlte. Ob Bruder Jules ihn noch beobachtete? Nie mehr Hunger leiden ...
Entschlossen ging der Junge hinüber zu dem Bettler. Eine ausgemergelte, schwarze Katze, die hinter der kauenden Gestalt gehockt hatte, fauchte ihn an und lief dann eilig davon.
»Hallo ... « Schlief der Kerl? Adrien legte die Wurst in die Schale und kauerte sich neben dem alten Mann nieder. Die treibenden Wolken zerrissen. Wieder heulte der Wind unter der Traufe. Silbernes Mondlicht flutete über den verlassenen Hof der Schenke.
Der Kopf war dem Bettler auf die Brust gesunken, so als schliefe er. Adrien hob den Hut des Alten leicht an. Das Gesicht war eingefallen. In weiten Falten hing die Haut vom Schädelknochen. Der Mund stand offen. Nur drei dunkel verfärbte Zähne waren ihm geblieben. Die Augen waren aufgerissen, die Augäpfel nach oben verdreht. Sie starrten Adrien an und sahen ihn doch nicht. Der Alte war tot. Namenloses Entsetzen spiegelte sich in seinen Zügen.
Adrien fielen die Geschichten über den Widergänger ein. Er war ein Seelenfresser.
Allein sein Anblick vermochte zu töten. War der Bettler ihm begegnet?
Vorsichtig wich der Junge von dem Toten zurück. War der Widergänger vielleicht noch hier? War Bruder Jules in der Stadt, um das Ungeheuer zu jagen? Es hieß, Priester hätten die Macht, jene Kreaturen, die das Schwert nicht fürchteten, allein durch das Wort Gottes zu bannen.
Adrien hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Mauer der Schenke. Drinnen war es stil . Zu dieser frühen Abendstunde! Es brannte nicht einmal Licht im Silberstrick. War der Widergänger jetzt dort? Der Junge malte sich aus, wie der Widergänger die Schenke betreten hatte und alle Gäste vor Schreck gestorben waren. Blickte das Ungeheuer vielleicht in diesem Augenblick aus einem der Fenster?
Er musste zu dem Priester an die Brücke. Der würde ihn beschützen, so wie er schon den Fleischhauer von ihm ferngehalten hatte. Adrien machte sich auf und davon.
Schlich wie ein Schatten durch die nächtliche Stadt. Einmal musste er den Nachtwächtern ausweichen, die nur noch zu zweit ihre Runde drehten.
Ihm war elend kalt. Seine Kleider waren noch durchnässt vom Schnee auf dem Dach der Räucherkammer. Mit der Nacht kam der Frost zurück. Der schmutzige Schneematsch gefror. Ihm stand der Atem in dichten Wolken vor dem Mund, und seine Füße waren taub vor Kälte. Je länger er marschierte, desto mehr Zweifel kamen ihm. Warum sollte der Priester ihm einen Gefallen tun? Wer tat einem Bettlerjungen einen Gefallen ohne Hintergedanken? Und woher wusste der Priester, dass es morgen Nacht einen Schneesturm geben würde? Das hatte er bestimmt nur gesagt, um ihm Angst zu machen. Aber wohin sonst könnte er gehen?
Die Straße fiel steil zum Fluss hin ab. Deutlich konnte er im Mondlicht die große, steinerne Brücke erkennen. Auf der anderen Seite lag das Rosstor. Auf dem zinnengekrönten Bollwerk brannte ein Wachfeuer in einem eisernen Korb, das den Reisenden den Weg zum südlichen Stadttor von Nantour und zu den Anlegestellen am Fluss wies.
Nahe beim Wasser kam es Adrien noch kälter vor. Ihm schlotterten die Glieder, so sehr er sich auch bemühte, gegen die Kälte anzukämpfen. Er hielt die Arme dicht vor der Brust verschränkt. Seine Hände strichen über die Ärmel seines klammen Hemds. Verdammter Winter!
Die steinerne Treppe hinab zu den Anlegeplätzen war vereist. Adrien stützte sich an der Mauer ab. Es war, als ginge er auf Holzklötzen. Er spürte nicht mal, wie seine Füße den Boden berührten. So schlimm war es noch nie gewesen.
Er blickte am gemauerten Ufer entlang. Unter dem Brückenbogen lag ein langes Flussboot. Der Priester war nicht zu sehen. Hatte er sich einen Scherz erlaubt? Der Junge war den Tränen nahe. Er war am Ende seiner Kräfte. Und es gab keinen warmen Platz für ihn in dieser Stadt. Er hatte schon Bettler gesehen, denen die Glieder abgefroren waren. Er wusste, was kommen würde. Hoffentlich wurde es so kalt, dass er einfach einschlief und nicht mehr erwachte. Das war besser, als mit brandigen Gliedern dahinzusiechen.
Aber bis zum Brückenbogen würde er noch gehen! Al ein aus Trotz.
Über dem Ufer, irgendwo im verwinkelten Straßenlabyrinth der Stadt, erklang der Singsang der Nachtwächter. Leise fluchend schleppte sich der Junge zum Brückenpfei-ler. Das Boot war an zwei rostigen Eisenringen im Mauerwerk vertäut. Es war fast sieben Schritt lang. So hoch, wie es im Wasser lag, hatte es wohl keine Fracht geladen.
Über das Heck spannte sich in flachem Bogen eine geflochtene Schilfmatte. Eine Decke hing vor dem Eingang, als Schutz vor dem Wetter.
»Bruder Jules?« Adriens Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Die Decke wurde zurückgeschlagen. Eine Hand winkte ihm. »Komm, Junge!« Die Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Lautes Husten folgte.
Adrien hatte nichts zu verlieren. In dem Verhau im Boot war es vielleicht nicht viel wärmer, aber zumindest war es dort windgeschützt.
Der Lastkahn bewegte sich sanft in der Dünung. Er lag ein wenig tiefer als1 der Kai.
Adrien würde springen müssen. Normalerweise wäre das keine große Sache. Aber mit den tauben Füßen ... Ein paar leere Säcke und Körbe waren alles, was im offenen Kielraum lag.
Adrien fasste sich ein Herz. Beim Aufprall knickten ihm die Beine weg. Sein Knie schlug hart auf eine der Spanten im Rumpf. Er versuchte, sich wieder aufzurichten, doch seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Er spürte keinen Schmerz, aber als er mit der Hand über das Knie strich, fühlte er, wie warmes Blut sein Hosenbein durchtränkte.
Er war ein Bettler und Dieb, aber er hatte seinen Stolz. Der Kerl im Windschutz am Rumpf musste sehen, was geschehen war. Die Decke war noch immer einen Spalt weit zurückgeschoben. Aber er rührte sich nicht. Wartete er darauf, dass er ihn um Hilfe anflehte? Adrien hatte schon seit Jahren niemanden mehr um Hilfe gebeten. Dieses bisschen Stolz war sein einziger Besitz. Das, was ihm niemand nehmen konnte. Er würde ihn nicht aufgeben, und sollte er dafür verrecken!
Das Boot schwang sanft von der Uferbefestigung fort. Der Fremde hatte offensichtlich die Heckleine gelöst.
Adrien drückte die Arme durch und zog sich ein Stück in Richtung des Verschlags, als der Vorhang ganz zurückgeschlagen wurde. Im Dunkel sah er nur den Schattenriss des Mannes. Er ging gebeugt. Ein breitkrempiger Hut verbarg sein Gesicht. Er hatte etwas an sich, das Adrien angst und bange werden ließ.
Ohne groß Notiz von ihm zu nehmen, schlurfte der Alte an ihm vorbei und löste auch noch die Bugleine. Er stieß das Boot mit einer Stange vom Kai ab und manövrierte es in die Mitte des Stroms. Sie glitten unter dem Brückenbogen hindurch und trieben mit der Strömung nach Süden.
Adrien schob sich Zoll um Zoll dem Verschlag entgegen. Sein Stöhnen war das einzige Geräusch an Bord. Er spürte den Blick des Schiffers im Nacken. Er nahm an, dass der Mann alt war, weil er sich so schwerfällig bewegt hatte.
Die Lichter von Nantour waren im Dunkel der Nacht verschwunden, als er endlich den Verschlag erreichte. Dort stand eine eiserne Schale auf einem niedrigen Dreifuß.
Ein paar Holzkohlen flackerten in ersterbender Glut. Adrien blies sie an und streckte die zitternden Hände so weit vor, dass sie fast die Kohlen berührten. Er beugte sich zurück und zog die Wolldecke vor den Eingang, um die Wärme besser im Verschlag zu halten. Der mattrote Schein der Kohlen reichte nicht, um das Dunkel aus der Bootskammer zu vertreiben. Tastend fand Adrien noch ein paar Kohlen und ein Stück Treibholz. Er blickte zweifelnd zur gewölbten Decke aus geflochtenem Schilf. Er sollte besser nicht riskieren, dass eine Flamme aus dem Feuer schlug. Mehr als ein paar Kohlen nachzulegen wäre leichtfertig.
Plötzlich wurde er sich bewusst, dass der kleine Lastkahn keine Fahrt mehr machte.
Müde Schritte schlurften über Deck. Die Wolldecke wurde zurückgeschlagen, und der Schiffer kauerte sich neben ihn. Der Verschlag war unbehaglich eng. Der Alte streifte ihn. Trotz des Rauchs roch Adrien den Gestank von abgestandenem Schweiß.
»Bruder Jules hat...«
»Ich weiß«, unterbrach ihn der Alte. Dann griff er nach Adriens Füßen. Die Finger des Schiffers waren eisig und hart wie alte Wurzeln. Er begann mit beiden Händen die Füße zu massieren. Zunächst spürte der Junge kaum etwas. Doch als das Blut wieder besser zirkulierte, wurde ihm bewusst, wie viel Kraft in diesen Händen steckte. Jeder Fußknochen schmerzte, so fest drückten die Finger ins Fleisch.
»Bist ein bisschen zimperlich, nicht wahr?«
Adrien sagte nichts, obwohl ihm Tränen in den Augen standen, als der Alte endlich aufhörte.
»Wohin bringst du mich?«, stieß er endlich hervor.
»Flussabwärts.«
»Wer …«
Der Alte stand auf. »Ich hab den Kahn an den Wurzeln einer Eiche vertäut. Ich muss zurück nach vorn. Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns«, schnarrte er mit heiserer Stimme. »Du findest im Sack neben dir ein paar Äpfel. Und deine Wurst. Iss und schlaf dann.« Das matte Glühen der Kohlen beleuchtete das Gesicht des Alten, als er sich kurz vorbeugte, um auf den Sack zu deuten. Und jetzt begriff Adrien, was ihm von Anfang an so unheimlich vertraut vorgekommen war. In Blei gegossene Glücksbringer schimmerten in stumpfem Grau am Hutband. Ein faltiges, fast fleischloses Gesicht blickte auf ihn herab. Das Gesicht des Bettlers, der am Stall des Süberstricks gekauert hatte. Das Gesicht eines Toten!
Der Wille der Königin
»Verdammt, Mädchen! Ein warmer Furz von mir hat mehr Verstand, als in deinem Dickkopf steckt. Du kannst das nicht machen! Du bist die Königin!«
»Wenn es so ist, würde sich vielleicht ein warmer Furz von dir besser auf dem Thron machen.«
Sie würde nicht nachgeben, das wusste Lambi. Genauso gut könnte er auf einen Felsbrocken einreden. Er musste eine weiche Stelle finden. Einen Punkt, an dem er sie treffen könnte. Sie stand in der Tür der kleinen Hütte, die sie bewohnte. Sie war eine merkwürdige Königin. Er kannte Landarbeiter, die ein besseres Leben führten als sie.
Er versuchte an ihr vorbeizusehen. Glühende Holzscheite lagen in einer Grube in der Mitte des einzigen Zimmers. Er sah Späne auf dem Boden liegen und ein Brett mit einer aufwendigen Schnitzarbeit. Sie arbeitete an einer Wiege. Er wusste das. Wie lange würde sich ein Weibsbild auf dem Thron halten, das Wiegen zimmerte? Was würden die anderen Jarls davon halten, wenn sie es wüssten? Die Gerüchte um den Mann, der angeblich bei ihr lebte, waren schon schlimm genug.
»Mein Enkelsohn ... «, begann er und bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall.
»Warum gehst du davon aus, dass es ein Sohn wird? Diese Trollschamanin sagte, es würde ein Mädchen. Hast du das schon vergessen?«
Er hatte es tatsächlich vergessen. Was wussten schon Trolle! Aber er würde jetzt nicht mit ihr streiten. Er würde sich zusammenreißen! »Das Kind. Du kannst in deinem Zustand nicht einfach nach Norden gehen. Nicht jetzt.«
»Gerade jetzt«, beharrte sie. »Die Seen und Flüsse sind zugefroren. Wir werden viel schneller vorankommen.«
»Genau. Und eure Spuren im Schnee könnte selbst ein halbblinder Troll nicht übersehen. Verdammt nochmal, führ dich nicht auf wie ein bockiges Kind. Du bist die Königin! Steckt denn kein Funken Vernunft in dir?«
Kadlin lächelte ihn auf eine Art an, die ihn das Schlimmste befürchten ließ. »Du wirst mich vertreten, Lambi. Sollte ich nicht zurückkommen, dann hast du Gelegenheit, alles besser zu machen als ich. Mir wäre es nur recht. Ich habe diesen Thron nie gewollt.«
So war es mit ihrem Vater auch gewesen. Der alte Fjordländer dachte an das Krönungsfest im Trollwinter zurück. In einer jämmerlichen Scheune hatten sie Alfadas zum König ausgerufen. Aber er war Manns genug gewesen, sich zu stellen. Lambi maß Kadlin mit Blicken. Man sah ihr noch nicht an, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug. Man sah ihr auch nicht an, dass sie Königin war. In ihrem Aufzug mit Stiefeln, lederner Hose und einem mit Lammfell gefütterten Wams sah sie aus wie eine Jägerin.
Nur dass es Jägerinnen eigentlich gar nicht gab. Im Fjordland wussten Frauen, wo ihr Platz war. Nur diese eine nicht, ihre verdammte, dickköpfige Königin. Dieses Mannweib, das seinem Sohn den Kopf verdreht hatte. Björn war tot, gefallen in den Kämpfen bei der Nachtzinne. Und nun hatte er mit dem Weib zurechtzukommen, das seinen Enkelsohn gebären würde. Und es würde ein Junge werden! Ganz gleich, was sie sagte. Das konnte er ihr ansehen. So dickköpfig wie sie war auch Svenja gewesen, bevor sie Björn gebar. Kadlins Sturheit war ein sicheres Zeichen dafür, dass sie einen Jungen bekommen würde!
Wie auch immer. Wenn er schon nicht zu ihrer Vernunft durchdrang, dann würde es ihm vielleicht gelingen, ihr Verantwortungsbewusstsein zu wecken. »Dieses Trollweib hat dir Frieden versprochen. Es war ein Geschenk dafür, dass du zu den Toten gegangen bist ... « Er stockte. Allein die Erinnerung daran jagte ihm Schauder über den Rücken. Ihr Mut stand völlig außer Frage. Es wäre nur schön, wenn außer Mut auch ein wenig Verstand da wäre. »Der Fürst der Nachtzinne wartet nur darauf, dass du ihm einen Grund lieferst, einen Krieg anzufangen. Der Kerl will Rache.«
Kadlin senkte zum ersten Mal, seit er an ihre Türe geklopft hatte, den Blick. Das war ein gutes Zeichen.
»Wir haben die Schiffe nicht verbrannt. Wir hatten keinen Anteil an ... «
»Er ist ein Troll. So denkt er nicht. Wir waren dabei, als es geschah. Wir haben es nicht verhindert. Gib ihm einen Grund, und er wird seinen glühenden Zorn in Strömen von unserem Blut kühlen.«
»Ich werde nicht mit einem Heereszug in sein Land einfallen. Wir sind wieder fort, bevor uns ein Troll gesehen hat.«
»Uns?«
»Ich werde einen Begleiter haben.« Sie sagte das in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er auf weitere Fragen keine Antwort erwarten durfte.
Bisher waren es nur Gerüchte gewesen. Es machte ihm mehr aus, als er erwartet hätte.
Sie war die Geliebte seines Sohns gewesen. Sie würde seinen Enkelsohn zur Welt bringen, und nun hatte sie einen anderen Mann in ihrer Hütte. Er reckte sich ein wenig vor. Es war niemand zu sehen. Aber der größere Teil der Hütte war auch vor seinen Blicken verborgen.
»Muss ich auf Knien betteln, damit du zur Vernunft kommst?« Er wollte tatsächlich niederknien, doch sie hielt ihn bei den Schultern. Sie war stark.
»Lass das, Lambi! Mein Entschluss steht fest. Ich werde ihn holen gehen. Es muss vor Ende des Winters geschehen, sonst...« Ihr stockte die Stimme.
»Er ist tot«, brach es aus ihm heraus. »Bei Luth, welchen Sinn hat das? Wem nutzt es, ihn hier zu haben?«
»Das ist eine Frage der Ehre!«
»Dass ich nicht lache! Auch wenn du dich wie eine dumme Kuh aufführst, weiß ich doch, dass du nicht so dämlich bist, das ernst zu meinen. Eine blöde Ausrede ist das!
Ehre ... Drauf geschissen. Als hätte dir das je etwas bedeutet! Sag mir wenigstens den wirklichen Grund. Und komm mir nicht wieder mit so einem blöden Spruch!«
Ihre Maske der Selbstbeherrschung brach zusammen. Ihre Lippen zitterten. Einen Herzschlag lang hatte er das Gefühl, sie würde in Tränen ausbrechen. Dann beherrschte sie sich wieder. »Sie werden ihn fressen, wenn sie ihn finden.«
Er nickte. Das stimmte, sie würden es tun. »Aber sein Grab ist gut versteckt. Sie werden ihn nicht finden.«
»Kannst du mir das schwören?«
»Bei allen Göttern, ja! Ich schwöre dir, sie werden ihn da niemals ...«
Sie griff nach seiner Rechten, die er erhoben hatte, um den Eid zu bekräftigen. »Tu das nicht. Verärgere die Götter nicht. Niemand kann das wissen. Seit ich weiß, was geschehen ist ... Ich kannte ihn kaum. Vielleicht macht es die Vorstellung deshalb so unerträglich für mich. Ich schulde ihm etwas. Ich muss es tun.«
Er konnte das nur zu gut verstehen. Er hatte ihn gut gekannt. So gut, wie man ihn nur kennen konnte. Er vermisste ihn. »Ich werde dir helfen.« Er meinte das nicht ernst. Er musste ein wenig Zeit gewinnen. Man musste sie zur Vernunft bringen!
»Das ist gut. Ich kann Hilfe gebrauchen.« Sie trat in ihr Haus zurück. Und es war deutlich, dass er nicht eingeladen war, ihr zu folgen. »Wir reden morgen noch einmal.
Zur Mittagsstunde.«
Er nickte. »Ja, das klingt vernünftig.« Aber er würde nicht reden. Worte allein würden nicht helfen, um dieses dickköpfige Mädchen, das ihre Königin war, zur Vernunft zu bringen.
Falrach duckte sich unter der Hand des Trolls weg, stolperte fast über einen Kobold, der versuchte ihn aufzuhalten, und drehte seinem Gegner den Spieß aus der Hand. Die Waffe war zwar lächerlich winzig im Kampf gegen einen Troll, aber sie war besser als blanke Fäuste.
Der Elf stach nach dem Oberschenkel eines anderen Angreifers, drehte sich weg, rammte einem verdutzten Kobold das Knie gegen das Kinn und machte einen Ausfall gegen einen weiteren Troll, der vor der Spitze des kleinen Koboldspießes sogar zurückwich und einen Kameraden, der unmittelbar hinter ihm gestanden hatte, ins Straucheln brachte.
Falrach war als Schwertkämpfer kaum besser als mittelmäßig gewesen. Dieser fremde Körper gehorchte nicht seinem Willen. Er bewegte sich in tausendfach eingeübtem, tödlichem Tanz. Ihm fehlte die Gabe der Magie. Das hier war das Geschenk, das Ollowain bei seiner Geburt erhalten hatte. Er war der geborene Krieger. Mit endlosen Übungen und eiserner Disziplin hatte er einen Körper erschaffen, dem jede Art des Tötens wohlvertraut schien.
Dieser fremde Leib war nun in seinem Element, und Falrach fühlte sich wie ein Beobachter bei dem, was geschah. Er schwang den Koboldspieß in weitem Bogen.
Hinter ihm schnappte der Abzug einer Armbrust. Ein Ruck riss ihm den Spieß fast aus der Hand. Die stählerne Spitze hatte den Armbrustbolzen aus der Bahn gedrängt. Das Geschoss traf einen Kobold und nagelte ihn an die holzgetäfelte Wand des Saals.
»Gib auf!«
Die Trolle und Kobolde umringten ihn noch immer. Doch sie hielten respektvollen Abstand. Keiner schien sonderliche Lust zu haben, als Erster anzugreifen. Einer der Trollkrieger hielt Emerelle gepackt. Seine massige graue Hand umklammerte den bleichen Hals der Königin. Dicke Finger hatten sich in ihr Fleisch gegraben. »Sie stirbt, wenn du dich nicht ergibst«, sagte Dalmag, der sich halb hinter einem der Beine des Trolls versteckt hielt.
Die Worte des Kobolds waren Falrach gleichgültig. Es wäre töricht, von ihm etwas anderes als Lügen zu erwarten. Alles, was zählte, war, was er in Emerelles Blick las. Sie wollte, dass der Kampf endete. Warum?
Er ließ den Spieß fallen. Fast augenblicklich traf ihn ein Schlag im Rücken. Er ging mit.
Ließ sich von der Wucht des Treffers zu Boden reißen, statt Widerstand zu leisten. Sein Rücken wurde taub. Er versuchte sich hochzustemmen, aber ein Fuß drückte ihn zu Boden. Seine Rippen knackten. Seine Brust wurde unerbittlich auf den Steinboden gequetscht. Der Troll würde ihn wie lästiges Ungeziefer zertreten.
Er versuchte den Kopf zur Seite zu drehen, um Emerelle zu sehen.
Der Druck auf seinen Rücken verstärkte sich. Er konnte nicht mehr einatmen. Die Luft stockte ihm in der Kehle und wollte nicht in seine Lungen hinabfließen.
»Lass ihn leben!«, befahl Dalmag. »Er soll sehen, was mit ihr geschieht. Morgen erwartet ihn dann die Strafe für den Mord an meinem Kameraden.«
Schmerz belagerte all seine Sinne. Er hörte die Stimme des Kobolds wie aus weiter Ferne, obwohl Dalmag nicht mehr als ein paar Schritt entfernt stehen konnte.
Der Druck auf seinen Rücken ließ nach, doch er vermochte immer noch nicht zu atmen. Man packte ihn. Hob ihn hoch. Ein Troll klemmte ihn sich unter den Arm wie ein Ferkel, das man zum Metzger trug. Seine Augen betrogen ihn. Er sah, wie man ihn zum Tor der Festhalle trug. Dann waren sie im Freien. Zur Linken lag ein zugefrorener Kanal.
Falrach blinzelte. Das Stück Erinnerung daran, wie sie den Händlerpalast verlassen hatten, fehlte.
Direkt unter ihm war plötzlich ein Koboldgesicht. Eine lange, spitze Nase über einem breiten, fast lippenlosen Mund reckte sich ihm entgegen. Gelbe Augen sahen ihn eindringlich an. Woher kam der Kleine so plötzlich?
»Der Elf, der hat eine ganz seltsame Farbe im Gesicht. Der sieht aus, als würde er ... «
Falrach lag plötzlich mit dem Rücken im Schnee. Wieder fehlte ihm ein Stück Erinnerung. Er fühlte sich seltsam leicht. In seinen Lungen brannte ein verlöschendes Feuer. Emerelles Gesicht erschien über ihm.
Sie sagte etwas, aber er hörte nicht mehr. Die ganze Welt war in unheimliche Stille versunken. Unmittelbar neben ihm stand Dalmag und verpasste ihm einen ver-
ächtlichen Fußtritt. Falrach spürte keinen Schmerz.
Emerelles Lippen berührten seinen Mund. Kühler Atem strömte in seine Kehle. Er hatte das Gefühl, als würde etwas tief in ihm aufgestoßen. Ihr Atem erstickte den Brand in seinen Lungen. Er bäumte sich auf.
Ihre Hand drückte ihn sanft zurück. Jetzt konnte er ihre Stimme hören. Sie flüsterte Worte der Macht. Angenehme Wärme strahlte von ihrer Hand aus.
»Das reicht«, sagte Dalmag. »Entweder er steht auf, oder er verreckt im Schnee.
Morgen werden wir ihn ohnehin hinrichten.«
Falrach konnte wieder aus eigener Kraft atmen. Ein Troll packte Emerelle und zog sie von ihm fort. Ein anderer stellte sich breitbeinig über ihn. Mit sattem Klatschen ließ er die Keule in die offene linke Hand schlagen. Er blickte erwartungsvoll zu ihm hinab.
»Du bist tapfer, kleiner Krieger. Es wird mir eine Ehre sein, dein Herz zu essen.«
Falrach atmete noch einmal tief ein. Die kalte Winterluft schien ihm gesättigt mit tausend Gerüchen. Dem Gestank der Gosse, in der er lag. Allerlei Fäkalien, verfaulendes Gemüse. Der unverwechselbare Geruch von Kohlsuppe. Gekochtes Fleisch. Er roch das ranzige Fett, mit dem der Troll seine Haut eingerieben hatte. Das schweißdunkle Leder der Riemen, die um den Griff der Keule geschlungen waren. Den schweren, leicht metallischen Geruch von frisch vergossenem Blut, den eine schwache Brise den Kanal hinab von den Schlachthöfen im Norden Feylanvieks herantrug.
Nasses Hanf und Leinen von Tauwerk und Segeltüchern der vielen Frachtkähne, die das Eis gefangen hielt. Den beißenden Rauch der Torffeuer in den Häusern. Tausend Geschichten vom Leben in der Stadt erzählten ihm all die Gerüche.
Der Troll über ihm hob seine Keule.
»Noch gehört dir mein Herz nicht«, stieß Falrach schwach hervor. Er presste die Handflächen auf das nasse Pflaster und stemmte sich hoch. Mühsam kam er auf die Beine. Ihm war schwindelig.
Der Troll ließ seine Waffe nicht sinken. Unschlüssig blickte er zu Dalmag.
»Lass ihn. Wenn er laufen kann, soll er die Schmiede sehen.«
Falrach war kurz versucht, sich auf den Troll zu stützen. Aber sein Stolz verbot ihm diese Geste der Schwäche. Seine Wache ließ ihn nicht aus den Augen. Ahnte der Troll, was er gerade gedacht hatte? Der Elf streckte den Rücken durch. Stechender Schmerz war sein Lohn.
»Los!« Dalmag eilte zur Spitze des Zuges.
Eine Schar Kobolde umringte Falrach. Sie fuchtelten mit ihren Spießen unter seiner Nase herum. »Komm, Elflein. Fall um, und wir kitzeln dich ein wenig.«
»Lasst ihn!« Der Troll schob sie mit der Keule zur Seite.
Mit geflüsterten Verwünschungen wichen sie aus. Einer versuchte, Falrach mit seinem Speer in den Schenkel zu stechen. Wie ein Falke stieß die Hand des Elfen nieder.
Schmerz und Erschöpfung waren verflogen. Er packte den Schaft der Waffe und drehte sie dem Kobold mit einem Ruck aus der Hand.
»Fang nicht schon wieder an«, drohte der Troll.
Falrach senkte die Speerspitze zum Boden hin und stützte sich auf die Waffe. »Nur eine Krücke«, sagte er beschwichtigend.
Sein Wächter grunzte etwas, machte aber keinen Versuch, ihm die Waffe abzunehmen.
Sie marschierten den Kanal entlang, bis sie vor sich die niedergebrannte Schmiede sahen. Die blasse Wintersonne stand tief am Himmel. Im Westen waren dunkle Wolken aufgezogen. Es roch nach Schnee.
Immer wieder blickte Falrach zum Kanal hinab. Er und Emerelle könnten auf dem dünnen Eis laufen. Die geschickteren unter den Kobolden wohl auch. Aber einen Troll würde das Eis nicht tragen. Wenn sie flohen, dann sollten sie es über den Kanal tun.
Dort würde die Übermacht ihrer Feinde keine Bedrohung sein. Die Aussichten, auf diesem Weg zu entkommen, waren nicht schlecht. War das auch Emerelle bewusst?
Hatte sie sich deshalb so bereitwillig in das Urteil gefügt? Hatte sie längst geplant, auf welchem Weg sie beide in die Freiheit entkommen konnten? Er sollte ihr vertrauen!
Entlang der Ufer des Kanals sammelten sich mehr und mehr Kobolde. Boten mussten die Nachricht vom Urteil in die Stadt getragen haben. Betroffen sah Falrach, wie viele von ihnen verstümmelt waren.
Nur wenige Kobolde schwatzten miteinander. Die meisten standen einfach still da. Es war schwer, die Gedanken an ihren Gesichtern abzulesen. Sie wirkten verschlossen.
Verbittert!
Sie wurden zwischen verkohlten Balken hindurchgeführt. Shandrals Schmiede lag mitten auf einer Brücke. Der Großteil der Wände war eingestürzt. Die Zuschauer an den Ufern konnten ohne Mühe verfolgen, was vor sich ging.
Zwei Trolle trugen zwischen langen Stangen einen eisernen Korb mit glühenden Kohlen zur Schmiede. Ein Schwert steckte darin. Falrach stockte der Atem. Er erkannte den Griff. Die geschwungene bronzene Parierstange. Den fast dreieckigen Knauf. Es war sein Schwert.
Der Elf sah zum anderen Ufer. Noch immer wuchs die Menge der Kobolde weiter an.
Eine stumme, dunkle Flut. Ein Meer von Blicken. Obwohl er nichts Unrechtes getan hatte, fühlte Falrach sich schuldig. Die letzten Gespräche unter den Kobolden waren verstummt. Vereinzelte Schneeflocken trieben im Abendrot, das lange Schatten auf den Kanal warf. Das leise Knirschen des Eises war das einzige Geräusch. Dann war das Schlagen von Hämmern zu hören. Ein scharfes Kommando.
Wieder fuhren Hämmer nieder. Noch ein drittes Mal. Dann erklang ein Geräusch wie ein heiseres Seufzen. Es folgten hastige Rufe. Eis splitterte.
Darauf schien Dalmag nur gewartet zu haben. Er winkte einem Troll zu, der im Nordteil der Schmiede stand. Dort hatte das Feuer nicht alles vernichtet. Der Krieger drückte einen schweren, vom Feuer geschwärzten Hebel nieder. Etwas rumpelte unter der Brücke. Plötzlich erklang das Geräusch fallenden Wassers.
Hölzernes Räderwerk setzte sich in Bewegung. Eine schwere Kette rasselte.
Zwei Trolle packten Emerelle und führten sie zu einer Reihe von drei großen Ambossen. Über dem mittleren erhob sich ein Hammerkopf, größer als ein Pferdeschädel.
Die Trolle zwangen Emerelle niederzuknien.
»Leg deine rechte Hand auf den Amboss!«, befahl Dalmag.
Die Elfenkönigin wirkte völlig ruhig. Sie sah kurz zum Anführer der Kobolde. Dann blickte sie zum Ufer. Inzwischen waren dort Hunderte versammelt. Selbst auf den Dächern hockten sie, um dem Schauspiel beizuwohnen.
»Ist es das, was ihr wollt? Soll ein Unrecht mit Unrecht vergolten sein? Muss erneut Blut fließen, damit euer Rachdurst gestillt ist?«
Einzelne Schneeflocken funkelten wie ein Diadem im Haar der gefallenen Königin.
Falrach packte den Spieß, den er den Kobolden entrissen hatte, fester. Er würde nicht zusehen, wie sie Emerelle demütigten.
Starke Hände legten sich auf seine Schultern.
Der Elf bäumte sich auf, aber es war unmöglich, dem eisernen Griff zu entkommen.
Einen Augenblick nur hatte er über das, was sich dort abspielte, alles andere vergessen. Nur einen Herzschlag lang war er unachtsam gewesen!
»Löst den Hammer!«, befahl Dalmag.
Ein erneutes Krachen lief durch das Räderwerk. Eichenholzzapfen griffen ineinander.
Der riesige Hammerkopf hob sich dem Abendhimmel entgegen.
Wie gebannt starrte Falrach auf die zierliche Hand, die auf dem schwarzen Amboss lag. Die Finger waren gespreizt.
Der Hammer sauste nieder.
Schwer dröhnte der Hammerschlag über den Kanal.
Falrach hatte die Augen zusammengekniffen. Als er sie wieder öffnete, hob sich der Hammerkopf erneut dem Himmel entgegen. Ein einzelner Bluttropfen löste sich von dem schwarzen Metall und fiel hinab. Er streifte Emerelles Wange und hinterließ eine dünne rote Linie auf der marmorbleichen Haut. Sie sah zum Himmel auf. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Kein Schmerzenslaut kam über ihre Lippen.
»Du musst ihr die Hand abtrennen«, sagte Dalmag. Sein Tonfall war sachlich, doch ein hämischer Unterton begleitete sie. »Ihre Hand wird nie mehr heilen. Wenn man sie nicht sauber abschneidet, wird die Wunde brandig. Dann ist sie in einer Woche tot.«
Falrach zwang sich, auf den Amboss zu blicken. Der Kobold hatte Recht. Keine Magie Albenmarks könnte das heilen. Er rang nach Luft.
»Wenn du es nicht tust, dann wird es niemand tun. Wir können auch einfach einen Lappen darum wickeln. Übrigens, dies ist der Ort, an dem du morgen sterben wirst.
Sieh dir ihre Hand gut an. Das machen wir mit deinen Armen und Beinen.« Dalmag gab dem Troll einen Wink, der Falrach gepackt hielt. »Lass ihn los. Hast du schon einmal eine brandige Wunde gerochen? Sonst stinkt ihr Elfen ja nie. Glaubst du, auch Wundbrand wird bei euch von Wohlgerüchen begleitet?«
Der Troll setzte ihn tatsächlich ab. Falrach atmete tief durch. Er hielt den Blick fest auf das Schwert gerichtet. Feine Schneeflocken streichelten über sein Gesicht. Die Sonne war hinter den steilen Dächern der Stadt verschwunden. Die Glut der Kohlen tauchte die ausgebrannte Schmiede in unstetes, rotes Licht, das geisterhafte Schatten zwischen dem Gerippe verkohlter Dachbalken tanzen ließ.
»Denk nicht einmal daran«, sagte Dalmag hinter ihm. »Ich habe einige Armbrustschützen in der Ruine. Deine Vorführung in der Halle war sehr eindrucksvoll. Glaubst du, du wirst das auch schaffen, wenn sieben Schützen gleichzeitig auf dich schießen?«
Hätte Ollowain es geschafft? Falrach wusste ganz sicher, dass er dies nicht vermochte.
Und er wagte es nicht, sich dem, was Ollowain aus diesem Körper erschaffen hatte, erneut anzuvertrauen. Nicht, wenn er bei klaren Verstand war! Im Gerichtssaal hatte ihn sein Zorn übermannt. Jetzt hieß es, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Er trat vor den eisernen Korb. Funken stoben dem Nachthimmel entgegen, als er das Schwert langsam aus der Glut zog. Der Griff der Waffe war so heiß geworden, dass man ihn kaum halten konnte.
Er trat an die Seite der gescheiterten Königin. Mit wie viel Hoffnungen war er mit Emerelle in die Snaiwamark gereist! Er hatte geglaubt, die Liebe, die vor Jahrhunderten sein Tod beendet hatte, könne einfach wiedererstehen. Das war nicht geschehen, und nun stand er vor ihr, um ihr die Hand abzutrennen.
Schneeflocken zischten auf der glühenden Klinge.
Emerelle sah zu ihm auf. Sie nickte kaum merklich.
Falrach atmete schwer aus. Er zwang sich, auf das zu blicken, was von der Hand geblieben war, die ihn einst liebkost hatte. Handteller und Finger waren verschwunden.
Ein rotglühender Bogen schnitt durch die Nacht. Fleisch und Knochen leisteten der Klinge kaum Widerstand.
»Heb das Schwert hoch«, stieß Emerelle gepresst hervor.
Er gehorchte verwundert.
Die Königin erhob sich. Sie sah ihm fest in die Augen. Dunkles Blut schoss in pulsierenden Stößen aus der schrecklichen Wunde. Sie hob den Armstumpf seinem Schwert entgegen und presste die Wunde auf das glühende Metall.
Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Dann sank sie in seine Arme. Das Schwert entglitt seiner Hand. Zischend fiel es in den Schnee.
»Ich gratuliere dir, Elf. Du gibst einen guten Scharfrichter ab«, sagte Dalmag. »Ich bin wirklich neugierig, wie wacker du dich schlagen wirst, wenn du morgen die Seiten wechselst. Sie hat gar nicht geschrien, deine Buhle. Ist sie genauso kalt, wenn ihr euch liebt?«
Falrach angelte mit dem Fuß nach dem Schwert, das vor ihm lag.
Sofort wich Dalmag zurück. »Du denkst an die Arm brustschützen, tapferer Elfenritter? Wahrscheinlich würden sie euch beide treffen.«
Voller hilfloser Wut gab Falrach auf. Widerstand war zwecklos. Der Kobold hatte Recht. Jedes Aufbäumen würde ihr Schicksal nur noch schneller besiegeln.
»Der Kerl ist mir wieder zu munter«, sagte Dalmag mürrisch und winkte den beiden Trollen, die den Eisenkorb getragen hatten. »Verprügelt ihn ein bisschen. Aber schlagt nicht so fest zu, dass wir morgen keinen Spaß mehr mit ihm haben. Er soll noch zappeln, wenn wir ihn auf den Amboss legen.«
Er erwachte, weil ihm heiß war. Benommen blinzelte er. Dunkelheit umfing ihn. Da war ein matter, roter Schimmer ... Die Erinnerung war wie ein Sturz in kaltes Wasser.
Emerelle. Er hatte ihren Namen auf der Zunge, und doch wollte er nicht über seine Lippen kommen. Etwas stimmte nicht!
Seine Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Der Schnee draußen warf das Mondlicht zurück und sandte ein blasses, geisterhaftes Licht durch das Kerkerfenster.
Schwarz zeichneten sich die Eisenstangen gegen den Nachthimmel ab. Seine Hände brannten von den verzweifelten Versuchen, eine der Gitterstangen zu lösen. Wie lange mochte es bis zum Morgen dauern? Wie viele Atemzüge maß ihr Leben noch?
Wasser rann durch das vergitterte Loch. Ein dünnes Rinnsal. Neben seinem Knie hatte sich eine Pfütze auf dem lehmigen Kerkerboden gebildet.
Erneut wurde er sich der widernatürlichen Hitze bewusst. Seine Kleidung klebte schweißnass an seinem Leib. Mitten im Winter! In einer Stadt, in der es in dieser Jahreszeit so kalt werden konnte, dass die Vögel im Flug erfroren.
Er konnte Emerelle nur aus den Augenwinkeln sehen. Sie war aufgewacht und kauerte an der Wand der Zelle. Stumm wiegte sie sich. Ihre Linke umklammerte den Armstumpf dicht über der abgetrennten Hand.
Ein unstetes, rotes Licht umspielte die grässliche Wunde. Es wirkte wie ein Nebel aus feinsten Bluttröpfchen. Kein Schmerzenslaut kam über die Lippen der Königin.
Er hätte aufstehen sollen. Doch etwas hielt ihn zurück ... Olowains Körper war ein Hohn. Nie zuvor war er Hitze und Kälte ausgeliefert gewesen. Ein einziges Wort der Macht hatte genügt, solch Unbill zu bannen.
Falrach fühlte sich schmutzig durch den Schweiß. Ein leicht säuerlicher Geruch haftete ihm an. Doch mit dem Verlust war auch Neues gekommen. Ollowain hatte andere Gaben. Noch waren sie Falrach fremd, zu verschieden waren sie von seinem früheren Leben. Er musste sich Ollowains Vergangenheit stellen, um sie zu ergründen.
Nur einer dieser besonderen Fähigkeiten war er sich bis jetzt bewusst, er spürte sie in diesem Augenblick. Eine innere Spannung, die all seine Sinne schärfte. Ollowain hatte ein geradezu animalisches Gespür für Gefahr. Einen Sinn, der dem kultivierten Elfenvolk der Normirga längst verlorengegangen war.
Er spürte es in genau diesem Augenblick. Es war Emerelle. Er sollte sie nicht ansehen.
Obwohl er ahnte, dass sie gerade das wollte. Etwas geschah mit dem Stumpf. Sie stöhnte.
Es hatte schon früher Gerüchte um sie gegeben. Damals hatte er es als böswilliges Gerede abgetan. Aber jetzt ... Lag es an dem rötlichen Licht? An dem Schmerz, den sie litt? Ihr Antlitz wirkte fremd ... Schatten wogten über die Wände des Kerkers. Formen, die nicht allein mit dem Spiel des seltsamen Lichts zu erklären waren.
Eine plötzliche Bö fegte über die Dächer der Stadt. Holzschindeln klapperten. Ein Fensterladen schlug irgendwo im Dunkel der Nacht. Und der Wind trug eine Stimme herbei. Heiser. Fremd. Laute, die eine Elfenzunge nicht einmal mit Hilfe der Magie zu formen vermochte.
Falrach hatte das beklemmende Gefühl, dass sie beide in dem winzigen Kerker nicht mehr allein waren.
Es war nicht greifbar. Eine Macht, die er mit jeder Faser seines Körpers spürte und die sich zugleich all seinen Erfahrungen entzog. War es der Albenstein? Waren sie etwa noch da? Konnte Emerelle sie rufen?
Ein Schrei brach den Bann.
Er war mit einem Satz auf den Beinen und an Emerelles Seite. Er war dazu geboren, sie zu beschützen. So war es immer schon gewesen.
Die Königin krümmte sich. Ihre Finger gruben sich tief in das helle Fleisch ihres Arms.
Aus dem verbrannten Stumpf schob sich ein Knochen.
Emerelle zitterte vor Schmerz am ganzen Leib. Sie biss sich auf die Lippen. Ein dünner Faden Blut lief ihr über das Kinn. Unverwandt stierte sie auf die grässliche Verletzung.
Falrach stockte der Atem. Weitere Knochen wuchsen aus dem Stumpf hervor. Ein Geflecht von Sehnen umgab sie. Und dann schlugen Adern aus der Wunde. Wie die zarten Arme von Seeanemonen, die im Gezeitenstrom wogten, bewegten sie sich und tasteten am Knochen entlang.
Das rote Licht wurde dunkler. Fester. Muskeln formten sich aus dem Nichts.
Fingernägel krochen aus dem roten Fleisch.
Falrach stand leicht über sie gebeugt. Er schirmte sie’ mit seinem Leib ab. So wie er es im letzten Augenblick seines früheren Lebens getan hatte. Überdeutlich sah er jede Einzelheit mit an. Hatte sich die Magie in den Jahr tausenden seit seinem ersten Tod so sehr gewandelt? Keine Macht, die er einst gekannt hatte, hätte ein so vollständig zerstörtes Körperglied wiederherstellen können. Wer die Gabe des Heilens besaß, vermochte Krankheiten zu bannen und schrecklichste Wunden wieder zu schließen. Doch das hier ... Das war ganz anders als die Magie, die er einmal gekannt hatte. Es war widernatürlich. Nicht im Einklang mit der Magie der Welt.
Emerelles Hand war vollständig nachgewachsen. Sie streckte die Finger und ballte sie zur Faust. Ihre Haut war glatt und makellos. Sie unterschied sich in nichts von der Haut des Armes.
Das rote Licht war verschwunden. Die Kälte der Winternacht sickerte zwischen den Gitterstäben des Kerkers hindurch und vertrieb die schwüle Hitze.
Emerelle blickte zu ihm auf. Ihre Tränen hatten silbern schimmernde Spuren auf ihre Wangen gezeichnet. Sie hob die nachgewachsene Hand und strich ihm über die Lippen, als wolle sie ihm bedeuten zu schweigen. Die Fingerspitzen waren warm.
Falrach zuckte zurück. Ein Schauder überlief ihn und fraß sich tiefer in sein Innerstes als der Atem des Winters. Diese Hand ... Rein äußerlich unterschied sie sich in nichts von der Hand, die ihm noch gestern Morgen nach dem Erwachen das Haar aus dem Gesicht gestrichen hatte. Und zugleich unterschied sie sich in allem. Würde er je wieder ihre Berührung herbeisehnen?
Sollte sein Zurückweichen Emerelle verletzt haben, so ließ sie es sich nicht anmerken.
Sie erhob sich. Wie klein und zerbrechlich sie wirkte!
Eine leichte Geste mit der Linken und ein geflüstertes Wort rissen die Tür des Kerkers aus den Angeln. Mit Donnergetöse prallte sie auf die gegenüberliegende Wand.
Über ihnen erklangen erschreckte Rufe. Das Stampfen schwerer Trollfüße ließ die gewölbte Decke über ihren Häuptern erzittern.
An der Treppe, die nach oben führte, brannte eine Fackel. Ihr Licht zeichnete harte Schatten in das Gesicht der Königin.
Ein Troll, der in einer Wandnische gekauert hatte, erhob sich. Sein massiger Leib füllte den Gang und verschlang das Licht. Er wirkte benommen. Schlaftrunken.
Fairachs Hand fuhr unwillkürlich an seine Hüfte. Da war kein Schwert. Sie besaßen keine Waffe.
Der Troll schnitt eine Grimasse. In der Rechten hielt er eine Kriegskeule, die er langsam hin und her schwingen ließ. Der Gang zur Treppe war zu eng, um dieser Waffe ausweichen zu können. Sie waren ihm ausgeliefert! Auch ein Schwert hätte hier nichts ausrichten können.
Emerelle blieb ganz ruhig.
»Stell dich hinter mich«, flüsterte Falrach. Er wusste nicht, wie er den Troll aufhalten sollte. Ob Ollowain es vermocht hätte?
Emerelle stieß einen knappen Laut aus. Scharf. Schneidend. Dabei machte sie eine Bewegung, als wolle sie Wasser von ihren Händen schütteln. Ein Sirren folgte. Die weiten Ärmel ihres Mantels schössen vor wie die Fangarme eines Kraken. Der Stoff schlang sich um den gedrungenen Hals des Trolls. Er wurde zu Boden gezerrt. Trotz des Getrampels und der Alarmrufe war das Knacken, mit dem sein Genick brach, deutlich zu hören.
»Wer durch die Macht des Grauens regiert, der wird zuletzt selbst durch das Grauen verschlungen werden.«
Mehr noch als ihre Worte erschreckte Falrach der Tonfall, in dem sie sprach. Und er ahnte, dass das, was nun kommen würde, die Schrecken der Schmiede wie einen dummen Scherz erscheinen lassen würde.
»Mach endlich!«, zischte Lambi dem Mann mit der Axt zu.
Narvgar hielt die schwere Waffe umklammert und regte sich nicht. Bei Luth! Gab es denn nur noch Feiglinge? Er war mit Narvgar einst in der Albenmark gewesen und hatte gegen Trolle gekämpft. Aber heute Nacht schien den alten Recken aller Mut verlassen zu haben.
»Das ist das Haus der Königin«, sagte der Axtträger kleinlaut.
Lambi nahm ihm die Waffe ab. Er hatte mit Bedacht nur Männer aus seinem Haushalt für dieses Unternehmen ausgesucht. Die Wachen der Königin waren abgezogen. Niemand würde sie aufhalten. Nur Answin, der Befehlshaber der Wachen, war hier. Er hatte zutiefst verstanden, dass es keinen anderen Weg gab. Sie taten das zu Kadlins eigenem Besten!
Lambi holte mit der Axt aus und ließ sie gegen die Holztür krachen. Wie Donner hallte der Schlag in der Nacht. Wahrscheinlich saß Kadlin jetzt schon aufrecht auf ihrem Strohsack.
Wieder krachte das Axtblatt auf die Tür. Ein Spalt zog sich durch das Holz. Lambi malte sich aus, wie Kadlin aufsprang und nach ihrem Schwert griff. Mit einem Sei-tenblick vergewisserte er sich, dass seine Schildträger bereitstanden. Sie würde wie eine in die Enge getriebene Silberlöwin kämpfen. Aber ihr durfte nichts geschehen!
Wieder sauste die Axt nieder. Ein breiter Span riss aus der Tür. Noch drei Schläge, und die Öffnung war groß genug. Lambi ließ die Axt fallen, zog sein Schwert, schob die Klinge durch die Öffnung in der Tür und drückte von unten gegen den Querbalken, der die Holztür verriegelte.
Niemand versuchte ihm die Waffe aus der Hand zu schla gen. Das war merkwürdig! Er hätte nicht einfach tatenlos zugesehen, wie die Tür entriegelt wurde. Da stimmte etwas nicht! Er wich ein wenig zurück. Kadlin war ganz gewiss nicht eingeschüchtert, nur weil man nachts mit einer Axt ihre Türe einschlug.
Das passte nicht zu ihr.
Lambi malte sich aus, wie sie mit schussbereitem Bogen auf der anderen Seite der Feuerstelle stand und darauf wartete, wer als Erster über ihre Schwelle trat.
»Schild!« Narvgar trat an seine Seite und reichte ihm seinen großen Rundschild. Lambi überlegte einige Herzschläge lang. Sollte er mit ihr reden? Nein, das war aussichtslos.
Sie würde ihm nicht verzeihen, was er gerade getan hatte. Nicht jetzt... In ein paar Tagen vielleicht, sobald sie begriff, dass es nur zu ihrem Besten war, wenn er sie hier in Firnstayn festhielt.
Der alte Recke duckte sich hinter den Schild. Dann trat er die entriegelte Tür auf und stürmte in die kleine Hütte, dicht gefolgt von seinen Männern. Kein Pfeil schlug in seinen Schild. Kein Schwert sauste herab. Niemand rührte sich. Lambi ließ den schweren Eichenschild sinken. Was, bei Firn, war hier los? »Licht!«
Narvgar blies die Reste der Glut in der Feuergrube an. Das schwache Leuchten schien die Dunkelheit nur noch zu betonen. Der Krieger legte Holzspäne nach.
Ungeduldig sah Lambi sich um. Neben dem Butterfass stand die kleine Wiege. Sie hatte die Arbeit vollendet. Der Anblick versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er dachte an seinen Enkelsohn, mit dem sie nun schon auf dem Weg ins Land der Trolle war.
»Answin!«
Der stämmige Krieger trat durch die Tür. Er war so groß, dass er sich ducken musste.
»Wo ist sie?«
»Das wüsste ich gern von dir! Haben deine Männer nicht das Haus der Königin bewacht? Wie kann es sein, dass sie fort ist? Was hat deine Bande verschlafener Welpen gemacht?«
»Niemand ist durch diese Tür gekommen«, sagte der hünenhafte Krieger. »Ich selbst…«
»Worte wie Dünnschiss!« Lambi war außer sich vor Wut. Sie hatte ihm doch versprochen, dass sie am Mittag mit ihm reden würde. Und er hatte darauf vertraut, dass sie erst kurz vor Morgengrauen versuchen würde, zu fliehen. Er hätte es besser wissen müssen!
Kleine blaue Flämmchen loderten in der Feuergrube auf. Narvgar fütterte sie mit dürrem Reisig. Endlich wurde es heller.
Lambi sah sich in der Hütte um. Erbärmlich! Der einzige Gegenstand von einigem Wert war der Kupferkessel, der an einem eisernen Haken über der Feuerstelle hing. Ihr Schlafplatz bestand allein aus einem schlichten Strohsack und einer alten grauen Wolldecke. Da war kaum genug Platz für zwei, dachte er erleichtert. Vielleicht war an den Gerüchten ja doch nichts dran.
Er kniete neben der Schlafstelle nieder. Hätte er seine Nase noch, hätte er wohl wie ein Hund an der Decke geschnuppert. Das war das erste Mal, dass die Verstümmelung ihn davor bewahrte, sich zum Gespött zu machen.
Seine Finger glitten über das helle Holz der Wiege. Sie hatte ein Bild von ziehenden Rentieren in das Fußende geschnitten.
»Hier, Herzog!« Answin winkte ihm. Der hochgewachsene Krieger hatte Kadlins Kleidertruhe zur Seite gezogen. Dahinter war ein Loch in die Wand aus Lehm und geflochtenen Zweigen geschnitten. Gerade groß genug, dass man sich auf dem Bauch liegend hindurchzwängen konnte.
»Lass Pferde satteln«, sagte Lambi ruhig. »Wir brauchen auch Fackeln. Sie ist nach Norden gegangen.« Große Hoffnungen, sie noch zu finden, hatte er nicht. Sie war eine erfahrene Jägerin. Sie wusste, wie man unentdeckt blieb. Hoffentlich war sie schlau genug, um die Trolle zu überlisten. Sie waren ein ganzes Volk von Jägern.
Adrien beobachtete den Alten. Er stand vorne im Boot und stakte sie mit langsamen, sicheren Bewegungen zwischen den Felsen hindurch. Nur ab und an betrachtete der Junge die Landschaft. Hätte dort vorn im Bug ein anderer Schiffer gestanden, er hätte sich sicher kaum sattsehen mögen an den himmelhohen Bergen, an deren Steilflanken sich dunkle Zedernhaine erstreckten. Die Wipfel waren weiß von Schnee, doch an den Ufern hatte der Winter noch keine Macht gewonnen. Dichtes braunes Röhricht verbarg ganze Scharen von Vögeln, wie Adrien sie noch nie zuvor gesehen hatte. Kleine blaue Sänger, die in der Morgenstunde einen unheimlichen, klagenden Ruf über den Strom hallen ließen. Wildenten mit grünrotem Gefieder, die ganz plötzlich in dichten Schwärmen aus dem toten Schilf hervorbrachen. Große weiße Vögel auf dürren Beinen und mit stolzem Kopfputz, die würdevoll im seichten Wasser herumstaksten.
Aber Adrien gestattete sich nur flüchtige Blicke auf all diese Wunder, denn er reiste mit dem Tod, und er hatte Angst, dass er, wenn er den Alten aus den Augen ließ, bald auch nicht mehr zu den Lebenden gehören würde.
Seit der Schiffer ihn im Verhau im Heck besucht hatte, hatten sie beide kein Wort mehr miteinander gewechselt. Fast zwei Tage war das her. Adrien musste inzwischen darum kämpfen, dass ihm die Augen nicht zufielen. Der Alte schien keine Müdigkeit zu kennen. Natürlich nicht! Er war jenseits aller Müdigkeit.
In der ersten Nacht hatte Adrien noch gehofft, der Widergänger würde im ersten Morgenlicht verschwinden. So war es in allen Geschichten, die er je über die Geschöpfe der Nacht gehört hatte. Aber der Schiffer blieb. Er hielt den Lastkahn auf Kurs.
Unbeirrbar. Schweigend. Nur selten blickte er über die Schulter zu Adrien. Seine blauen Augen schienen alterslos. Nicht ein einziges Mal zwinkerte er.
Der Junge musste gähnen. Er streckte sich und zwang sich dann, ganz gerade zu sitzen. Langsam wurde ihm bewusst, dass er in diesem Duell unterliegen würde.
»Wohin bringst du mich?« Seine Kehle war vom langen Schweigen rau. Die Worte fühlten sich fremd und sperrig an.
»Zum Steinernen Wald.« Der Schiffer blickte nicht einmal über die Schulter. »Ist dort deine Gruft?«
Der Alte stieß seinen Stecken tief ins Wasser und lenkte das Boot an einer Klippe vorbei. Der Fluss strömte hier schneller. Die Stimme des Wassers war von einem leisen Flüstern zu einem gehetzten Raunen geworden. Es schien der weiten Berglandschaft entfliehen zu wollen. Weißer Schaum umspülte die Felsen.
»Bringst du mich in deine Gruft?«
»Du wirst allein zum Steinernen Wald hinaufsteigen.«
Adrien brauchte eine Weile, um die Worte zu erfassen. Er würde ausgesetzt werden!
Hier inmitten der Wildnis. In dieser verrufenen Gegend, in die sich nicht einmal Räuber wagten. Der Steinerne Wald ... So lange er sich erinnern konnte, hatte er Geschichten von der versunkenen Stadt in den Bergen gehört. Es hieß, dort lägen unermessliche Reichtümer verborgen. König Cabezan war einst mit einem Heer in die Berge gezogen, um Säulen für seinen Palast zu holen. Aber selbst im Schutz seiner Krieger hatte er sich nicht sehr weit in die Berge gewagt. Mit nur vier kümmerlichen Säulen war er zurückgekehrt. Seine Männer aber hatten Hunderte Geschichten in die Städte Fargons getragen. Geschichten von den unheimlichen Stimmen der Berge. Von Lichtern, die um die höchsten Säulen tanzten. Von einem gläsernen Tal und Geistern.
»Ich kann da nicht hingehen«, sagte er leise. »Niemand geht dahin.«
»Dann werde ich dich ertränken«, entgegnete der Schiffer so beiläufig, wie man eine lästige Fliege erschlug. Und Adrien hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er es ernst meinte.
Skanga nahm seine Aura in sich auf. Die fließenden Farben der Angst.
»Er ist unverletzt«, flüsterte Birga ihr ins Ohr.
Die alte Schamanin seufzte. Das sah sie auch. Obwohl sie blind war. Blind für all das, was sich dem Auge aufdrängte, um die Wahrheit zu verschleiern. Wie viel klarer waren da die magischen Auren! »Wie viele?«
»Wir haben siebzehn Köpfe gezählt. Siebzehn, die noch ... «
Skanga las Scham und Schrecken in ihm. Sie kannte Madra nicht, aber um zu den Leibwachen eines Rudelführers zu gehören, musste er seinen Mut in vielen Kämpfen unter Beweis gestellt haben.
»Hast du meiner Herrin einen der Köpfe mitgebracht?«
Die Farben von Madras Aura gerieten durcheinander. Sie verwirbelten zu einem schmutzigen Grün.
»Ich stelle die Fragen«, zischte Skanga verärgert. Der Kerl war schon aufgewühlt genug! »Wie lange ist es her?«
»Drei Tage. Ein Lutin hat mich ...«
Sie hob den Kopf, und der tote Blick ihrer weißen Augäpfel ließ ihn verstummen. Ihr war schon klar, dass ihn ein Lutin gebracht hatte. Man musste das Netz der goldenen Pfade betreten, um in nur drei Tagen von Feylanviek bis nach Burg Elfenlicht zu gelangen.
»Wie starben sie?«
»Jeder auf eine andere Art. Die meisten ... Viele waren zerrissen, als habe ein großes Raubtier sie angefallen. Aber es war ... anders. Grausamer.«
Skanga versuchte sich den Stadtpalast vorzustellen. Die Toten ... Einen Anblick, der einen Troll erschütterte. Wen hatten diese dämlichen Welpen eingefangen, um ihn zu quälen? Welche zwei Elfen hatten solche Macht? Hatte Noroelle vielleicht einen Weg gefunden, aus ihrer Verbannung zu entfliehen? Die Hofmagierin hatte einen Bastard geboren und war verbannt worden. War sie in der Einsamkeit wahnsinnig geworden?
Und der Krieger an ihrer Seite, der Elf mit dem langen, blonden Haar, war das Farodin? Wer vermochte in wenigen Augenblicken einen Rudelführer und seine Leibwache niederzumetzeln?
Skanga erhob sich. Ihre Gelenke krachten. Wohlvertrauter Schmerz durchbohrte ihr die Knie und den Rücken. Sie sollte ein wenig auf und ab gehen. Das half beim Grübeln. Manchmal.
»Komm her, Madra!« Sie stützte sich auf den Arm des Kriegers. »Gharub hat die Elfe also dafür verurteilt, dass sie ihm Zeit gestohlen hat.«
»Ja.«
Die Schamanin roch die Angst des Kriegers. Er schien sich sicher, dass sie ihn bestrafen würde, sobald sie mit ihm fertig war. »Diese Anklage hat sich ein Kobold ausgedacht, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und der wurde auch getötet?« »Ja.«
Skanga musste an sich halten. Geschwätzigkeit war ihr zuwider, aber Madra übertrieb es mit seiner Wortkargheit. Sie überlegte, ob sie nach Feylanviek reisen sollte, um sich ein besseres Bild machen zu können. Selbst wenn die Kobolde schon alles gesäubert hatten, hinterließen so blutige und grausige Ereignisse eine Spur in der Aura des Palastes. Zumindest für eine kurze Zeit. »Was geschah mit den Toten?«
»Ich habe Gharubs halbe Leber gegessen und einen Mund voll von seinem Herzen. Er war ein großer Krieger ... «
Skanga zwackte Madra in den Arm, um ihn wieder zum Schweigen zu bringen. Sie wusste nur zu gut, was mit Helden geschah. »Und die Übrigen? Habt ihr die in den Fluss geworfen? Es gibt doch einen Fluss bei Feylanviek, oder?«
»Sie sind verbrannt.«
Natürlich. Ein Trollkrieger, der etwas auf sich hielt, würde sich lieber eine Hand abschneiden, als von der Leber eines Kämpfers zu essen, der in seiner Aufgabe versagt hatte. Die Ehre, verspeist zu werden, blieb allein Helden vorbehalten.
Grübelnd schlurfte Skanga vor sich hin, ohne auf den Weg zu achten. König Gilmarak saß noch nicht lange genug auf dem Thron von Albenmark, um sich dort sicher zu fühlen. Und er war viel zu jung, um ein guter Herrscher zu sein. Sie bemühte sich, ihn zu führen, aber sie konnte nicht Tag und Nacht an seiner Seite verbringen. Leider hörte er nur allzu oft auf andere Berater, vor allem auf diesen verfluchten Lutin Elija Glops.
Gharub hatte nun also erlebt, wozu es führte, wenn man sich allzu sehr diesen verblen-deten Kobolden anvertraute. Seine spät gewonnenen Einsichten würde er nicht mehr weitergeben können.
Skanga spielte gedankenverloren mit dem Albenstein, der halb verborgen zwischen all den anderen Amuletten von ihrem Hals hing. Sie dachte an ihre alte Lehrerin Mahta Naht. Mahta hatte Freude daran gehabt, sie zu quälen. Aber sie war klug gewesen. Der Weg zur Macht ist lang und beschwerlich, aber er ist ein Spaziergang im Vergleich zu dem Weg, der vor dir liegt, wenn du einmal gewonnene Macht behalten wil st. Darum überlege dir gut, nach wie viel Macht du strebst.
Diese Worte waren Skanga seit dem Sieg über Emerelle oft durch den Kopf gegangen.
Burg Elfenlicht war umringt von Hunderten Zelten. Es sah aus, als würde die stolze Elfenfestung belagert. Und so war es auch fast. Wahre Heerscharen von Bittstellern und Schleimern hatten sich eingefunden. Manche warteten wochenlang auf eine Audienz bei Gilmarak.
Die meisten von ihnen glaubten, dass sie den jungen König überlisten könnten, weil er fast noch ein Kind und obendrein nur ein dummer Troll war. Der Lutin Elija Glops hatte Gilmarak bei diesem endlosen Gerede im Thronsaal oft guten Rat gegeben. Aber der verdammte Lutin war zu klug, als dass man ihm tief vertrauen könnte. Skanga hasste es, hier zu sein. Sie hatte sich den Sieg über die Elfen anders vorgestellt.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich kaum Gedanken darüber gemacht, was geschehen würde, wenn Emerelle von ihrem Thron vertrieben war. Ihr ganzes Denken hatte nur um den Kampf gegen die Königin und die Heere ihrer Verbündeten gekreist. Auf das, was danach kam, war sie völlig unvorbereitet gewesen! Schon allein diese Burg! Es hatte Jahre gedauert, die von den Elfen besetzten Höhlenfestungen der Snaiwamark wieder wohnlich zu machen. Mit dieser Burg würde das wohl niemals gelingen.
Die alte Trollschamanin lauschte auf das Rauschen des Wassers. Man hörte es fast überall in der Burg. Es gab Dutzende Brunnen. Und dann dieser Thronsaal ... Kein Troll, der halbwegs bei Verstand war, käme auf die Idee, sich eine Höhle zu suchen, in der Wasser an allen Wänden hinablief, und die obendrein keine Decke hatte! Es war unbegreiflich, was in den Köpfen von Elfen vor sich ging! Sie führten sich auf, als seien ihre Urahnen Biber gewesen.
Und dann die Silberschale bei dem Thron. Es hieß, Emerelle habe ganze Tage damit verbracht, in sie hineinzustarren. Diese Burg war an sich schon verrückt. Aber sich diesem Ding anzuvertrauen, das war der blanke Wahnsinn! Im ganzen Thronsaal konnte sie die bösartige Aura der Schale spüren. Sie war von dunkler Magie durchdrungen. Schlimmer noch. Etwas Lebendiges war an ihr. Ein bösartiger Geist. Skanga hatte so etwas noch nie gefühlt. Musste man blind sein, um so deutlich zu erkennen, womit man es zu tun hatte? Sie hatte mit niemandem darüber geredet. Auch mit Birga nicht.
Ihre einfältige Schülerin hielt die Silberschale für harmlos. Sie erzählte, dass Vögel aus dem Park herbeigeflogen kamen, um in der Schale zu baden.
Blendwerk! Die Schale tat harmlos. Am besten sollte man sie in den Schlund eines der Vulkane in der Snaiwamark werfen. Das war die einzige Art, mit solchen Werken dunkler, undurchsichtiger Magie umzugehen! Ein einziges Mal hatte sie den Fehler gemacht, in die Silberschale zu blicken. Dass sie blind war, hatte sie nicht geschützt. In aller Deutlichkeit hatte die verwunschene Schale ihr gezeigt, wie sie sterben würde.
Skanga wusste nicht, wann ihr Schicksal sie ereilte. Aber sie wusste, dass sie ein langsamer, schmerzvoller Tod ohne Würde erwartete. Sie würde zuletzt darum betteln, nicht mehr leben zu müssen.
Nur einen kurzen Augenblick hatte sie in die Schale geblickt, aber sie hatte das Gefühl gehabt, die Ereignisse von vielen Tagen Herzschlag für Herzschlag miterlebt zu haben.
Das Gesehene verfolgte sie in ihren Träumen. Sie war nicht ängstlich ... Aber dieser eine Blick in die Silberschale hatte ihr Leben verändert. Erst jetzt hatte sie tief begriffen, welche Gnade es war, nicht um seinen Tod zu wissen. Von nun an würde ein Schatten auf ihrem Leben liegen.
»Skanga?« Birga zupfte an ihrem Gewand. Diese kleine Schlampe wusste genau, dass sie es nicht mochte, von ihr berührt zu werden.
»Was!«
»Madra ist immer noch da. Soll er gehen? Du scheinst sehr tief in Gedanken. Willst du allein sein?«
Diese geheuchelte Unterwürfigkeit. Sie hasste das! »Hab ich euch entlassen?«
»Nein. Ich dachte nur ... «
»Hab ich dir erlaubt, zu denken?«, blaffte Skanga. »Du tust nur, was ich dir sage. Das ist alles, was ich von dir erwarte.«
Birga sagte nichts mehr. Es war still bis auf das Rauschen des Wassers. Skanga sah sich Madra an. Etwas an seiner Aura war eigenartig. Ihr fehlte etwas ... Aber sie konnte nicht genauer benennen, was es war.
Ein Pulk schnatternder Kobolde kam aus dem Thronsaal. Als sie sie bemerkten, verstummten die kleinen Nichtsnutze. Mit hastigen, trippelnden Schritten huschten sie vorüber.
Skanga umschloss den Albenstein mit der Faust. Seine Magie linderte die Schmerzen in ihrer gichtverkrüppelten Hand. Sie musste ihre Gedanken ordnen! Feylanviek! Wer waren die beiden Elfen gewesen? War die Tat nur ein Racheakt an einem tyrannischen Kobold und einem dummen Troll? Oder war es der Beginn von etwas Größerem?
Planten die Elfen eine Revolte? Dass Emerelle einfach aufgegeben hatte, hatte die meisten ihrer Fürsten überrascht. Noch war es nicht zu Aufständen gekommen. Aber man durfte dieser verdammten Elfenbrut nicht trauen. Sie sol te sich selbst ein Bild davon machen, was in Feylanviek geschehen war. Außerdem war es ein guter Vorwand, diese verfluchte Elfenburg zu verlassen.
»Sind alle Leichen der Trolle fortgeschafft worden?«
»Ja, Skanga.«
»Es gab auch tote Kobolde, nicht wahr? Du hast nichts darüber berichtet.«
»Es sind ja nur Kobolde. Keine Krieger ...«
»Wie viele waren es?«, drängte sie. Deutlich spiegelte sich die Anspannung in seiner Aura. Zweifel überfielen ihn. Er befürchtete, etwas falsch gemacht zu haben.
»Ich weiß es nicht.«
»Haben die Kobolde sauber gemacht?«
Er räusperte sich. »Ich war nicht so lange dort. Es wäre viel Arbeit. Und es ist noch nicht entschieden, wer die neuen Anführer sein werden.«
Das war doch was, dachte Skanga. Die Geschichte jenes Abends war mit Blut geschrieben worden. Wenn es noch niemand aufgewischt hatte, könnte sie daran ablesen, was genau geschehen war. Vielleicht könnte sie auch herausfinden, wer die beiden Elfen gewesen waren. Sie hatte einen Verdacht. Zugleich hoffte sie aus tiefstem Herzen, dass sie sich irrte. Siebzehn tote Trolle. Und nur zwei Elfen! Der einzige Elfenkrieger, dem sie so etwas zugetraut hätte, war tot. Zumindest behauptete das Elijah Glops. Wenn der intrigante kleine Lutin gelogen hatte, dann hätte sie einen Grund, dem Mistkerl den Hals umzudrehen. Allein das war schon die Reise nach Feylanviek wert.
Falrach blies warmen Atem auf seine gefalteten Hände. Die Kälte würde ihn töten, wenn sie noch lange anhielt. Nein, das stimmte nicht ganz ... Die Kälte und sein Stolz.
Ein Wort von ihm würde genügen, und Emerelle würde ihn mit einem Zauber vor dem bitteren Frost beschützen. Sie ging nur wenige Schritt vor ihm. Doch ihre Gestalt war kaum mehr als ein Schatten im dichten Schneetreiben.
Wieder blies sich Falrach auf die Hände. Wie hatte es Ollowain geschafft, in diesem Körper so lange zu überleben? Die Elfen aus dem Volk der Normirga lernten schon als Kinder jene Worte der Macht, welche die Kälte bannten. Sie konnten in leichten Seidengewändern auf ihren Eisseglern über die weiten Ebenen Carandamons dahin-jagen, ohne dass der beißende Frost ihnen in die Glieder schnitt. Nur Ollowain nicht ... Er war ganz ohne Magie geboren. Das war überaus selten unter Elfen. Ein einziger Elf in einem Jahrhundert mochte mit diesem Makel gestraft sein. Falrach fluchte. Und ausgerechnet in so einem Leib war sein Bewusstsein wiedererwacht.
Sein Blick streifte die dunklen Flecken auf den Ärmeln seines dick gefütterten Mantels.
Sie waren gnädigerweise fast ganz unter festgebackenem Schnee verborgen. Ollowain hatte eine andere Gabe ... Die Erinnerung an ihren Besuch im Gerichtssaal mochte nicht vergehen, sosehr er sich auch bemühte, diese Bilder aus seinen Gedanken zu bannen. Der mächtige Bidenhänder, den er unter dem Waffenschmuck in der Eingangshalle des Koboldpalastes gefunden hatte, drückte schwer auf seinen Rücken.
Es war ihm ganz so erschienen, als habe die Waffe ihn in dem Augenblick erwählt, da er sie sah. Ältere, tiefere Erinnerungen an ein vergangenes Jahrtausend hatten ihn beim Anblick des großen Schwertes mit der geschwungenen Klinge durchdrungen.
Erinnerungen an mächtige Schwingen, Feueratem und kalte Angst. Solche Waffen waren einst für jene Tapfersten der Tapferen geschmiedet worden, die es wagten, sich den Drachen zu stellen. Auch er hatte einmal so ein Schwert besessen. Aber seines war nicht so schwer gewesen ... Alles wurde schlechter, dachte er. Plötzlich musste er schmunzeln. Er führte sich auf wie ein griesgrämiger, alter Kobold. Er sollte mehr wie früher sein. Das hier war nicht mehr die Welt, aus welcher der Tod ihn gerissen hatte.
Es lag nicht in seiner Macht, dies zu ändern. Er sollte den Fährnissen des Schicksals mit einem trotzigen Lächeln begegnen! Ob er sich veränderte oder nicht, es war seine Wahl.
Er atmete schwer aus. Wieder standen ihm die Bilder des Kampfes vor Augen. So etwas würde er nie wieder tun!
Emerelle war stehen geblieben und er so tief in Gedanken, dass er sie fast angerempelt hätte. Verwundert sah er sich um. Weit reichte sein Blick nicht. Er konnte kei nen besonderen Grund ausmachen, warum sie angehalten hatte. Sie waren irgendwo südlich von Feylanviek, wo flache Hügel sich wie sanfte Meeresbrandung bis zum Horizont hinzogen. Für ihn gab es keinerlei Orientierungspunkte. Ein Hügel sah aus wie der andere. Insbesondere da sie alle unter Schnee begraben lagen.
Emerelle kniete nieder und zeichnete eine verschlungene Linie in das Weiß. »Wir stehen auf einem niederen Albenstern. Nur vier Pfade kreuzen sich hier. Das muss genügen.«
Eine Kälte, die tief aus seinem Inneren kam, erfasste Falrach. »Nur vier Albenpfade«, sagte er müde. Ihm war klar, dass sie nach dem, was in Feylanviek geschehen war, fliehen mussten. Aber warum hier? Es hatte einen Albenstern inmitten der Stadt gegeben. Einen sicheren Stern!
Emerelle blickte zu ihm auf und wartete auf seine Frage. Sie war so schön. So unglaublich schön. Die Jahrhunderte hatten ihr ebenso wenig etwas anzuhaben vermocht wie der schneidende Wind und das Schneetreiben. War eine Marmorstatue so lange den Elementen ausgesetzt, dann wurden ihre Züge weicher. Wind und Zeit schliffen harte Kanten rund. Bei Emerelle war das Gegenteil geschehen. Ihre Züge wirkten einprägsamer. Härter. Und doch war nichts von dem verschwunden, was ihn einst so sehr angezogen hatte. Noch immer konnte er sich in den Tiefen ihrer hellbraunen Augen verlieren. Sie wirkten unschuldig. Ihre Farbe erinnerte an das Fell eines Rehkitzes. Die gefallene Königin war zart, ja von zierlicher Gestalt. Das Haar trug sie offen. Es fiel in Wellen auf den weißen Umhang, der ihre Schultern bedeckte. Wer sie von Ferne sah, mochte sich in ihr täuschen ... Stand man ihr jedoch von Angesicht zu Angesicht gegenüber, dann spürte man jene Kraft, vor der einst sogar Drachen zurückgeschreckt waren. Sie war ungebrochen. Auch wenn sie ihre Krone verloren hatte.
»Warum nehmen wir diesen Weg?«
»Weil uns hier nur Narren folgen werden.«
Er rang sich ein Lächeln ab, obwohl ihm nicht danach zumute war. »Sind wir mehr als Narren, wenn wir versuchen, durch diesen Albenstern zu gehen?«
Auch um ihre Lippen spielte ein flüchtiges Lächeln. Doch ihre Augen blieben hart.
»Wir werden es wissen, wenn wir unseren Weg gegangen sind. Nach einer Weile ...«
Es war zum Verzweifeln mit ihr! Das war dasselbe Verhalten wie in Feylanviek! War ihr denn ganz gleich, was mit ihnen geschah? Musste sie das Schicksal herausfordern?
War das alles, was das Leben ihr noch zu bieten hatte? Einen niederen Albenstern zu durchqueren, war ein unnötiges Risiko. Ein winziger Fehler mochte sie auf ihrer Reise durch das goldene Netz mehr als Hunderte von Meilen von hier fortführen. Und es bestand zudem die Gefahr, dass sie weit in der Zeit voranschritten. Ein Jahr, ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert... Oft dauerte es eine Weile, bis man wusste, wie groß der Schaden war. Albensterne, an denen sich sieben Wege kreuzten, waren sicher. Je weniger Wege es wurden, desto größer war die Gefahr, sich zu verlieren. Jeder Fehler war unumkehrbar. Zeitsprünge führten stets nur in die Zukunft. Es gab keinen Weg mehr zurück.
»Vertrau mir.« Emerelle griff nach seiner Hand. »Ich bringe uns in Sicherheit. Nicht in Gefahr.«
»Und Feylanviek? Warum?«
»Ich musste wissen, ob sie es wirklich tun.«
Falrach sah auf die Hand, die ihn hielt. Die Hand, die ihr neu gewachsen war, obwohl dies gegen die Gesetze der Magie war. Kein Zauber konnte ein verlorenes Glied neu erschaffen. Nicht aus Fleisch und Blut.
»Ekelst du dich vor mir?« Emerelle zog ihre Hand zurück.
»Du hast dich so sehr verändert ...« Nein, es war kein Ekel, den er empfand. Sie machte ihm Angst. Und zugleich war er ihr verfallen. »Dieses Blutbad ... Früher hättest du nicht ... «
»Ich musste ganz sicher wissen, dass sie die Strafe voll ziehen.« Sie senkte den Blick. »Ich hätte Shandral bestrafen müssen. Das versäumt zu haben, ist unverzeihlich. Ich hatte es verdient ... «
»Aber warum diese Morde? Wenn du allein Dalmag getötet hättest. Oder auch noch diesen Trollfürsten. Aber alle!«
»Sie alle waren dabei, als Unrecht gesprochen wurde. Und keiner hat gegen das Urteil Beschwerde erhoben. So haben sie selbst den Stab über sich gebrochen. Doch das war nicht ausschlaggebend für ihren Tod. Unter den Kobolden waren sieben, die gar nicht anwesend waren, als über uns verhandelt wurde. Sie hatten Pech. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort.« Sie sagte all das ohne eine Spur des Bedauerns, aber auch ohne Zorn.
»Wir sind doch nicht besser als Dalmag und Gharub, wenn wir ...«
»Darum geht es nicht, Falrach. Sie haben entschieden, den Schrecken zum Mittel ihrer Herrschaft zu machen. Dieser Schrecken musste auf sie zurückfallen.«
»Aber es hätte doch völlig genügt, Dalmag und Gharub zu bestrafen. Warum all die anderen?«
»Weil es so eine bessere Geschichte ist.«
Er sah sie fassungslos an. »Eine Geschichte?«
»Ja. Siebzehn tote Trolle und zweiundvierzig Kobolde. Davon wird man noch im entferntesten Winkel Albenmarks hören. Und genau deshalb musste es geschehen. All die Unterdrückten werden wieder hoffen können, denn sie wissen nun, dass der Schrecken auf die Tyrannen zurückfallen kann. Was glaubst du, wie viele Städte es gibt, in denen nun Kobolde und Trolle herrschen? Hundert? Zweihundert? Auch ich kann es dir nicht sagen. Und glaubst du, Shandral war der Einzige seiner Art? Es gab noch ein halbes Dutzend anderer gewissenloser Schurken. Was glaubst du, wie viele Kobolde noch eine Rechnung mit ihren alten Elfenfürsten zu begleichen haben? Einige halten sich an das Gesetz. Andere herrschen wie Dalmag und Gharub. Ihnen wird die Geschichte über das Massaker in Feylanviek zu denken geben. Hätte ich nur Dalmag und Gharub getötet, dann würden all die anderen Tyrannen glauben, die beiden seien leichtfertig gewesen. Schlimmer noch, die Geschichte würde sich nicht mal verbreiten. So aber wissen alle Tyrannen, dass sie nicht einmal inmitten ihrer Leibwachen sicher sind. Ihr einziger Schutz besteht darin, gerechte Herrscher zu sein. Was vor drei Tagen geschah, wird künftig Hunderte Leben retten.«
Falrach vermochte sich der Logik dieser Worte nicht zu entziehen. Er war ein Spieler gewesen. Kühles Kalkül hatte ihm unzählige Siege eingebracht. Er war stets auch ein guter Rechner gewesen. Am Spieltisch! Wirkliche Leben hatte er noch nie gegeneinander aufgerechnet. »So also denken Königinnen«, sagte er schließlich.
»Früher hattest du eine romantische Ader. Ist sie dir völlig abhanden gekommen, Falrach? Fahrende Ritter denken so. Sie bekämpfen das Böse, wo sie ihm begegnen.«
»Und sieben Kobolde, die nicht einmal anwesend waren, als wir verurteilt wurden?
Was war ihr Verbrechen?«
Emerelle schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du bist zu kleinlich.«
»Und du bist nicht mehr die fahrende Ritterin, die ich einmal kannte. Früher hättest du dir die Mühe gemacht, besser zu unterscheiden.«
Sie sah ihn auf eine Art an, die in ihm die Frage aufkeimen ließ, wie viel sein Leben wohl wert war, wenn er ihr widersprach.
»Gerade hast du wie Ollowain gesprochen«, sagte sie nach langem Schweigen. »Ich glaube, du bist auch nicht mehr der Falrach, den ich einmal kannte. Er hätte die Logik des Schreckens verstanden.«
»Etwas zu verstehen und etwas gutzuheißen, ist nicht dasselbe.«
»Haarspaltereien! Du weißt, dass ich Recht habe!« Was er wusste, war, dass es sinnlos wäre, noch weiter mit ihr darüber zu reden. Vielleicht brauchte man diese Halsstarrigkeit, um herrschen zu können. Die Gabe, unbeirrbar von sich und der Richtigkeit der eigenen Entscheidungen überzeugt zu sein. »Sind wir Narren, diesen Weg zu wählen?« Er deutete auf das Zeichen am Boden, das der stetig fallende Schnee bereits zu verwischen begann. »Sehe ich aus wie eine Närrin?«
Ihre Worte wurden von einem Lächeln begleitet, für das Falrach ihr bis in eine Drachenhöhle gefolgt wäre. Er war ein Narr, daran konnte es keinen Zweifel geben.
Ein verliebter Narr, der einem Traum hinterherlief, der vor mehr als tausend Jahren gestorben war.
»Was in Feylanviek geschah, wird sehr bald auch in Burg Elfenlicht bekannt sein. Die Trolle werden ihre besten Krieger, Fährtensucher und Schamanen schicken, um die Mörder von Gharub zu stellen. Tote Kobolde sind ihnen egal. Aber der Mord an einem Rudelführer wie Gharub stellt ihre Herrschaft infrage, wenn er ungesühnt bleibt. Sie werden große Anstrengungen unternehmen, um uns zu finden.«
Falrach konnte die Begeisterung nicht nachvollziehen, mit der Emerelle sprach. Er hätte sehr gut darauf verzichten können, ein Rudel von Kopfgeldjägern auf seinen Fersen zu haben.
»Sie werden Schwierigkeiten haben, unserer Spur im hohen Schnee zu folgen«, fuhr Emerelle fort. »Und sie werden davon ausgehen, dass wir durch einen der beiden großen Albensterne geflohen sind. Entweder durch den in Feylanviek oder den anderen, der nahe der Stadt liegt. Und sollten sie uns doch auf die Spur kommen und hierherfinden, dann werden ihre Schamanen zögern, uns auf diesem Weg zu folgen.
Wie gesagt, nur Narren durchschreiten einen niederen Albenstern.«
»Warum sind wir keine Narren, wenn wir diesen Weg beschreiten?«
Emerelle holte einen kleinen, unscheinbaren Anhänger unter ihrem Gewand vor. Einen grauen Stein mit unregelmäßiger Oberfläche. Dünne Linien waren darin eingekerbt. Falrach hatte den Eindruck, dass rote Glut in ihm gefangen war. Manchmal schien sie durch ihn hindurchzuschimmern. Ein Albenstein! Jedes der großen Völker hatte von den Alben einen solchen Stein zum Geschenk erhalten, bevor sie die Welt verließen. Auch wenn er sich kaum von einem Stück Bruchstein am Wegesrand unterschied, barg er doch gewaltige magische Macht. Es hieß, man könne Zauber weben, die ganz Albenmark verändern mochten, wenn eine Kundige wie Emerelle mehrere solche Steine besaß.
Jetzt war Falrach klar, wie sie es vollbracht hatte, ihre Hand nachwachsen zu lassen.
Mit Hilfe dieses Steins hätte sie wahrscheinlich ganz Feylanviek zerstören können.
»Wir werden nicht in Gefahr sein, wenn wir durch diesen Albenstern schreiten.«
Emerelle legte ihre Linke flach auf den Schnee. Mit der Rechten hielt sie den Albenstein umfasst. Ihre Lippen formten uralte, befehlende Worte. Ein Faden blauen Lichts brach aus dem Schnee. Wie eine Schlange wiegte er sich vor und zurück. Ein smaragdgrüner Faden folgte. Sie woben sich tanzend umeinander. Eine rote und eine gelbe Lichtschlange folgten. Sie wölbten sich hoch empor zu einem Bogen, den ein Reiter hätte passieren können, ohne auch nur den Kopf neigen zu müssen. Als der Torbogen aus Licht vollendet war, verblasste der Blick auf die Landschaft dahinter.
Stattdessen sah man einen leuchtend goldenen Weg, der durch die Finsternis führte.
»Komm!« Emerelle streckte ihm die Hand entgegen. Es war ihre Linke. Nicht jene neue, die durch die Macht des Albensteins gewachsen war.
Falrach nahm ihre Hand. Sie fühlte sich angenehm warm an. Sein Herz war voller Zweifel, aber dennoch folgte er ihr. Wohin brachte sie ihn?
Sie waren erst wenige Schritte gegangen, als sich vor ihnen auf dem Pfad ein neues Tor auftat. Gleißend helles Licht brannte sich in Fairachs Augen.
Adrien schreckte auf und brauchte einen Augenblick, um sich zu erinnern, wo er war.
Ein klagender Ruf hatte ihn geweckt. Er war in dem Verhau des Lastkahns eingeschlafen. Und das Boot bewegte sich nicht mehr.
Hastig schlug er die Wolldecke zurück. Nebel lag über dem Fluss. Der Kahn war an einem felsigen Uferstreifen vertäut. Wieder zog der lange, klagende Ruf über das Wasser. Es war der Ruf des Eisvogels. Der Schiffer war gestern recht gesprächig gewesen für einen Toten. Er hatte von den Tieren am Fluss erzählt und vom Steinernen Wald.
Aber Adrien vertraute ihm immer noch nicht. Auf der ganzen Reise hatte er den Alten weder schlafen noch essen oder trinken sehen. Und der Bettler vor der Scheune des Silberstricks war tot gewesen. Daran gab es keinen Zweifel.
Adrien wusste nicht, was für ein Geschöpf der Schiffer war. Nur eines konnte er mit Bestimmtheit sagen: Ein lebender Mensch war er nicht. Allerdings musste er einräumen, dass ihm der Schiffer bisher kein Leid zugefügt hatte. Ganz im Gegenteil. Er hatte ihm zu essen und einen warmen Platz gegeben, und so, wie die Dinge standen, hatte er wohl auch dafür gesorgt, dass Adriens Füße nicht erfroren waren.
Der Alte stand am Bug wie eine Statue. Reglos blickte er in den Nebel, der über dem Wasser trieb.
Adrien wagte es nicht, ihn zu stören. Er war sich sicher, dass der Schiffer gehört hatte, wie er die Wolldecke zurückgeschlagen hatte. Würde der Alte reden wollen, hätte er schon etwas gesagt.
Adrien streckte die Glieder. Sein Rücken schmerzte. Warum der Schiffer wohl keinen Strohsack in seinem Verschlag hatte? Eigentlich war das klar. Wenn man nie schlief, brauchte man solche Bequemlichkeiten nicht.
Der Junge blies die Kohlen in der Feuerschale an und kramte in dem Sack mit den Äpfeln. Es wäre schön, mal etwas anderes zu essen. Die Äpfel waren der einzige Proviant an Bord. Und die Würmer in den Äpfeln. Weiß der Henker, woher die Äpfel kamen oder wie lange sie schon in dem Sack lagen. Jedenfalls hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie mit Bienenwachs einzureiben, um sie haltbarer zu machen. Oder auch nur die fauligen herauszusuchen. Es waren noch drei Äpfel übrig, die man ohne allzu großen Ekel essen konnte.
Adrien legte sie in einer Reihe neben die Feuerschale. Sie alle hatten braune Stellen, aber wenigstens waren keine Schimmelflecken darauf.
Eine der Planken knarrte. Der Junge blickte auf und erschrak bis ins Herz. Der Schiffer stand fast unmittelbar vor ihm. Wie hatte er so lautlos durch das Boot gehen können?
»Deine Reise endet hier.«
Adrien wich ein Stück zurück, bis er die Schilfmatte des Verschlags im Rücken spürte und es kein Entkommen mehr gab. Wenn er wenigstens ein Messer hätte! Er hob die Fäuste. Er würde sich wehren, auch wenn es aussichtslos war.
Der Schiffer deutete über den Nebel hinweg zu einem nahen Berg. »Geh in diese Richtung und wenn du die weite Treppe findest, folge ihr, so gut du kannst. Sie wird dich zu Bruder Jules führen. Der Weg ist weit, und du solltest Jules besser vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.« Der Alte trat zurück und kniete sich in der Mitte des Bootes nieder. Dort machte er sich an einer eisenbeschlagenen Kiste zu schaffen, die unter der Ruderbank gestanden hatte. Drei Schlösser musste er öffnen, um den Deckel zu heben.
Adrien sah ihm zu. Hier inmitten der Wildnis ausgesetzt zu sein, kam einem Todesurteil nahe. Wieder dachte er an die Geschichten über den Steinernen Wald. Wie sollte er bestehen, wo ein König mit einem ganzen Heer gescheitert war?
Der Alte zog ein Paar neuer Stiefel aus der Kiste und warf sie zu ihm herüber. »Die hat Jules für dich besorgt. Du solltest die Lappen um die Füße wickeln, sonst werden sie voller blutiger Blasen sein, bevor du auch nur den halben Weg geschafft hast. Nimm das Hemd dort hinten und zerreiß es.«
Adrien hob einen der Stiefel auf. Ehrfürchtig strich er über das polierte Leder. Die Stiefel waren neu. Sie wiesen nicht die kleinste Schramme auf. Man konnte noch den Leim riechen, den der Schuster verwendet hatte. Nie zuvor hatte er etwas besessen, das so kostbar wie diese Stiefel gewesen wäre.
Ohne auf den Ratschlag des Alten zu hören, rollte er die schmutzigen Hosenbeine auf, damit sie das Innenfutter nicht besudelten, und streifte die Stiefel über. Sie waren ein klein wenig zu weit. Aber wenn er sich Lumpen um die Füße wickelte, würden sie passen wie angegossen. Langsam fühlte er sich wie der Held eines Märchens. Das alles war ganz anders als das Leben, das er bisher gekannt hatte. Er stellte sich vor, dass er jeden Augenblick in einer Gasse in Nantour erwachen würde, den letzten Zipfel seiner Wurst in der Hand. Und alles war nur ein Traum.
»Du wirst das hier brauchen.« Der Schiffer holte aus einer Segeltuchrolle im Bug einen kurzen Speer mit breitem Stichblatt hervor. »Eine Saufeder. Hilft nicht nur gegen wilde Schweine.« Zum ersten Mal, seit sie einander begegnet waren, lächelte der Schiffer.
Und Adrien überkamen Zweifel, ob er sich beim Silberstrick nicht doch geirrt hatte.
Hatte er zu flüchtig hingesehen?
»Danke«, sagte er verlegen. Dann kauerte er sich ins Boot und zog die Stiefel wieder aus. Er nahm das Hemd. Wie der Alte es ihm geraten hatte, riss er es in Streifen.
Sorgfältig wickelte er seine Füße ein.
Der Schiffer sah ihm schweigend dabei zu. Als Adrien fertig war, drückte ihm sein seltsamer Gefährte die Saufeder in die Hand. Die Waffe war schwer und kopflastig.
Adrien hatte einmal ein Messer besessen. Aber so etwas hier ... Was erwartete ihn in den Bergen?
Das Stichblatt des Speers war sorgfältig eingefettet. Kein Rost zeigte sich auf dem Stahl, kein Stäubchen auf dem geölten Schaft. Der Junge blickte in den Nebel, der in weiten Bänken über dem Ufer lag. Der Lastkahn und sein Schiffer kamen ihm plötzlich wohlvertraut vor.
»Was ist da in den Bergen?«
Der Schiffer zuckte nur mit den Achseln. »Wer weiß das schon?« Er griff unter seinen Umhang und hielt Adrien eine angebissene Wurst hin. »Du wirst Hunger bekommen...« Wieder lächelte er. »Keine Sorge, ich hab nicht abgebissen.«
Adrien schämte sich plötzlich wegen der Art, wie er sich aufgeführt hatte. »Danke«, murmelte er verlegen.
Der Alte klopfte ihm auf die Schulter. »Geh jetzt!« Seine Stimme klang wieder hart und schnarrend.
Adrien stieg aus dem Lastkahn und watete durch das flache Wasser zum Ufer. Die Stiefel waren von hervorragender Qualität. Kein Tropfen Wasser drang an seine Füße.
Der Alte holte die Leine ein und stakte sein Boot zur Mitte des Flusses hin. Bald war er nur noch ein Schemen im Nebel. »Achte auf die Löwen, Junge! Und hüte dich vor den Wölfen!«
Adrien schob die Wurst hinter das Seil, mit dem er seine zerlumpte Hose zusammengebunden hatte. So konnte er die Saufeder mit beiden Händen fassen.
Argwöhnisch sah er sich um. Noch war er allein. Vorsichtig, jedes unnötige Geräusch meidend, schlich er über den Uferstreifen.
Knochenbleiches Treibholz markierte die Hochwassermarke des Flusses. Dort begann das Dickicht. Adrien schob die Zweige mit dem Speer auseinander. Hier war es unmöglich, sich noch lautlos zu bewegen. Wenn etwas auf Beute lauerte, dann hatte es ihn nun gehört.
Er drückte sich um einen hausgroßen, grauen Felsen herum. Verwaschene Rußspuren zogen sich über den Stein.
Adrien blickte zu Boden. Hier war einmal eine Feuerstelle gewesen. Er erkannte den Steinkreis eines Lagerfeuers, halb unter Dornenranken verborgen. Holzkohlestückchen lagen im Geröll. Nur ein paar Schritt weiter fand er die nächste Feuerstelle. Dann noch eine. Bald hatte er mehr als ein Dutzend gefunden. In einer Felsmulde fand er einen einzelnen Eisenring aus einem Kettenhemd. Rost wucherte wie roter Schorf auf dem Metall und hatte die Mulde, in der der Ring lag, rot gefärbt.
Adrien hob den Ring auf und rieb ihn zwischen den Fingern. Das Metall unter dem Rost war fast schwarz. Die Zeit hatte es spröde werden lassen. Er legte den Ring zu-rück. Wie lange hatte er wohl in der Felsmulde gelegen ... Fünf Jahre? Zehn? Ein halbes Jahrhundert? Hier hatte also einmal eine Schar Bewaffneter gelagert. War es Cabezan mit seinem Heer gewesen? In den Geschichten, die Adrien kannte, war nicht die Rede davon, wie er in die Berge gelangt war. War er hier mit einer Flotte von Flussschiffen vor Anker gegangen? War dies der Ort, den er einst fluchtartig verlassen hatte?
Adriens Atem ging stockend. Er musste sich beherrschen! Es ging schon wieder los. Er hatte einfach zu viel Vorstel ungskraft. Was immer geschehen war, es war eine Ewigkeit her. Wahrscheinlich hatten die Krieger hier zu einer Zeit gelagert, in der er noch nicht einmal geboren gewesen war. Jetzt gab es hier keine Gefahr mehr, redete er sich ein.
Mit einem klammen Gefühl strich er weiter durch das Dickicht. Bald erhoben sich erste Bäume über das Buschwerk, Birken und einzelne Pappeln. Dann folgten Eichen und Buchen. Leichter Wind strich über die kahlen Bäume hinweg. Der Nebel lichtete sich und zog in ausgefransten Bändern zwischen den dunklen Stämmen dahin. Es roch nach fauligem Laub und nasser Rinde.
Adrien verharrte. Da war ein fremder Laut! Er lauschte. Leise raschelten die Äste über ihm. Das Rauschen des Windes in den Bäumen klang beruhigend. Hatte er sich vielleicht getäuscht? Zögerlich ging er weiter. Das Laubpolster schluckte das Geräusch seiner Schritte. Da war es wieder! Ein leises Klirren irgendwo links vor ihm.
Was sollte er tun? Nicht darauf achten und weitergehen? War es klug, etwas Unbekanntes in seinem Rücken zu wissen? Wäre er in der Stadt und versuchte, ein Haus für einen Diebstahl auszuspähen, würde er ein solches Risiko nicht eingehen.
Adrien hielt den Atem an und lauschte. Das Geräusch kam mit dem Wind. Vorsichtig schlich er von Baum zu Baum. Etwas Helles, das aus dem welken Laub ragte, erweckte seine Aufmerksamkeit. Er kniete nieder. Ein Knochen. Er sah aus wie eine Rippe.
Bissspuren deuteten auf Aasfresser hin. Sicher ein verendetes Tier! Die Wälder waren voller Tiere. Da musste es auch Knochen geben.
Und wo war der Rest des Kadavers?, meldete sich eine leise Stimme tief in ihm. Eine Stimme, die er nicht hören wollte! Irgendwelche Aasfresser hatten den Kadaver auseinandergerissen. Deshalb lagen die Knochen überall verteilt.
Die Rippe ist groß, raunte der Zweifler in ihm. Wildschweine sind auch groß! Er warf den Knochen fort. Was sollte hier schon sein!
Er hatte das Gefühl, dass es kälter geworden war. Der Wind war abgeflaut. Der Nebel wurde wieder dichter. Er war sich nicht mehr sicher, ob er noch in die Richtung ging, die ihm der Schiffer gezeigt hatte. Das fehlte gerade noch! Sich in einem Wald verlaufen, in dem es Wölfe und Löwen gab.
»Mach so weiter, dann werden deine Rippen demnächst hier im Laub vermodern.«
Seine eigene Stimme zu hören, machte ihm ein wenig Mut. Er würde nicht länger herumtrödeln, sondern die Treppe suchen, von der der Schiffer gesprochen hatte.
Leise summte er ein Lied. Nur um sich nicht so allein zu fühlen. Man könnte es nicht weit hören. Die sanfte Brise war ganz eingeschlafen. Der Nebel wogte träge zwi sehen den Bäumen. Da lag ein dicker, halbrunder Stein im Laub. Nicht genauer hinsehen. Er ahnte, dass es kein Stein war ...
Einfach weitergehen. Die Bäume wichen zurück. Der Boden stieg leicht an. Schroffe Felsblöcke ragten aus dem Laub. Auf manchen ringelten sich schlangengleich armdicke Wurzeln. Die Bäume, die hier wuchsen, schienen kein anderes Grün in ihrer Nähe zu dulden. Ihre Stämme waren so mächtig, dass drei Mann mit ausgestreckten Armen sie nicht hätten umfassen können. Das Astwerk griff weit in den Himmel hinauf. Das glaubte Adrien zumindest, denn der Nebel verschluckte die Kronen, so dass er wenig mehr als den Stamm und die untersten Zweige sah.
Etwas zerbrach mit scharfem Knacken unter seinem Fuß. Bestimmt nur ein Ast. Nicht hinsehen! Einfach weitergehen.
Adrien zog die Wurst aus seinem Gürtel. Ein voller Bauch war immer ein gutes Mittel gegen Furcht. Seine Gedanken wurden träger, wenn er ordentlich gegessen hatte. Und wenn ihn Wölfe oder Löwen erwischen sollten, dann sollten sie nicht auch noch die Wurst bekommen. Er grinste. Natürlich war das Unsinn. Aber es war genau die Sorte Unsinn, die ihm ein gutes Gefühl bereitete.
Mit weit ausholenden Schritten marschierte er bergan, stieg über Felsblöcke hinweg und balancierte auf dicken Wurzeln. Er scherte sich nicht mehr darum, ob ihn jemand hörte. Der Wald war nicht seine Welt. Fast sein ganzes Leben hatte er in Städten verbracht. Hier draußen in den Bergen könnte er sich nicht verstecken.
Ein senkrechter Abbruch versperrte ihm den Weg. Er war nicht hoch. Rechts und links von ihm verlor er sich im Nebel. Er könnte versuchen auszuweichen. Oder er könnte klettern. Schwarze Wurzeln liefen über den Fels. Es wäre nicht schwer, dort hinaufzukommen. Er warf die Saufeder nach oben. Seine Hände fanden schnell einen Halt. Ein Klimmzug, dann wäre er oben. Er griff über die Kante, doch er fand keinen Halt. Fluchend rutschte er ein Stück ab. Dann bekam er etwas Festes zu packen. Er zog sich hoch -und blickte auf einen Fuß mit langen weißen Krallen.
Kadlin lag im Schnee. Der weiße Umhang ihres Gefährten war über sie beide ausgebreitet. Frisch gefallener Schnee verwischte die Konturen. Sie waren eins mit dem Schnee unter der gebeugten Kiefer. Kälte sickerte in ihre Glieder. Durch einen schmalen Spalt beobachtete sie die drei Trolle. Hatten sie ihre Fährte entdeckt? Oder war es Zufall, dass sie hier waren?
Ein Krampf im rechten Oberschenkel peinigte Kadlin. Doch sie blieb völlig reglos. Die Trolle redeten in ihrer lauten, knurrenden Sprache. Kadlin verstand kein Wort. Waren sie aufgeregt?
Zwei von ihnen trugen Keulen, der dritte mehrere einfache Speere mit im Feuer gehärteter Spitze. Sie hatten Felle um ihre Lenden geschlungen, ansonsten waren sie nackt. Ihre graue Haut glänzte in der Spätnachmittagssonne. Sie hatten sich mit Öl eingerieben. Warum froren sie nicht? Sie waren für die Kälte geschaffen! Kadlin erinnerte sich an ein Märchen, das ihr Kalf einmal erzählt hatte. In der Geschichte hieß es, die Götter hätten die Trolle aus Felsgestein erschaffen. Und so sahen sie auch aus.
Die graue Haut erinnerte an Granit. Und ihre Glieder waren schwer und wuchtig.
Sie dachte an die Worte Lambis. Würden die Trolle in das Fjordland einfallen, wenn sie entdeckt wurde? Mochte ihre Reise zum Grund für einen neuen Krieg werden? War es töricht, was sie tat?
Die Trolle wanderten nach Norden. Nach einer Weile waren sie hinter einem Hügelkamm verschwunden. Kadlin begannen die Zähne zu klappern. Zu lange hatten sie im Schnee gelegen. Tauwasser war durch die Nähte ihres Wamses gedrungen. Sie wollte aufstehen, ihre kalten Glieder strecken, doch ihr Gefährte hielt sie mit festem Griff zurück.
»Warte«, hauchte er in ihr Ohr. Seine Stimme hatte einen eigenartigen Akzent. Das Elfische war seine Muttersprache, und es verlieh jedem fjordländischen Wort, das über seine Lippen kam, einen angenehm melodischen Unterton.
»Ich erfriere«, zischte sie.
»Das tust du nicht. Dann würdest du einfach in meinem Arm einschlafen, statt herumzujammern.«
Sie presste die Lippen zusammen. Herumjammern! Das hatte ihr noch keiner gesagt.
Eingebildeter Mistkerl. Jammern! Vielleicht war sie ein klein wenig jähzornig. Sie schien das heiße Blut ihres Großvaters geerbt zu haben. Genauso wie dessen rote Haare. Aber Jammern? Es war verdammt kalt! Sie verkniff sich eine Erwiderung.
Schweigend lagen sie im Schnee und sahen zu, wie die Sonne langsam den Bergen entgegen sank.
Endlich schlug er den Umhang zurück. Er war steif wie ein Brett gefroren. Ihr Halbbruder erhob sich mit geschmeidiger Anmut. Man mochte meinen, er habe in einem warmen Bett gelegen. Sie hingegen stemmte sich mit den Händen hoch. Al ihre Glieder schmerzten. Der Krampf flammte erneut auf. Sie ballte die Fäuste. Sie wollte sich nichts anmerken lassen. Melvyn war älter als sie, ein paar Jahre nur. Man sah es ihm nicht an. Sein Gesicht war schmal, fein geschnitten und hatte doch etwas Wildes und Verwegenes. Das zerzauste blonde Haar hatte er mit einem Lederriemen im Nacken zusammengebunden. Den Ohren nach war er ein Mensch. Sie waren gerundet und nicht lang und spitz wie bei den Elfen oder Kobolden. Seine Augen aber verrieten, dass er alles andere als menschlich war. Sie waren von kaltem Blau. Die Iris umgeben von einem schmalen, schwarzen Rand. Es waren Wolfsaugen. Genau wie die Augen seiner Mutter Silwyna, der Maurawani, die Kadlin und ihre Schwester so oft in den Bergen besucht hatte. Damals, in jener goldenen Zeit, als Asla und Kalf noch lebten und sie die beiden für ihre Eltern hielt. »Kannst du weiter?«
Melvyn klang ein wenig besorgt, und das versöhnte Kadlin mit ihm. Ihr wilder Bruder!
Seine Bekleidung war fast so unzulänglich wie die der Trolle. Statt einer Hose trug er einen langen Lendenschurz aus einem roten Tuch, das aussah, als sei es noch nie gewaschen worden. Speckige, abgewetzte Stiefel waren sein einziges Zugeständnis an den Winterfrost. Ein schmuddeliges ledernes Jagdhemd rundete seine Erscheinung ab.
Gut, dass er bei Nacht zu ihr gekommen war. Allein sein Aussehen hätte in Firn-stayn schon für endloses Gerede gesorgt. Allerdings hatte er etwas an sich, das Frauenherzen schmelzen ließ. Sein freches Lächeln, die unheimlichen Wolfsaugen. Und dazu sein Geruch. Er hatte den Duft des Winterwaldes in ihre Hütte getragen. Ein wenig roch er auch nach Vogel.
Melvyn schien abgesehen von einem Jagdmesser an seinem Gürtel unbewaffnet zu sein. Aber sie wusste, was sich unter seinem Jagdhemd verbarg. Dort, wo seine Unterarme so unnatürlich dick erschienen. Er hatte etwas Animalisches an sich. Selbst wenn die Wolfsaugen nicht wären, würde er an ein Raubtier erinnern.
»Frierst du nicht?«
Da war es wieder, dieses freche Lächeln. »Doch, wenn es wirklich kalt ist, so wie in meiner Heimat. Das hier ist für mich wie ein lauer Frühlingstag.«
Verdammter Aufschneider, dachte sie. Es war unmöglich, dass ihm die Kälte nichts ausmachte. Oder schützte ihn vielleicht ein Zauber?
Sie nahm ihren Bogen auf und klopfte sich den Schnee aus den Kleidern. Sie musste sich bewegen, dann würde ihr schon wieder warm werden! Abends würde sie ein Feuer brauchen, um ihre Kleider zu trocknen. Sonst würde die Kälte sie töten. Aber bis Sonnenuntergang hielt sie schon noch aus.
»Lass uns dorthin gehen.« Er deutete in die Richtung, aus der die Trolle gekommen waren.
Sie seufzte. »Dann gehen wir wieder zurück! Warum?«
Statt zu antworten, ging er einfach los. Sie beneidete ihn um seinen scheinbar schwerelosen Schritt. Er sank kein einziges Mal im Schnee ein. Sie hingegen hinterließ trotz aller Vorsicht eine deutliche Fährte.
Manchmal eilte er ein Stück zurück und verwischte ihre Spur. Auch darin war er meisterlich! Neben ihm kam sie sich hier draußen in der Wildnis wie ein hilfloses Mädchen vor. Dabei war auch sie eine erfahrene Jägerin. Aber sie war nun einmal keine Elfe!
Die Sonne war verschwunden, doch das letzte Abendlicht reichte, um überdeutlich zu zeigen, woher die Trolle gekommen waren. Vielleicht Hundert Schritt vor ihnen lag ein verendetes Rentier auf einem weiten Schneefeld. Es war viel zu hoch in den Bergen.
Hierher kamen sonst keine Rentiere. Nicht, solange es Winter war!
Melvyn folgte den Spuren der Trolle und sie folgte ihm. Rings um den Kadaver war der Schnee rot von frisch vergossenem Blut. Etwas stimmte dort nicht. Kadlin beschlich ein unbestimmtes Gefühl.
Endlich hatte sie zu Melvyn aufgeschlossen. Der Kadaver des Rentiers war aufgebrochen. Der größte Teil der Innereien fehlte. Fleischbrocken waren aus den Flanken gerissen. Es war ein mächtiger Bulle. Kein altes und gebrechliches Tier, wie es für gewöhnlich zur Beute wurde.
Was hatte er hier oben getan? Kadlin betrachtete die Fährten der Trolle. Sie hatten eine tiefe Furche in den Schnee gepflügt.
»Siehst du es?«, fragte Melvyn leise.
Ihr wurde die Kehle eng. Sie brachte kein Wort hervor. Nur ein Nicken. Es gab keine Fährte des Rentiers. Es schien aus dem Nichts hierhergekommen zu sein.
Ihr Halbbruder blickte zum dunklen Himmel hinauf. Schneeflocken tanzten im Wind.
Kadlin versuchte in den Spuren der Trolle zu lesen. Sie hatten das tote Rentier nicht angerührt.
»Es hat ihnen Angst gemacht«, sagte Melvyn.
Mir macht es auch Angst, dachte Kadlin. Aber sie schwieg. Auch sie blickte in den Himmel. Lag dort die Antwort? Etwas regte sich in ihr. Erschrocken griff sie nach ihrem Bauch. Sie spürte eine Berührung. Einen Tritt? Es war das erste Mal... So lange hatte sie darauf gewartet. Hatte in sich hineingelauscht und mit ihren Ängsten gekämpft. Und ausgerechnet jetzt regte es sich.
»Alles in Ordnung?«
Sie nickte. Sie hatte Melvyn nichts davon gesagt. Sie war besessen von der Idee, Alfadas zurückzuholen. Ihren Vater, den das Schicksal ihr lange vor der Zeit geraubt hatte. Sie musste es schaffen. Entschlossen blickte sie nach Norden. »Gehen wir!« Sie wollte nicht wissen, wie das Rentier gestorben war. Wollte nicht darüber nachdenken, was außer Trollen noch in den Bergen lauern mochte. Sie hielt die Hand auf dem Bauch und kämpfte sich durch den Schnee, ohne noch einmal zu dem Kadaver zurückzublicken.
Skanga betastete das kleine Klümpchen, das sie am Boden gefunden hatte. War es ein Finger oder ein Zeh? Auf jeden Fall gehörte es zu einem Kobold. Sie roch daran und dachte, dass sie schon viel zu lange nichts mehr gegessen hatte. Sie konnte die Angst spüren, das letzte starke Gefühl, das den ehemaligen Besitzer des Körperglieds durchfahren hatte. Angst tränkte den ganzen Saal. Sie war mit dem Blut in die hölzernen Bodendielen gesickert. Welch ein Massaker! Die Leichen waren leider schon fortgeschafft, aber das Blut hatte noch niemand abgewaschen. Sie spürte es mit all ihren Sinnen, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Die Ratskammer war ein Ort des Schreckens geworden. Es war nicht nur das Entsetzen der Ge-mordeten. Auch der Schrecken derjenigen, die später hier gewesen waren und das Blutbad gesehen hatten, hatte die Aura dieses Saals auf ewig verändert. Wer immer hier in Zukunft zusammenkam, würde eine Beklommenheit verspüren, selbst wenn er nicht um die unselige Geschichte der Kammer wusste. Vermutlich wäre es das Klügste, das ganze Haus niederzubrennen.
»Das Blut ist sogar bis an die Decke gespritzt«, flüsterte Birga ihr ins Ohr.
In der Stimme ihrer Schülerin schwang Ehrfurcht. Sie mochte es, Gefangene zu befragen, und war dabei alles andere als zimperlich. Vor allem, wenn Elfen ihre Opfer waren. Es gehörte einiges dazu, sie zu beeindrucken.
»Wie viele waren es?« Skanga legte den Kopf in den Nacken. Die Blutspuren an der Decke waren nicht ausgeprägt genug. Sie konnte sie mit ihren Sinnen nicht wahrnehmen.
»Nur zwei«, sagte Madra, der Überlebende. Eigentlich hätte auch er hier unter den Toten liegen sollen. Dass Gharub ihn mit einem schwachsinnigen Auftrag zu einem Außenposten vor der Stadt geschickt hatte, hatte ihm das Leben gerettet.
»Wie kommst du darauf?«, herrschte Birga ihn an. »Nicht einmal Olowain hätte so etwas vermocht.«
»Die Stiefelabdrücke im Blut. Sie unterscheiden sich deutlich von den Spuren der Trolle und Kobolde. Die beiden hatten unterschiedlich große Füße. Das Weibchen be wegte sich mit der Gewandtheit einer Tänzerin. Ihr Gefährte war unbeholfener ... «
Skanga hörte die hölzernen Dielen knarren. Madra ging auf und ab, und nicht einmal die nichtsnutzige Birga wagte es, ihn zu stören. Endlich verharrte er wieder. »Der Krieger war nur anfangs zögerlich. Dann stand er dem Weibchen in nichts mehr nach.«
»Woran siehst du, dass es ein Krieger und ein Weibchen waren?«, fragte Birga.
»Ich vermute es nur. Die beiden gefangenen Elfen aus dem Kerker haben sich gewaltsam befreit. Ein Elf und eine Elfe. Das Weibchen hieß Nandalee. Der Krieger hat seinen Namen, glaube ich, nicht genannt. Die Stiefelabdrücke passen zu ihnen. Das Weibchen war klein und zierlich. Und auch einer der Mörder hier trug sehr schmale Stiefel.«
Skanga tastete nach dem Albenstein, den sie unter ihren Amuletten verborgen trug.
Die glatte Oberfläche zu spüren, beruhigte sie. Es war kein Zauber in dieser Kammer gewirkt worden. Die beiden Elfen hatten keine Magie nötig gehabt, um zu siegen.
»Beschreibe mir einmal das Weibchen, Madra.«
Der Trollkrieger war ein guter Beobachter. Selbst an den Geruch der Elfe konnte er sich erinnern. Bald war Skanga klar, wen dieser dämliche Kobold auf der Straße am Kanal aufgegriffen hatte. Was die Schamanin nicht verstehen konnte, war, warum Emerelle dieses merkwürdige Spiel trieb. Warum hatte sie sich die Hand zerquetschen lassen?
Sie wäre gewiss zu jedem beliebigen Augenblick in der Lage gewesen, sämtliche Wachen niederzumachen. War das der Beginn eines neuen Krieges um den Thron von Albenmark? Sie hatte erleichtert gewirkt, als sie Burg Elfenlicht verließ. Hatte sie ihre Meinung so schnell geändert? Oder war das hier nur einer Laune der Elfenkönigin entsprungen? So lange schlug Skanga sich nun schon mit Elfen herum. Aber jedes Mal, wenn sie glaubte, sie würde endlich verstehen, was in ihren zerbrechlichen kleinen Köpfen vor sich ging, überraschten die Spitzohren sie aufs Neue. Sie waren mit Abstand das grausamste Volk Albenmarks, auch wenn sie diese Neigung nur selten so offen auslebten, wie es hier in dieser Kammer geschehen war.
Ein leises Hüsteln riss die Schamanin aus ihren Gedanken. »Schwester Skanga? Wenn du mir einen Augenblick deiner geschätzten Aufmerksamkeit schenken könntest, würde ich dich gerne auf etwas hinweisen, was, so glaube ich, die Interessen des Volkes berührt.«
Skanga drehte sich um. Nikodemus Glops hatte die Angewohnheit, so dicht hinter ihr zu stehen, dass ein Furz von ihr ihm gewiss den Atem nehmen würde. Der Lutin war ein Speichellecker und Schmeichler. Sie konnte ihn nicht leiden. Aber sie wusste, sie würde ihn noch brauchen. Allein seine gestelzte Art zu reden ärgerte sie schon. Was taugte Sprache, wenn man sie dazu benutzte, um zu verschleiern, was man sagen wollte! Und diese Unsitte der Kobolde um Elija Glops, jeden mit Bruder oder Schwester anzureden ... Wie konnte ein Kobold, der kaum halb bis zu ihrem Knie reichte, sich anmaßen, sie Schwester zu nennen? Die Rotmützen waren völlig verrückt geworden.
Sie erzählten jedem, alle Kinder Albenmarks seien gleich. Blanker Unsinn!
»Was willst du?«
»Es ist sicherlich von größter Bedeutung, in den Spuren auf dem Boden zu lesen ...
Eine Kunst, in der ich leider unerfahren wie ein Kind bin, aber ich dachte mir, es könnte vielleicht weiterhelfen, darauf hinzuweisen, dass etwas mit Blut an die Wand geschrieben wurde. Es ist nicht sehr ordentlich ausgeführt ... Wahrscheinlich hat man einen abgetrennten Arm oder etwas Ähnliches zum Schreiben benutzt. Unter den ganzen Blutspritzern kann man es leicht übersehen ... «
Skanga überhörte nicht, dass der Lutin sich über sie lustig machte. Er war der Einzige in der Kammer, der lesen konnte. Und er war sich dessen sehr bewusst, auch wenn er versuchte, seinen Spott hinter schmeichlerischen Worten zu verbergen. »Was steht da?«
»Wer durch das Schwert herrscht, wird durch das Schwert fallen. Auf Elfisch hört sich das etwas poetischer an als in der Übersetzung.«
Skanga sah ihn genau an. In seiner Aura fehlte die Farbe der Angst. War er so selbstsicher oder so dumm, dass er glaubte, er könne sie ungestraft reizen? Die Lutin unterschieden sich von den anderen Koboldvölkern. Sie waren rastlose Wanderer.
Niemand mochte sie lange um sich haben. Selbst bei anderen Kobolden galten sie als Lügner und Diebe. Skanga nahm ihn, wie alle anderen Lebewesen auch, nur als einen verschwommenen Schatten wahr, umgeben von einer Aura aus sanft pulsierendem Licht. An den Farben der Aura konnte sie seine Stimmungen ablesen. Was die Gefühle anderer anging, war sie sich sicherer als jeder Sehende. Selbst feinste Veränderungen der Stimmungslage waren deutlich an der Aura abzulesen...
Je länger sie Nikodemus betrachtete, desto deutlicher wurde das Blau. Er war also doch nicht gegen Angst gefeit!
»Was, glaubst du, wollen die Elfen uns damit sagen?«
Es war totenstill in der weiten Kammer. Der muffige Geruch von vor Tagen vergossenem Blut hing schwer in der Luft. Es war kühl. Das Blau gewann weiter an Kraft in der Aura des Lutin. Skanga konnte riechen, wie er schwitzte.
»Elija sagt, dass die alten Herrscher sich niemals damit abfinden werden, dass das Volk sie aus den Palästen vertrieben hat. Alles, was bisher geschah, war nur ein lauer Wind. Wir müssen einen Sturm heraufbeschwören, der sie für immer hinwegfegt.
Einen Sturm, der ein Volk von einigen Brüdern zurücklässt...«
»Genug! Ich will nicht wissen, was dein Bruder denkt. Hast du eine eigene Meinung?«
»Ich denke, es ist die Tat von Konterrevolutionären. Sie wollen unsere Herrschaft erschüttern, bevor sie sich festigt. Sie wollen zeigen, dass sie noch da sind, auch wenn nun Trolle und Kobolde auf den Elfenthronen sitzen. Wir müssen diese Flamme ersticken, bevor sie zu einem Brand wird, den wir nicht mehr beherrschen können.«
Die Schamanin hatte noch immer das Gefühl, durch Nikodemus die Stimme seines Bruders Elija zu hören. Doch wenn Nikodemus eine wirre Auswahl von Sätzen aus den aufwühlenden Reden seines Bruders wiederholte, war es, als blicke man auf ein nacktes Skelett. Alles Fleisch fehlte. Er hatte nicht die unheimliche Begabung, die Elija bis in den Schatten hinter den Thron gebracht hatte.
Skanga kratzte sich grübelnd an der Nase. Ihm zuzuhören war, als blicke man auf ein Knochenorakel. Es galt, in dem Durcheinander ein Muster zu finden. Die Wahrheit, die sich hinter den Phrasen verbarg. Skanga glaubte nicht, dass Emerelle ihren Thron zurückwollte. Nicht so schnell. Wollte sie Unruhe stiften?
»Was glaubst du, wohin die Elfen geflohen sind?«
Ihr freundlicher Tonfall ließ das Blau der Angst in seiner Aura verblassen. Wie die meisten Lutin hatte er Freude daran, sich schwatzen zu hören. »Sie ist eine Elfe. Sie ist schlau. Sie wird wissen, dass wir von ihr erwarten, nicht das Naheliegende zu tun.
Und weil sie das weiß, wird sie sich ganz sicher fühlen, wenn sie es doch tut.
Naheliegend wäre es, einen etwas entfernteren Albenstern zu benutzen. Und da sie auch arrogant ist, wird sie außerdem noch ... «
Skanga räusperte sich. Einem Lutin länger als einige Augenblicke zuzuhören, bereitete ihr Kopfschmerzen. »Du glaubst, du weißt also, wohin sie geflohen ist?«
»Nein, nein. Das sage ich nicht. Ich weiß nicht, wohin sie geht, aber ich denke, ich weiß, welchen Weg sie nimmt. Sehr schön ... «
»Dann wirst du dich gemeinsam mit Madra auf den Weg machen und diese beiden Elfen suchen. Wenn ihr sie gefunden habt, dann werdet ihr sie unauffällig beobachten.«
»Wie soll ich mit einem mehr als drei Schritt großen Troll zwei Elfen unauffällig beobachten?«
»Betrachte es als eine Herausforderung«, entgegnete Skanga gehässig. »Und noch was.
Du solltest Madra nicht reizen. Er wirkt sehr ruhig, aber ich habe gehört, dass er einmal einem Schwarzbären alle Glieder ausgekugelt hat, weil er an einen Beerenstrauch gepinkelt hat, von dem er gerne naschte.«
Ein schlammfarbenes Braun zog sich durch die Aura des Lutin. Offenbar wollte er Skangas Worte für einen Scherz halten! Er musterte Madra. Und Zweifel überkamen ihn.
»Ist es klug, ihn zu schicken?«, flüsterte ihr Birga ins Ohr. »Ich denke, sein Bruder würde es nicht schätzen, wenn ihm etwas zustößt. Und Elija hat sehr viel Einfluss unter den Kobolden.«
»Überlass das Denken den Mammuts, die haben einen größeren Kopf!« Sie wollte, dass ihm etwas zustieß! Sollte Nikodemus es schaffen, Emerelle zu finden, dann würde er sich gewiss nicht unauffällig verhalten. Und wenn die Elfe sich dazu hinreißen ließ, ihm etwas anzutun, dann hätte sie sich Elija Glops zum Feind gemacht. Elija war rachsüchtig, er würde Emerelle finden. Und er wäre im Gegensatz zu seinem Bruder eine wirkliche Gefahr!
Skanga tastete über ihre Amulette. Es dauerte ein wenig, bis sie den Lamassuknochen mit den Federschnitzereien fand. Sie drückte ihn Madra in die Hand. »Wenn ihr die Elfen aufspürt und wenn du das Gefühl hast, ein weiteres Gemetzel wie hier in Feylanviek steht bevor, dann wirf diesen Knochen fort. Er wird zu mir finden und mir den Weg zu euch weisen.«
Madra nahm den Knochen mit spitzen Fingern. Magie war ihm augenscheinlich unheimlich. Zugleich strahlte seine Aura in klarem Gelb. Er war ein Jäger, und er war zuversichtlich, seiner Aufgabe gewachsen zu sein. Kurz überlegte Skanga, ob es besser wäre, ihm zu sagen, wen er jagte. Doch das würde ihn nur verunsichern. Sie deutete mit weit ausholender Geste auf den blutbesudelten Holzboden. »Wenn ihr die beiden Elfen findet, beobachtet sie nur. Versucht nicht, sie zu stellen. Ihr beide wisst, wozu sie fähig sind.«
Dem gleißenden Licht folgte eine Hitze, die Falrach im ersten Augenblick den Atem nahm. Blinzelnd sah er sich um. Aus den Augenwinkeln sah er den Bogen aus pulsierendem Licht in sich zusammensinken, durch den sie dieses fremde Land betreten hatten. Vor ihnen erstreckte sich eine sanft abfallende Ebene. Es war ein trostloses, sonnenverbranntes Land. Einzelne Felsbrocken erhoben sich aus rötlichem Geröll. Tiefe Furchen ausgetrockneter Wasserläufe durchzogen in weiten Abständen die Ebene. Verkrüppelte, kleine Büsche, an denen kaum Blätter gediehen, und braunes, sonnenverbranntes Gras, das hier und da im Geröll spross, bildeten den einzigen Bewuchs.
Die Luft erzitterte in der Hitze. Ein wenig entfernt schien sie wie geschmolzenes Glas über die Felsen dahinzufließen.
Falrach streifte seinen Umhang ab und dann die gefütterte braune Weste. Er hatte die Kälte des Windlands gehasst, aber das hier war um keinen Deut besser. Schon stand ihm Schweiß auf der Stirn. Wieder einmal fühlte er sich gefangen in Olowains Körper, den Mächten der Natur gegenüber hilflos wie ein Kind.
»Wo sind wir?«
Emerelle machte einen melancholischen Eindruck. Sie blickte über die Ebene zum Horizont, und er hatte den Eindruck, dass sie etwas sah, das seinen Augen verborgen blieb. »Früher einmal, als noch die Drachen herrschten, hieß dieses Land Bainne Tyr. Milchland. Es war eine wunderschöne grüne Ebene. Elfen und Pegasi lebten hier.«
Falrach wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Warum sind wir hier? Wir hätten überall hingehen können ... Warum musste es eine Wüste sein?«
»Es gibt hier nur sehr wenige Albensterne. Sie liegen Hunderte Meilen voneinander entfernt. Es verirren sich keine Reisenden hierher. Es gibt keine Städte. Keine Elfen und keine Trolle. Hier wird uns niemand aufspüren. Hier werden wir Frieden finden.
Dieser Ort ist besser für uns als die Snaiwamark oder das Herzland. Wenn wir wollen, gibt es nur uns, Falrach. Es ist an der Zeit, ganz von vorne zu beginnen.« Ein verheißungsvolles Lächeln begleitete ihre Worte.
Er hatte gehört, dass manche Emerelle die Königin der tausend Gesichter nannten.
Durfte er wirklich hoffen, dass ihre Liebe zu ihm doch nicht ganz erloschen war?
Konnte sie ein ganzes Zeitalter vergessen und Ollowain hinter sich lassen? Er drehte sich langsam um die eigene Achse und suchte nach einem Ort, um der Hitze zu entfliehen. Weit im Westen zeichneten sich die Umrisse von Bergen blau gegen den Horizont ab.
Ein bunter Fleck sprang ihm ins Auge. Ein Felsblock, vielleicht dreißig Schritt entfernt, war bemalt. Verwittertes Weiß und strahlendes Rot schmückten die Felsflanke.
Inmitten der trostlosen Landschaft mit ihren staubigen Braun- und Rottönen wirkten die frischeren Farben anziehend. Falrach ging zu dem Felsen. Hinter sich hörte er Emerelles Schritte.
Auf den Stein waren merkwürdige Symbole gemalt. Kreise mit Kreuzen, krumme Runenzeichen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Dazwischen waren weiße und rote Gestalten abgebildet, die tanzten, auf dem Feld arbeiteten oder auf die Jagd nach Drachen zogen.
Falrach atmete schwer aus. Drachen! Eines war gewiss. Diese Zeichnung war nicht viele Jahrhunderte alt. Und es war noch nicht sehr lange her, dass jemand hier gewesen war, denn am Fuß des Felsens standen geflochtene Schalen mit Maiskolben darin und ein halbes Dutzend blass-orangefarbener Kürbisflaschen. Er hatte das Gefühl, das alles verzehrende Feuer wieder auf seiner Haut zu spüren, das ihm das Leben genommen hatte. Drachen! War dieser Fluch denn immer noch nicht gebannt?
Emerelle trat an seine Seite. Sie nahm sanft seine Hand. »Das sind Kobolde. Sie jagen die Echsen in den Bergen. Sonst gibt es hier nicht sehr viel Wild.«
Hatte sie seine Gedanken von seinem Gesicht abgelesen? »Große Echsen ...« Er sagte das langsam und gedehnt. Man könnte Drachen auch große Echsen nennen!
»Sollen wir einen anderen Ort suchen?«
Falrach straffte sich. Wunderbar, jetzt hielt sie ihn auch noch für einen Feigling! »Wie kommst du darauf, dass ich vor ein paar Echsen Angst hätte?« Seine Stimme hätte leicht und unbeschwert klingen sollen. Das war ihm gründlich missglückt.
»Du bist mein Ritter, Falrach. Ich glaube, deiner Seele ist es bestimmt, mich zu retten.
Du hast das mehr als einmal bewiesen. Es ist dein Schicksal. Dein Mut steht außer Frage. Ebenso wie deine Liebe!« Sie drückte seine Hand ein wenig fester.
Jetzt hätte sie ihn küssen sollen. Oder er sie ... Aber er konnte es nicht, nicht mehr. Sie waren kein Liebespaar mehr. Doch vielleicht konnten sie es wieder werden. Sie wollte von vorne beginnen. Sein Blick schweifte über die Einöde. Nichts würde sie hier stören.
Er kniete vor ihr nieder. »Lass mich dein Ritter sein, so wie Ollowain es war.«
»Ollowain ist tot«, sagte sie ernst. »Du bist Falrach, mein Feldherr in hoffnungslosem Kampf, und der Ritter, der sein Leben aus Liebe für mich gab. Lass uns beide diese Liebe wiederfinden und alles Vergangene vergessen.« Sie beugte sich vor und küsste ihn scheu auf die Stirn. So wie ein junges Mädchen, dem zum ersten Mal die Liebe begegnete.
Er schloss die Augen. Die drückende Hitze und das karge Land waren vergessen.
Viel zu schnell war der Augenblick verflogen. Emerelle kniete sich nieder. Doch sie beachtete ihn gar nicht mehr. Sie schob zwei Schalen mit Maiskolben zur Seite. Dazwischen lag, halb im Geröll vergraben, etwas Weißes. Ein Knochen, dachte Falrach, bis sie es hervorzog. Sie hielt einen dolchlangen, leicht nach innen gekrümmten Reißzahn in der Hand. Einen Drachenzahn!
»Die Kobolde spüren die Magie dieses Ortes«, sagte Emerelle. »Der Zahn hat nichts zu bedeuten! Er ist schon sehr alt.«
Sie sprach zu hastig. Wieder betrachtete er die Bilder der Echsen. Wem waren die Opfergaben dargebracht worden? Sie schienen noch nicht sehr lange hier zu liegen.
Der Schreck dauerte nur einen Augenblick. Der mächtige Fuß mit den weißen Krallen gehörte zu einer Statue. Ein Löwe, vermutete Adrien. Nicht, dass er so ein Vieh schon mal gesehen hätte. Aber er kannte Löwenstatuen. Wenn auch nicht solche. Er legte den Kopf in den Nacken. Moos wucherte in der Mähne. Schmutzschlieren liefen über den weißen Stein, aus dem der Löwe geschlagen war. Das Maul der Bestie war weit aufgerissen. Ein Vogel hatte darin sein Nest gebaut. Die meisten Reißzähne der marmornen Bestie waren abgebrochen. Auch der Rücken des Löwen war beschädigt.
Es sah aus, als hätte man dort etwas abgeschlagen und die steinernen Wundmale nur grob geglättet.
Adrien bückte sich nach der Saufeder. Was für eine Verschwendung, so eine prächtige Statue mitten in den Wald zu stellen. Sie würde sich gut auf dem Heumarkt von Nantour machen. Bestimmt würden viele Reisende kommen, um sich den größten Löwen Fargons anzuschauen.
Er tippte mit dem Speerschaft gegen den Krallenfuß. »Mach’s gut, Alter. Ich werde dich nicht länger bei deiner Wacht stören.«
Hinter dem Löwen war der Waldboden erstaunlich eben, wenn man einmal von den Wurzeln absah. Adrien hielt inne. Etwas stimmte nicht mit den Wurzeln! Weiter unten waren sie kreuz und quer durcheinandergelaufen. Hier aber wirkten sie geordnet.
Auch hatten sie eine andere Farbe. Sie waren heller. Silbergrau, mit Moosflecken gesprenkelt. Sie alle schienen einem Ort vor ihm im Nebel zuzustreben.
Er fasste seine Saufeder fester. Da war wieder das Klirren. Ganz nah. Das Geräusch kam ihm vertraut vor. Er hatte es auch in der Stadt schon gehört. Was war dort?
Ein leichter Luftzug ließ den Nebel in Spiralen über die Wurzeln tanzen. Schließlich siegte seine Neugier. Und dann fiel es ihm ein. So klirrten Ketten. Die Ketten der Wirtshausschilder in der Stadt. Oder die Kette am Henkersgerüst auf dem Fischmarkt, an die man den großen eisernen Käfig mit den grässlichen Dornen an den Boden-stangen hängte. Dornen, die es unmöglich machten, sich zu setzen oder auch nur einen Fuß auf die Stangen zu stellen. Wer in den Käfig kam, der versuchte sich an dem Gestänge über seinem Kopf festzuhalten oder auch an den Seitenstangen. Manche Verurteilte hielten das ziemlich lange durch.
Wer hatte wohl Ketten in den Wald gebracht? Vielleicht gehörten sie zu einem Flaschenzug, den die Krieger Cabezans aufgestellt hatten? Vielleicht gab es da vorne im Nebel noch einen steinernen Löwen? Einen, dem die Zähne nicht abgebrochen waren und den der König für seinen Palast hatte haben wollen.
Adrien bemerkte, dass viele kleine Höhlen unter die dicke Wurzel gegraben waren.
Mäuse! Dass es an einem so eigentümlichen Ort so viele Mäuse wie in einem Kornspei-cher gab, erleichterte ihn. Mäuse waren vorsichtig. Wenn hier eine Gefahr lauerte, dann gäbe es keine Mausehöhlen!
Wind streichelte sein Gesicht. Jetzt ertönte das Klirren über ihm. Er legte den Kopf in den Nacken. Es war schwer, in dem Dunst Entfernungen zu schätzen. Am Boden konnte er etwa acht bis zehn Schritt weit sehen. War der Nebel über ihm dichter? Sein Blick verlor sich im Dunst.
Jetzt hörte er es wieder. Ein leises Klirren.
Adrien fühlte sich betrogen. Was, zum Henker, war da oben? Ein Stück voraus bemerkte er eine Verfärbung auf einem Wurzelknoten. Ein ausgefranster, orangebrauner Fleck verunzierte das matte Silber der Wurzelhaut. Rost! Wieder blickte der Junge nach oben. Ob da irgendwo über ihm Äste waren? Warum hängte man so hoch eine Kette auf? Ein Flaschenzug war das wohl nicht. Er sah sich suchend um.
Nein, hier gab es nichts, was man hätte anheben können. Nur Waldboden und Wurzeln.
Ein leichter Windstoß ließ geisterhafte Nebelarme um ihn tanzen. Über ihm erklang vielstimmiges Klirren, als versuchten fremde Stimmen im weißen Nichts ihm etwas Drängendes mitzuteilen. Ein dumpfer Laut ließ Adrien erschrocken herumfahren.
Keine drei Schritt hinter ihm war etwas auf den Waldboden gefallen. Ein unförmiger, braungrüner Klumpen.
Seine Beine wollten losstürmen, blindlings in den Nebel laufen, aber Schrecken und Neugier hielten ihn in Bann. Vorsichtig näherte er sich dem Klumpen. Es war ein verzo gener Stiefel, mit Moos und hellgrünen Flechten bedeckt. Wie konnte ein Stiefel aus dem Himmel fallen?
Er hob den Stiefel an und ließ ihn fast sofort wieder fal en. Im Schaft steckten altersgelbe Knochen!
Adrien wich entsetzt zurück. Wo war er hier? War all das Elfenzauber? Hatte er sich im Nebel in ihre Welt verirrt? Er kannte viele Geschichten über Elfen und hatte sie in der Sicherheit der Stadtmauern stets als albernes Altweibergeschwätz abgetan. Aber hier draußen, ganz allein in der Wildnis, erschienen sie ihm in einem neuen Licht.
Hatte es nicht auch eine Geschichte gegeben, wie sie einen Heiligen an einen Baum banden, marterten und zuletzt verbrannten?
Der Wind frischte weiter auf und zerriss die Nebelschleier. Vor ihm erhob sich ein gewaltiger Baum. Der Stamm war mächtig wie ein Turm. Alle Wurzeln liefen auf diesen Baum hin. Er beherrschte die Lichtung. Kein anderes Grün gedieh in seinem Schatten.
Die Zeit hatte dem Baum sichtlich zu schaffen gemacht. Seine silbrig graue Rinde war vernarbt. Wo Äste abgebrochen waren und sich Fäulnis ins Holz gefressen hatte, klafften tiefe Höhlen, umschlossen von wulstigen Rindenlippen. Knochen schimmerten blass in den Baumhöhlen. Mit hölzernen Pflöcken waren Skelette an den Stamm genagelt. Adrien schätzte, dass es wohl mehr als ein Dutzend Opfer gewesen sein mussten, die man dem Baum dargebracht hatte. Und das einzig Beruhigende an diesem Anblick war, dass ganz offensichtlich alle schon sehr lange tot waren.
Jetzt konnte der Junge auch Äste im Nebel über sich ausmachen. Äste, so dick wie die Stämme der ältesten Bäume, die er weiter unten nahe dem Ufer gesehen hatte.
Graugrüne Blätter mit weißer Unterseite bewegten sich lautlos in der Brise. Der Baum war stumm. Der Wind vermochte den Blättern kein Rascheln zu entlocken. Nur die schweren, rostigen Eisenketten, die von manchen der Äste hingen, klirrten leise. Weitere Leichen waren dort aufgehängt. Und Schilde mit einem weißen Stierkopf auf rotem Grund. Es gab auch andere Wappen, aber die Schilde mit dem Stierkopf waren bei weitem am häufigsten, und es war auch das einzige Wappen, das Adrien kannte. Die Krieger des Königs Cabezan trugen solche Schilde. Die Geschichte über den Versuch, Säulen für seinen Palast zu stehlen, stimmte also! Was sonst sollten die Krieger in dieser Wildnis verloren haben?
Der Junge machte einen weiten Bogen um den Baum. Er erinnerte sich an die Worte des Schiffers. Er musste sich beeilen, wenn er Bruder Jules noch vor Einbruch der Nacht finden wollte.
Das Klirren der Ketten begleitete ihn. Er hatte das Gefühl, dass der Baum ihn beobachtete. War es der makabere Schmuck? War es die Größe? Der Baum machte ihm Angst. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass sich die wulstigen Münder öffneten und die toten Krieger ausspien, damit diese ihn ergriffen und ihn zu sich holten. Oder dass ein Elf aus dem Nebel trat, um ihn in die verwunschene Anderswelt zu locken.
Plötzlich fühlte sich der Boden unter seinen Füßen fester an. Adrien wagte es nicht hinabzusehen. Seine Gabe, sich die schrecklichsten Dinge auszumalen, gaukelte ihm auch so schon die ungeheuerlichsten Erklärungen vor.
Der Junge wusste, dass ihn der unheimliche Baum noch lange in seinen Alpträumen verfolgen würde. Er brauchte nicht noch mehr Schreckensbilder!
Trotz aller Vorsätze, nicht auf seine Füße zu blicken, kam er nicht umhin, zu bemerken, dass keine Baumwurzeln in die Richtung verliefen, in die er nun ging. Sie bogen ab, suchten sich andere Wege, als sei irgendetwas unter der Laubschicht, das sie abschreckte.
Was erschreckte einen Baum?
Adrien ging ein wenig schneller. Der Boden wurde immer fester. Vielleicht waren es ja nur Felsen, dachte er, aber in diesem verwunschenen Wald mochte er nicht wirklich daran glauben. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich zu eben an.
Die klirrende Stimme des Baumes raunte über ihm im Nebel. Wollte sie ihm ein Geheimnis mitteilen? Ihn warnen?
Das war verrückt! Er begann zu laufen. Blasse Schemen zeichneten sich im Nebel ab.
Zwei sitzende Löwen, groß wie das Flusstor von Nantour. Einem fehlten der halbe Kopf und ein großes Stück der linken Schulter. Der andere war unversehrt. Mit drei Augen blickten sie auf ihn herab, so wie er auf eine Maus hinabsehen würde. Zwischen ihnen verlief ein weiter Weg, der hinauf in die Berge führte. Aus den Rücken der Löwen wuchsen große, angelegte Schwingen. Welch ein Unsinn! Wer hatte je von geflügelten Löwen gehört! Gedankenverloren betrachtete er die seltsamen Fabeltiere.
Was hatte der Schiffer gesagt? Achte auf die Löwen. Markierten sie den Weg, den er nehmen sollte? Auf jeden Fall erschienen sie ihm vertrauenerweckender als der Baum.
Löwen waren stolz und edel! Und sie fressen Menschen, meldete sich ungefragt jene innere Stimme zu Wort, die immer nur das Schlimmste vermutete.
»Der Baum hinter mir auch«, murmelte Adrien leise, dann folgte er dem Weg. Er war aus großen, weißen Steinplatten gefügt. Die Straße in die Berge wirkte so alt wie die Berge selbst. Wind und Wetter hatten Spuren hinterlassen. Manche der Platten waren gerissen oder leicht verschoben. Moos wucherte in den Fugen.
Bald kam er an eine Treppe, die sich an eine steile, rotbraune Felsflanke lehnte. Die Stufen waren mehr als zehn Schritt breit. Hier könnte eine ganze Armee marschieren.
Schulter an Schulter, Glied um Glied.
Etwas mit den Stufen stimmte nicht. Je mehr er erklomm, desto deutlicher wurde ihm das. Sie waren ein klein wenig zu hoch, als dass man sie bequem hätte er klimmen können. Es war wie in Kindertagen, als Treppen noch eine Herausforderung waren.
Je mehr seine Beine schmerzten, desto klarer drängte ein Gedanke in seinen Verstand.
Diese Stufen waren nicht für Menschen gemacht.
Nikodemus mochte seinen Gefährten nicht. Er war schon Hornschildechsen begegnet, mit denen man besser reden konnte als mit diesem Troll. Mürrisch und schweigsam stapfte der Hüne hinter ihm durch den hohen Schnee. Seit Tagen waren sie unterwegs.
Nikodemus war stolz darauf, der Auserwählte der berühmten Trollschamanin zu sein.
Ihm hatte sie es anvertraut, die beiden niederträchtigsten Mörder zu stellen, die Albenmark je gesehen hatte. Feinde des Volkes, wie man sie sich schlimmer nicht vorstellen konnte. Grausame Unterdrücker, die einen ganzen Gerichtssaal niedergemetzelt hatten. Alle Zeugen der Verhandlung, in der sie für ihre perfiden Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden waren, hatten den Tod gefunden.
Der Lutin blickte über die Schulter zu dem Troll zurück. Angeblich hatte Madra dem Beginn des Prozesses beigewohnt, aber der hatte ja seine Zunge verschluckt. Zu gerne hätte Nikodemus gewusst, wessen die Elfen angeklagt waren. Welche Schrecken so groß waren, dass alle Zeugen der Verhandlung sterben mussten, damit die Wahrheit über die Untaten der beiden nicht ans Licht kam.
Bevor er Feylanviek verließ, hatte Nikodemus seinem Bruder Elija einen Brief geschrieben, in dem er ihn über die Ereignisse unterrichtete. Auch wenn der Thron von Burg Albenmark erobert war, war doch die Schlacht um die Herzen des Volkes noch nicht entschieden. Das Massaker von Feylanviek mochte vielen Unentschlossenen die Augen öffnen. Zu deutlich offenbarte es das Wesen der Elfen. Elija würde den Bericht gut zu nutzen wissen! Obwohl er größten Respekt vor der Schamanin empfand, hatte Elija den Brief lieber nicht Skanga anvertraut. In manchen Dingen waren die Trolle einfach barbarisch!
Nicht einmal ihre Anführer konnten lesen und schreiben. Wäre er nicht im Gerichtssaal gewesen, womöglich hätte niemand die Drohung bemerkt, die an die Wand geschrieben war. Solchen Verbündeten musste man leider zutrauen, dass sie einen Brief benutzten, um sich damit den Hintern abzuwischen. Aber so war nun mal die Dialektik der Revolution. Die Streiter des Geistes hätten niemals ohne die Streiter der Faust triumphiert. Und in ganz Albenmark gab es keine größeren Fäuste als Trollfäuste.
Nikodemus konnte die pulsierende Macht des Albenpfades durch die Schneedecke hindurch spüren. Und er konnte auch die Macht des nahen Sterns fühlen. Seine Rute begann zu kribbeln, und alle Haare darauf standen ihm zu Berge, wenn er sich einem Albenstern näherte. Das machte keinen sehr männlichen Eindruck, aber in Gegenwart des Trolls war ihm das egal.
Skanga hatte nach Kopfgeldjägern, Fährtensuchern und anderen Lutin geschickt, um die Spur der beiden flüchtigen Elfen aufzunehmen. Doch ihn hatte sie als Allerersten von der Kette gelassen. Auch wenn der große Zeh seines Leibwächters Madra massiger war als seine Faust, würde er, Nikodemus Glops, es allen zeigen. Er war ein Held, das hatte er schon immer gewusst. Leider hatten ihm die Schlachten im Windland wenig Gelegenheit geboten, dies zu beweisen. Aber jetzt war seine Stunde gekommen!
Sie schritten einen sanften Hügel hinab. Es war ein strahlender Sonnentag. Das Licht brach sich blendend auf dem frischen Schnee. Der Himmel spannte sich in makel osem Blau über ihnen. Nur in der Ferne zogen einige einzelne weiße Wolken dahin.
Am Fuß des Hügels lag der Albenstern. Deutlich spürte Nikodemus die Macht des Ortes, auch wenn es nur ein minderer Stern war. Vier Wege kreuzten sich hier. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, diesen Ort zu markieren. Wer in die Nähe Feylanvieks reiste, der nutzte die beiden größeren Sterne.
»Hier sind unsere beiden Mörder geflohen«, sagte Nikodemus überzeugt.
Der Troll sah ihn an. Was er wohl dachte? Seine Miene blieb reglos. Trolle!
»Dein Schwanz sieht merkwürdig aus. Bist du krank?«
Es war zum Aus-dem-Fell-Fahren! »Was interessiert dich meine Rute! Ich sagte, die Elfen sind von hier geflohen!« Er stampfte mit dem Fuß in den Schnee, dort, wo sich die vier Albenpfade kreuzten, auch wenn für einen Troll ohne jegliches Gespür für Magie dort nichts zu sehen war. »Hier ist es!«
»Warum?«
»Weil es unlogisch ist, Madra!«
Der Troll legte die Stirn in Falten. Dabei bleckte er die Zähne, was ein überaus beunruhigender Anblick war. »Was?«
»Es ist dumm, Madra. Unlogisch heißt so viel wie dumm.«
»Du glaubst, Elfen sind dumm.« Die Stimme des Trolls klang, als rieben große Felsbrocken aneinander.
»Nein, sie sind sehr schlau. Sieh doch, sie werden damit rechnen, dass wir vermuten, sie würden diesen Weg nehmen. Also hätten sie dann doch einen der großen Albensterne nehmen müssen. Und weil sie überzeugt sind, dass wir zu eben diesem Schluss kommen, nehmen sie doch diesen hier.«
Madra sagte nichts, aber an seinem Blick war deutlich abzulesen, was er dachte. »Du kannst ja zu Skanga zurücklaufen, wenn du mir nicht vertraust. Ich weiß, wie Elfen denken. Ich habe sie jahrelang studiert. Ich kenne sie!«
Nikodemus kniete sich in den Schnee. Es tat gut, die Kälte zu spüren. Er hatte zu heißes Blut. Er musste sich beherrschen. Wenn er nach der Macht der Albenpfade griff, durfte ihm kein Fehler unterlaufen. Nicht jetzt! Er hielt den Atem an und ließ ihn dann ganz langsam entweichen. Dann öffnete er sich der Macht der Magie. Obwohl er die Augen geschlossen hatte, vermochte er die Pfade der Alben zu sehen. Tief in seinem Kopf.
Selbstbewusst und voller Stolz sprach er die Worte der Macht, die ihn einst Meister Gromjan gelehrt hatte. Auch wenn der Alte es nie gesagt hatte, so wusste Nikodemus doch, dass Gromjan sehr stolz auf ihn gewesen war. Er war sein bester Schüler gewesen. Nach Elija natürlich ...
Ein Bogen aus Licht erwuchs aus dem Schnee. Der Lutin richtete sich auf und klopfte seine Kleider ab. Madra sah ihn mürrisch an. Oder hatte der Troll vielleicht Angst?
Zumindest bleckte er nicht mehr die Zähne, und das war sehr beruhigend.
»Komm«, sagte Nikodemus und trat dicht vor die magische Pforte.
Der Troll rührte sich nicht.
»Sie sind hier entlang! Je länger wir warten, desto größer wird ihr Vorsprung. Ich würde Skanga nur ungern erzählen müssen, dass du gezögert hast. Aber du weißt ja, ihr verschweigt man nichts.«
Das hätte er besser nicht gesagt. Madra bleckte wieder die Zähne.
»Woran siehst du, dass sie hier waren?«
Wie sollte man das erklären? Es war ein Gefühl. Und seinen Gefühlen konnte er meistens vertrauen. Ein anderes Gefühl warnte ihn allerdings davor, das dem Troll so offen zu sagen. »Der Pfad sieht benutzt aus. Kannst du das nicht erkennen?«
Der Troll betrachtete den Weg aus warmem, goldenem Licht. »Da ist nichts.«
»Du siehst nichts, weil dir die Pfade der Magie nicht vertraut sind. Du hast ja wohl auch kein Tor gesehen, bevor ich es geöffnet habe.«
Wieder dieses erschreckende Stirnrunzeln, verbunden mit dem freien Blick auf viel zu viele, viel zu scharfe Reißzähne. »Wenn du mich betrügst, Kobold, reiße ich dir den rechten Arm aus und sorge dafür, dass du an der Wunde nicht stirbst.«
Madras ganze Art ließ keinen Zweifel aufkommen, dass dies nur leere Worte waren.
Natürlich konnte man nicht sehen, ob jemand den Pfad betreten hatte. Aber er spürte, dass dieses Tor hier vor kurzem geöffnet worden war. Und er würde auch spüren, wo sie den Albenpfad verlassen hatten ... Wenn er sich für den richtigen entschied. Immerhin kreuzten sich hier vier Wege. Das hieß, es gab acht Richtungen, in die die beiden Elfen gegangen sein konnten.
Nikodemus dachte an die Worte des Trolls. Warum hatte ihm Skanga einen schweigsamen Armausreißer mit auf den Weg gegeben? War das das Beste, was die Trollbrut hervorgebracht hatte? Verdammter Mistkerl. Vielleicht ging er ja auf den Albenpfaden verloren. Ein Schritt vom Weg genügte. Wer in das Nichts stürzte, war unrettbar verloren. Der Lutin wusste, was dort lauerte.
Zögerlich trat er auf den Albenpfad. Hinter sich hörte er Schnee knirschen. Der Troll folgte ihm also. Aber das beruhigte ihn nicht. Er musste seinen Verstand beieinander-halten. Ein kleiner Fehler, und er würde seinen Urenkeln begegnen, wenn er nach Burg Elfenlicht zurückkehrte. Verdammter Troll! Wie sollte er den richtigen Weg finden, wenn er immerzu daran dachte, wie es wohl sein würde, einen Arm ausgerissen zu bekommen!
Stunde um Stunde führte die weite Treppe Adrien höher in die Berge. Seine Beine schmerzten. In seinen Waden schien ein Feuer zu brennen. Und dennoch hielt er nicht inne. Die Angst saß ihm im Nacken. Er wollte bei Einbruch der Nacht auf keinen Fall allein sein. Aber einen Steinernen Wald hatte er bislang nicht entdecken können. Und die Dämmerung war nicht mehr fern!
Eisiger Wind zerrte an seinen Kleidern. Der Nebel war längst verflogen. Und wenn er zurückblickte, konnte er manchmal den Fluss weiter unter sich sehen. Wie ein silbernes Band zog er sich durch die Berglandschaft. Jetzt erschien es Adrien dumm, dass er sich vor diesem Fluss einmal gefürchtet hatte.
Er wandte sich ab und erklomm die nächsten Treppenstufen. Längst hatte er seine Wurst gegessen und sein letztes Wasser getrunken. Aber nicht Hunger oder Durst quälten ihn. Zuallererst kam die Erschöpfung. Er hatte das Gefühl, keine zehn Treppenstufen mehr zu schaffen. Unterwegs hatte er sich einen Stecken gesucht, auf den er sich nun schwer stützte. Aber auch das half nicht mehr. Er ging so krumm wie ein alter Mann.
Manchmal, wenn er schnaufend innehielt, fragte er sich, ob es den Steinernen Wald überhaupt gab. Oder hatte er einen falschen Weg eingeschlagen? Seit er zwischen den Löwen hindurchgegangen war, hatte es keinen Abzweig gegeben. Aber vielleicht hatte er seine Reise ja am falschen Punkt begonnen. Achte auf die Löwen! Konnte das bedeutet haben, dass er dort auf keinen Fall hätte entlanggehen sollen?
Der Weg führte Adrien um einen Felsvorsprung; unvermittelt stand er vor einem Abgrund. Seit einer halben Stunde war die Treppe der Flanke eines Steilhangs gefolgt.
An einigen Stellen hatte Steinschlag den weißen Stufen zugesetzt. Felsbrocken, groß wie Heuschober, hatten auf den Stufen gelegen. Ein Abschnitt war ganz von einer Lawine verschüttet worden, aber er hatte es geschafft, über das Geröll hinwegzuklettern. Doch hier hatte eine Lawine die Stufen einfach mit sich in den Abgrund gerissen. Ein kleiner Bach stürzte sich in der klaffenden Lücke am Steilhang vorbei in den Abgrund. Gefrorenes Spritzwasser funkelte rötlich im Abendlicht.
Hinter dem Abbruch verschwand die Treppe in einer Höhle. Lag dort das Ziel?
Adrien schlang schlotternd die Arme um den Leib. Ein eisiger Wind pfiff hier oben. Es war viel zu spät, um noch an einen Abstieg zu denken. Der Schatten der Berge wanderte mit jedem Herzschlag ein sichtbares Stück dem Abbruch entgegen. Er musste jetzt handeln. Es gab kein Zurück mehr. Länger zu zögern, bedeutete nur, dass er im Dunkeln würde klettern müssen, und wenn er umkehrte, würde er erfrieren. Wenn er weiterwollte, dann müsste er seinen Spieß zurücklassen. Und was, wenn es auf der anderen Seite doch noch Löwen gab? Solche ohne Flügel ... Schweren Herzens lehnte er die Waffe an den Fels.
Der Fels war nicht völlig glatt. Kleine Vorsprünge, Risse und Spalten boten Halt. Aber an mindestens zwei Stellen waren die Abstände zwischen den Griffen so weit, dass niemand, der bei Verstand war, freiwillig diesen Weg gewählt hätte.
Vorsichtig stieg Adrien in die Wand. Als Dieb hatte er Erfahrung darin, Häuserwände zu erklimmen. Seine Hände waren voller Schwielen, die Finger stark und sehnig. Er konnte es schaffen. Er drückte sich fest an die Felswand. Wie eine Schnecke wollte er am Stein haften. Langsam jedes Hindernis überwinden. Ein Gaukler hatte ihm einmal gezeigt, wie eine Schnecke über die Schneide eines Schwertes kroch, ohne sich zu verletzen. Seitdem sah Adrien die Tiere mit anderen Augen.
Der Fels war kalt. Der Stein trank seine Wärme. Die Fin ger wurden schnell taub. So fühlte er wenigstens keinen Schmerz, wenn er sie sich aufschürfte. Keilen gleich trieb er sie in seine Spalten. Er würde sich seine neuen Stiefel ruinieren, dachte er ärgerlich. Nach der Kletterei würde das Leder verschrammt sein.
Vielleicht platzten auch die Nähte. Wenn er einmal Glück bei etwas hatte, dauerte es keinen Tag und alles war wieder verdorben. Als hätte ihn jemand verflucht!
Seine Fingerspitzen ertasteten Eis. Es zog sich über eine kleine Felsnase, die kaum zwei Zoll weit aus der Wand ragte. Sie hätte einen guten Griff abgegeben, wäre da nicht das Eis. Adrien fluchte. Er tastete über die Wand. Eine Spalte war vom Eis versiegelt worden. Endlich fand er einen Ritz, in den er drei Fingerspitzen so weit hineinschieben konnte, dass er es wagte, den rechten Fuß von seinem sicheren Platz zu nehmen und mit ihm über den Felsen zu tasten. Er fand ein Sims und kam ein Stück weiter voran.
Mit der Dämmerung war der Wind aufgefrischt. Er strich über die Wand. Eine Wolke von Sprühwasser benetzte Adriens Gesicht. Der verdammte Wasserfall! Er würde hindurchsteigen müssen. Das Wasser hatte nicht viel Kraft; es war kaum mehr als ein armdicker Strahl, der in die Tiefe stürzte. Aber es würde eisig sein. Wenn er dort hindurch war, dann würde er schnell ein warmes Quartier brauchen!
Warum ließ Jules ihn einen solchen Weg gehen? War es dem Priester egal, ob er lebend bei ihm ankam?
Wieder blies ihm der Wind Sprühwasser ins Gesicht. Er brauchte immer länger, um doch nur einen unsicheren Halt zu finden. Ja, er war verflucht! Aber er würde sich nicht beugen. Je schlimmer es wurde, desto wütender wurde er. Sein Zorn wärmte ihn.
Und er verlieh ihm neue Kraft.
Noch ein Griff. Jetzt spritzte ihm Wasser mitten ins Gesicht. Der Fels war ganz in Eis gekleidet. Adrien hielt sich an einem Dorn fest, der aus der Wand ragte. Schwang sich tollkühn ein Stück weiter. Das Wasser strömte über ihn hinweg. Es war so kalt, dass es ihm den Atem raubte. Mit offenem Mund hing er in der Steilwand, unfähig, seine Lungen mit Luft zu füllen.
Unfähig, seine Wut herauszuschreien, obwohl sie ihn schier bersten lassen wollte.
Nass hingen seine zerklumpten Kleider an ihm herab. Aber seine Füße waren noch trocken. Wenigstens das, dachte er zynisch. Und plötzlich musste er lachen. All das hier war ein Witz. Ein toter Schiffer! Wohin mochte der ihn schon schicken, außer ins Verderben! Wie hatte er jemals glauben können, dass Jules ihn hier erwartete. Unsinn!
Hier in dieser Einöde gab es nur Steine und den Tod!
Man mochte ihn leicht hereinlegen können, aber leicht umzubringen war er nicht!
Trotzig kletterte er weiter. Schneller nun. Eilig tasteten die Finger über die vereiste Wand. Und immer fanden sie einen Halt. Er klammerte sich an einen Eiswulst. Der Schatten der Berge war nun schon bis zu seinen Hüften die Steilwand hinaufgekrochen. Die Finsternis würde ihn verschlingen, dachte er beklommen, während sein Fuß nach einem Sims suchte. Er hätte mit nackten Füßen klettern sollen.
Damit fand man besseren Halt. Und er hätte seine kostbaren Stiefel geschont!
Er verlagerte sein Gewicht. Streckte das Bein noch etwas weiter aus. Es war wie verwunschen. Nichts! Viel eicht müsste er ein Stück zurück. Wieder dem Wasser entgegen. Er streckte sich noch ein wenig mehr.
Ein scharfes Knacken ließ ihn bis ins Mark erschrecken. Der Eiswulst brach aus der Wand. Seine Hand glitt über gefrorenen Stein. Er drückte sich fest gegen die Wand und rutschte ab. Panisch versuchte er etwas zu packen zu bekommen. Sein Kinn schlug auf ein schmales Sims. Der Kopf wurde ihm durch den Aufprall in den Nacken gerissen. Er glitt weiter. Benommen nun. Ergeben ... Plötzlich fanden seine Füße Halt.
Ein Steg, groß wie ein Fußschemel. Seine Linke schoss in eine Spalte. Die Finger krümmten sich, sein Körper federte nach. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Fünf Schritt oder sechs war er tiefer gerutscht. Der Schatten hatte ihn gefressen. Nur ein kleines Stück weiter war eine eiserne Angel in die Wand geschlagen. Dann noch eine. Er blinzelte. Jemand hatte hier einen Weg bereitet.
Er sah am Fels entlang zurück. Auch dort gab es rostige Griffe. Und eine tiefe Ausbuchtung in der Steilwand schützte vor dem Wasser, das gleich einem Vorhang daran vorbeistürzte. Er hätte länger suchen sollen!
Schlotternd vor Kälte brachte er das letzte Stück Wegs an der Steilklippe hinter sich.
Wieder auf den sicheren Stufen angelangt, begann er zu laufen. Ihm musste wieder warm werden! Die Finsternis des Tunnels verschluckte ihn. Hier führte der Weg in sanfter Neigung bergan. Es gab keine Stufen mehr. Dennoch tastete sich Adrien vorsichtig vorwärts. Der Weg schien endlos, bis sich ein blassroter Lichtpunkt am Ende des Tunnels abzeichnete.
Ungeduldig beschleunigte der Junge seine Schritte. Der Lichtpunkt wuchs an. Bald sah er den Himmel im letzten Abendrot. Er war überrascht, dass es noch nicht dunkel war.
Als er aus dem Dunkel trat, erstreckte sich vor ihm ein Tal, das sich nach Westen hin öffnete. Es war verschneit. Hunderte Säulen erhoben sich wie ein steinerner Wald. Und noch weit mehr lagen niedergestürzt zwischen Ruinen und Schutthügeln, denen der Winter ein weißes Gewand übergeworfen hatte. Was für eine Stadt hatte hier einst gestanden? Eine Stadt der Paläste? Wozu hatte man so viele Säulen gebraucht? Und warum wuchs hier nichts? Noch bevor der Weg in den Tunnel mündete, hatten sich zumindest vereinzelt Bäume und Büsche am Felsen festgeklammert. Hier aber gab es nichts. Nur Schnee und Ruinen.
»Du hast es also geschafft, Adrien.«
Der Junge zuckte zusammen und wich erschrocken ein Stück in den Tunnel zurück.
Geröll knirschte unter Schritten. Eine Gestalt in blauem Priestergewand erschien am Eingang. »Ich freue mich von Herzen, dich zu sehen. Du kannst stolz auf dich sein. Du hast einen schweren Weg gemeistert. Jetzt bleibt nur noch eins zu tun ... «
Adrien erkannte die Stimme von Bruder Jules. Ihm erschien der Priester hier inmitten der Wildnis noch größer und ehrfurchtgebietender als in der Stadt. Nie war er einem Gottesdiener wie ihm begegnet. Er strahlte wahre Macht aus.
Der Junge lehnte sich an die Felswand. Er fühlte sich zu Tode erschöpft. »Was soll ich noch tun?«
»Ich möchte, dass du mein Schüler wirst. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob du es wert bist. Ich habe dir ein großes Geschenk zu machen. Ich weiß um deine Vergangenheit und um deine Zukunft. Dein wirklicher Name ist Michel. Michel Sarti!
Dein Vater war ein bedeutender Mann, zumindest am Ende seines Lebens. In seiner Jugend hat er einige Dinge getan ... Doch das musst du jetzt nicht erfahren. Wichtig ist nur, dass du weißt, dass dich ein außerordentliches Erbe erwartet. Du wirst eines Tages ein gemachter Mann sein. Wenn du ein guter Schüler bist.«
Das kam alles zu schnell und unerwartet für Adrien. Er fühlte sich, als habe ihn ein auskeilendes Kutschpferd getreten. Von seiner Erschöpfung und diesen überraschenden Enthüllungen ganz benommen, vermochte er keinen klaren Gedanken zu fassen.
Seine Mutter war eine Dirne gewesen. Es war unmöglich, zu wissen, wer sein Vater war. Völlig unmöglich! Nie zuvor hatte er diesen Namen gehört. Michel Sarti. Aber das würde er nicht erzählen. Ihm stand ein Erbe zu ... Und wenn der Priester der Meinung war, es müsse ihm ausgehändigt werden, dann wäre er ja schön blöd, wenn er sich alles verderben würde und mit der Wahrheit über seine Abstammung herausrückte!
»Ich bin überrascht, ehrwürdiger ... «
Bruder Jules unterbrach ihn mit einer knappen Geste. »Du musst noch eine letzte Probe bestehen, bevor ich dich als Schüler aufnehme. Auch wenn dein Vater als ein Held starb, so war er die meiste Zeit in seinem Leben doch ein elender Hurenbock. Ich bin überzeugt, wenn ich weitersuche, werde ich leicht noch zwei oder drei seiner Sprösslinge auftun. Aber ich bin es müde, alten Huren und leichtfertigen Schankmädchen hinterherzuschnüffeln, um herauszufinden, wer wohl ein Kind von ihm bekommen haben könnte. Also bitte bemüh dich. Und jetzt komm mit.« Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um.
Adrien war zu verwundert, um etwas einzuwenden. Was für ein Erbe mochte ihn erwarten? Wie bedeutend war der Besitz seines Vaters wohl gewesen? War er vielleicht ein Adeliger? Er stellte sich vor, dass ihm ein festes Haus und ein Stall voller Pferde gehören könnten. Ein richtiges Bett und eine Tafel, auf die jeden Tag warmes Essen aufgetragen wurde. Und schöne Kleider. Was würde das Blumenmädchen vom Heumarkt wohl sagen, wenn er auf einem stolzen Ross vor ihr erschien? Er müsste sich dann nicht mehr schämen, sie nach ihrem Namen zu fragen.
Mit festem Schritt folgte er dem Priester. Seitlich des Tunnelausgangs führte ein schmaler Trampelpfad den Berg hinauf. Hier wucherte niedriges Buschwerk. Beeren-ranken mit langen Stacheln zerrten an seinen Kleidern. Es schien, als wolle ihn die Natur zurückhalten. Ihm verweigern, was sein zügelloser Vater ihm als spätes Erbe hinterlassen hatte. Falls Jules sich nicht irrte und in ihm den Falschen aufgespürt hatte.
Der Priester blieb unter einer vom Wind gebeugten Zeder stehen. An ihrem Stamm lehnten ein Spaten und eine Spitzhacke. »Du wirst hier bei dem Baum eine Grube für mich ausheben, Junge. Sie soll zwei Schritt lang sein und etwa einen Schritt breit. Und sie muss mindestens so tief sein, dass du bis zu den Hüften darin verschwindest.«
Adrien kniff die Lippen zusammen. Was das zu bedeuten hatte, war allzu deutlich.
Jetzt bemerkte er hinter der Zeder zwei flache Hügel im Schnee. Er war wohl nicht der Erste, der aufgefordert wurde, hier eine Grube zu graben.
Eben noch hätte er vor Freude jauchzen mögen, weil sein Schicksal sich so überraschend zum Besseren gewandt hatte, und jetzt drohte schon wieder alles zu Asche zu werden. Er blickte auf das Tal. Das Dämmerlicht ließ die Säulen mit der Dunkelheit verschmelzen. Dort unten gab es keinen Ort, an dem er Wärme gefunden hätte. Und zurück konnte er auch nicht mehr. Er war Jules ausgeliefert.
Der Priester schlug die weite Kapuze seines Gewandes zurück. Er hatte ein markantes Gesicht. Die Falten um seine Augen und den Mund deuteten an, dass er gerne lachte.
Sein rabenschwarzes Haar war kurz geschoren. Erstes Grau hatte sich an den Schläfen eingenistet. Sicher hatte er mehr als dreißig Sommer gesehen. Oder waren es vielleicht fünfzig? Nein. Der Mund war nicht eingefallen. Er schien noch die meisten seiner Zähne zu haben. Fünfzig konnte er unmöglich sein!
Ganz besonders auffällig waren seine Augen. Sie waren von einem lebendigen, einnehmenden Blau.
»Wirst du deine Arbeit schaffen?«
»Ich bin müde, Herr. Der Weg war schwer ... «
»Es ist die letzte Probe. Dann wirst du mein Schüler sein.« Er sagte das auf so herzliche Weise, dass man ihm nichts übelnehmen mochte. Adrien hatte das Gefühl, einem guten, alten Freund gegenüberzustehen. Einem, bei dem man ganz sicher sein konnte, dass er nur das Beste wollte. Und er hatte ja auch wegen der Stadt Recht behalten. In der Nacht nach seiner Flucht auf den Lastkahn war ein schrecklicher Sturm über das Land gezogen. Hätten die Stadtwachen ihn gefangen und draußen am Pranger vergessen, wie Jules geweissagt hatte, dann wäre er jetzt schon tot.
Der Priester wusste irgendetwas. Etwas, das er jetzt nicht mit ihm teilen wollte. Aber es war zu seinem eigenen Besten, wenn er jetzt auf Jules hörte und sich ohne Wider-worte daran machte, ein Grab auszuheben, auch wenn er so müde war, dass er im Stehen hätte schlafen können.
»Du wirst das schaffen«, sagte Jules aufmunternd. »Du bist stark. Das sehe ich. Du bist aus dem gleichen Holze wie dein Vater geschnitzt.
Einst ist er in einer Schlacht sieben Mal verwundet worden. Er hatte gegen heimtückische Elfen gekämpft. Doch er blieb einfach stehen und kämpfte weiter, wo andere, Schwächere gestorben wären.« Der Priester deutete noch ein Stück weiter den Hang hinauf. »Siehst du den schwarzen Busch dort oben? Dahinter liegt unsere Hütte.
Dort gibt es ein wärmendes Feuer und eine kräftige Brühe mit fettem Fleisch darin.
Das alles wartet auf dich. Beeil dich, mein Freund.« Jules klopfte ihm noch einmal aufmunternd auf die Schulter. Dann ging er in die Richtung davon, in die er gerade gedeutet hatte.
Als er sich entfernte, kehrte Adriens Erschöpfung schlagartig zurück. Seine Hände zitterten, als er nach dem Spaten griff. Die Finger waren verschorft. Müde stach er das Spatenblatt in den Schnee. Mit einem knirschenden Geräusch stieß es durch die verharschte oberste Schicht. Der Boden unter dem Schnee jedoch war hart wie Stein gefroren.
Verzweifelt blickte der Junge zum Horizont. Dem Rot war ein blassblaues Licht gefolgt, das zum Himmel hinauf immer dunkler wurde. Der Mond war schon aufgegangen. Es zeigten sich kaum Wolken. Er würde fürchterlich kalt werden in dieser Nacht.
Falrach spürte deutlich, dass sie beobachtet wurden. Das Gefühl war so stark, dass er es fast wie eine sanfte Berührung empfand. Das war neu für ihn. Emerelle lag in seinem Arm. Er spürte ihren regelmäßigen Atem. Warum merkte sie nichts?
Er öffnete seine Augen einen Spalt weit. Ihr Lagerfeuer war längst erloschen. Zunächst hatte er geglaubt, von der Kälte erwacht zu sein. Die Hitze des Tages war nur noch eine ferne Erinnerung. Es hatte sich so sehr abgekühlt, dass sie gemeinsam unter seinen Umhang gekrochen waren.
Emerelle hatte darauf verzichtet, sich durch einen Zauber zu schützen, und mit ihm unter der Kälte gelitten. Vielleicht war es auch nur ein Vorwand gewesen, um neben ihm unter dem Umhang zu liegen. Zum ersten Mal, seit er im Gefängnis dieses fremden Körpers wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte er sich glücklich gefühlt. Bis zu dem Augenblick, als er erwachte.
Jenseits des verloschenen Feuers bewegte sich etwas. Sie hatten die Maiskolben aus den Opferschalen mitgenommen. In den letzten Tagen waren sie ihr einziger Proviant gewesen. Die Reste ihres Abendessens lagen etwa dort, wo sich der Schatten bewegte, im Sand.
In all den drei Tagen, die sie den Bergen am Horizont entgegengegangen waren, hatten sie nicht das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden. Wer mochte das sein, der nun um das Lager schlich? Aus den Augenwinkeln sah Falrach eine zweite Gestalt. Ein Kobold?
Der Bidenhänder lehnte außer Reichweite an einem Felsen. Falrach verfluchte sich dafür, sich so weit entfernt von seiner Waffe zum Schlafen gelegt zu haben. Das große Schwert war das Letzte, an das er gedacht hatte, als Emerelle ihm erklärt hatte, dass sie mit ihm gemeinsam unter seinem Umhang schlafen wollte.
Die Gestalt bei den abgenagten Maiskolben blickte auf. Ihr Gesicht war weiß. Nein ...
Es war ein Totenschädel!
Das sind nur bemalte Gesichter. Die Stimme war in seinen Gedanken. Er wusste, dass Windsänger Tiere rufen konnten und in ihren Gedanken waren. Dass dies nicht nur für Tiere galt, war ihm neu. Das hieß also ...
Keine Sorge, ich kümmere mich nicht um das, was du über mich denkst.
Gerade tust du es aber, antwortete er in Gedanken. Im Übrigen hat einer der geschminkten Kobolde einen Speer in der Hand, der im Gegensatz zu den aufgemalten Totenschädeln ganz echt aussieht.
Im erloschenen Feuer loderte eine Stichflamme auf, die das Lager in taghelles Licht tauchte. Entsetzte Schreie erklangen. Falrach sah kleine Gestalten Hals über Kopf in die Sicherheit des Dunkels fliehen. Es waren mindestens zwanzig! Und er hatte nur zwei von ihnen bemerkt.
Emerelle stand auf. Sie ging zum Rand des Lichtkreises, den ihr Lagerfeuer in die Nacht schnitt. Sie bückte sich nach etwas. Dann sah sie wieder hinaus ins Dunkel. Eine unheimliche Macht ging von ihr aus. War sie jetzt in den Gedanken der Kobolde?
Falrach spürte, dass sie einen Zauber wirkte. Die Luft rings herum schien sich zu verändern. Es war etwas Neues in ihr. Etwas, das auf der Haut kribbelte, als hielten dort ganze Heerscharen von Ameisen eine Parade ab.
Von Unrast gepackt, erhob er sich und trat neben Emerelle. Jetzt sah er, was sie in Händen hielt. Ein Bündel kleiner Pfeile, das von einer Schnur aus Pflanzenfasern zusammengehalten wurde. Die Spitzen waren aus schwarzem Stein. Sie sahen klebrig aus. Staub haftete an ihnen.
»Hattah«, sagte Emerelle, als könne das alles erklären.
Falrach hob die Pfeile an die Nase. Ein leicht süßlicher Geruch haftete ihnen an. Ein Geruch, der ein pelziges Gefühl auf der Zunge hinterließ.
»Hattah ist ein Gift, das aus dem Fleisch von Kakteen gewonnen wird. Wenn man es richtig aufbereitet einatmet, glaubt man, die Geister seiner Vorfahren sprächen mit einem. Gelangt es in dein Blut, lähmt es deine Lungen, und du erstickst.«
»Dann sollten wir wohl nicht als deutlich sichtbare Ziele vor dem Feuer stehen.«
»Wir sind außer Gefahr, für den Augenblick. Sie laufen immer noch. Aber sie werden wiederkommen. Ein paar Meilen entfernt liegt ein kleines Dorf. Wir werden es morgen besuchen.«
»Können wir nicht einfach gehen?«
»Es ist nicht meine Art wegzulaufen. Ich will in Frieden leben. Vielleicht hier, vielleicht an einem anderen Ort. Das wird uns nur gelingen, wenn wir uns stellen. Ich möchte in Zukunft nicht ständig überlegen müssen, ob ein Kobold mit einem vergifteten Pfeil auf meinen Rücken zielt.«
»Warum sollten sie uns in ihr Dorf lassen?«
»Aus demselben Grund, aus dem sie noch nicht auf uns geschossen haben, obwohl sie uns schon seit Stunden beobachten. Sie haben Angst vor uns, aber sie sind auch neugierig. Sie halten uns für Riesen, die der Himmel geboren hat.«
»Riesen«, sagte er mürrisch.
Er hatte gedacht, sie habe in seinen Armen geschlafen. Er hatte sich gut gefühlt, weil er ihr Schutz gab. Genau das Gegenteil war der Fall gewesen. Sie hatte auf ihn auf-gepasst. Er war einmal ein Spieler gewesen, der fast nie verlor. Das war seine Gabe. Er konnte vorausahnen, was seine Gegenspieler unternehmen würden, wenn er nur genug über sie wusste. Und es war ganz gleich, ob er ihnen an einem Spieltisch oder als Feldherr auf einem Schlachtfeld begegnete. Er war stolz auf seine Fähigkeiten gewesen. Früher einmal war er berühmt gewesen, zu etwas nutze. Jetzt war er nur noch Ballast auf einer Reise ohne Ziel.
»Sie haben noch nie Elfen gesehen«, sagte Emerelle. »Sie sind sich noch uneins, ob sie uns töten und essen sollen oder um Hilfe bitten.«
»Wunderbar. Sollten wir nicht einfach gehen? Was haben wir in dieser Wildnis verloren? Gib mir ein paar Wochen am Spieltisch, und ich werde dir einen Palast schenken können.«
»Und du glaubst, so würden wir kein Aufsehen erregen«, sagte sie lächelnd. »Ich will Frieden. Und ich will, dass du an meiner Seite bist. Was habe ich gewonnen, wenn du die Tage an Spieltischen verbringst und ich allein in einem Palast sitze?
Glaube mir, das ist nicht das Leben, nach dem ich mich sehne. Ich war für Jahrhunderte die Gefangene meines Palastes. Abgesehen davon gibt es noch einen sehr viel schwerwiegenderen Grund, in ihr Dorf zu gehen. Wenn wir umkehren, dann sieht es für sie nach Flucht aus. Hier gelten andere Gesetze, Falrach. Wenn sie glauben, dass wir fortlaufen, dann sind wir keine himmelsgeborenen Riesen. Dann sind wir nur noch Beute.«
Nur ein paar leere Schalen. Nikodemus konnte wittern, dass da einmal etwas zu essen drin gewesen war. Vor ein paar Tagen vielleicht. Er hatte mörderischen Hunger und schlechte Laune. Und Angst! Sie waren stundenlang auf den Albenpfaden herumgeirrt. Er hatte jegliche Spur verloren. Am Ende war er einfach einem Weg gefolgt. Einem von den acht möglichen. Und er hatte an einem niederen Albenstern ein Tor geöffnet, weil er gespürt hatte, dass dort vor nicht allzu langer Zeit jemand anderes das goldene Netz verlassen hatte. Wer ging schon durch niedere Albensterne?
Nicht viele waren so verrückt. Vielleicht hatte er seine beiden Elfen gefunden?
Vielleicht auch den Tod. Madra war immer wütender geworden, je länger sie suchten.
Allein seine Angst hatte den Troll davon abgehalten, ihm etwas anzutun. Madra wusste, dass er ohne Hilfe niemals den Albenpfaden entkommen wäre. Nun waren sie hier in einer verdammten Einöde vor einem bemalten Felsen.
Ein Geräusch ließ Nikodemus herumfahren. Madra stand hinter ihm. Der Troll war selbst groß wie ein Fels.
Und er hatte auch Hunger. Er hatte den Magen des Hünen knurren hören. Ein Geräusch, das dem Donnergrollen eines Gewitters nur um wenig nachstand.
Nikodemus wusste, dass er Mist gebaut hatte.
Der Troll blickte finster auf ihn hinab. Hoffentlich wurde er wenigstens ohnmächtig, wenn der Bastard ihm den Arm ausriss. Er wollte nicht auch noch dabei zusehen, wie er gefressen wurde.
Madra kniete vor ihm nieder und streckte ihm die Rechte entgegen. Es war zu finster, um irgendwelche Regungen im Gesicht des Trolls zu sehen. Aber wahrscheinlich hätte er auch bei strahlendem Sonnenschein nichts entdecken können. Trolle waren nicht dafür bekannt, besonders gemütvolle Geschöpfe zu sein.
»Gib mir die Hand!« Eine Stimme wie ein Abgrund.
Nikodemus dachte daran fortzulaufen. Aber er würde dem Troll nicht entkommen. Er war vielleicht flinker, aber gewiss nicht schneller und ausdauernder. Madra würde ihn erwischen. Eine Flucht würde sein Schicksal nur ein wenig hinauszögern. Er hatte einmal gelernt, sich in einen Bussard zu verwandeln. Aber ihm fiel das Wort der Macht nicht mehr ein. Er war zu zerstreut in diesen Dingen ... Er sah zu Madra auf. Es war ohnehin sinnlos. Sich zu verwandeln, dauerte mehrere Augenblicke. Wenn der Troll sähe, wie er sich zusammenkrümmte und ihm Federn wuchsen, würde er gewiss nicht abwarten, bis er ihm davonflog.
»Deine Hand!«
Nikodemus presste die Lefzen zusammen. Er würde es anständig hinter sich bringen.
Wie ein Mann. Der Troll hatte gesagt, er würde dafür sorgen, dass er nicht starb. Aber Nikodemus konnte sich nicht vorstellen, dass diese gewaltigen Pranken dazu taugten, schwere Wunden zu versorgen. Jedenfalls nicht bei Geschöpfen, die kleiner als eine Hornschildechse waren.
Seine Hand zitterte nur wenig, als er sie dem Troll entgegenstreckte. Madra packte sie.
Dann legte er ihm die Linke auf die Schulter über dem rechten Arm. Die Hand wäre groß genug, ihm den Brustkorb zu zerquetschen, wenn der Troll es nur wollte.
Nikodemus kniff die Augen zu. Er wollte es nicht mit ansehen.
»Gut gemacht, Fuchsmann. Ich habe die Fährte der beiden Elfen dort vorne gefunden.
Sie sind hierhergekommen. Du bist ein großer Zauberer. Ich dachte, nur dein Maul sei groß. Entschuldige.«
Nikodemus spürte, wie seine Knie nachgaben. Er musste sich setzen. Das musste ein Traum sein. Ungläubig tastete er nach seinem rechten Arm. Er war noch dran. Aber Trolle entschuldigten sich nicht. Niemand würde ihm das jemals glauben!
»Komm, Fuchsmann, holen wir sie uns.«
Nikodemus wollte aufstehen, aber seine Beine gaben sofort wieder unter ihm nach.
Der lange Weg durch das goldene Netz und seine Angst hatten all seine Kräfte aufgezehrt. »Ich kann nicht mehr. Geh voraus. Ich werde dich finden.«
Madra legte den Kopf in den Nacken. Er sah aus wie ein Wolf, der den Himmel anheulen wollte. Stattdessen sog er geräuschvoll Luft durch seine Nase. »Nein, Fuchsmann. Es riecht hier sehr fremd. Wir bleiben zusammen. Halt dich an meinen Ohren fest!« Der Troll packte ihn und setzte ihn auf seine Schultern, bevor Nikodemus auch nur ein Wort hervorbrachte.
Der Nacken des Trolls fühlte sich an wie ein vom Wasser glattgeschliffener Fels. Ein paar Lederriemen, an denen Amulette hingen, waren um den Hals geschlungen.
Madras Kopf war kahl.
»Die Ohren!«, erinnerte ihn sein Gefährte.
Nikodemus zögerte. Seine Ohren waren sehr empfindlich. Aber als Madra sich in Bewegung setzte, hatte er keine Wahl. Er packte zu. Sie waren rau und knorpelig wie Hühnerfüße. Man konnte sich gut daran festhalten.
Madra verfiel in einen leichten Trab. Er lief gebeugt. Dem Lutin war schleierhaft, was der Troll in dem Geröll sah. Welcher Spur er folgte. Er konnte dort nichts erkennen.
Aber Madra verharrte nicht ein einziges Mal. Er schien sich seiner Sache völlig sicher.
Die Nacht war angenehm kühl. Man konnte im Dunkel nicht erkennen, wo sie waren.
Aber der Troll hatte Recht. Es roch hier fremd. Trocken und staubig. Das Windland war sicher weit entfernt.
Wenn Elija ihn jetzt nur sehen könnte! Ein Lutin, der einen Troll ritt. Das hatte es noch nie gegeben. Alle würden ihn für einen Aufschneider halten, wenn er davon erzählte.
Es sei denn, sie brachten die Köpfe der beiden Mörder zu Skanga. Dann wäre sein Ruhm für alle Zeiten gefestigt. Sobald sie Rast machten, würde er alles in einem Tagebuch aufschreiben. Es für die Ewigkeit festhalten!
Nikodemus lächelte zuversichtlich. Sie konnten es schaffen. Wer einen Troll ritt, würde auch zwei Elfen zur Strecke bringen können.
Der Kobold hatte zwei verschiedenfarbige Augen. Eines war gelb und das andere blau wie der Winterhimmel über der Snaiwamark. Falrach fand das beunruhigend. Und dass der Kobold seinerseits sie beide ganz augenscheinlich beunruhigend fand, machte es nicht besser. Er war mit einem jämmerlichen Speer bewaffnet, auf dem eine steinerne Spitze festgebunden war. Falrach hätte gelacht, wäre auf dem Stein nicht derselbe Schmier zu sehen gewesen wie auf den Pfeilen gestern Nacht.
Der Kobold reichte Falrach kaum bis zum Knie, und der drohend erhobene Speer zeigte direkt auf sein Gemächt.
Lächeln, erklang Emerelles Stimme in seinem Kopf. Sie schaffte es, überaus freundlich auszusehen. Aber auf sie war ja auch kein vergifteter Speer gerichtet.
»Warum seid ihr hierhergekommen, Riesen?« Der Kleine sprach einen recht ungewöhnlichen Dialekt. Ganz anders als die Kobolde, denen Falrach bisher begegnet war. Er konnte ihn besser verstehen!
»Wir sind Elfen, keine Riesen«, entgegnete er freundlich.
»Ihr seid viel zu groß für Elfen. Lüg mich nicht an! Es ist offensichtlich, was ihr seid.«
Auf den Felsen ringsherum stand mindestens noch ein Dutzend Kobolde. Einige von ihnen zielten mit ihren Bogen auf sie. Das Ganze erinnerte ihn an Feylanviek. Lag es an Emerelle, oder hatten sie einfach nur Pech?
Falrach hob beschwichtigend die Hände. »Wir haben wirklich keine bösen Absichten…«
»Ihr habt den Tribut für die Trolle aufgefressen. Das mögen die gar nicht!«
Er blickte zu Emerelle. Auch sie schien überrascht. Hier gab es keine Trolle! Aber er würde gewiss keinem Kobold widersprechen, der mit einem Speer geradewegs auf seinen Schritt zielte. »Ich entschuldige mich. Wie können wir ... «
»Wir könnten den Trollen erklären, dass ihr künftig keinen Tribut mehr zahlen werdet, weil euer Volk nun mit zwei Riesen befreundet ist«, mischte sich Emerelle ein.
Der Kobold senkte seinen Speer ein wenig. Er hatte ein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht, auf dem rissige, weiße Farbe aufgetragen war. Sie ließ sein Antlitz wie einen Totenschädel erscheinen. Auch sein Oberkörper war wie ein Skelett bemalt. Allerdings schien der Kobold es mit der Anatomie nicht ganz genau zu nehmen. Auf seine Brust waren Schulterblätter gemalt. Auch Rippen und Wirbelsäule sahen aus wie von hinten betrachtet. Nur der Schädel stimmte. Seine Augen waren große dunkle Höhlen. Er hatte sich Ruß auf die Lider geschmiert, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Die Nase passte so gar nicht in dieses Bild. Sie ragte wie ein Geierschnabel aus seinem Gesicht. Und die weiße Farbe auf ihr vermochte diesen Eindruck nicht zu mildern.
Um seine Hüften hatte der Kobold ein schmutzigrotes Tuch geschlungen. An einem dünnen Lederriemen hingen zwei kleine Kürbisflaschen. Er ging barfuß.
Die verschiedenfarbigen Augen fixierten Falrach. »Ihr wollt euch also ergeben?«
»Hast du schon einmal von Riesen gehört, die sich Kobolden ergeben?« Emerelles Stimme klang noch immer freundlich. »Vielleicht solltest du uns einfach zu den Ältesten bringen, und wir verhandeln mit ihnen.«
»Ich soll euch in mein Dorf bringen? Dafür würden mich die Ältesten in die Wüste jagen. Was ist, wenn ihr Kobolde fresst? Ich ... «
»Sehe ich aus, als nähme ich etwas wie dich in den Mund?« Sofort hob sich der Speer und zeigte wieder auf sein Gemächt. Offensichtlich hatte der Kobold keinen Sinn für Humor.
»Er meint es nicht so ...«, beschwichtigte Emerelle. »Was nicht heißt, er würde Kobolde fressen. Er wollte dich nur nicht beleidigen. Wie heißt du eigentlich?«
»Oblon, Bewahrer der Ahnen, Stimme der Toten, Wanderer an verbotenen Orten.«
»Ein stolzer Name«, sagte Emerelle anerkennend.
Oblon lächelte, was die Risse in der Farbe auf seinem Gesicht noch vertiefte.
»Wenn wir dir unsere Waffen geben, wirst du uns dann zu den Ältesten bringen?
Unter Freunden braucht man schließlich keine Waffen. Ich glaube, man würde die Geschichte von Oblon, dem Gefährten der Riesen, bald bei allen Stämmen erzählen.«
Trotz der Farbe konnte man ihm deutlich ansehen, wie er mit sich rang. Endlich nickte er. »Legt die Waffen nieder, und ich lade euch als Gäste in unser Dorf ein.« Er senkte den Speer erneut und winkte den Kriegern zwischen den Felsen. Zögerlich stiegen sie zu ihnen hinab.
Falrach nahm sein großes Schwert vom Rücken. Staunend sahen sich die Kobolde die Waffe an. Sie war mehr als doppelt so lang wie der Größte unter ihnen.
»Das nenne ich einen Trollschlächter«, flüsterte einer. Auch die anderen Waffen betrachteten sie mit größtem Respekt.
»Sie werden für uns kämpfen, wenn die Ältesten es wünschen«, verkündete Oblon in einem Tonfall, der Falrach nicht gefiel. Es hörte sich so an, als täten die Koboldgreise, die diesen Stamm beherrschten, ihnen einen Gefallen, sie gegen eine Horde in die Schlacht zu schicken.
»Nehmt die Waffen!«
Drei Kobolde waren nötig, um sein Schwert zu heben. Sie und die anderen Waffenträger liefen voraus und waren bald im unübersichtlichen Gelände verschwunden.
»Sie werden euer Kommen ankündigen«, erklärte Oblon. »Es wäre nicht gut, wenn ich plötzlich mit zwei Riesen inmitten unseres Dorfes erscheine.«
»Ist es weit?«, fragte Emerelle.
Oblon deutete auf die Berge. »Fast ein Tagesmarsch. Wir werden vor der Dämmerung eintreffen. Kommt.« Der Kobold legte ein strammes Marschtempo vor. Trotz der brü-
tenden Hitze machte er keine Pausen.
Bald schon fühlte sich Falrach völlig ausgelaugt. Sein Mund war trocken, seine Lippen fühlten sich zerklüftet wie Eichenborke an. Gegen Mittag hörte er auf zu schwitzen. Er hatte das Gefühl, dass das kein gutes Zeichen war. Schwindelanfälle plagten ihn.
Immer häufiger musste er sich an einen der heißen Felsen lehnen und kurz rasten.
Kopfschmerzen peinigten ihn fast so sehr wie die belustigten Blicke Oblons. Der Kobold hatte in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal aus seiner Wasserflasche getrunken.
Schweigend versuchte Emerelle ihm zu helfen, aber er war zu stolz, um sich auf sie aufzustützen. Von Zeit zu Zeit streichelte eine erfrischende Brise sein Gesicht, und Wohlgerüche linderten seine Kopfschmerzen. Er wusste, dass es ihr Werk war. Hätte sie eine kühle Quelle aus einem der Felsen hervorbrechen lassen können? Sie hatte die Macht dazu. Aber ihm war auch klar, warum sie es nicht tat. Oblon sollte nicht wissen, dass seine Riesin auch noch zaubern konnte. Also war es an ihm, zu leiden und dabei eine gute Figur zu machen, dachte er bitter und versuchte zugleich ein Lächeln. Er wollte dem Kobold nicht das Gefühl gönnen, sich überlegen zu fühlen.
Am späten Nachmittag führte sie Oblon in ein Bachbett hinab, das sich tief in den verdorrten Boden gegraben hatte. Es war trocken wie alles in dieser Einöde. Nur die etwas dichter stehenden, braunen Grasbüschel ließen vermuten, dass hier doch gelegentlich Wasser floss.
In weiten Kehren stieg das Bachbett sanft an; schließlich führte ihr Weg sie in eine Felsklamm, die so eng war, dass Falrach die Wände auf beiden Seiten berühren konnte, ohne seine Arme ganz auszustrecken.
Der Fels war von der Macht des Wassers spiegelglatt poliert. Mehr als zehn Schritt reichten die Steilwände in die Höhe. Sie zu erklimmen, war unmöglich. Kaum ein Lichtstrahl verirrte sich auf den Grund der Klamm, obwohl der Himmel über ihnen noch keine Spur von Abendrot zeigte.
Im Zwielicht war es schwer, seinen Weg durch das Geröll am Grund der Klamm zu finden. Bei allen Mängeln, die Ollowains Körper aufwies, besaß er doch ein ausgezeichnetes Gleichgewichtsgefühl. Falrach vermutete, dass es mit dem Schwertkampf zu tun hatte. Nicht ein einziges Mal strauchelte er auf dem schwierigen Grund.
Selbst Oblon war nun langsamer geworden. Obwohl er den Weg kannte, hatte auch er augenscheinlich Schwierigkeiten, auf dem trügerischen Grund einen sicheren Tritt zu finden. Nur Oblon war noch von den Kobolden übrig geblieben, die sie begleitet hatten. Selbst jene, die sich nicht mit Beutewaffen abschleppten und sie den Tag über begleitet hatten, waren weit hinter sie zurückgefallen.
Es herrschte eine angespannte Stimmung. Die Klamm verstärkte jeden Laut. Sein Keuchen und das Scharren der Steine unter ihren Füßen.
»Was für Trolle sind das eigentlich, mit denen ihr in Fehde liegt?«, fragte Emerelle unvermittelt. Ihre Stimme hallte dutzendfach gebrochen von den Felsen wider. »Wie sehen sie aus?«
»Sie sind groß. Ihre Haut ist grau. Sie sind grausam«, stieß Oblon keuchend hervor, ohne in seinem Marsch innezuhalten. »Sie fordern von allen Stämmen Tribut. Warum fragst du? Gibt es in deiner Heimat keine Trolle, Riesin? Alle wissen doch, wie Trolle sind. Sie sind die Geißel Albenmarks.«
Falrach fand die Beschreibung recht zutreffend. Aber er war zu müde, um noch irgendetwas zu sagen.
Plötzlich hielt Oblon inne. Fast im selben Augenblick erklangen über ihnen Hörner.
Falrach blickte auf. Hoch über ihren Köpfen waren am Rand der Klamm Felsbrocken zu losen Haufen geschichtet. Es war leicht, zu erkennen, welchem Zweck sie dienten.
Jetzt waren sie wirklich ausgeliefert. In der engen Schlucht gab es keinen Ort, der Schutz vor dem Steinschlag liefern würde. Wie hatten sie so dumm sein können, die Kobolde für einfältige Wilde zu halten!
»Würdet ihr hier ein wenig warten?«, sagte Oblon lächelnd.
Ein Seil fiel vom Klippenrand. Er schlang es sich um den Arm und wurde mit einem Ruck nach oben gezogen. »Stürzt die Felsen hinab!« Sein Befehl hallte durch die Klamm. Dann brach der Himmel hernieder.
Jules betrachtete seinen Sohn. Er lag zusammengerollt auf einem Strohsack dicht beim Feuer. Über dreißig Stunden schlief er jetzt schon. Adriens Fieber hatte nachgelassen, ohne dass er sich bemüht hatte, dem Jungen zu helfen.
Jules war sich nicht sicher, ob der Junge besonders dumm oder außergewöhnlich stolz war. Er hatte gegraben ... Die ganze Nacht hindurch und auch am folgenden Tag noch weit bis in den Mittag hinein. Jules hatte ihn beobachtet. Er hatte gesehen, wie oft der Junge gestrauchelt war, wenn er eine Schaufel der hartgefrorenen Erde aus der Grube hinaufwarf. Ihm war auch nicht verborgen geblieben, in welchem Zustand Adriens Hände waren.
An den Händen hatte er etwas getan, nachdem der Junge in tiefen Schlummer gesunken war. Er brauchte diese Hände noch. Er hatte Großes mit ihm vor. Und sollte sich herausstellen, dass sein Sohn stolz und nicht dumm war, dann würde er seinen Weg machen. Nicht wie die beiden anderen. Jules schnaufte ärgerlich. Sie hatten ihn so unendlich enttäuscht! Beim ersten war er überrascht gewesen, wie schnell er starb. Für ihn hatte er das Grab noch selbst ausgehoben. Ein Fehler, der ihm nicht wieder geschehen würde! Adriens letzter Ruheplatz war bereit.
Vielleicht sollte man das in ihre Ordensregel aufnehmen, wenn sein Plan letztlich glückte. Welchen Einfluss hätte es wohl auf junge Knappen, wenn sie früh in ihrer Ausbildung ihr Grab ausheben mussten? Würde es sie unempfindlicher gegen den Schrecken des Todes machen? Sich in Menschen hineinzudenken, fiel ihm schwer. Sie waren so sprunghaft... Genauso hatten sie werden sollen. Geschöpfe, die Gefallen daran fanden, ihre Welt zu verändern. Erfüllt von Ideen und dem Geist, sie umzusetzen. Aber dass sie so waren, machte es schwer, mit ihnen lang fristige Pläne zu schmieden. Pläne, die über Jahrhunderte reichten.
Jules hatte Michel Sarti nicht sonderlich gemocht. Er war ein Hurenbock und Trinker gewesen, mit einem Hang zur Grausamkeit. Aber manchmal hatte er ungewöhnliche Ideen. Wie ungeschliffene Diamanten. Es war seine Idee gewesen, einen kämpfenden Orden aufzustel en. Priester, die sich mit Waffen übten. Das war neu! Ritter, die sich ganz der Disziplin eines kirchlichen Ordens unterwarfen.
Jules hatte lange darüber nachgedacht. Die Idee war es wert, einige Versuche zu machen. Sah man von einigen wenigen Taten ab, hatte Michel Sarti nicht gerade ein vorbildliches Leben geführt. Sein Name war durchaus bekannt. Als Söldnerführer hatte er einige ansehnliche Erfolge erzielt. Und tatsächlich hatte er sich später verändert und zum Tjuredglauben gefunden. Aber das allein genügte Jules nicht. Da musste mehr sein! Er sah auf den schlafenden Jungen hinab. Ob Adrien dieses Mehr zu bieten hatte? Würde er sich bewähren? Der Junge war sein Sohn. Und war auf eine Weise begabt, die er sich nicht einmal vorzustellen vermochte. Wahrscheinlich würde er nicht so außergewöhnlich wie Guillaume werden. Vielleicht aber könnte er Guillaume rächen.
Jules nahm ein Scheit Holz und legte es ins Feuer. Er sollte etwas pfleglicher mit Adrien umgehen. Er mochte ein kostbares Werkzeug werden, wenn er ihn nicht durch sein Ungestüm zerbrach.
Der Priester sah zu der Tür hinüber, die er stets verschlossen hielt. Sollte er es wagen?
Nein, es war besser, wenn er hier war, falls Adrien erwachte oder das Fieber noch einmal zurückkehrte.
Jules lehnte sich in seinem schlichten, hölzernen Sessel zurück und schloss die Augen.
Er lauschte auf den Wind, den die Säulen unten im Tal zu melancholischen Liedern verführten. Er dachte an die Stadt, die dort einst gestanden hatte. An die sieben Könige. So viel Zeit war vergangen.
Der Priester rief sich zur Ordnung. Es war müßig, seine Gedanken an die Vergangenheit zu verschwenden. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern.
Nur die Zukunft zählte noch. Er konzentrierte sich auf die Spieltische, die wohl verborgen standen. Das Ende der Kämpfe um Emerelles Thron hatte ihn überrascht. Er hatte dieses Spiel verloren. Die Art, wie es geschehen war, wog seinen Ärger ein wenig auf. Es kam nicht mehr sehr oft vor, dass Elfen ihn überraschten.
Seit die Trolle auf Burg Elfenlicht eingezogen waren, hatte er zwei neue Fairachspiele aufgestellt. In beiden war Adrien als Spielfigur vertreten. Mit welchem Zug sollte er diese Spiele eröffnen?
Kadlin blickte entsetzt zu der Insel hinab, die im Talsee unter ihnen deutlich zu erkennen war. Sie hätte nicht dort sein dürfen. Sie hatte sich den Ort genau beschreiben lassen. Die Insel hätte in den Fluten versunken sein müssen. Als die geschlagenen Fjordländer sich nach der Schlacht bei der Nachtzinne zurückziehen mussten und sie Sorge hatten, die Trolle könnten sie stellen, hatten sie den Leichnam des Königs zurückgelassen. Diese Insel dort unten im Tal hatten sie ausgewählt. Es konnte keinen Zweifel geben! Jetzt erkannte Kadlin auch den Eingang zu der Höhle, die zum Königsgrab geworden war.
Ulric, Halgard, Lambi und die anderen hatten den König in der Höhle beigesetzt. Und dann hatten sie das Wasser des Sees angestaut, damit die Insel in den steigenden Fluten versinken konnte. So sollte das Königsgrab verbor gen bleiben, bis Norgrimm, der Gott der Schlachten und Krieger, ihnen zulächelte und sie siegreich ins Land der Trolle zurückkehren würden.
Sie blickte zu Melvyn. Ihr Halbbruder hatte sein selbstsicheres Lächeln verloren.
Unruhig sah er sich um. Er hatte ihr zugeredet, dass es möglich war, Alfadas zurückzuholen. In ihrer Hütte hatte alles ganz einfach geklungen.
Alle Bäume auf der Insel waren von einem dicken Eispanzer überzogen. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass die Insel tatsächlich in den Fluten des Sees versunken war.
»Lass uns hinuntergehen!«
Er hielt sie am Arm fest. »Nein. Wir sind zu spät. Es hat keinen Sinn. Und ich habe das Gefühl, wir sind nicht allein.«
»Was hatte die ganze Reise für einen Sinn, wenn wir nicht einmal nachsehen, ob er noch dort unten ist! Ich werde gehen.«
»Glaubst du wirklich, dass sie das Wasser abgelassen und Felsen vor dem Grab zur Seite geräumt haben, um ihn dann dort zu lassen?«
»Wir werden es nur wissen, wenn wir hinuntergehen!«
»Bitte …«
Es war das erste Mal, dass er sie um etwas bat. Sie drehte sich halb zu ihm um.
»Bitte, Kadlin. Du weißt doch, wie sie tote Helden ehren. Willst du es wirklich sehen?
Behalte ihn so in Erinnerung, wie du ihn kanntest.« Seine Stimme stockte. »Geh nicht dort hinab!«
Kadlin riss sich los. »Ich bin nicht den weiten Weg gegangen, um am Ende immer noch nicht zu wissen ... «
»Er ist tot! Was gibt es da zu wissen?«
Sie atmete schwer. Melvyn hatte Recht. Das ließ sich nicht von der Hand weisen. Allein hier zu sein, war schon verrückt. Sie betrachtete die Insel. Der kleine See, das Tal...
Alles war verlassen. Es war unübersehbar, dass die Trolle das Grab schon vor einiger Zeit geöffnet hatten.
Kadlin entwand sich dem Griff ihres Bruders. »Ich will nur von ihm Abschied nehmen.
Es wird nicht lange dauern.«
Melvyn versuchte nicht mehr sie aufzuhalten. Mühsam kämpfte sie sich Schritt um Schritt durch den hohen Schnee. Gestern und auch heute hatte es nicht geschneit. Man würde Spuren sehen, wenn dies eine Falle war. Trollspuren im Schnee waren einfach unübersehbar.
Vorsichtig tastend trat sie auf das Eis des kleinen Sees. Es war hart wie Stein gefroren.
Plötzlich überfiel sie Unsicherheit. Sie blickte den Hang hinauf. Melvyn war verschwunden. Mistkerl! Er wollte ihr wohl Angst machen! Aber sie war kein kleines Mädchen mehr.
Entschlossener ging sie weiter. Sie umrundete eine Gruppe flacher, eingeschneiter Uferfelsen. Dann sah sie den Höhleneingang vor sich. Ein Spalier aus Eiszapfen hing vor ihm hinab. Sie musste sich tief ducken, um darunter hindurchzuschlüpfen.
Das Licht, das sich in den Eiszapfen brach, zauberte grellweiße Flecken auf die dunklen Höhlenwände. Die Kälte hier drinnen raubte ihr schier den Atem. Sie schob sich den Schal über die Lippen. Ihre Gesichtshaut fühlte sich straff an. Sie prickelte.
Draußen heulte der Wind über den Klippen der Insel und sang in den Wipfeln der erfrorenen Bäume. Die Eiszapfen am Höhleneingang erzitterten. Die Lichtflecke tanzten. Einer riss ein Gesicht aus der Dunkelheit. Eine von Schreck verzerrte Grimasse. Der Körper des Toten war seltsam verkrümmt.
Kadlin verharrte. Die tanzenden Lichter zeigten nun all die Toten. Sie erinnerte sich an Lambis Erzählungen. Nicht nur Alfadas lag hier bestattet. Etwa zwanzig andere Krieger hatten an diesem Ort ebenfalls ihre letzte Ruhe gefunden.
Die junge Königin atmete schwer. Einige der Männer erkannte sie wieder, auch wenn der Frost ihre Gesichter dunkel gefärbt hatte. Die Toten erinnerten sie daran, warum sie gekommen war. Es ging nicht allein um ihren Vater. Es ging um ihre Schuld. Nach der Schlacht an der Nachtzinne, nachdem Björn und Kalf gefallen waren, war sie feige geflohen. Statt mit den anderen durch die Berge zurück nach Firnstayn zu gehen, war sie gemeinsam mit dem Baumeister Gundaher nach Albenmark gesegelt. Damals hatte sie nicht ahnen können, welche Schrecken die anderen erwarteten. Es schien so, als hätten sie die Trolle besiegt. Das war die Wahrheit! Aber die Wahrheit konnte ihre Schuldgefühle nicht auslöschen. Sie war es den Toten, die für ihren Vater und ihren Bruder Ulric gekämpft hatten, schuldig, diesen Weg zu gehen. Allein! Deshalb hatte sie Lambi nicht mitnehmen können und auch keinen anderen! Sie hatten diesen Weg schon gemacht!
Die Gedanken daran hatten den ganzen Winter über in ihr gegärt. Und als Melvyn gekommen war, hatten sie gemeinsam den Entschluss gefasst, in die Berge zu gehen.
Melvyn hatte seinen Vater Alfadas nie kennengelernt. Ihr Schicksal war sehr ähnlich.
Auch sie hatte nach dem Elfenwinter ihr wirkliches Zuhause nie wiedergesehen. Für sie war Kalf ihr Vater gewesen, der Fischer und Jäger, mit dem ihre Mutter Asla tief in den Bergen verborgen ein einsames und glückliches Leben geführt hatte.
Kadlin wusste, dass sie ihre ersten Lebensjahre im Langhaus des Herzogs und Jarls Alfadas verbracht hatte. Sie konnte sich an einen großen, schwarzen Hund erinnern.
Aber nicht an ihren Vater.
Der Tanz der Lichter wurde ruhiger. Vorsichtig drang Kadlin tiefer in die Höhle vor.
Sie stieg über die Leiber der Toten hinweg. Manche wirkten, als schliefen sie nur.
Andere pressten noch immer ihre Hände auf den Leib, als wollten ihre Schmerzen selbst im Tod nicht enden. So wie sie niedergesunken waren, waren sie auf dem Schlachtfeld erfroren. Und niemand hatte ihre Glieder mehr in eine dem Grab angemessene Ordnung rücken können.
Kadlin duckte sich unter einer Felsnase hinweg, die tief aus der Höhlendecke hinabreichte. Wieder heulte der Sturmwind auf. Flirrende Lichtpunkte strichen über verwitterten Stein. Etwas blinkte auf. Licht brach sich auf Stahl. Erschrocken fuhr die junge Königin zurück und schlug mit dem Kopf gegen die Felsnase. Vor ihr stand eine Schildwache. Aufrecht hinter einem Steinblock, der wie ein Altar wirkte. Die Hände um einen Speer geklammert. Den Blick fest auf den Höhleneingang gerichtet.
Kadlin ging in die Knie. Ohne den Wächter aus den Augen zu lassen, tastete sie über ihren Hinterkopf. Blut sickerte durch ihr langes Haar. Ihr war schwindelig. Der Krieger war tot. Sie wusste das. Und dennoch wirkte er erschreckend. Sie kannte ihn. Es war Eirik, ein Krieger aus dem Gefolge ihres Bruders. Er war streitsüchtig gewesen und hatte Ulric das Leben schwergemacht. Eirik war davon überzeugt gewesen, Ulric sei ein Widergänger. Ein aus dem Grab Auferstandener. Damit hatte er für viel Unruhe gesorgt. Und nun sah er selbst aus wie ein Widergänger. Ein einsamer Wächter, der sich von den Toten erhoben hatte. Dessen Seele keinen Weg zu den Goldenen Hallen fand.
Kadlin erhob sich und versuchte nach Kräften, den bohrenden Blick des Toten zu ignorieren. Eirik musste auf seinen Speer gestützt erfroren sein. Warum war er in der Höhle mit den Toten geblieben? Lambi hatte davon nicht erzählt.
Die Königin umrundete den Felsblock. Ihre Hände strichen gedankenverloren über den glatten Stein. Sie spürte eine feuchte, warme Berührung im Nacken. Das Blut. Sie musste sich stärker den Kopf angeschlagen haben, als sie vermutet hatte. Wieder tastete sie über ihr Haar. Es war ganz verklebt. Als sie ihre Hand zurückzog, war sie rot von halb geronnenem Blut. Ihr war ein wenig übel. Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Felsplatte. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass hier eigentlich der Leichnam ihres Vaters hätte liegen sollen. Die Leiche des Königs. Dies war der erhabenste Ort der Höhle. Und hier stand Eirik als Schildwache.
Aber der Felsblock war leer!
Kadlins Gedanken überschlugen sich. Hatten ihn vielleicht die Elfen geholt? Die anderen Leichen waren unberührt. Die Trolle hätten doch gewiss ein Festmahl mit den Toten abgehalten, wenn sie hier eingedrungen wären. Das große Grab aber schien unberührt, abgesehen davon, dass ihr Vater nicht mehr hier war.
Hatte er womöglich überlebt? Nein, das war ausgeschlossen. Zu viele hatten seinen Tod bestätigt. Und wenn Elfen hier gewesen wären, dann hätte Melvyn mit Sicherheit davon gewusst!
»Menschentochter!« Die Stimme hallte wie ein Fanfarenstoß in der Höhle. Es war eine derbe Zunge, die dieses Wort geformt hatte. Eine Zunge, die mit der Sprache der Fjordländer nur wenig vertraut war.
Kadlins Herz schlug schneller. Sie wusste, dass es keinen zweiten Weg aus der Höhle gab. Sie musste sich stel en. Entschlossen nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. Sie drückte den Rücken durch und reckte trotzig ihr Kinn vor. Dann ging sie zurück zum Eingang.
In weitem Halbkreis vor der Höhle standen acht Trolle.
Einer der acht sog geräuschvoll Luft ein. »Deine Witterung ist mir vertraut, Menschentochter.« Der Troll, der sprach, hatte eine dunkelgraue Haut mit hellen Einsprengseln. Er stützte sich auf eine schwere Kriegskeule mit einem großen Steinkopf. Reste von verharschtem Schnee klebten an seiner Haut. Kadlin blickte flüchtig zu den eingeschneiten Felsen, die ihr auf dem Weg zur Höhle aufgefallen waren. Sie waren verschwunden. Wie dumm sie gewesen war! Die Trolle hatten sie nun auf dieselbe Weise getäuscht, wie sie und Melvyn vor ein paar Tagen ihre Späher hereingelegt hatten.
»Überheblichkeit, Menschentochter, ist der erste Schritt in den Untergang. Dein Leben ist verwirkt. Du wusstest, dass du nicht hierherkommen durftest.« Die Augen des Trolls hatten die Farbe von Bernstein. Er lächelte. Oder bleckte er die Zähne wie ein Raubtier? Er sah furchterregend aus. Und er war mehr als einen Schritt größer als sie. Muskelstränge, dick wie Ankertaue, spannten sich an seinem Arm, als er die Kriegskeule hob.
»Du hast Mut, Menschentochter. Wenn du gut kämpfst und gut stirbst, werde ich meine Krieger nicht in dein Dorf führen. Meine Männer glauben, ihr Menschenkinder hättet den Respekt vor uns verloren. Sie wollen ins Fjordland einfallen und ein paar Dörfer und Städte niederbrennen. Ich werde es ihnen erlauben, wenn du mich enttäuschst.«
Kadlin schloss die Augen und atmete schwer aus. Al es war so gekommen, wie Lambi es ihr vorhergesagt hatte. Sie hätte nicht hierherkommen dürfen! Ein dumpfer Schmerz strahlte von der Wunde an ihrem Hinterkopf. Sie kniete nieder.
Der Troll sah sie verwundert an. Er hob die Keule, wie ein Scharfrichter auf dem Henkersplatz sein Schwert gehoben hätte.
Kadlin griff in den Schnee. Sie rieb eine Handvoll Schnee ins Haar. Die Kälte tat gut.
Das Pochen der Wunde ließ ein wenig nach.
»Kannst du kämpfen?«
Sie nickte dem Troll zu. Etwas regte sich in ihrem Bauch. Deutlich spürte sie einen Fußtritt. Ein dicker Kloß stieg ihr in den Hals. Sie würde ihr Kind ermorden! Und wofür? Für einen Toten!
Kadlin erhob sich. Sie hatte immer noch weiche Knie. Sie spannte ihre Muskeln und versuchte sich an all die Dinge zu erinnern, die Silwyna ihr einst beigebracht hatte.
Silwyna, die Elfe, die so oft in das verborgene Tal gekommen war, in dem Kadlin ihre Kindheit verbracht hatte.
Wortlos zog die Königin ihr Schwert und hob es zum Fechtergruß.
Der Troll knurrte etwas, das sie nicht verstand. Dann ließ er die riesige Kriegskeule in weitem Kreis über seinem Kopf wirbeln und griff an. Er unterschätzte sie!
Sie stürmte vor und unterlief die wuchtige Waffe. Auch ihr blieb nicht der Platz, um auszuholen. Sie versuchte ihm in den Unterbauch zu stechen, doch der Hüne reagierte mit einem überraschend flinken Schritt zur Seite, so dass ihre Klinge ins Leere stieß.
Kadlin ahnte, was kommen würde, und warf sich flach in den Schnee.
Keinen Augenblick zu spät! Die riesige Keule sauste in einem Rückhandschlag nieder und verfehlte sie nur um wenige Fingerbreit.
Die Königin rollte sich auf die Seite und sprang auf die Beine.
Der Troll bleckte erneut die Zähne zu einem Lächeln. »Nicht schlecht, Menschentochter. Wenn du es schaffst, ein wenig von meinem Blut zu vergießen, bevor du stirbst, dann hast du die Deinen vor einem Kriegszug bewahrt.«
Kadlin war noch immer benommen. Helle Lichtpunkte tanzten ihr vor den Augen.
Fieberhaft überlegte sie, wie ein so übermächtiger Gegner zu besiegen war. Ein wenig Blut zu vergießen, war ihr nicht genug! Sie wollte ihn töten. Ihr Bruder Ulric hatte einen Troll getötet, als er noch ein Kind gewesen war. Ihr Vater hatte während der Schlachten des Elfenwinters ebenfalls mehrere Trolle erschlagen. Sie würde die Familientradition fortsetzen. Ihre Klinge sollte diesen stinkenden Fleischberg an dessen eigene Lektion zur Überheblichkeit erinnern!
Der Troll hielt seine Keule diesmal flacher. Er ließ sie in langsam pendelnder Bewegung hin und her schwingen. Die Waffe schnitt mit einem satten Zischen durch die Luft. Er kam langsam auf sie zu. Er war wie eine Lawine. Eine Naturgewalt. Selbst ohne Keule könnte er sie mit bloßen Fäusten zerschmettern.
Kadlin atmete aus, so wie Silwyna es sie einst gelehrt hatte, als sie auf Wolfspirsch waren. Und mit dem Atem zugleich floss die Angst aus ihr.
Sie täuschte einen Stich an, der auf den rechten OberSchenkel des Trolls zielte, und die pendelnde Waffe ihres Gegners geriet aus ihrem Rhythmus. Kadlin änderte die Schlagrichtung, wirbelte um den Hünen herum und versuchte ihn mit einem Rückhandhieb zu treffen. Klirrend schlug Stahl auf steinhartes Holz. Wie hatte der Bastard es geschafft, so schnell zu reagieren? Wer war das, gegen den sie da antrat?
Mit drei Schritten zurück vergrößerte sie rasch den Abstand zu der Keule. Der Troll setzte ihr nicht nach. Sein Blick war einschüchternd siegesgewiss.
»Wie heißt du? Wenn ich ein Duell austrage, weiß ich ganz gerne den Namen desjenigen, den ich zu seinen Ahnen schicke.«
»Das ist nicht dein erstes Duell? Dann hast du wenig gelernt.«
»Es wird reichen, um dir deine Raubtierschnauze einzuschlagen!«
Ihr Gegner lachte laut auf, und seine Kumpane fielen in das Gelächter mit ein. Die übrigen Trolle hatten inzwischen einen weiten Kreis um sie beide gebildet. Jede Flucht war unmöglich!
»Du kommst mit ausgestrecktem Schwertarm kaum bis zu meinem Kinn, Menschentochter. Ich fürchte, es wird dir schwerfallen, deine Drohung wahrzumachen.« Wieder lachte er. »Und mein Name ist Orgrim, Kind. Ich nenne ihn dir, damit du ihn deinen Ahnen sagen kannst, wenn du ihnen in den Goldenen Hallen begegnest.«
Orgrim! Sie hatte schon oft vom Herzog der Nachtzinne gehört. Kadlin war überrascht, wie gut der Troll sich auskannte. Er wusste, woran sie glaubte! Sie hingegen hatte keine Ahnung, welche Reise ein Troll nach seinem Tod antreten würde.
Der Herzog stieß einen Schlachtruf aus, der ihr durch die Glieder fuhr. Gleichzeitig stürmte er vor, als wolle er sie einfach niederrennen. Sie machte einen Hechtsprung zur Seite. Er wechselte seine Angriffsrichtung, und wäh rend sie noch versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, versetzte er ihr einen Fußtritt.
Ihre Reaktion kam zu langsam! Er traf sie zwar nicht mitten im Leib, aber doch an der Schulter. Sie wurde herumgerissen und ein paar Schritt weit durch die Luft gewirbelt.
Der Schnee dämpfte ihren Aufprall. Ihr Mund war voller Blut. Sie hatte sich die Unterlippe durchgebissen. Taumelnd kam sie hoch. Ihre linke Schulter war taub. Ihre Schwerthand zitterte. Breitbeinig stellte sie sich dem Troll in den Weg, als sich ein sengender Schmerz in ihren Rücken bohrte und sie von den Beinen gerissen wurde.
Skanga saß an einer Feuergrube in einem der großen Koboldpaläste Feylanvieks. Auf ihren Befehl hin war der Boden aus Rosenholz entfernt worden, damit man eine Grube für eine Feuerstelle ausheben konnte. Das Haus lag nahe am Kanal und war nicht unterkellert.
Sie streckte die Hände dem Feuer entgegen und genoss die Wärme. Sie sehnte sich nach ihrer Höhle in den Bergen der Snaiwamark zurück. Und sie wusste, dass sie zu Burg Elfenlicht zurückkehren musste. Sie durfte den jungen König Gilmarak nicht zu lange den Schmeichlern und Ohrenbläsern bei Hof überlassen. Sie würden ihm schaden.
Skanga hob den Beutel mit den alten Knochen auf, der neben ihr lag. Ein halbes Leben lang hatte sie diese Knochen gesammelt. Sie alle waren einzigartig. Eine Rippe des Menschenkönigs Horsa, ein Fingerknochen aus einer früheren Fleischwerdung Herzog Orgrims, die Kralle eines Drachen, der gerade erst aus dem Ei geschlüpft war, als ihn sein Schicksal ereilte, ein Knochen einer Kreatur, die vor langer Zeit ans Ufer der Walbucht gespült worden war und für die niemand einen Namen gehabt hatte. Ein halbes Schienbein der Elfe Aileen, die einst die Geliebte des Helden Farodin gewesen und die von dem Trollherzog Dolgrim erschlagen worden war. Der Schädel eines Hasen, der so unglaublich köstlich gewesen war, dass sie sich bis ans Ende aller Tage an ihn erinnern würde.
Jedem der Knochen in dem schmutzigen, alten Lederbeutel wohnte Magie inne. Magie, die sie durch Runen noch verstärkt hatte. Wer diese Knochen warf und die Zeichen richtig zu deuten wusste, für den teilte sich der Schleier der Zukunft. Dies war ihre eigene Magie, dachte Skanga. Sie war stark. Und sie traute ihr, ganz im Gegensatz zu der Silberschale im Thronsaal von Burg Elfenlicht, die Emerel e so oft um Rat befragt hatte.
Die Schamanin schüttelte den Knochenbeutel und lauschte auf das dumpfe Klappern.
Sie konnte am Geräusch der Knochen erkennen, wann der Augenblick gekommen war, sie auszuschütten.
Birga saß neben ihr. Sie sah argwöhnisch zu. Sie konnte den Neid und die Missgunst ihrer Schülerin spüren, auch ohne sie zu sehen. Sie wollte diesen Knochenbeutel.
Wollte die Macht, die er barg. Skanga hatte ihr noch nicht erzählt, dass jede Schamanin ihre Knochen selbst sammeln musste. Einen fremden Knochenbeutel an sich zu bringen, half gar nichts. Selbst Emerelle würde daran scheitern, würde sie versuchen, die Macht von Skangas Knochenbeutel zu stehlen.
Emerelle ... Die Elfe hatte ihren Thron verloren, und doch gab es immer noch keinen Frieden. Skanga war fest entschlossen, sie für das Blutbad im Gerichtssaal zu strafen.
Diesmal war das Leben der Elfe verwirkt. Wann würde sie diese falsche Schlange endlich gefangen nehmen, um ihr das Genick zu brechen? Skanga ergab sich ganz diesen Gedanken. Wann?
Klappernd fielen die Knochen auf den gestampften Boden neben der Feuergrube. Ein mattes, honigfarbenes Leuchten ging von ihnen aus. Die Runen leuchteten in hellerem, fast weißem Licht. Freilich vermochten dies nur die Augen einer Blinden zu sehen. Die Sehenden hingegen waren blind für die verwickelten magischen Muster, die sich zwischen den Knochen spannten.
Skanga erkannte auf den ersten Blick, dass die Knochen nichts Gutes verhießen. Sie ließ sich Zeit, die Abgründe des Orakels zu ergründen. Lange betrachtete sie die Muster, die sich aus den übereinanderliegenden Knochen geformt hatten. Mehrfach wechselte sie ihren Sitzplatz, um das Orakel aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Der Hasenschädel lag falsch herum. Die Stelle, an der die Wirbelsäule in den Schädel getreten war, starrte sie an wie ein dunkles Auge. Das war ein schlechtes Omen!
Die Magie der Knochen erstrahlte in hellem Glanz. Sie sprachen voller Macht. Ein zweiter Wurf war nicht notwendig. Sie würde sterben, wenn sie Emerelle mit Gewalt zu sich bringen ließ.
Skanga hatte keine Angst vor den Tod. An langen Wintertagen, wenn die Kälte sich in ihren Knochen eingenistet hatte wie unter den Dachtraufen, von denen eisige Zähne hingen, dann hatte der Gedanke ans Sterben etwas Verlockendes. Aber sie konnte nicht fort. Nicht jetzt schon. Ihr Volk brauchte sie, der junge König. Alles, was sie gewonnen hatten, wofür so unendlich viel Blut gezahlt worden war, würde vergehen, wenn sie nicht hinter dem Thron stand und wachte.
Emerelle verhöhnte sie. Nichts anderes hatten diese Morde zu bedeuten. Sie maßte sich an, noch immer darüber zu entscheiden, was Recht und was Unrecht war. Sie hatte den Thron verloren, aber sie hatte nicht aufgehört, Königin zu sein. Wie gern hätte sie diese eingebildete, blutlüsterne Elfe in der Hand gehabt. Sie waren ihr so nah. Skanga konnte es deutlich spüren. Die Schamanin wusste nicht, welche ihrer Kopfgeldjäger die Königin aufgespürt hatten ... Aber sie wusste, sie würde nur die Hand ausstrecken müssen, dann hätte sie Emerelle.
Skanga wechselte noch einmal den Sitzplatz und betrachtete eingehend das Muster der Knochen. Ganz gleich, wie man es betrachtete, das Orakel sagte immer dasselbe. Sie, Skanga, würde sterben, wenn sie Emerelle vor sich bringen ließ. Wie das geschehen würde, war nicht zu erkennen. Sie dachte daran, was die Silberschüssel im Thronsaal ihr gezeigt hatte. Passte es zusammen? Log eines der Orakel?
Das Schicksal war ungerecht! Skanga dachte an den Ratssaal. Daran, was Emerelle und Ollowain dort getan hatten. Und doch hielt man ihr Volk für grausam und die Elfen für feinsinnige Künstler. Es war müßig, daran etwas ändern zu wollen.
Die Schamanin massierte ihre Stirn. Dicht über der Nasenwurzel. Sie musste klar denken. Ohne Zorn! Emerelle hatte ihr den Fehdehandschuh hingeworfen. Und sie würde ihn aufheben. Gharub war ein grausamer Willkürherrscher gewesen, umgeben von schlechten Beratern. Das hatte ihn das Leben gekostet. So etwas würde nicht wieder geschehen. Sie würden ein Gesetzbuch erschaffen. Einfach und klar! Zehn Seiten sollte es nur umfassen. Die Strafen würden hart sein. Blutstrafen, wo es angemessen war. Und alle würden vor diesem Gesetz gleich sein, ganz so, wie Elija und seine Rotmützen es forderten.
Zehn Seiten, die jeder Troll, der herrschen wollte, kennen musste. Zehn Seiten konnte jeder erlernen. Skanga wusste, dass die gegenwärtigen Gesetze ganze Bücherzimmer füllten. Damit sollte Schluss sein. Das war überflüssig. Das alte Recht war wie Verstopfung. Es machte Schwafelköpfe reich und verschleierte alles.
»Was sagt das Orakel?«, fragte Birga, die nicht länger an sich halten konnte.
»Dass wir noch heute Nacht nach Burg Elfenlicht zu rückkehren werden. Kümmere dich darum, dass alle Jäger, die wir nach den Mördern ausgeschickt haben, zurückgerufen werden!«
»Aber wir können sie doch nicht laufen lassen!«
»Glaubst du, dass es dir zusteht, mir zu sagen, was ich kann und was nicht?«
»Nein, Herrin ... Aber bitte, verrate mir, was haben die Knochen gesagt? Was ist so eilig zu tun?«
»Wir müssen ein gutes Abführmittel ersinnen. Wir werden auf Tausende Bücher scheißen!«
Skanga genoss es, das bunte Farbenspiel in Birgas Aura zu betrachten. Verwirrung und Zorn waren ihre stärksten Gefühle, daneben ein Hauch unterwürfiger Bewunderung und Stolz. Sie war ein seltsames Geschöpf. Nützlich, nicht ohne Begabung. Nur ohne Geduld. Das würde ihr noch zum Verhängnis werden, wenn sie nicht lernte, sich Zügel anzulegen. Eine gute Schamanin musste warten können. Und sie musste die Welt aus vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachten können. Skanga hatte davon geträumt, Emerelle gefangen nehmen zu lassen. Auf Burg Elfenlicht hatte sie der Königin zwar versprochen, sie ziehen zu lassen, aber sie war sich schon damals sicher gewesen, dass Emerelle ihr einen Vorwand liefern würde, ihr Wort zu brechen.
Skanga hatte sich ausgemalt, wie die gefallene Königin, in Ketten geschlagen, neben dem Thron kauerte. All ihres Glanzes beraubt. Bis zum nächsten Fest der Lichter hätte sie dort gehockt. Ihr Mahl wären die Abfälle von Trollen gewesen, Spott ihr tägliches Brot. Schläge und Tritte. Ja, sie hätte Emerelle gebrochen, ganz sicher! Und zuletzt hätte man sie zum Fest der Lichter nach Vahan Calyd gebracht, um sie vor den Augen aller Fürsten Albenmarks hinzurichten. Nicht mit dem Schwert ... Es wäre ein schmutziger, unspektakulärer Tod geworden. Sie hätte sie langsam mit einem Strick erdrosseln lassen.
All diese Träume von später Rache waren nun dahin! Sie durfte Emerelle also nicht begegnen ... Das war auch nicht notwendig, um ihr den Tod zu bringen. Zunächst mussten alle Jäger zurückkehren. Emerelle durfte keinen Verdacht schöpfen. Sie würde ihr einen Mörder schicken. Aber wer wäre ihr gewachsen, der mächtigsten Zauberin Albenmarks? Und wer hätte den Mut, ihr nach dem Leben zu trachten?
Der schmale Spalt des Himmels füllte sich mit stürzenden Steinen. Die Zeit schien in diesem Augenblick langsamer zu fließen. Überdeutlich sah Falrach, wie die Felsbrocken sich im Sturz drehten. Tanzende Steine. Baldiger Tod. Staub und Sand, der sie wie ein zarter Schleier umgab und mit ihnen fiel.
»Hoch!« Nur ein Wort voll kaum beherrschtem Zorn. Emerelle stieß sich vom Felsen ab. Sie schnellte den stürzenden Felsen entgegen. Und sein Körper tat es ihr nach.
Falrach fühlte sich wie ein Träumer. Als beobachtete er sich selbst von Ferne.
Ollowains Erinnerungen waren erloschen. Sein Leben ausgelöscht ... Aber es gab noch eine andere Form des Erinnerns. Seine Muskeln, Sehnen, Nerven hatten all die endlosen Stunden des Übens nicht vergessen. Sie gehörten Olowain. In ihnen war er noch lebendig. Und sie taten, wozu er in seinem entsetzten Staunen nicht fähig war.
Er machte einen Sprung mit der Eleganz des geübten Fechters. Nur seine Fußspitzen berührten den Fels. Sie stießen ihn ab, trugen seinen Leib höher. Die Enge der Klamm rettete ihn. Er sprang von Wand zu Wand, jeweils einen halben Schritt höher. In atemberaubendem Tempo.
Gleichzeitig bog sich sein Leib nach hinten, zur Seite. Fort von den stürzenden Felsen.
Höher und höher. Dem Himmel entgegen.
Emerelle war ihm immer ein Stück voraus. Sie bewegte sich mit derselben Geschicklichkeit wie er. Sie war wie einst. Jene Kämpferin, die die Drachen herausgefordert hatte. Die zu ihm gekommen war und die kein Wort über Wahrscheinlichkeiten hatte hören wollen.
Wie wahrscheinlich war es, aus einer Schlucht zu entkommen, die unter herabstürzenden Felsmassen begraben wurde? Emerelle interessierte sich nicht für Mathematik. Sie handelte. Und ihre Taten verhöhnten jede Wahrschein-lichkeitsrechnung. So wie jetzt.
Er stieß sich ein letztes Mal vom Felsen ab. Dann kam er auf der Kante der Klippe zum Stehen. Dicht neben Emerelle. Die Kobolde waren entsetzt vor ihnen zurückgewichen.
Einige warfen sich zu Boden und falteten, um Gnade wimmernd, die Hände über dem Kopf.
Nur Oblon blieb stehen.
»Die Ältesten haben also entschieden, uns zu töten«, sagte Emerelle, als das Getöse der stürzenden Felsen verklungen war.
»Nicht die Ältesten. Nicht sie entscheiden. Ich, Oblon, Bewahrer der Ahnen, Stimme der Toten, Wanderer an verbotenen Orten, führe mein Volk. Ich habe diese Entscheidung getroffen. Mir allein gebührt die Strafe. Ich bin bereit.«
»Warum? Was haben wir dir und deinem Volk getan?«
»Ihr habt uns den Trollen ausgeliefert und dem Hunger. Sie waren dort. Und sie haben ihren Tribut nicht erhalten. Sie werden nun das Gewicht von zehn Trollen in Mais fordern. Wir hatten keine gute Ernte. Wenn wir diesen Tribut entrichten, dann werden wir hungern. Nicht alle Alten und Kinder werden die nächste Ernte erleben. Ich wollte euer Fleisch als Ersatz für den verlorenen Mais. Ich habe geschworen, mein Volk zu schützen. Nun richtet mich.«
»Dein Fleisch wird wohl kaum ausreichen, um dein Volk durch die Hungermonde zu bringen«, entgegnete Emerelle ruhig. »Welchen Nutzen also hätte dein Tod?«
Es war das erste Mal, seit sie ihm begegnet waren, dass Oblon sprachlos war. Er starrte sie an. Den Mund leicht geöffnet.
»Was siehst du in mir«, fragte sie herausfordernd und ging langsam auf den Kobold zu. »Einen Fleischvorrat für die Trockenzeit? Einen Geist, aus der Luft geboren? Deine Mörderin? Was bin ich?«
Oblon wich nicht vor ihr zurück. Falrach hatte Respekt vor dem Mut des Kleinen. In Albenmark gab es nur wenige, die sich vor dem Zorn Emerelles nicht duckten.
»Es liegt bei mir, was du bist.« Jetzt vermochte Oblon Emerelle nicht mehr in die Augen zu sehen.
»Wähle!«
Kadlin wurde in steilem Bogen in den Himmel gerissen. Sie schrie vor Entsetzen, während der sichere Boden unter ihren Füßen sich immer weiter entfernte. Langsam gelang es ihr, die Panik niederzukämpfen. Es war der Boden, den sie jeden Augenblick mit ihrem Blut durchtränkt hätte.
Ein riesiger Raubvogel hatte sie gepackt und trug sie davon. Und er war nicht gerade zimperlich mit ihr umgesprungen. Seine Krallen hatten sich durch ihre dick gefütterte Lederkleidung in ihre Schulter und Brust gebohrt. Nicht tief. Aber tief genug, um eine Weile eine unangenehme Erinnerung an diese Begegnung zu behalten. Sie dachte an das Rentier, das sie im Schnee gesehen hatten. Jetzt begriff sie, warum keine Fährte des Tiers in das Schneefeld geführt hatte.
Würde sie genauso enden? Ein blutiger Kadaver auf einem Schneefeld?
Der Vogel schwenkte nach links und hielt auf einen Bergkamm zu. Zwischen den Felsen entdeckte sie Melvyn. Ihr Bruder wirkte durch den Anblick des Vogels nicht im Mindesten beunruhigt.
Kadlin landete unsanft im Schnee, als der Adler unvermittelt seine Krallen öffnete.
Melvyn war sofort an ihrer Seite. »Bist du verletzt?«
»Zählt auch verletzter Stolz?«
Er zwinkerte ihr zu. »Ein schwieriger Fall. Er heilt entweder schnell oder nie.«
Sie sah hinab zu der Insel inmitten des gefrorenen Sees. Die Trolle waren nun mindestens eine Meile entfernt. Sie machten keine Anstalten, ihnen zu folgen. Noch nicht.
Der Adler drehte noch eine weitere Runde am Himmel, dann schwenkte er nach Osten ab. Langsam begann Kadlin zu begreifen. »Er war schon die ganze Zeit in unserer Nähe, nicht wahr?«
Melvyn bedachte sie mit seinem unverschämten Grinsen. »Es ist immer gut, noch eine Überraschung auf Lager zu haben.«
Kadlin war wütend. Er hätte ihr das sagen müssen! Immer wieder hatte sie in den letzten Tagen darüber gebrütet, wie das tote Rentier auf das Schneefeld gekommen war und welcher neue Schrecken wohl in die Berge ihrer Heimat gekommen sein mochte.
»Ich habe auch eine Überraschung für dich. Ich gehe wieder hinunter zu den Trollen!«
Das Lächeln verschwand. »Das ist nicht dein Ernst. Die werden dich in Stücke schneiden und dich dann den Aasfressern überlassen, denn das Fleisch von Verrückten rühren sie nicht an.«
»Gut zu wissen, dass mir wenigstens das erspart bleibt!«
Er packte sie. »Komm zur Vernunft! Denk an dein Kind! Du darfst ... «
Sie war bei Vernunft. Behutsam legte sie die Rechte auf ihren Bauch. Das Kind verhielt sich völlig ruhig, als habe es sich zusammengerollt, um sich in ihr möglichst klein zu machen. Ihre Stimme war rau und belegt, als sie antwortete. »Ich bin bei Vernunft.
Endlich wieder! Ich hätte nicht mit dir hierherkommen dürfen. Und nun tue ich, was meine erste Pflicht als Königin ist. Ich schütze mein Volk!«
Melvyn ließ sie los. »Dann gehen wir zusammen.«
Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Das ist dumm. Lass mich allein gehen!«
»Ich wäre ein verdammt übler großer Bruder, wenn ich tatenlos zusehen würde, wie sich meine kleine Schwester mit ein paar Kerlen herumschlägt, die fast doppelt so groß sind wie sie.«
»Du schuldest mir nichts. Wir kennen uns erst ein paar Tage!«
»Du kommst doch nicht einmal allein ins Tal hinab.« Sein Tonfall hatte sich geändert.
Nie in den paar Tagen, die sie sich kannten, hatte er so ernst geklungen. »Wolkentaucher hat dir ganz schön zugesetzt. Dein Kopf ist eingeschlagen. Du bist schwanger. Und du siehst so aus, als würdest du gleich dein Frühstück in den Schnee spucken. Da werde ich dich doch nicht alleine gehen lassen. Außerdem wird Wolkentaucher mir helfen, wenn ich in Gefahr gerate. Dich hingegen wird er bestimmt nicht noch einmal retten.«
»Wir ziehen also zu dritt gegen acht Trolle. Das hört sich so an, als gäbe es heute Abend ein Festessen mit Riesenhuhn als erstem Gang.«
Melvyn blickte zu dem großen Adler. Er saß unbeweglich auf dem Felsblock, auf dem er sich niedergelassen hatte. »Du solltest so nicht von ihm reden. Er ist empfindlich. Weißt du, unter seinesgleichen ist er ein Fürst!«
»Er versteht meine Sprache?« »Nein, aber deine Gedanken.«
Jetzt drehte Kadlin sich nach dem Adler um. Die schwarzen Augen des Greifvogels durchbohrten sie. Ein beleidigter Adler, ein Troll, der ein Duell mit ihr austragen wollte. Das war ein verrückter Traum. Das konnte nicht die Wirklichkeit sein!
Bei jedem Atemzug schmerzten die Wunden von den Adlerkrallen. Ihr Kopf dröhnte wie eine Kesselpauke. Nein, das war kein Traum. Das war Luths Spiel. Der Schicksals-weber mochte es, wenn man in seinen Fäden zappelte.
Melvyn hakte sich bei ihr unter. Schweigend stiegen sie den Hang hinab. Nie hatte sie sich ihrem Bruder näher gefühlt. Er machte keine leeren Worte. Er würde für sie kämpfen. Sie wollte das nicht. Zugleich fühlte sie sich behütet. So hatte sie nicht mehr empfunden, seit Kalf und Björn gestorben waren. Ermordet durch Trolle. Auch ihr Bruder Ulric war im Kampf gegen Trolle gefallen. Das schien Familientradition zu werden.
Orgrim und sein Gefolge warteten vor der Grabhöhle. Der Herzog der Nachtzinne hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Vor ihm lag ihr Schwert im Schnee.
»Gilt unsere Vereinbarung noch?«, fragte sie mit fester Stimme.
»Hör nicht auf sie«, mischte sich Melvyn ein. »Ich bin ihr großer Bruder, und ich finde, dieser Streit sollte unter Männern ausgetragen werden.«
Einer der Trolle sagte etwas, bevor Kadlin ihrem Bruder über den Mund fahren konnte.
»Du bist also Silberkralle.« Der Herzog musterte ihren Bruder abschätzend. »Du bist weit fort von deinen Jagdgründen. Meine Brüder in der Snaiwamark erzählen viele Geschichten über dich.«
»Lass meine kleine Schwester ziehen. Wir kämpfen, und vielleicht wird man bald eine neue, ruhmreiche Geschichte über dich erzählen, Herzog.«
Der Trollfürst schien geneigt, das Angebot ihres Bruders anzunehmen.
»Ich gehe nicht ohne mein Schwert«, sagte Kadlin.
Melvyn lachte auf. »Jawohl, kleine Schwester! Wie du befiehlst, Königin!« Er bückte sich, um die Klinge aufzuheben.
Kadlin zog ihren Dolch. Einen Herzschlag lang begegnete ihr Blick dem des Trollfürsten, und sie glaubte Zustimmung in seinen Augen zu lesen. Sie hatte von Orgrim gehört. Viele hielten ihn für einen Ehrenmann. Der Baumeister Gundaher hatte ein Buch mit Gedichten aus den Gemächern des Fürsten gestohlen. Und wie es schien, hatte Orgrim selbst sie verfasst. Er war anders als andere Trolle. Er würde Melvyn nichts tun. Das sah sie in seinen gelben Augen!
Mit aller Kraft schlug sie Melvyn den Dolchknauf in den Nacken. Ihr Bruder sackte ohne einen Laut in sich zusammen. Sie nahm ihm das Schwert aus der Hand.
»Niemand trägt meine Kämpfe für mich aus!«
Orgrim wirkte amüsiert. »Menschenkinder ...«
»Gilt unser Pakt noch?«
Er nickte.
»Und ihn ... Lasst ihn ziehen. Ich habe ihn dazu überredet, hierherzukommen. Es ist allein meine Schuld.«
Der Herzog lachte auf. »Ich habe das Gefühl, er würde umgekehrt dasselbe behaupten, wenn er noch auf den Beinen stünde.«
»Du wirst ihn ziehen lassen!«, beharrte Kadlin.
»Du bist nicht meine Königin.« Er blickte auf ihren Bruder hinab. »Silberkralle ist ein ungewöhnliches Stück Fleisch. Ich habe so etwas noch nie gegessen. Halb Mensch, halb Elf. Jeder Geschmack für sich ist mir wohlvertraut. Aber diese Mischung ... « Seine schwere, dunkle Zunge leckte über die Lippen. »Wir werden sein Fleisch einsalzen, um es haltbar zu machen. Er ist etwas für eine Festtafel.«
»Du hast es mir versprochen!«
Wieder lachte er. »Wann?«
»Mit deinen Augen.«
»Ich fürchte, da hast du dich geirrt.«
Mit einem Wutschrei stürmte sie auf ihn los. Ihre Klinge verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Er war wie ein Aal, der verdammte, stinkende Mistkerl. Sie wirbelte herum, täuschte einen Angriff an, wechselte die Stoßrichtung.
Plötzlich sauste seine Faust nieder. Kadlin duckte sich. Orgrims Knie zuckte vor. Er hatte kaum Kraft in den Stoß gelegt und stürzte sie rücklings in den Schnee. Er stellte seinen Fuß auf ihre Brust und hob die Keule.
»Diesmal wird dich kein Adler retten!« Die schwere Waffe sauste hinab.
Kadlin kniff die Augen zu.
Mit dumpfem Schlag prallte der steinerne Keulenkopf neben ihr in den festgestampften Schnee. Sie schluckte. Langsam öffnete sie die Augen wieder. »Ich erkläre dich hiermit für tot, Menschentochter. Ich erwarte von dir, dass du dich künftig wie eine Tote verhalten wirst. Du wirst nie wieder deinen Fuß auf mein Land setzen.
Und du wirst nie wieder eine Waffe gegen einen Troll erheben. Wenn du mir das schwörst, werde ich dich und deinen Bruder ziehen lassen. Wenn du diesen Eid aber brichst, dann werde ich mit meinen Heerscharen über das Fjordland hereinbrechen, und all deine Götter werden uns nicht aufhalten können. Wir werden deine Heimat von Firnstayn bis nach Gonthabu plündern und brandschatzen. Hast du das verstanden, Menschentochter?«
»Ja«, brachte sie kleinlaut hervor.
»Schwörst du, dass du von nun an wie eine Tote sein wirst?«
»Ich schwöre es«, stieß sie hervor.
Er hob seine Keule an und trat einen Schritt zurück.
»Warum?«, fragte sie kleinlaut.
»Die Elfen haben meine Weiber und meine Welpen bei lebendigem Leib verbrannt.
Aber mich nennen sie einen Barbaren, ein wildes Tier. Du trägst einen Welpen in dir, Königin. Ich weiß es von Skanga. Er hat sich seine Mutter nicht aussuchen können. Um seinetwillen lasse ich dich ziehen. Uns Trollen käme es niemals in den Sinn, ein trächtiges Weib in einen Kampf ziehen zu lassen. Aber wir sind ja nur stinkende Barbaren.« Er spuckte neben ihr in den Schnee. »Hast du etwas gelernt, Menschentochter?« »Ja.«
»Bring es deinem Welpen bei, wenn du ihn geworfen hast. Gehe zu deinem Thron zurück und erzähle es den anderen Menschenkindern. Nördlich des Sees, den Skanga zur Grenze bestimmt hat, leben blutrünstige Wilde. Dich und deinen Bruder lasse ich ziehen, damit ihr meine Boten seid. Dieses Mal habe ich Gnade walten lassen. Ein zweites Mal wird das nicht geschehen. Und nun geh!«
»Für mich bist du das Weib, das mein Volk von den Trollen befreien wird.«
Auf dem Rand der Klippe herrschte Stille. Das letzte Grollen der hinabgestürzten Felsen war verklungen. Staub hing in der Luft, verklebte die Nasen und legte sich mit bitterem Geschmack in den Mund.
»Ich war im Zweifel, ob du sehr dumm bist oder sehr mutig«, sagte Emerelle leise.
»Jetzt weiß ich es.« Sie lächelte verhalten. »Bring uns in dein Dorf. Ich bin durstig. Und wage es nicht, uns in euren Vorratskammern einzuquartieren.«
Falrach war erleichtert. Sein Körper hatte Ollowain wieder vergessen. Mit dem Lächeln der Königin waren alle Anspannung und zugleich auch alle Kraft gewichen. Er ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder. Deutlich spürte er die Hitze des Steins durch seine Hosen.
Einige der Kobolde wagten aufzublicken. Sie schienen dem Frieden noch nicht zu trauen. Lag es daran, dass sie sich vor Emerelle fürchteten, oder daran, dass sie ihren Schamanen nur zu gut kannten?
Oblon klatschte in die Hände. »Aufstehen, ihr feige Bande! Was sollen die beiden Riesen von uns denken? Bisher waren die Trolle ihr größter Schrecken, aber ihr seid sehr viel eindrucksvoller. Ich hoffe, ihr seid nicht nachtragend. Es hatte wirklich nichts mit euch zu tun! Es ging einfach nur um ... um Essen!«
Falrach versuchte Emerelles Blick einzufangen. Die Königin lächelte noch immer. Was würde er jetzt für ihre Gedanken geben!
Oblon machte sich auf den Weg. Er führte sie auf einem gewundenen Pfad durch die Felslandschaft. Kaum eine halbe Stunde dauerte es, bis sie ein Tal erreichten, durch das ein kaum knöcheltiefer Bach rann.
Falrach musste all seine Beherrschung aufbieten, um sich nicht mit dem Gesicht voran ins Wasser zu werfen. Seine Zunge lag wie ein Stück Dörrfleisch in seinem Mund. Er hatte das Gefühl, dass sie angeschwollen war. Seine Lippen waren aufgeplatzt.
Er versuchte, nicht auf das Wasser zu sehen. Versuchte, das leise Plätschern des Wassers zu überhören. Wann kam wohl jemand, um ihm Wasser anzubieten?
Verdammte Koboldbande!
Nahe dem Bach wuchsen einige grüne Grasbüschel. Auf einigen abgeernteten Maisfeldern standen nur noch kümmerliche Strünke. Die Felder waren verlassen.
Auf einem Hügel, von einem niedrigen Dornenwall umgeben, erhoben sich halbrunde Lehmhütten. Sie erinnerten ein wenig an Eier, die dicht an dicht in einem Gelege lagen.
Eine dünne Rauchfahne stieg zwischen den Hütten auf. Aber auch dort war niemand zu sehen.
Sie kamen an Kakteen mit vernarbter, grüner Haut vorbei. Es schien, dass sie regelmäßig beschnitten wurden. Ob sie hier ihr Pfeilgift gewannen? Ein schwerer, süßlicher Geruch ging von ihnen aus.
Nur noch bis zum Hügel, dachte Falrach. Er heftete den Blick fest auf die Hütten.
Hinter ihnen erklang ein auf- und abschwellendes Hornsignal. Dennoch zeigte sich niemand außer der Eskorte aus Kobolden, die sie von der Klamm mitgebracht hatten.
Einige ihrer Begleiter eilten voraus und öffneten einen Durchlass in der Hecke. Das Bollwerk war fast einen Schritt dick und reichte Falrach bis zur Brust. Dornen, lang wie Koboldfinger, wucherten auf dem dürren Geäst.
Wieder erscholl das Hornsignal. Oblon lief voraus in die Siedlung. »Sie sind Freunde!
Kommt heraus. Sie werden für uns kämpfen!«
Das werden wir nicht, erklang Emerelles Stimme, tief in ihm. Ich bin es müde zu kämpfen.
Wir rasten hier ein paar Tage. Dann ziehen wir weiter.
»Seht, unsere Retter. Die Alben haben uns endlich erhört. Sie haben uns Riesen geschickt!«
Ein kleiner Junge mit kahlem Schädel steckte den Kopf aus seiner Hütte. Mit weiten Augen blickte er zu Falrach auf und zog sich sogleich mit einem erschrockenen Laut zurück.
Dann teilte sich der Vorhang aus Steinperlen am Eingang, und eine Koboldfrau trat heraus. Die Hände in die Hüften gestemmt, wollte sie ihm ganz offensichtlich den Zutritt verweigern. Die Entschlossenheit, mit der sie zu ihm aufblickte, ließ keinen Zweifel aufkommen.
Sie war so mager, dass ihr Kopf an einen mit Leder bespannten Totenschädel erinnerte.
Von der Unterlippe bis zum Kinn zog sich ein Muster aus dunklen Flecken. Ihr strähniges Haar war hochgesteckt und von einer trockenen, mattroten Paste verklebt.
Falrach hatte lange niemanden mehr gesehen, der so mager war wie diese Frau. Jeder Appetit war ihm vergangen. Hier würde er nur trinken. Essen könnte er keines annehmen.
Emerelle streckte sich im kühlen Wasser. Ein Stück oberhalb des Dorfes hatte sie eine Stelle gefunden, wo das Bachbett eine tiefe Senke in den harten Granit geschliffen hatte. Der Bach machte hier einen scharfen Knick; Jahrtausende schleifenden Sandes hatten eine Einbuchtung in den Fels gespült, die mit ein wenig gutem Willen an einen Badezuber erinnerte.
Mehr als eine Stunde war sie schon hier und genoss das Gefühl des fließenden Wassers. Endlich fühlte sie sich frei! Wenn nur der Kummer mit Ollowain nicht wäre.
Es gab Gerüchte über ein Orakel hier im verbrannten Land. Genaues wusste sie nicht, und bislang war sie zu stolz gewesen, Oblon zu fragen. Sie traute dem durchtriebenen Schamanen nach wie vor nicht über den Weg, aber sie war sich ganz sicher, mit ihm fertigzuwerden, gleichgültig, was er versuchte.
Sie hatte sich als Königin zu wenig um die entlegenen Landstriche Albenmarks gekümmert. Hier gab es keine Kundschafter oder Vertraute, die gelegentlich zu ihr nach Burg Elfenlicht gekommen wären, um ihr zu berichten. War Kundschafter das richtige Wort? Oder sollte sie ehrlicherweise Spitzel sagen? War sie eine Tyrannin, wenn sie möglichst alles wissen wollte, was in Albenmark geschah, oder eine fürsorgliche Herrscherin?
Sie atmete aus. Diese Dinge gingen sie nichts mehr an. Ereignisse wie in Feylanviek sollten sich nicht wiederholen! Sie war nicht mehr die Königin. Sie durfte sich erlauben, nur an sich zu denken!
Es war ein seltsames Gefühl, von Ollowain gelegentlich einen schmachtenden Blick zu erhaschen. Natürlich war es nicht mehr der Ollowain, den sie einmal geliebt hatte. Und Falrach war auch nicht mehr der, den sie geliebt hatte. Er hatte sich in der veränderten Welt noch immer nicht zurechtgefunden. Würde er es jemals tun? Mehr als vierzig Jahrhunderte waren seit seinem Tod vergangen. Städte, die er einmal gekannt hatte, waren zu Staub geworden. Völker, die einst voller Macht und von Bedeutung gewesen waren, lebten nicht mehr in Albenmark, wie die Kinder der Dunkelalben oder die Elfen von Valemas. Flüsse und Küsten hatten ihren Verlauf verändert. Und wie weit sie sich von dem jungen Mädchen entfernt hatte, das Falrach einst liebte, vermochte sie nicht zu ermessen.
Zumindest äußerlich schien sie sich nur wenig verändert zu haben. Falrach fand sie immer noch begehrenswert. Sie mochte es, wie er sie ansah. Ollowain ... Obwohl sie nun schon seit Wochen miteinander reisten, hatte sie ihn noch nicht zum Zuge kommen lassen. War es unmoralisch, sich von ihm lieben zu lassen und an Ollowain zu denken? An wen sonst sollte sie auch denken, würde sie doch in Ollowains Antlitz blicken, wenn sie einander liebten.
Lag es daran, dass sie endlich Frieden gefunden hatte? Sie spürte ein tiefes Verlangen danach, endlich wieder einen Mann an ihrer Seite liegen zu haben. Wann war ihre letzte Liebesnacht gewesen? Sie konnte sich nicht mehr sicher daran erinnern.
Sie strich über ihre glatten Schenkel. Ein wohliger Schauer durchlief sie. Wie war es gewesen, von Männerhänden berührt zu werden? Sie schloss die Augen. War mer Wind spielte mit ihrem Haar. Falrach war ein guter Liebhaber gewesen. Er hatte schon viele Frauen gehabt, als sie ihn kennenlernte. Und er hatte einen schrecklichen Ruf. Sie lächelte versonnen. Einen Ruf, dem er voll und ganz gerecht geworden war. Es wäre schön, wenn er jetzt hier wäre. Sie war versucht... Leise murmelte sie ein Wort der Macht. Es schmeichelte ihrer Zunge. All ihren Sinnen. Sie durfte das nicht tun. Es war unmoralisch. Aber er würde es niemals wissen, wenn sie es ihm nicht verriet.
Täglich hatte sie diesen Zauber angewandt, seit sie in dem kleinen Kobolddorf waren.
Ihre Gastgeber glaubten, dass die Trolle ihnen Glück brachten. Diese dickköpfigen Narren bestanden nach wie vor darauf, dass sie beide Trolle sein mussten. Und zwar besonders große Trolle. Geradezu Riesen unter den Trollen!
Als Emerelle gesehen hatte, wie elend und ausgehungert der Stamm war, hatte sie den Zauber zum ersten Mal gewirkt. Ihr Geist war über das Land gestreift. Sie hatte nach Leben gesucht. Viele Meilen entfernt, denn sie wollte nicht das Jagdwild anlocken, das in der Nähe der Siedlung lebte. Sie hatte nach Geschöpfen gesucht, die sie nicht so schnell gefangen hätten. Rotkämme, jene großen Echsen, die verborgen in den abgelegensten Bergregionen lebten. Sie wurden bis zu zwei Schritt lang, und ihr Fleisch schmeckte unvergleichlich. Auch Stachelschwänze hatte sie angelockt, Steppenhasen und Murmeltiere. All diese Geschöpfe hatte ihr Wil e in dieses Tal gezwungen. Sie machten sich auf die Wanderschaft, ohne zu ahnen, dass ihre Reise sie unweigerlich zu den Speeren der Kobolde führen würde.
Jeden Abend feierte der Stamm. Oblon ahnte etwas. Er war wirklich klug. Er sagte nichts, ließ das Wunder einfach geschehen.
Emerelle wusste, dass Falrach den Platz zwischen den Felsen verlassen hatte. Jene vor Blicken geschützte Stelle, an der er übte. Früher hatte er das nicht getan. Waffenübungen in völliger Harmonie von Schwert und Körper.
Das war ein Vermächtnis Ollowains. Emerelle machte sich nichts vor. Sie hatte Fairachs Geist durchforscht. Es war nichts von Ollowain geblieben. Keine Erinnerung.
Kein Rest seiner Persönlichkeit. Sie vermutete, dass es der Körper des Schwertmeisters war, der danach verlangte, diese Kampfübungen zu machen. Er war daran gewöhnt.
Ollowain hatte jahrhundertelang fast jeden Tag geübt. Diese Bewegungsabläufe waren Ollowains Körper ebenso selbstverständlich wie das Atmen. Bisher hatte Falrach sich dagegen gesträubt. Aber seit dem Ereignis in der Klamm gab er seinem Körper nach.
Er wollte lernen, welche Fähigkeiten in ihm steckten.
Emerelle überlegte, ob sie selbst in der Nacht auf die Jagd gehen sollte. Nicht nach Stachelschwänzen oder Rotkämmen. Gefährlicheres Wild. Aber noch bestand kein Anlass zur Eile.
Sie hörte leise Schritte. Er bewegte sich geschickt. Das Geräusch war fast überdeckt vom leisen Wispern des Windes. Er wusste nicht, dass sie hier war. Hätte er sich ange-schlichen, sie hätte ihn nicht gehört.
Sie richtete sich in dem steinernen Becken auf. »Schön, dich zu sehen, Falrach.«
Ollowain hätte jetzt sicher beschämt zur Seite geblickt. Falrach war es nicht unangenehm, sie nackt zu sehen.
»Ich wusste nicht ... «, begann er zögerlich.
»Hier ist Platz für zwei. Das Wasser ist herrlich.« Sie lächelte. Früher einmal, schier vor einer Ewigkeit, war es ihr leichtgefallen, verführerisch zu sein. Jetzt fühlte sie sich unsicher.
Er lächelte. Es war das alte Falrachlächeln. Dann legte er wortlos seine Kleider ab. Sie sah, wie verschwitzt er war. Gut, dass sie sich hier trafen. Sie mochte keine Männer, die stanken.
Er stieg zu ihr ins Wasser, und es war unübersehbar, dass er sie begehrte. »Ollowain wäre vor mir fortgelaufen«, sagte sie mit einem eindeutigen Lächeln.
»Ich bin nicht Ollowain«, entgegnete er selbstsicher.
Sie strich über seine Brust. Sein Körper war schlank und durchtrainiert. Er war kräftig.
Anders als Falrach. Er war viel weicher gewesen.
Er nahm ihre Hand. Küsste ihre Fingerspitzen und ließ sie wieder frei. Die Berührung seiner Lippen ließ sie erschaudern, und er merkte es. Er beugte sich vor und küsste ihren Hals. Sie atmete aus. Dieses Gefühl... Sie hatte es so lange in sich begraben.
Jetzt nahm sie seine Hand. Ihre Zunge streichelte über die Innenfläche. Die Haut dort war hart und schwielig. Es war die Hand eines Schwertkämpfers.
Falrach legte den freien Arm um ihre Hüften und zog sie dicht zu sich heran. Deutlich konnte sie spüren, wie sehr er sie begehrte. Aber er ließ sich Zeit. Seine Hände verwöhnten sie. Seine Zunge fand immer neue Wege, sie erschaudern zu lassen, bis sie lustvoll aufstöhnte. Sie hatte ihn gerufen ... Nein, sie sollte ehrlich sein. Ihr Zauber hatte ihn hierher gezwungen, ohne dass er es ahnte. Aber jetzt würde sie sich ihm völlig überlassen. Sie war die Seine. Ganz und gar. Es würde lange dauern. Früher hatten sie sich ganze Nachmittage geliebt.
Sie legte den Kopf weit in den Nacken. Er liebkoste ihre Brüste.
Über ihnen spannte sich ein stahlblauer, wolkenloser Himmel. Ein einsamer Falke verharrte flügelschlagend am Himmel.
Fairachs Hand berührte ihre Scham. Sie wollte ihn. So lange hatte sie Ollowain begehrt.
Und wenn sie einfach aufhörte zu denken, sich ihm hingab ... Wo war der Unterschied? Es war Ollowains Leib, der sie liebte. Sie sah in Ollowains Augen. Und sie würden bestimmt nicht viel reden in den nächsten Stunden.
Madra sah den Falken nahe seinem Versteck landen. Der Troll hatte sich tief in den Schatten einer vorspringenden Felswand zurückgezogen. Er mochte das grelle Licht des Südens nicht. Kein Troll mochte es. Er hatte gehört, dass es unter den Menschenkindern Märchen gab, in denen es hieß, Trolle würden sich in Stein verwandeln, wenn das Licht der Mittagssonne sie traf. Das war natürlich blanker Unsinn.
Der Falke stieß ein ganz unfalkenhaftes Stöhnen aus. Sein Kopf blähte sich auf. Der Schnabel verformte sich zu einer Schnauze voller nadelspitzer Zähne. Das braune Gefieder bekam einen Rotstich und wurde zu dichtem Fell. Die Verwandlung sah überaus unappetitlich aus. Zugleich war es faszinierend, zuzusehen. Vermutlich tat es ziemlich weh, dachte er bei sich. Sein Gefährte jammerte gern. Über jede Kleinigkeit beschwerte er sich. Über seinen knurrenden Magen, Durst, die Hitze oder einen Stein im Schuh. Aber diese Verwandlung machte er schon zum dritten Mal, während sich die Elfen in dem Dorf niedergelassen hatten. Es war überaus praktisch, einen geflügelten Späher zu haben. So konnten sie es sich erlauben, in einem Versteck drei Meilen vom Kobolddorf entfernt auszuharren. Ständig schickten die Kobolde Jäger aus. Es wäre leichtfertig gewesen, dem Dorf näher zu kommen.
Mit einem Seufzer kam Nikodemus in den Schatten des Felsens. Die Verwandlung war abgeschlossen. Nur ein leichter Raubvogelgeruch haftete dem Lutin noch an.
»Schlechte Nachrichten!«
Jetzt ging es wieder los, dieses Gejammer, dachte Madra ärgerlich. Der Lutin würde sicher ein nettes Mahl abgeben. Aber er musste sich beherrschen. Ohne Nikodemus würde er niemals zurückfinden. Nur der Lutin konnte die Tore zu den goldenen Pfaden öffnen.
»Weißt du, wer die beiden sind?«
Madra machte eine flüchtige Bewegung mit der Hand. »Zwei Elfen halt. Wen interessieren schon Elfennamen?«
»Diese werden dich interessieren. Heute bin ich so nahe an sie herangekommen, dass ich zum ersten Mal deutlich ihre Gesichter sehen konnte.«
»Und sie haben dich nicht bemerkt?« Madra war in diesen Dingen misstrauisch. Auch ihn würde es stutzig machen, wenn ein Falke längere Zeit über ihm kreiste. Und Elfen waren schlauer als Trolle. »Du hattest versprochen, nicht zu nahe heranzufliegen.«
»Die beiden haben in einem Teich gelegen und gevögelt! Die hatten andere Dinge im Kopf, als sich nach mir umzusehen. Und weißt du, wer sie sind? Emerelle und ihr Schwertmeister Ollowain!«
»Wie kannst du dir da so sicher sein? Ein Elf sieht wie der andere aus.«
»Ganda, die Geliebte meines Bruders, hat ihn wochenlang gepflegt. Das war nach der Schlacht am Mordstein. Ich habe ihn fast jeden Tag gesehen. Ich kenne ihn. Und diese Elfe, das ist Emerelle. Darauf verwette ich meine Rute. Die hab ich auch schon einmal gesehen. Als sie sich auf der Shalyn Falah zum Duell gestellt hat. Es sind die beiden!«
Madra tastete nach dem Amulett, das Skanga ihm gegeben hatte. Jetzt wäre wohl der Augenblick, es zu verwenden. Er war ärgerlich über die Schamanin. Gewiss hatte sie gewusst, wen sie verfolgten! Warum hatte sie es ihnen nicht gesagt? Traute sie ihm nicht zu, der Fährte zu folgen? Hielt sie ihn für einen Feigling, weil er nicht mit den anderen in dieser verdammten Koboldhalle in Feylanviek gestorben war?
»Wirf das Amulett!«, drängte Nikodemus. »Skanga muss es wissen.«
»Mag dein Volk Helden?« Madra dachte daran, dass er nie ein Weib bekommen würde. Es wurden zu wenig Weiber geboren. Sie waren kostbar. Rudelführer, Helden und Herzöge, sie wurden von den Weibern erwählt. Ein einfacher Krieger oder Jäger hatte keine Aussichten, je mit einer das Lager zu teilen. Aber das Schicksal lächelte ihm zu.
Zum ersten Mal hatte Madra das Gefühl, zu Höherem bestimmt zu sein. Vielleicht war ja auch das der Grund, warum Skanga ihn ausgewählt hatte?
»Was heißt hier Helden? Was hast du vor? Du musst Skanga rufen! Sofort!«
»Nein.«
Der Lutin starrte ihn fassungslos an. Ob es an ihrer Größe lag, dass den Kobolden jeglicher Mut fehlte?
»Bist du verrückt? Du willst doch nicht etwa ... « Der Kleine hob abwehrend die Hände.
»Hast du den Gerichtssaal in Feylanviek vergessen? Wie viele Trolle haben die beiden getötet? Und wie viele Kobolde?« Er schnaubte. »Und du hältst es für eine gute Idee, Emerelle und Ollowain allein zum Kampf zu stellen? Die zwei könnten ein kleines Heer in Stücke schneiden. Hast du vergessen, was wir in der Klamm gesehen haben?
All die Felsbrocken! Die beiden hätten tot sein müssen! Aber sie haben es geschafft.«
»Du hast schon Recht...«
Der Lutin hob in großer Geste die Hände. »Danke. Danke! Es steckt also doch ein mehr als wallnussgroßes Hirn unter deinen dicken Schädelknochen. Ein Hauch von Weisheit!«
Madra dachte erneut daran, den Lutin zu fressen. Wenn Skanga käme, dann brauchte er den Kobold nicht mehr, um in seine Heimat zurückzukehren. Aber er wollte die Schamanin nicht rufen.
»Wir werden es ganz anders anfangen als Gharub. Er wusste nicht, wen er vor sich hatte. Bei uns ist das anders. Wir können die zwei töten. Wir brauchen allerdings Mut!«
Der Lutin sah aus, als werde er sich gleich bepissen. Madra wünschte sich, er hätte einen richtigen Krieger an seiner Seite. Dann dachte er an die Verwandlung. Der Kleine hielt einiges aus. Man musste ihn nur richtig nehmen.
»Willst du berühmter als dein Bruder werden?«
Der Lutin spitzte die Ohren.
Skanga suchte nach der Farbe der Angst in der Aura des Kobolds. Doch der kleine Krieger schien sie nicht zu fürchten. In seinem Volk sprach man viel von ihm.
Kommandant Skorpion nannten sie ihn. Anführer der ersten Befreiungsfront.
Koboldunsinn! Warum sollte man sich das Leben mit tausend blumigen Namen schwermachen?
»Du bist also Madrog«, sagte sie nach einer Weile.
»So ist es.«
Wenigstens macht er keine überflüssigen Worte. Eine seltene Veranlagung bei Kobolden. Skanga war der Überzeugung, je kleiner ein Geschöpf wurde, desto schwerer fiel es ihm, zu schweigen. Kobolde waren eine Plage. Burg Elfenlicht hallte wider von ihrem unaufhörlichen Geplapper! Sie sehnte sich nach Feylanviek zurück.
Da war es zwar nicht stiller gewesen, aber wenigstens kälter. Hier wuchsen schon überall Blumen! Nach ihrem Gefühl war es dazu viel zu früh im Jahr. Zu viel Blumen und Sonnenlicht. Wer brauchte das?
Birga stand hinter ihr. Sie wirkte angespannt. Sie fürchtete, dass der Kobold etwas falsch machte. Sie hatte ihn empfohlen.
»Wen hast du denn alles schon umgebracht, Skorpion?« Die Farbe seiner Aura änderte sich. Da war ein Anflug von Ärger.
»Es gehört zu meinem Geschäft, mich mit meinen Taten nicht zu rühmen. Ebenso wenig erzähle ich, wer mich beauftragt hat. Wenn das deine Fragen sein sollten, wirst du keine Antworten erhalten.«
»Du hast deine Meuchler sicher auch hier in der Burg.« Skanga erwartete keine Antwort. Sie wollte sehen, ob sich die Aura des Kobolds veränderte. Das Licht um seinen Kopf veränderte sich zu einem Schlammbraun. Die Farbe des Zweifels.
Natürlich sagte er nichts.
»Ich möchte, dass du weißt, dass man mir nichts vormachen kann. Du bist nicht in Gefahr. Noch nicht... Dein Geschäft ist der Tod. Und es gibt jemanden, den ich tot sehen möchte. Emerelle!«
»Da solltest du es lieber mit Elfen versuchen. Soweit ich weiß, gab es ein Komplott gegen die ... gegen Emerelle auf dem letzten Krönungsfest in Vahan Calyd.«
»Ich dachte, du hasst Elfen, Madrog. Es war doch ein Elf, der deine große Liebe ermorden ließ, oder? Warum zögerst du?«
»Ich würde nicht nahe genug an Emerelle herankommen. Ich fürchte, niemand kann das. Welche Aussichten hätte ein Floh, ein Mammut zu töten? Ganz gleich, wie zornig und entschlossen der Floh ist.«
»Du hast doch bereits einen Elfenfürsten mit seiner gesamten Sippe hingemordet. Hast du keinen Ehrgeiz?«
»Ehrgeizige Meuchler sterben jung. Ich bin erfolgreich, weil ich meine Grenzen kenne.«
Der Kobold überraschte sie. Sie hatte einen anderen Mann erwartet. »Hast du keine Angst vor meinem Zorn?«
»Ich glaube, du verwechselst etwas, ehrwürdige Schamanin. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Also fürchte ich dich nicht. Ich fürchte auch Emerelle nicht. Aber ich übernehme keinen Auftrag, bei dem ich nur scheitern kann.«
Er spielte ihr nichts vor. Noch immer war keine Spur von Blau in seiner Aura. Er hatte tatsächlich keine Angst.
Der kleine Kerl verblüffte sie. Jemandem wie ihm war sie schon lange nicht mehr begegnet. »Ich schätze das offene Wort.«
Sie hörte Birga hinter sich schneller atmen. Ihre Schülerin fürchtete, bestraft zu werden. »Vielleicht hast du ja einen Rat für mich, Madrog? Wie kann man Emerelle ermorden?«
»Nun, Herrin. Man sagt, du hättest die Mittel, die Shi-Handan zu rufen. Wenn du zwei oder drei zu Emerelle schickst, dann ist sie sicherlich in Gefahr.«
Jetzt hielt Birga hinter ihr die Luft an. Wusste der Kobold, was er da sagte? Wollte er sie reizen? Genau das hatte sie schon einmal getan und war gescheitert. Wollte er ihr auf diese Weise vor Augen führen, wie aussichtslos es war, Emerelle ermorden zu wollen?
»Ein wertvoller Hinweis ... Da wir nicht ins Geschäft kommen werden, kannst du nun gehen.«
Der Kobold verneigte sich nicht einmal. Er drehte sich einfach um und verließ den Saal. Mangel an Respekt war der erste Schritt hin zum Aufstand. Das konnte sie nicht dulden. Vielleicht ließen es sich die Kobolde ja einfallen, bald schon gegen ihr Volk zu rebellieren.
»Birga! Nimm dir ein paar Wachen! Schnapp dir den Kerl! Und wenn ihr ihn habt, steckt ihn in eine Kiste mit Eisenbändern und versenkt sie im See hinter der Burg.«
»Ja, Meisterin.«
Ihre Schülerin eilte zum Portal, durch das der Kobold verschwunden war. Skanga sah ihr eifersüchtig nach. Was würde sie dafür geben, noch einmal so junge Beine zu haben! Madrog hatte ihr nichts gesagt, woran sie nicht selbst schon gedacht hätte. Er war eben doch nicht so gut wie sein Ruf. Skanga spielte nachdenklich mit den Amuletten auf ihrer Brust. Die Shi-Handan waren geisterhafte Wölfe. Durch und durch bösartige Geschöpfe. Unvergleichliche Jäger. Mahta Naht, ihre Lehrerin, hatte ihr einst beigebracht, wie man sie erschuf. Man brauchte dazu einen Yingiz. Und eine starke Seele. Nach all dem, was geschehen war, war es nicht klug, einen Yingiz zu rufen.
Vielleicht sollte sie doch noch einmal einen Blick in die Silberschale wagen. Das Knochenorakel zu deuten, war schwer. Hatte sie einen Fehler gemacht? Aber nein.
Emerelle musste sterben, nur so war die Herrschaft Gilmaraks sicher. Nur so würde ihr Volk endlich Frieden finden!
»Herrin.«
Skanga blickte auf. Birgas Aura strahlte hellblau. »Ja.« »Er ist verschwunden.«
»Was war so schwer daran, einen einzelnen Kobold zu greifen?«
»Herrin, bitte«, stammelte Birga. »Er hat uns hereingelegt …«
»Dich, Birga! Mir wäre er gewiss nicht entwischt. Dich hat er hereingelegt!«
»Herrin ... Er trug einen braunen Mantel und eine auffällige, schwarze Mütze. Ganz anders als die anderen Kobolde. Aber jetzt war die Burg plötzlich voll von Kobolden mit braunem Mantel und schwarzer Mütze. Wir haben ein paar gefasst. Sie sind Madrog nie begegnet. Fremde haben sie dafür bezahlt, diese Kleider zu tragen. Sie haben ihnen die Kleider sogar geschenkt.«
Skanga fluchte. Zugleich empfand sie Respekt. Dieser kleine Hurensohn! Er musste geahnt haben, dass sie ihn nicht lebend ziehen lassen würde. Nun hatte sich gezeigt, dass er tatsächlich so gut war wie sein Ruf. Ob er ihr den Mordversuch übelnahm? Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Sie konnte es sich nicht leisten, dass sich herum-sprach, dass sie Meuchler nach Emerelle ausschickte. Man würde glauben, sie hätte Angst vor der Elfe. Womöglich würde sogar Emerelle davon erfahren. Wer wusste schon, wie viele Spitzel sie in der Burg hatte?
»Such mir zwanzig stattliche Trollkrieger, Birga! Sie sollen etwas hermachen! In zwei Stunden erwarte ich dich mit den Kriegern im Thronsaal.«
Die kleine Schlampe war klug genug, sie nicht mit Fragen zu verärgern. Sie würden eine Reise machen. Letztlich war das Gespräch mit dem Kobold doch etwas wert gewesen. Er hatte nicht Unrecht gehabt mit seinem Rat. Sie wusste nun, wo sie jemanden finden würde, der Emerelle von ganzem Herzen verabscheute. Und sie sollte nach Orgrim schicken. Sie brauchte jemanden, der jede Rebellion im Keim ersticken könnte. Feylanviek war womöglich erst der Anfang. Es war besser, vorbereitet zu sein.
»Heute ist der letzte Tag, an dem du auf der faulen Haut liegen wirst, Junge!« Bruder Jules war nur ein Schattenriss in der Tür der Hütte, in der sie beide hausten. Hütte war nicht ganz das richtige Wort. Es war einmal etwas Größeres gewesen. Aber jetzt stand nur noch eine Mauerecke mit einer Tür, die Jules stets wohl verschlossen hielt. Die beiden anderen Wände waren aus groben Brettern gefertigt. Jules hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Ritzen zwischen den Brettern mit Moos auszustopfen.
Adrien hatte schon davon gehört, dass manche Priester der Meinung waren, sie seien ihrem Gott besonders gefällig, wenn sie in Armut lebten und sich nicht um Dinge wie Ritzen in einer Bretterwand kümmerten. Er hielt es für Unfug, aber er würde sich hüten, das auch Jules zu sagen.
»Komm. Ich werde dir das Tal zeigen und dir erzählen, welche Pflichten dich erwarten.«
Adrien hatte keine Ahnung, was für Kräuter der Betbruder in die Aufgüsse getan hatte, die er ihm verabreicht hatte. Das Zeug war bitter wie Galle gewesen. Aber es hatte geholfen. Als er hier ankam, war er zu Tode erschöpft gewesen. Nun fühlte er sich ausgeruht und voller Kraft. Er würde sich allen Aufgaben stellen, die der Priester für ihn bereithielt. So schwer konnte es ja nicht werden.
Adrien schlug die Decke zurück und streckte sich. Dann trat er hinaus ins Morgenlicht.
Kalte Luft schlug ihm entgegen. Der Frühling hatte noch nicht seinen Weg in dieses Tal gefunden. Er sah hinab auf die verwüstete Stadt. Den Steinernen Wald.
»Es gab eine Zeit«, erzählte Jules, »da waren Menschen viel mächtiger, als sie es heute sind. Und es gab viele Götter, nicht nur einen. Und diese Götter, die die Menschen erschaffen hatten, waren so stolz auf sie, dass sie unter ihnen wandelten.«
Adrien sah seinen Meister mit großen Augen an. Eine solche Geschichte hatte er noch nie gehört. Und er hätte niemals erwartet, einen Tjuredpriester so reden zu hören. Es hatte andere Götter gegeben? Und sie sollten hier gewesen sein! Die Vorstellung fesselte ihn. Er stand auf Boden, auf dem einmal Götter gestanden hatten! Nein, das war sicherlich ein Märchen.
»Das weiße Selinunt, so hieß die Stadt einmal. Sie war ganz und gar aus Marmor erbaut. Nur die Dächer trugen rote Schindeln, die hell in der Frühlingssonne strahlten.
Die Stadt füllte das ganze Tal aus. Ihre Schönheit war weithin berühmt. Die Weisen und die Edlen waren hier versammelt. In jener Zeit gab es sieben Königreiche. Nicht solche Königreiche, wie du sie kennst. Sie waren groß. Jedes umfasste Hundert und mehr Städte wie dein Nantour. Und wenn die Heere dieser Königreiche marschierten, dann erzitterte der Boden unter den Schritten der genagelten Stiefelsohlen ihrer Soldaten.«
Jules schritt einen schmalen Pfad hinab. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. Er wirkte entrückt, ganz in seine Geschichte versunken.
»Die besten Handwerker lebten hier. Die Stadt war wun derbar. Und sie hatte ein Geheimnis. Es gab noch eine weitere, eine verborgene Stadt.
Weil das Wasser aus den Quellen hier bitter ist, legten die Erbauer von Selinunt große Zisternen an. Weite Hallen, die tief im Fels ruhten. Die Paläste und Tempel, die darüber errichtet waren, wurden von den Säulen und Rundbogen der Zisternen getragen, was von doppeltem Nutzen war, denn nun konnte man reiche Wasservorräte sammeln. Zugleich schützte diese Art zu bauen aber auch die prächtigen Monumente der Stadt, denn hier in den Bergen erbebt oft die Erde. Häuser, die man auf diese Weise errichtet, vermögen dem wütenden Zittern der Erde viel besser zu widerstehen.«
Adrien betrachtete das Tal. Die einstige Pracht, die Jules vor Augen zu haben schien, vermochte er sich nicht vorzustellen. Für ihn sah der Steinerne Wald außergewöhnlich trostlos aus. Säulen inmitten einer Einöde. Inseln von Schnee wechselten sich mit großen Pfützen ab. Und nichts wuchs dort. Vielleicht war dies das Beklemmendste. So etwas hatte er noch nie gesehen.
»Einst, als die Götter sie riefen, versammelten sich alle sieben Könige in Selinunt. Sie sollten sich hier versammeln, um über einen großen Krieg zu beraten. Einen Krieg, der die Könige und ihre Heerscharen in eine andere Welt führen sollte. Auch der Feind hatte seine Edlen geschickt, ein großes Gefolge. Sie waren es gewesen, die darum gebeten hatten, zu verhandeln.«
»Wer war dieser Feind?«
»Die Elfen, mein Junge. Wer sonst? Sie waren schon immer der Feind. Sie und noch andere Geschöpfe. Die Kreaturen der Alben sinnen auf nichts anderes, als dieser Welt zu schaden. Wann immer die Menschen sich zu Größe erheben, werden sie angegriffen. So wie Guillaume. Du hättest ihn erleben müssen. Die Menschen hingen an seinen Lippen. Er vermochte Wunder zu vollbringen. Aber er wurde ermordet.«
Adrien hatte davon gehört. Es gab unterschiedliche Ge schichten über Guillaume. Manche erzählten, dass sich der Wunderheiler gegen den König erheben wollte und getötet wurde, als Cabezan die Stierköpfe schickte, um ihn gefangen zu nehmen. Andere wiederum erzählten, der König habe seine Leibwachen geschickt, um Guillaume zu beschützen. Sie alle wurden von Elfen ermordet, die Guillaumes Leichnam an eine Eiche inmitten der Stadt ketteten und dann verbrannten.
Inzwischen waren sie den Hang ganz hinabgestiegen, an dem Jules seine Hütte errichtet hatte. Adrien tippte mit seiner Stiefelspitze kurz auf eine Pfütze. Sofort breitete sich ein Netz heller Risse aus. Er würde sich hüten, mit seinen kostbaren Schuhen durch die Pfützen zu gehen.
Der Priester war vor eine Säule getreten. Seine Hand strich über den glatten Stein.
»Komm her, Junge!«
Adrien gehorchte. Er sprang über zwei Pfützen hinweg. Schnee schmatzte unter seinen Stiefeln. Er war schwer und nass. Lange würde er nicht mehr liegen bleiben. Bald würde der Winter den Steinernen Wald verlassen.
»Sieh dir diese Säule einmal an.« Jules trat ein wenig zur Seite.
Adrien streichelte über den Stein. Er war wirklich sehr glatt und ... »Was siehst du?«
»Das hier sieht aus wie Tränen.« Verwundert tastete er über kleine Perlchen, die an der Säule hafteten. »Und dort sieht es aus, als habe man den Stein mit Honigguss überzogen. So wie einen Kuchen.«
Jules lächelte zufrieden. »Gut beobachtet! Was glaubst du, warum die Säule so aussieht?«
Er zuckte die Schultern. »Vielleicht hatte der Steinmetz den Befehl, es so zu machen.«
»Das ist doch Unsinn«, entfuhr es dem Priester. »Wer hätte Gefallen an solchen Säulen!«
Adrien war überrascht, wie heftig der Priester reagierte. Er konnte nicht begreifen, was er Falsches gesagt hatte.
Schweigend stampfte Jules vor ihm durch den Schnee. Er machte keinen Bogen um Pfützen und kämpfte sich ohne Umwege durch letzte Schneewehen. Adrien machte sich Sorgen. Bestimmt hatte sein Meister nasse Füße. Und die Kräfte, die sein Zorn entfacht hatte, mochten bald schon verbraucht sein. Sein Lehrmeister war alt. Er musste besser auf sich achtgeben!
»Es tut mir leid, wenn ich dich verärgert habe. Ich bin nur ein Straßenjunge. Ich bin nicht klug. Ich weiß, wie man einen Apfel stiehlt oder eine Wurst. Von Säulen und davon, wie sie aussehen müssen, weiß ich nichts.«
Der Priester verlangsamte seine Schritte, sagte aber nichts.
Adrien wusste nicht, was er tun sollte. Einem Mann wie ihm war er noch nie begegnet.
Er hatte bei Jules einen Platz zum Schlafen und gutes Essen bekommen. Er schuldete ihm etwas.
Endlich blieb der Priester stehen. Sie waren inzwischen weit in das Tal vorgedrungen.
Links erhob sich eine Reihe von Säulen, von denen jede einzelne über zwanzig Schritt hoch sein musste. Sie alle wurden nach unten hin dicker. Steinerne Tränen wie auch unregelmäßige Wellen liefen an ihnen herab.
»Sie sehen ein wenig aus wie Kerzen«, murmelte Adrien vor sich hin. Er tat es, um gegen die Stille anzukämpfen. Der schweigende Marsch setzte ihm mehr und mehr zu.
Jules blieb abrupt stehen. »Was hast du gesagt?«
Der Junge schluckte hart. Er wünschte, er könnte das Gesicht des Betbruders sehen.
Dessen Stimme klang hart und abweisend. »Kerzen ... Sie sehen aus wie Kerzen, dachte ich …«
Jules lachte auf. Es war ein Laut voller Schmerz und Bitterkeit. »Ja, Kerzen. Das ist gar nicht so schlecht. Gar nicht schlecht!« Er wischte mit dem Fuß den Schnee zur Seite.
»Komm her! Sieh dir das an! Was hältst du davon?«
Adrien trat mit gemischten Gefühlen vor seinen Meis ter. Zum einen war er froh, dass Jules wieder mit ihm sprach. Auf der anderen Seite fürchtete er, ihn mit einer weiteren falschen Antwort noch mehr zu erzürnen.« Der Boden, den der Priester vom Schnee befreit hatte, war ungewöhnlich eben.
Der Junge kniete nieder. Er tastete über den Boden. Er war sehr glatt und fast schwarz.
Er erinnerte Adrien an das Eis auf einer zugefrorenen Schweinesuhle. Aber er würde sich hüten, das dem Priester zu sagen. Jules schien sich mit dem Steinernen Wald eng verbunden zu fühlen. Dieser Vergleich würde ihn sicher erzürnen. »Sehr glatt«, sagte er vorsichtig. Damit konnte er nichts falsch machen. Er betrachtete den merkwürdigen Untergrund. Er hatte so etwas in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Adrien blickte auf, in der Hoffnung, Jules würde ihn aus seiner Pflicht entlassen. Doch der Priester schien ebenso aus Stein zu sein wie alles hier am Talgrund. Nichts regte sich in seinem Antlitz.
»Sehr hart?« Der Junge klopfte auf den Boden. Dann fielen ihm Honigkrüge ein, die er einmal gesehen hatte. Sie waren schwarzbraun gewesen, mit bunten Leinentüchlein und Wachs versiegelt. Der gebrannte Ton der Töpfe hatte sehr hart ausgesehen. Der Händler war weit aus dem Süden gekommen, aus dem Stadtstaat Marcilla, der seit kurzem zum Königreich gehörte. »Sieht aus wie einer der hart gebrannten Töpfe aus Marcilla.«
»Hart gebrannte Töpfe?« Jules wirkte verwirrt. Plötzlich lächelte er. »Kerzen und hart gebrannte Töpfe. Das sind ja fast poetische Metaphern.«
Adrien hatte keine Ahnung, wovon sein Meister da sprach, aber er lächelte. Zu lächeln war immer gut, wenn man nicht wusste, was vorging!
Der Priester beugte sich zu ihm hinab und kniff ihm fest ins Ohr. Der Schmerz trieb Adrien fast Tränen in die Augen. »Gut, Junge. In dir schlummert ein Dichter, auch wenn mir scheint, dass du keine Ahnung davon hast. Ich würde den Boden allerdings eher mit Glas vergleichen. Das trifft es eher.«
»Ein gläserner Boden? Das hört sich an wie in einem Märchen. Zerbricht ein solches Pflaster nicht schnell?«
Jules stampfte mit seinem Stiefel auf. »Zerbrechen? Seit mehr als vierzig Jahrhunderten trotzt dieser Boden schon den Gewalten der Natur. Du wirst kaum einen Riss finden.
Nur Flugerde und Vogeldreck. Darin versinkt die Stadt langsam. An manchen Orten liegt der Mist schon mehr als drei Schritt hoch. Aber das schwarze Glas zerbricht nicht.« Der Priester sah jetzt sehr alt aus. Ein Netzwerk feiner Falten zeigte sich um seine Augen. »Schwarzes Glas, würde ein Dichter sagen ... Es ist nicht die Wahrheit, wie meist, wenn Dichter sprechen. Du stehst auf geschmolzenem Granit, mein Junge.
Die Stadtväter von Selinunt liebten die Schönheit über alles, aber sie waren nicht völlig weltfremd. Dieser Ort hier sollte für die Ewigkeit bestehen. Deshalb waren die Straßen mit geschliffenem Granit gepflastert. Die Marmortreppe, auf der du gekommen bist, war allein Königen, Fürsten und Priestern vorbehalten. Und Gesandten. Händler, Bauern und sonstiges einfaches Volk kamen auf anderen Wegen hierher. Auf fest gefügten Straßen. Ohne Stufen, so dass Karren sie passieren konnten.« Er streckte Adrien die Hand hin. »Komm, Junge. Ich muss dir noch etwas zeigen. Weißt du, was Ironie ist?«
»Ist es das, wenn man etwas mit einem Lächeln sagt, einem in Wahrheit aber das Herz zerspringen will?«
»So ähnlich.« Ohne weiter darauf einzugehen, führte Jules ihn eine der Bergflanken hinauf. Endlich erreichten sie ein Säulengeviert, das sich in besonders schlechtem Zustand befand. Die meisten der Säulen waren gestürzt. Nur die nördliche Front stand noch aufrecht. Der Priester blieb vor einer Säule stehen, auf der sich ein Schatten zeigte.
Je länger Adrien den Schattenriss betrachtete, desto unheimlicher wurde er ihm. Er schien zu einem schlanken Mann gehört zu haben.
»Der Legende nach war dies hier der Mann, der Selinunt den Untergang brachte. Der Anführer der Gesandtschaft, um deretwillen die sieben Könige hierherkamen. Ein Elf!
Er wollte das Verderben aufhalten, weil er durchschaut hatte, dass er genarrt worden war. Doch es war schon zu spät. Seine Schreie blieben ungehört. Diejenigen, die er gerufen hatte, hatten Herzen von Stein.«
»Wer war das? Wer hat eine solche Macht? Zauberer?«
»Nein, Adrien. Es waren die alten Herrscher Albenmarks. Die roten Sonnendrachen von Ischemon. Sie brauchten weniger als eine halbe Stunde, um Selinunt zu vernichten. Ihre Flammen fielen vom Himmel und ließen jedes Leben zu Asche werden. So groß war die Hitze, dass selbst Steine zu weinen begannen. Die Straßen wurden zu Glas. Der Goldschmuck der Dächer und Statuen schmolz dahin und stürzte wie Regenwasser in die Gossen hinab und in die Zisternen. Als sie davonflogen, waren nur noch Säulen geblieben und der feine rote Staub, zu dem die Dachziegel geworden waren. Den Staub trug der Wind in den Jahrtausenden, die darauf folgten, davon. Die Säulen blieben und gaben dem Tal seinen Namen. Der Steinerne Wald.«
»Du erzählst das, als wärst du dabei gewesen.«
Jules sah ihn mit melancholischem Blick an. »Wenn ich dabei gewesen wäre, dann wäre ich jetzt wohl nicht hier. Ich sagte doch: Niemand überlebte den Angriff der Drachen.«
»Und alle sieben Könige starben?«
Jetzt grinste der Priester. »Nein, nicht ein Einziger! Sie waren nicht dumm. Wenn ein Elf kommt und um Verhandlungen nachsucht, dann ist stets Misstrauen angebracht.
Sie schickten Doppelgänger. Der Anführer der Elfen merkte das schließlich. Doch da war es schon zu spät, um die Drachen noch aufhalten zu können. Und so verging Selinunt in Feuer und Rauch. Und die Könige erhielten nie das Geschenk, das die Götter ihnen zugedacht hatten.«
Adrien sah sich um. Ein Göttergeschenk! »Was war das?«
»Sehe ich aus, als hätten die Götter es mir verraten?«
Der Junge hatte das vage Gefühl, dass es besser sei, darauf nicht zu antworten.
»Warum wurde die Stadt nie wieder aufgebaut?«
»Das Tal gilt als verflucht. Die sieben Könige zogen in den Krieg, um die Toten von Selinunt zu rächen. Da war keine Zeit mehr zum Städtebau. Und als der Krieg endlich vorüber war, da fürchteten die Überlebenden diesen Ort. Es heißt, Dämonen wachten in der Einsamkeit der Berge.«
»Ist der Baum, unten am Beginn der langen Marmortreppe, einer von ihnen? Steckt ein Dämon in ihm?«
»Nicht der Baum ist der Dämon, Junge. Das war ich.«
»Das Weibchen wird sein Junges verlieren.«
Melvyn versuchte sich gegen die Gedanken Wolkentauchers zu sperren. Der Schwarzrückenadler war stets sehr direkt in seinen Gedanken.
»Du hast Glück, wenn du nicht auch noch sie verlierst. Sie ist deine Nestschwester, nicht wahr?«
»Halbschwester! Und ich werde niemanden verlieren.«
Wolkentaucher hatte ihm geholfen, einen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Er hatte ein Felsloch entdeckt. Höhle konnte man es nicht nennen. Aber es war windgeschützt. Melvyn hatte seine Schwester hierhergetragen. Er wagte es nicht, sie noch einmal den Krallen des Adlers zu überlassen. Sie war zu geschwächt. Kadlin würde keine weitere Verwundung mehr verkraften.
»Kannst du Wild für uns schlagen? Sie braucht etwas Warmes zu essen.«
Wolkentaucher legte den Kopf auf eine Art schief, wie nur Adler es können. »Gib auf dein Herz acht, mein Freund! Hänge es nicht an Menschen. Sie werden es dir zerbrechen.«
»Ich gebe einen Kampf nicht einfach auf. Du weißt das.«
»Das ist ein Grund, warum wir Freunde sind, Melvyn. Ich werde jagen gehen.«
Wolkentaucher breitete die Schwingen und stieß sich vom Felsen ab. Mit ausgebreiteten Flügeln strich er dicht über dem verschneiten Hang dahin, bis er mit kräftigen Schlägen langsam an Höhe gewann.
Melvyn sah ihm nur kurz hinterher. Schuldbewusst wandte er sich Kadlin zu. Sie war ohnmächtig. Sie hatte es gerade noch bis über den Hang geschafft, so dass die Trolle unten bei der Insel sie nicht mehr hatten sehen können. Dann war sie zusammengebrochen.
Eigentlich hätte er sie liegen lassen sollen. Mit der Torheit, ihn niederzuschlagen, hätte sie ihn fast den Bratspießen der Trolle ausgeliefert. Das war gegen jede Vernunft gewesen. Man durfte diesen Leichenfressern nicht trauen. Aber dass er noch lebte, gab Kadlin Recht. Ihre Entscheidung war die richtige gewesen. Dieser Orgrim war offensichtlich anders als die übrigen Aasfresser seines Volkes. Kadlin hatte das geahnt. Oder erhofft? Es war müßig, darüber nachzudenken.
Melvyn kniete sich in das Felsloch und wischte mit blanken Händen den Schnee heraus. Dann wickelte er Kadlin in sein Lederhemd. Ihre Lippen waren ganz blau. Das Gesicht hatte eine ungesund rote Farbe. Sie brauchte Hilfe. Und das schnell!
Der Elf eilte den Hang hinunter zu einer Baumgruppe. Dort scharrte er im Schnee und suchte nach trockenen Zedernnadeln und dünnen Ästen.
Mit fliegendem Herzen eilte er zu ihrem Windschutz zurück. Er hätte nicht mit diesem dummen Geschwätz über ihren Vater anfangen sollen! Gewiss, sie hatte auch schon darüber nachgedacht, wie sie die Leiche des Alfadas zurückholen könnte. Aber er hatte Öl in dieses Feuer gegossen, ohne darüber nachzudenken, was das bedeutete.
Sie war nur ein Mensch. Sie war nicht so zäh und ausdauernd wie er. Sie vermochte nicht über den Schnee zu laufen und dabei so wenig Spuren zu hinterlassen wie ein Windhauch. Sie brauchte mehr Schlaf. Und sie war keine so gewandte Kämpferin wie er, auch wenn sie mutig und ausdauernd war. Er war ihr älterer Bruder. Er hätte all dies besser wissen müssen!
Das Feuer zu entfachen, dauerte nur wenige Augenblicke. All zu schnell fraßen die Flammen das Reisig. Noch einmal lief er hinab und suchte nach stärkeren Ästen. Als er zurückkam, fand er sie zur Seite gesackt. Ganz vorsichtig nahm er sie bei den Schultern und richtete sie auf. Ihre Kleider waren nicht mehr warm. Sie waren mit Schweiß und Blut durchtränkt. Statt sie zu schützen, tranken sie die Wärme ihres Körpers. Er musste sie ausziehen!
Ihre Kleidung war starr. Die Verschnürung ihres Wamses ließ sich nicht mehr öffnen.
Vorsichtig durchtrennte er die Lederriemen mit seinem Jagdmesser. Die engen Felswände in ihrem Unterschlupf reflektierten die Wärme des Feuers. Der Rauch zog schlecht ab und kratzte in der Kehle. Melvyn wünschte, er hätte eine Decke, in die er seine Schwester einschlagen könnte. Oder zumindest trockenes Moos, um ihr kein Lager auf nacktem Stein bereiten zu müssen.
Erschrocken bemerkte der Elf, dass sich an einigen ihrer Finger, dicht unterhalb der Nägel, Beulen gebildet hatten. Er massierte sie vorsichtig und versuchte die Wärme in ihre Glieder zurückzuholen. Ihm war das alles fremd. Kein Maurawani, den er kannte, hatte jemals an Erfrierungen gelitten. Er wusste nicht sicher, was zu tun war.
Verzweifelt lief er noch einmal den Hang hinab zum Wäldchen, um mehr Brennholz zu holen. Als er zurückkehrte, saß Wolkentaucher auf dem Fels über ihrem Ver steck. Im Schnee lag ein toter Steinbock. Er war noch warm!
Melvyn zerrte den Bock an den wulstigen Hörnern in ihr Versteck. Sein Blut war noch nicht geronnen. Er schnitt leicht in die Kehle des Tiers. Dunkles Blut troff auf das helle Fell. Er presste den Einschnitt auf Kadlins Mund. Sie schluckte, ohne zu erwachen. Sie brauchte alles, was ihr Kraft geben konnte. Gebratenes Fleisch würde sie nicht kauen können. Und es würde zu lange dauern, den Bock zu zerlegen und ein paar Streifen Fleisch auf dem Feuer zu garen. Das konnte er später noch tun.
Blut rann über ihre Kehle und zwischen ihren Brüsten hinab. Kein Laut kam über ihre Lippen. Er schob den Bock zur Seite und hielt seine Hand dicht vor ihren Mund, spürte aber keinen Atem. Erschrocken lauschte er an ihrem Herzen. Es schlug nur schwach und unregelmäßig. Das Herz des Kindes in ihr hörte er gar nicht schlagen. Er legte die Hand auf ihren nackten Bauch. Dort regte sich nichts.
Er sperrte sich gegen die Gedanken des Adlers. Sein Gefährte hielt all das für nutzlos.
Er riet ihm, seine Nestschwester ziehen zu lassen. »Scher dich davon!«, schrie er in plötzlicher Wut. Er würde nicht aufgeben! Es durfte nicht so enden! Nicht so! Er würde sich dem Tod entgegenstemmen. Ihm sein Opfer wieder entreißen. Wie hieß ihr Schicksalsgott? Luth! Er würde ihm die Klinge aus der Hand schlagen, mit der er die Lebensfäden der Menschen durchtrennte. Sie musste leben!
Wolkentaucher flog fort. Er spürte, dass sein Freund keinen Groll gegen ihn hegte. Der Vogel war verwundert über so viel verschwendete Gefühle. Über den nutzlosen Kampf.
Wieder rieb Melvyn Kadlin die Glieder. Aber es schien nicht zu helfen. Ihr Blut floss immer langsamer. Nichts vermochte sie aus ihrer tiefen Ohnmacht zu wecken. Sie würde langsam vom Leben in den Tod gleiten. Ohne Schmerzen.
Wenn er sie nur mit seinem Zauber zu schützen vermochte! Er empfand keine Kälte.
Seine Magie bewahrte ihn davor ebenso wie vor Hitze. Aber er konnte sie nicht schützen. Er war kein erfahrener Zauberer. Nur ein Jäger und Krieger.
Vielleicht konnte er die Wärme seines Körpers auf sie übertragen. Das war das Letzte, was ihm noch blieb. Hastig streifte er seine Kleider ab. Er setzte sich auf den Felsboden, aus dem das Feuer die schlimmste Kälte vertrieben hatte. Dann zog er seine Schwester zu sich auf den Schoß. Sie sollte ganz von seiner Wärme umfangen sein. Er lehnte ihren Rücken gegen seine Brust, faltete seine Hände über ihrem Bauch.
Melvyn begann leise zu summen. Eine Melodie, die er in den langen Nächten ersonnen hatte, die Silwyna ihn am Albenhaupt allein gelassen hatte. Damals hatte er so gegen seine Ängste angekämpft. Jetzt war dieser Zauber aus Kindertagen verblasst.
Seine Hände streichelten über Kadlins Bauch. Die Melodie brach ab. Er begann zu beten, obwohl er nicht an Götter glaubte. Aber dies hier war eine andere Welt. Er würde alles tun, um sie zu retten. Alles!
Adrien sah den Priester ungläubig an. »Du hast die Männer am Baum getötet?« Er erwartete, dass Jules lächeln würde. Oder mit den Augen zwinkern. Wartete auf irgendein Zeichen, das ihm verraten würde, dass es ein Scherz war. Aber es kam nichts.
»Priester tun so etwas nicht.« Kaum dass die Worte über seine Lippen waren, verwünschte er sich stumm. Wie würde Jules das auffassen? Würde er beleidigt sein?
Keine Regung zeigte sich im Antlitz des Priesters. Seine strahlend blauen Augen hielten Adriens Blick stand. Dann nickte Jules sacht. »Ja, so ist es. Priester sollten kein Blut vergießen. Und doch braucht die Kirche Tjureds auch Krieger. Sie braucht sie zum Schutz. Dein Vater war der erste Ritter Gottes. Du wirst seine Nachfolge antreten.
Wenn du sein Erbe in dir trägst, und wenn du Disziplin und Selbstlosigkeit übst, dann wirst du ein großer Ritter werden, Michel Sarti.«
Der Name war Adrien noch immer ganz fremd. Es fühlte sich falsch an, so angesprochen zu werden. Ebenso falsch erschien ihm die Vorstellung, ein Ritter zu werden. Er war ein Gassenjunge und Dieb. Der Sohn einer Hure. Bei solch einer Herkunft wurde man nicht Ritter!
»Wie konntest du allein so viele Krieger besiegen?« Er sollte seine Gedanken tief in sich begraben. Das Leben bei Jules war gut. Es gab Essen und einen Schlafplatz. Adrien war es nicht gewohnt, Sicherheit für den nächsten Tag zu kennen. Er würde das nicht aufgeben.
»Ich habe sie nicht alle auf einmal bekämpft. Es hat drei Tage gedauert, sie zu töten.«
»Drei Tage ...« Er plapperte das nach wie ein Idiot. »Drei Tage! Wie ... «
»Lass dich nicht von meiner Kutte täuschen! Was sagt ein Stück Stoff schon aus? Dass ich ein friedlicher Mensch bin?« Er lächelte breit. »Das bin ich ganz gewiss nicht. Die Kunst der Täuschung zu beherrschen, ist im Kampf ebenso wichtig wie ein starker und geübter Schwertarm. Es ist stets von Vorteil, weniger zu scheinen, als du bist. Der schrecklichste Feind ist der Feind, den man nie wirklich zu Gesicht bekommt.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an seine Stirn. »Hier drinnen hausen unsere Dämonen.
Nicht in Bäumen, Adrien. Die ersten von Cabezans Stierköpfen habe ich leicht getötet.
Sie sahen in mir nur einen wehrlosen Priester und kamen ohne Arg auf mich zu. Sie waren tot, bevor sie begreifen konnten, wie sehr sie sich getäuscht hatten. Ich hing ihre Leichen in den großen Baum. Zusammen mit den Ketten, die sie für ihre Flaschenzüge mitgebracht hatten. Als sieben von ihnen tot waren, kroch Angst in die Herzen der Überlebenden. Schon da hatten sie ihre Selbstsicherheit verloren. Nachdem mehr als dreißig gestorben waren, hatte die Angst sie so sehr im Griff, dass schon der Ruf eines Eistauchers sie vor Schreck zusammenfahren ließ. Wer immer mich sah, starb. Und die Überlebenden wussten nicht, wie die Gefahr aussah, die auf sie lauerte. Sie hatten Angst vor dem Baum, in den ich die Toten hängte. Sie fürchteten den Nebel, der morgens vom Ufer des Flusses aufstieg. Am Abend des dritten Tages war ihre Angst vor dem unsichtbaren Feind größer als die Furcht vor dem Tyrannen Cabezan. Sie gaben ihre Lager auf, schifften sich mit allen Arbeitern ein und kehrten niemals mehr zurück.«
Adrien hatte seine Zweifel, dass ein einzelner Mann in so kurzer Zeit so viele Gegner töten konnte. Wollte Jules ihn beeindrucken? Oder einschüchtern? Dazu wäre diese Geschichte nicht notwendig gewesen.
»Was habe ich falsch gemacht, als ich gegen die Männer Cabezans kämpfte?«
Der Junge war von der Frage überrascht. Wollte Jules ihn prüfen? Verzweifelt suchte er nach einer Antwort, mit der er möglichst wenig Schaden anrichten würde. »Mir scheint, dass der Tjuredkirche aus diesen Kämpfen kein Nutzen erwachsen ist«, sagte er schließlich vorsichtig.
Der Priester nickte. »Das ist wahr. Merke dir, ich schätze das offene Wort. Selbst wenn wir einmal verschiedener Meinung sein sollten. Ich will dich nicht zu einem Duckmäuser erziehen. Handle wie ein Ritter. Fang jetzt damit an. Sag mir, was du denkst!«
»Es war nicht ritterlich, was du getan hast. Deine Geschichte ist die Geschichte eines Meuchlers. Eines ...« Eine schallende Ohrfeige war der Lohn für seine Offenheit.
»Das war dafür, dass du mich Meuchler genannt hast.
Merke dir, ich bin dein Meister. Ich werde mich nicht von dir beleidigen lassen! Es hätte genügt, zu sagen, dass meine Taten nicht ritterlich waren. In diesen Worten war als Andeutung schon enthalten, was du danach aussprachst. Offene Beleidigungen sind nicht klug! Aber ja, es war nicht ritterlich. Du hast Recht. Das ist der Grund, warum du hier bist. Wenn deine Ausbildung abgeschlossen ist, wirst du ein Schwertkämpfer sein, mit dem sich kein anderer Mann in Fargon messen kann. Aber du würdest dich nicht im Nebel verbergen. Du würdest wie ein Ritter vor die Frevler treten und ihren Anführer zum Zweikampf fordern.«
»Das halte ich für nicht sonderlich klug. Was ist, wenn sie nicht ritterlich denken? Was, wenn sie mit Armbrüsten auf mich schießen? Was nutzten dann all die Jahre der Ausbildung?«
Jules brach in schallendes Gelächter aus. »Das ist das Problem mit ritterlichen Helden, sie werden meist nicht alt. Aber keine Sorge, mein Junge, ich werde dich vorbereiten.
Fargon ist ein Königreich, in dem Ritterlichkeit nicht mehr viel gilt. Du wirst das ändern. Es wird der Tag kommen, da wird dein Name in aller Munde sein. Die Männer finstren Herzens werden dich fürchten. Und die Mädchen werden erröten, wenn man von dir spricht.«
Er stellte sich vor, wie das Blumenmädchen von ihm hören würde, ohne zu ahnen, wer er einmal gewesen war. »Und du glaubst, ich könnte das schaffen?«
»Bei den Anlagen, die dein Vater dir mitgegeben hat, liegt dir die Welt zu Füßen. Alles, was du brauchst, sind Mut und Ausdauer. Und daran werden wir arbeiten. Ich werde dich jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang wecken. Du wirst dein Tagwerk damit beginnen zu laufen, bis deine Beine dich nicht mehr tragen. Danach wirst du graben, um deine Arme zu kräftigen. Dann erst werden wir mit den Kampfübungen beginnen.
Nach der Arbeit mit Spaten und Spitzhacke wird dein Schwert dir sehr leicht erscheinen. Für eine Zeit lang.« Jules grinste ihn breit an. »Und wenn du kein Glied mehr rühren kannst vor Erschöpfung, dann werde ich deinen Geist schärfen. Du musst lesen lernen und schreiben. Du sollst rechnen können und in den Lehren der Tjuredkirche wohl bewandert sein. Du wirst mehr als nur ein Krieger sein. Du wirst ein Ritter werden, wie ihn die Welt noch nicht kennt. Ein Ordensritter. Ein Diener Tjureds und der Menschen. Gelehrter, Priester und Krieger.«
Er saß auf einem Stein, noch warm von der Hitze des Tages, und blickte in den Abgrund vor seinen Füßen. Die Schatten der Nacht hatten die Tiefe zur Erinnerung verschwimmen lassen. Das Licht der Sterne reichte nicht, um auch nur den halben Weg bis zum Grund ahnen zu lassen.
Falrach stieß mit dem Fuß gegen einen kleinen Stein, der klackernd im Abgrund verschwand, und dachte an den Abgrund von mehr als vierzig Jahrhunderten, der zwischen ihm und Emerelle klaffte. Und an Ollowain. Inmitten des stürmischen Liebesspiels hatte sie seinen Namen geflüstert. Wie sollte er es ihr verdenken?
Schließlich blickte sie in Ollowains Gesicht, wenn sie beide einander liebten. All sein Feuer war in jenem Augenblick verloschen. Er hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Hatte gar nichts gesagt. Vielleicht hatte Emerelle in seinen Gedanken gelesen und entdeckt, was geschehen war?
Falrach blickte hinab in die Dunkelheit. Seine Seele lebte in einem Leib, der ihm nicht gehörte. Er durfte nicht...
»He, Mann. Das ist kein guter Platz, um Trübsal zu bla sen. Von dieser Klippe habe ich meine Schwiegermutter gestoßen, nachdem sie versucht hatte, mich zu vergiften.« »Was?«
Oblon stand hinter ihm. Er grinste ihn an, was sein aufgemaltes Totenkopfgesicht besonders abstoßend wirken ließ. »Das war nur ein Scherz. Was machst du hier? Du hattest doch einen guten Tag.«
»Wie kommst du darauf?«
Das Grinsen des Kobolds wurde noch breiter. »Tja, mit Felsen hat es so eine seltsame Bewandtnis. Manchmal verschlucken sie jeden Laut, und manchmal tragen sie ein leises Flüstern eine Meile weit.«
Falrach schluckte. Das hatte gerade noch gefehlt, dass das halbe Dorf ihm und Emerelle zugehört hatte.
»Ich seh schon, dass dir irgendeine Laus über die Leber gelaufen ist. Du solltest lieber mit mir kommen. Wir machen uns einen netten Männerabend. Du wirst sehen, danach geht es dir besser.«
Falrach stand nicht der Sinn danach herauszufinden, was ein Kobold unter einem Männerabend verstand. »Wie kommst du darauf, dass ich nett bin?«, fragte er schroff.
»Das ist recht eindeutig. Nach dem bedauerlichen Zwischenfall in der Klamm hattest du Grund und Gelegenheit, mir den Kopf zwischen die Füße zu legen.« Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, fuhr er sich mit der Handkante über den Hals, als wolle er sich die Kehle durchschneiden. »Ich habe zwar nicht viel Erfahrung mit himmelsgeborenen Riesen, aber alles spricht dafür, dass du ein netter Kerl bist. Ich an deiner Stelle wäre nicht so ritterlich gewesen.«
Nüchtern betrachtet, war er schon jetzt abgelenkt. Und ein Abend mit einem Kobold konnte wohl kaum schlimmer sein, als in melancholischer Stimmung an einem Abgrund zu sitzen.
»Warum bist du hier?«
Oblon deutete über den Rand der Klippe. »Ich war mit drei Jägern da unten. Wir haben dir über eine Stunde lang zugesehen und gewettet, was du tun würdest. Ich habe die Muschelkette meines Weibs verwettet, dass du springst und nicht fliegen kannst. Aber nach einer Weile wurde uns allen das Warten zu langweilig. Wärst du gesprungen?«
Falrach sah den Kobold durchdringend an, was Oblon augenscheinlich nicht im Mindesten beeindruckte. »Ich fürchte, dieses Geheimnis werde ich mit ins Grab nehmen.«
Der Schamane nickte ernst. »Ja, solche Dinge sollten in der Familie bleiben. Wie sieht es aus, Riese? Willst du hierbleiben? Ich halte das nicht für klug!«
Was hatte er zu verlieren?, dachte Falrach. »Gut, gehen wir.«
Oblon führte ihn auf einem halsbrecherisch steilen Pfad durch die Felsen. Er wählte einen Weg, der sie vom Dorf fortführte. Falrach scherte sich nicht darum, wohin der kleine Schamane ihn bringen würde. Er dachte wieder an Emerelle, und er verfluchte sich dafür.
Schließlich stiegen sie über einen schroffen Hügel hinweg und blickten hinab in eine weite Bodensenke, die von seltsamen weißen Felsbrocken beherrscht wurde. Der Elf blinzelte. Das Licht war zu schwach, um deutlich erkennen zu können, was da vor ihm lag. Felsen waren es jedenfalls nicht! Ihm stockte der Atem.
»Eindrucksvoll, nicht wahr?«
»Ja ... « Mehr brachte er im ersten Augenblick nicht über die Lippen.
Der Kobold stieg in die Senke hinab. »Komm, er beißt ja nicht.« Ein leises Lachen begleitete seine Worte.
Fairachs Hände hatten zu zittern begonnen. Er konnte es nicht unterdrücken. Er schämte sich dafür. Der Schrecken des letzten Augenblicks seines Lebens stand ihm wieder vor Augen. Die Angst. Der Schmerz. Und die Gewissheit, dass es nur einen Weg gab, das Verhängnis abzuwenden.
»Kommst du?«
Zögerlich stieg er hinab. Das halb in Sand und Geröll vergrabene Skelett war mehr als fünfzig Schritt lang. Al ein der Schädel war schon gewaltig. Groß wie ein Haus lag er dort. Oblon stieg durch eines der Augenlöcher ins Innere.
Falrach verschränkte seine Arme vor der Brust. So konnte er seine zitternden Hände verbergen. Sein Mund war staubtrocken. Er blickte auf die Zähne, die länger als Schwerter waren und so hart, dass sie selbst dem alles verzehrenden Feuer widerstehen konnten.
Oblon steckte den Kopf aus der Augenhöhle. »Glaubst du, du passt hier durch?«
»Welcher war es?«
»Was? Wovon redest du?«
»Der Sonnendrache! Welcher von ihnen war es?«
»Die hatten Namen? Kanntest du etwa welche?«
Falrach trat dicht vor den Drachenschädel. Fassungslos sah er, dass rund um die Augenhöhlen Runen auf den Knochen gemalt waren. Es gab winzige Handabdrücke.
Offensichtlich vom Kobold. Und es roch ein wenig nach Urin. Vor ihm lag einer der Herren der Welt. Sie waren fast wie Götter gewesen. Und jetzt hauste ein Kobold in seinem Schädel, und offensichtlich ging er irgendwo zwischen den Rippen zum Pinkeln.
»Kanntest du den?«
Falrach tastete über den Schädel. »Vielleicht. Vielleicht war er es, der mich einst getötet hat. Es gab nicht viele von ihnen.«
»Geht es dir nicht gut? Du stehst doch vor mir. Und du bist kein Geist. Mit Geistern kenne ich mich aus! Was soll das heißen, dass der Drache dich getötet hat?«
»Wie lange liegt er schon hier?«
»Du stellst Fragen, Riese. Woher soll ich das wissen? Der lag schon hier, bevor mein Volk hergekommen ist.« »Was machst du in seinem Schädel?«
»Was wohl? Ich befrage mein Knochenorakel. Das ist ein Ort voller Magie. Hier kann ich besonders gut die Geister rufen. Und alle, die mich hier besuchen kommen, haben Respekt.« Oblon grinste breit. »Sogar du hast Respekt vor ihm. Das sehe ich genau. Er kann einem Angst machen, nicht wahr?«
Falrach nickte. Dann trat er ein Stück zurück. »Hier will ich nicht bleiben!«
»Du hast ja nicht einmal einen Blick hineingeworfen. Das solltest du dir nicht entgehen lassen. Du wirst so schnell nicht wieder in einem Drachenschädel hocken und ... «
Der Elf winkte ab. »Ich gehe jetzt.« »Ach, komm schon rauf. Wovor hast du Angst? Ich sage dir …«
Falrach hörte ihm nicht mehr zu. Wie hatte er nur auf die Idee kommen können, sich ernsthaft mit einem Kobold unterhalten zu wollen? Mit einem Kobold, der ihn vor ein paar Tagen noch hatte schlachten wollen!
»He, großer Mann!«
Er hörte eilige Schritte hinter sich. Dann schloss Oblon zu ihm auf. Der Schamane hatte sich eine Kürbisflasche umgehängt und trug einen dilettantisch getöpferten Krug.
»Vergessen wir das einfach. Du magst keine toten Drachen. Ich hab das verstanden.
Suchen wir uns einen anderen netten Ort.«
»Warum läufst du mir nach?«
»Was glaubst denn du? Zwei Riesen leben plötzlich in meinem Dorf. Nach ersten Missverständnissen verstehen wir uns ganz gut. Und plötzlich haben meine Jäger ein Jagdglück wie noch nie. Halte mich nicht für dumm, nur weil mein Kopf viel kleiner ist als deiner. Mir ist klar, dass deine Geliebte irgendeine Art von Jagdzauber wirkt, damit wir alle genug zu essen haben. Das ist eine Verbesserung für mein Dorf. Und niemand hat Angst, dass uns die Trolle angreifen werden, solange ihr hier seid. Dann macht ihr beide Liebe. Und plötzlich sitzt du mit finsterem Gesicht an einem Abgrund und brütest vor dich hin.«
Falrach schnaubte verächtlich. »Vor ein paar Tagen wolltest du mich noch fressen. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dir abnehme, dass du dir jetzt Sorgen um mich machst.«
»Tue ich auch nicht. Ich sorge mich um mein Dorf. Du bist durcheinander. Und ein Riese, der ein Schwert besitzt, das so groß und schwer ist, dass man mehrere Kobolde braucht, um es zu tragen. Was wird geschehen, wenn du deinen Kummer und deine Wut an uns auslässt? Wer könnte dich aufhalten? Deshalb bin ich hier, um mit dir zu reden. Ich finde, du bist kein übler Kerl, für einen Riesen.«
Falrach schüttelte den Kopf. Dann lachte er leise. Er fing an, den frechen kleinen Kerl zu mögen. Aber durfte er ihm vertrauen? »Du bist der verschlagenste und mutigste Kobold, dem ich je begegnet bin.«
»Ich fasse das mal als ein Kompliment auf.« Oblon sah zu ihm auf und grinste breit.
Dann deutete er ein Stück voraus zum Ufer des kleinen Baches, der nahe dem Dorf floss. »Das ist ein guter Platz zum Reden. Da wird uns niemand stören.«
Das flache Rinnsal, das die Kobolde hochtrabend ihren Fluss nannten, schimmerte silbern im Licht der Nachtgestirne. Das leise Plätschern des Wassers hatte etwas Beruhigendes. Falrach musste sich eingestehen, dass dies ein besserer Ort war, um die Nacht zu verbringen, als der Klippenrand. Sie ließen sich bei einem Felsen nieder.
Oblon zog den hölzernen Stöpsel aus der Kürbisflasche. »Maisschnaps! Wenn man genug davon trinkt, schläft man gut, ganz gleich, welche Sorgen einen bedrücken.« Er setzte den unförmigem Kürbis an die Lippen und trank einen Schluck.« Danach tat er einen tiefen Seufzer. »Das brennt die Kehle und den Kopf aus!« Er hielt ihm die Flasche entgegen.
Falrach nahm sie und roch zweifelnd an dem Gebräu. Aber was hatte er schon zu verlieren? Auch er nahm einen Schluck. Das Zeug brannte wie glühende Kohlen.
Obwohl er kaum etwas getrunken hatte, hatte er das Gefühl, kaum noch atmen zu können.
»Gut, nicht?«
Falrach war sich nicht sicher, ob er das Koboldgebräu im Magen behalten würde. Statt zu antworten, nickte er nur, was Oblon aber völlig zu genügen schien. Der Kobold nahm noch einen Schluck, verschränkte dann die Arme hinter dem Kopf und blickte zum Nachthimmel hinauf.
»Frauen sind das Wunderbarste, was uns geschehen kann. Sie sind das Salz des Lebens.«
Der Elf dachte an die ausgemergelte Gestalt, die in Ob-Ions Haus wartete. Sie war wahrscheinlich nicht alt. Aber das entbehrungsreiche Leben am Rand der Wüste hatte bereits unauslöschliche Spuren hinterlassen.
»Wenn ich etwas Maisschnaps trinke und dann mit ihr Liebe mache, schlafe ich so tief und friedlich wie ein Neugeborenes mit vollem Bauch. Für ein paar Stunden kann ich dann alle Sorgen vergessen. Firandi ist eine sehr leidenschaftliche Frau. In unserer Hütte wage ich es nicht, ihr zu widersprechen.« Er nahm noch einen Schluck vom Schnaps und hielt ihm die Flasche hin.
Falrach nahm die Kürbisflasche. Der zweite Schluck brannte nicht mehr ganz so schlimm wie der erste. Er fragte sich, ob er vielleicht auch Vergessen finden würde.
Und sei es nur für ein paar Stunden.
»Was für einen Kummer hast du eigentlich, Riese? Ich meine, dieses Weib ... Deine Gefährtin. Sie ist viel zu groß. Und ich habe den Eindruck, sie hat nicht nur in eurer Hütte das Sagen. Daran musst du etwas ändern! Weibern zu viele Freiheiten zu lassen, führt nur zu Kopfschmerzen! Aber wenn ich sehe, wie du sie anschaust... Ich glaube, du bist tief und aufrichtig in sie verliebt.« Er grinste. »Ihr habt euch leidenschaftlich geliebt. Und so lange, wie man das nur tut, wenn die Liebe noch frisch ist. Aber dann sitzt du abends an diesem Abgrund und es sieht aus, als wolltest du runterspringen. Was willst du eigentlich noch in deinem Leben? Was ist los mit dir? Heute war einer von den guten Tagen! Bist du blind, dass du das nicht merkst?«
»Sie hat mit mir ...« Liebe würde er dazu nie sagen. Aber was konnte man einem Kobold sagen? Eine poetische Umschreibung würde er vermutlich nicht zu würdigen wissen und wahrscheinlich nicht einmal verstehen.
»Ich weiß, was du sagen willst. Komm, red weiter!«
Falrach räusperte sich. War er schon leicht betrunken? Unter normalen Bedingungen hätte er niemals darüber gesprochen. »Sie hat mich mit dem Namen eines anderen angesprochen.«
»Na und?«
»Verstehst du nicht? Sie denkt an einen anderen, während ich ... «
»Ich finde, da hat eher der andere ein Problem. Sie mag ihn, findet aber nichts dabei, sich mit dir zu vergnügen. Du solltest dir weniger den Kopf zerbrechen und die reichen Früchte ernten, die das Schicksal dir aufgetischt hat.«
»So einfach ist das alles nicht«, protestierte Falrach.
»Ich glaube schon! Liegt das an den größeren Köpfen von euch Riesen, dass ihr so verwickelt denkt? Was hältst du davon, den anderen umzubringen, wenn du ihm das nächste Mal begegnest? Aber pass gut auf, dass dein Weib davon nichts merkt. Ich sag dir, Frauen können bei so etwas ziemlich nachtragend sein!«
»Hast du etwa einmal ... «
Statt zu antworten, grinste Oblon nur breit. Dann nahm er etwas Verschrumpeltes, Dunkles aus dem Topf, den er aus dem Drachenschädel geholt hatte, und begann darauf zu kauen. Dabei machte er Geräusche, als zermalme er die Knochen eines kleinen Tiers zwischen den Zähnen.
»Also bei mir hilft das nichts. Der Mann, von dem sie spricht, ist schon tot.«
Oblon hob die Hände in fragender Geste. »Dann verstehe ich dein Problem nicht.«
»Es ist ... Wenn sie mich anblickt, dann sieht sie den Toten.«
»Nein, nein.« Er winkte großspurig ab. Er hatte ja keine Ahnung! »Das bildest du dir ein, Riese.«
»Es ist wirklich so! Ich bin im Leib des Toten gefangen. Ich ... «
Oblon hörte auf zu kauen und sah ihn forschend an. »Den Spaß verstehe ich nicht«, murmelte er schließlich mit vollem Mund.
»Es ist kein Spaß! Hör zu!« Falrach erzählte ihm die ganze Geschichte, und der Schamane unterbrach ihn nicht ein einziges Mal.
Als er schließlich endete, sah Oblon ihn lange nachdenklich an und rieb dabei nervös an seiner Nasenspitze. »Du bist also ein Geist«, sagte er endlich.
»Nein!«, entgegnete Falrach empört.
»Wieso? Du bist tot, das hast du doch gerade erzählt. Also bist du ein Geist. Versuch nicht, dich da herauszureden. Die Sache ist ganz klar!«
»Du verstehst nicht...«
»Oh, doch. Geister sind mein tägliches Geschäft. Ich bin Schamane!«
»Es gibt gar keine Geister!«
Oblon begann schallend zu lachen. »Das sagt mir ein Geist«, stieß er dabei prustend hervor. »Riese, du hast wirklich Humor.«
Falrach hatte genug. Er wollte gehen, doch der Kobold griff nach seinem Arm.
»Komm, bleib. Ich wollte dich nicht beleidigen. Iss etwas hiervon! Es gibt nichts Besseres zu Maisschnaps.«
»Was ist das?«
»Getrocknetes Kakteenfleisch. Das ist gut, solange man genug Zähne hat.«
Zögerlich langte Falrach in den Topf. Er zog einen ver schrumpelten Streifen von undefinierbarer Farbe daraus hervor. Er roch daran. Das Kakteenfleisch verströmte einen ganz leichten, würzigen Geruch. Er blickte zu Oblon hinab. Kobolden schien es nicht zu schaden. Er wog mindestens zehn Mal so viel wie der kleine Kerl. Da würde ihn ein Stück von diesem Zeug wohl kaum umwerfen.
»Du bist also kein Geist«, lenkte Oblon ein.
Falrach nickte und schob sich das verschrumpelte Ding in den Mund. Es schmeckte nicht unangenehm. Er biss darauf. Ein warmes, wohliges Gefühl breitete sich in seinem Mund aus und stieg ihm zu Kopf. Dann hatte er das Gefühl, dass ein weicher Pelz auf seiner Zunge und seinen Zähnen lag. Sehr merkwürdig!
Oblon hielt ihm die Kürbisflasche hin. Der Elf nahm noch einen Schluck. Der Schnaps brannte den Pelz weg. Er fühlte sich jetzt sehr entspannt.
»Ollowain und ich, wir sind ein und dieselbe Seele.« Es fiel ihm etwas schwer, zu sprechen. Seine Zunge verhedderte sich an Worten mit mehr als einer Silbe. Er lächelte selbstversunken. Sehr amüsant, wie er plötzlich sprach.
»Du solltest noch etwas Kaktus versuchen.«
Falrach hatte Schwierigkeiten, seine Hand durch die enge Öffnung des Topfes zu bekommen. Eben war es doch noch ganz leicht gewesen. Es schien fast, als sei seine Hand angeschwollen. Er kicherte. Das war natürlich Unsinn! Oblon war schließlich so nett, ihm ein Stück zu geben.
»Was ist mit dem anderen? Demjenigen, dem dieser Körper gehört.«
Der Elf zuckte die Schultern, was ihm nicht ganz gelang. Sein Leib fühlte sich schwer an. »Der ist weg. Niemand weiß, warum. Völlig verschwunden. Wie tot.«
»Ich werde dich befreien«, sagte der Kobold sehr entschieden. »So wie heute wird es dir nie wieder gehen!«
Falrach sank der Kopf auf die Brust. »Das wäre schön«, lallte er. Das zweite Stück Kaktus hatte eine andere Wirkung. Er fühlte sich plötzlich sehr schwer, so als lägen große Felsblöcke auf ihm. Er vermochte seine Glieder nicht mehr zu rühren. Auch seine Zunge wollte ihm nicht mehr gehorchen. Er brachte nur noch ein unartikuliertes Lallen hervor. Aber er fand das nicht beunruhigend. Eher amüsant.
Der Kobold mit dem aufgemalten Schädelgesicht beugte sich dicht über ihn. »Ich muss einmal kurz weg. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Riese. Al es wird gut!«
War etwas nicht in Ordnung? Der Kobold verschwand. Seine Worte hatten das Gegenteil erreicht. Falrach wollte aufstehen, aber er konnte es nicht. Und er begann, sich Sorgen zu machen.
Es dauerte nicht lange, bis Oblon zurückkehrte. Und er war nicht allein! Das halbe Dorf schien ihn zu begleiten. Falrach wollte aufspringen, aber es war, als sei er mit Eisenketten an den ausgedorrten Boden gefesselt. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Seine Sinne aber waren wieder ganz klar.
»Es ist alles in bester Ordnung!«, sagte Oblon und tätschelte ihm dabei über das Gesicht, als sei er ein Kleinkind.
Die Kobolde hatten um ihn herum Aufstellung genommen. Was glotzten sie ihn so seltsam an? Und wie hatte er so blöde sein können, sich Oblon anzuvertrauen!
»Hebt ihn hoch!«, befahl der Schamane. Dutzende kleine Hände packten zu. Er stieß mit dem Kopf gegen den Felsen, an dem er gelehnt hatte.
»Passt besser auf ihn auf«, sagte Oblon schroff. »Der Körper gehört ihm gar nicht. Der arme Kerl, den ihr da tragt, ist besessen. Aber wir werden ihm helfen!«
Falrach traute seinen Ohren nicht. Was hatten sie mit ihm vor?
Unter vielen gemurmelten Flüchen trugen sie ihn dem Dorf entgegen. Alle paar Schritt mussten sie ihn wieder ablegen. Endlich schafften sie ihn durch den Dornenwall.
Es war wie ein böser Traum! Und er konnte nicht aufwachen.
Er glaubte den Eingang von Oblons Hütte zu erkennen. Sie trugen ihn daran vorbei.
Bis zu der zweiten Öffnung in dem jämmerlichen Lehmhaufen, in dem die Familie des Schamanen lebte. Die Perlschnüre und schmuddeligen Stoffstreifen in der Tür bewegten sich sanft, obwohl es windstill war. Hellgrauer Rauch quoll aus der Hütte.
Wie mit langen, geisterhaften Fingern griff er nach ihm.
»Der Riese passt nicht durch die Tür«, sagte jemand.
»Dann müssen wir sie erweitern«, entgegnete Oblon entschieden.
Falrach konnte an den Gesichtern der Umstehenden ablesen, dass viele dies offenbar für keinen guten Einfall hielten. Dennoch fand der Schamane ein paar Helfer. Sie schlugen mit Steinhacken auf den trockenen Lehm ein. Die Wand der Hütte zerbröckelte unter den wuchtigen Hieben. Ein Gitterwerk aus dürren Ästen kam zum Vorschein, dem sie mit Haumessern zu Leibe rückten.
Einige der umstehenden Kobolde kreuzten die Finger und machten Schutzzeichen.
Was hatte Oblon vor? Falrach versuchte verzweifelt sich aufzubäumen, doch sein eigener Leib war ihm zur Fessel geworden.
»Schlagt mir nicht das Haus zusammen!«, rief Firandi erbost.
Der Schamane hob beschwichtigend die Hände. »Ich glaube, das genügt. Aufhören!
Los, schafft ihn hinein! So viel, wie von ihm hineinpasst. Die Füße können ruhig draußen bleiben!«
Falrach wurde erneut gepackt. Sie zerrten ihn in die Hütte. »Tretet keinem auf die Füße! Und brecht mir keine Finger oder Nasen ab!«, schimpfte der Schamane. »Vorsicht, verdammt!«
Koboldschweiß tropfte Falrach aufs Gesicht. Oblons Helfer wirkten beunruhigt. Als der Schamane zufrieden war, hatten sie es sehr eilig, die Hütte zu verlassen.
Es war dunkel. Ein eigenartiger, muffiger Geruch hing in der Luft.
Oblon war hinter seinem Kopf, so dass er ihn nicht sehen konnte. Nicht einmal die Augen vermochte er zu bewegen. Er starrte einfach nur geradeaus. Der Kobold hinter ihm pustete aus Leibeskräften, das konnte er hören. Dunkelrotes Licht glomm auf.
Gegenüber kauerten Gestalten an der Wand der Hütte. Bewegungslos. In zwei Reihen.
Die Kammer war sehr eng. Sie waren kaum mehr als einen Fuß von ihm entfernt.
Was hatte Oblon gesagt? Brecht mir keine Finger oder Nasen ab! Da war etwas ...
Der Schamane kam hinter seinem Kopf hervor. Er hielt einen Topf in beiden Händen, in dem etwas glomm. Feiner, heller Rauch stieg davon auf. Das rote Licht strahlte ihn von unten an und ließ seine Totenkopfgrimasse beängstigend aussehen.
Oblon kniete sich auf seine Brust, aber er spürte das Gewicht des Kobolds nicht. Er musste ihn anstarren. Er hatte keine Wahl! Wollte der kleine Mistkerl, dass er jede Episode dieses letzten Aktes mit verfolgte?
Der Schamane atmete den grauen Rauch ein und blies ihn in alle vier Himmelsrichtungen. Dabei verneigte er sich ehrerbietig und murmelte über Geister. So ein Unsinn! Jeder Elf wusste, dass es keine Geister gab. Das waren Koboldhirngespinste. Nichts als blanker Unsinn!
Fairachs Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt. Und als Oblon endlich von seiner Brust herabstieg, konnte er erkennen, wer dort an der Wand kauerte. Er blickte in ein dunkles, faltendurchzogenes Koboldgesicht. Ein Gesicht wie ein altes Stück Schuhleder. Von Falten durchzogen. Verwittert und fleckig. Ein Gesicht ohne Nase und mit dunklen Höhlen, wo Augen hätten sein sollen.
Die Hütte war voller Leichen! Das mussten die Ahnen sein, von denen die Kobolde immer wieder auf bedeutungsvolle Weise sprachen. So, als seien sie nicht wirklich gegangen. Und hier waren sie. Nur in einem anderen Zimmer. Unter einem Dach mit den Lebenden. Was für ein Wahnsinn!
»Hört ihr mich?« Oblons Stimme klang nun anders. Dunkler. Das war der Rauch, redete sich Falrach ein, obwohl er spüren konnte, wie der Zauber, den der Kobold wob, an Macht gewann. Seine Glieder waren lahm. Er hatte die Macht verloren, sie nach seinem Willen zu bewegen. Aber sie waren nicht gefühllos. Er spürte das Prickeln auf seiner Haut. Spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten. Und da war dieser Geruch. Ein Geruch, wie er an schwülen Sommertagen in der Luft hing, wenn man mit jeder Faser seines Leibes das Gewitter ahnte, das unmittelbar bevorstand.
»Hört ihr mich?«, raunte Oblon erneut mit rauchiger Stimme. »Kommt, meine Ahnen.
Holt ihn euch! Helft dem Besessenen.«
Warum konnten Kobolde nie zuhören?, dachte Falrach verzweifelt. Er war doch nicht besessen. Es war die Seele, die in diesen Leib gehörte. Hier gab es nichts zu bannen! Er war doch nur ein anderes Bewusstsein. Hätte er diesen verfluchten Kobold nur damals über der Klamm erschlagen, als die Gelegenheit dazu gewesen war!
»Kommt her! Holt ihn euch!«
Fairachs Blickfeld weitete sich. Endlich kam Leben in seine Glieder. Er konnte den Kopf ein klein wenig drehen und blickte nun in die Leichengrimasse eines Koboldweibes, dem man Türkise in die leeren Augenhöhlen gedrückt hatte, so dass sie Falrach mit steinern strafendem Blick ansah. Hatte sie die Stirn gerunzelt?
Der Elf röchelte leise. Er wollte Emerelle rufen. Wo war sie nur?
Oblon beugte sich über ihn. »Willst du fortlaufen? Das ist falsch.« Die dunkle Stimme klang beruhigend, ja freundlich. »Ich mag dich, Elf. Deshalb erlöse ich dich von deinen Qualen. Du wirst bald wieder der sein, der du sein solltest.«
Falrach wollte widersprechen, aber seine Zunge lag wie ein Stein in seinem Mund. Er brachte nur unartikuliertes Gestammel zustande.
Der Kobold nutzte die Gelegenheit und steckte ihm ein zähes Wurzelstück zwischen die Zähne, so dass er den Mund nicht mehr schließen konnte. Oblon hielt noch immer den Feuertopf in einer Hand. Der Rauch, der daraus entstieg, war nun dicker geworden, öliger. Es waren keine blassen, geisterhaften Finger mehr.
Der Schamane atmete den Rauch ein und blies ihn Falrach direkt in den offenen Mund.
Er kratzte in der Kehle. Der Elf hatte ein Gefühl, als hätte er kalten, zu fettigen Braten gegessen. Ein dünner, zäher Film lag ihm auf der Zunge und verklebte ihm den Rachen. Der Rauch schien ihm direkt in den Verstand zu steigen. Obwohl er auf festem Boden lag, glaubte er zu fallen. Sein Atem ging schneller.
Wieder blies ihm Oblon Rauch in den offenen Mund. Die Augen des Schamanen waren unnatürlich geweitet. Alles Weiß war daraus verschwunden. Das eine war ein kalter, schmutziggrüner See. Das andere leuchtete wie heller Bernstein. Die Pupillen waren zu winzigen schwarzen Punkten geschrumpft.
»Kannst du fühlen, wie sie kommen?«, krächzte der Kobold heiser. »Sie haben mich erhört.«
Niemand würde kommen, dachte Falrach. Das war völlig unmöglich. Es widersprach jeder Vernunft.
Oblon kauerte sich neben ihn. Den Feuertopf hatte er auf den Boden gesetzt. Er wiegte den Oberkörper vor und zurück. Ein wortlos an- und abschwellender Singsang begleitete die Bewegung.
Falrach sah hinter dem Schamanen deutlich dessen mumifizierte Ahnen. Hatte das Weib mit den Türksaugen sich bewegt? Er hätte schwören mögen, dass ihr Kopf gerade noch in einem anderen Winkel geneigt gewesen war.
Dem nasenlosen Toten quoll etwas zwischen den Lippen hervor. Feiner weißer Rauch, der sich in einem dünnen, kaum fingerdicken Faden wand. Statt der Decke der Lehmhütte entgegenzustreben, wand er sich fast waagrecht auf den Schamanen zu.
Auch die Türkisaugendame atmete Rauch aus. Falrach konnte den Kopf noch immer nicht bewegen, doch weitere Rauchfinger drangen nun in sein Gesichtsfeld. Sie verwo-ben sich zu einer wirbelnden Spirale über Oblons Kopf.
Der Schamane hielt mit einem Ruck inne. Oblon streckte den Arm vor und legte ihm seine Hand auf die Brust, genau dort, wo sein Herz schlug.
»Danke, dass ihr mich erhört habt«, sagte er mit fester Stimme. »Erlöst den Geist, der den Riesen befallen hat. Zieht ihn heraus wie einen Wurm, der einen Apfel faulen lässt.«
Fairachs Zunge war nicht mehr ganz betäubt. Er versuchte, mit ihr den Keil herauszudrücken, der zwischen seinen Zähnen steckte.
Die einzelnen Rauchfinger drehten sich ineinander wie die Stränge eines Seils. Immer dichter wurden sie, verloren ihre einzelnen Konturen und bewegten sich mit schlangenhafter Anmut ihm entgegen. Wie eine Schilfrohrnatter vor dem Zustoßen verharrten sie über ihm.
Mit einer letzten Anstrengung schaffte es Falrach, den Keil auszuspucken. Im selben Augenblick stieß die Schlange aus bleichem Rauch zu. Sie drang in seinen Mund und füllte ihm die Lungen. Binnen eines Herzschlags schien sie überall in ihm zu sein. Sie griff in seinen Verstand. Dutzende verschiedene Stimmen sprachen zu ihm. Lachen und Schreie. Weinen. Und dann erhob sich ein Befehl. Eine einzelne Stimme, die mehr und mehr an Macht gewann. Eine Stimme, die sein Bewusstsein auszufüllen drohte.
Nikodemus blickte auf das blutige Fleisch, das auf dem flachen Felsen lag. Wie sehr er es hasste! Verdammt nochmal, er war doch kein Troll! Was dachte sich Madra? Er hatte das Vieh noch nicht einmal richtig gehäutet. Da war noch blutverklebtes Fell an dem dürren Schenkel.
Der Lutin konnte durchaus begreifen, warum sie kein Feuer machen durften. Bei Nacht mochte sie der Flammenschein verraten, tagsüber der Rauch. Ein Feuer war einfach ein unberechenbares Risiko. Aber wie lange sollte er diesen Schlangenfraß noch hinunterwürgen? Das Kobolddorf lag auf der anderen Seite des Berges! Ein halber Tagesmarsch trennte sie von den beiden Elfen. Sie hatten hier nichts zu befürchten!
»Schmeckt es nicht?«, fragte Madra.
Nikodemus war versucht, dem Troll eine passende Antwort zu geben. Das barg allerdings die Gefahr, von einem Teilnehmer des Abendessens zu einem Teil des Abendessens zu werden.
»Wenn du es nicht magst, kann ich es ja nehmen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff der Troll nach dem Schenkel und dem übrigen Fleisch.
»Wie lange willst du noch hier in den Bergen sitzen? Wir haben unsere Aufgabe erfüllt.
Wir können gehen!«
»Ich will wissen, was die beiden hier machen.« Madra spuckte einen halb gesplitterten Knochen aus. »Hier kommt niemand ohne einen Grund her. Ich will wissen, was los ist.«
Nikodemus seufzte leise. Ein Troll, der versuchte, einem Geheimnis auf den Grund zu gehen! Das konnte Jahre dauern. Er würde mit diesem Trottel seine Jugend verschwenden. Zum tausendsten Mal sah er zu dem Amu lett, das Skanga ihrem Krieger mitgegeben hatte. Es wäre so leicht, die Schamanin zu rufen!
Plötzlich sprang Madra auf und griff nach seiner Keule. Nikodemus machte einen entsetzten Satz zurück. Hatte er sich verraten? »Ich kann alles erklären ... «, stammelte er und wich weiter zurück. »Ich kann ... « Er stieß gegen etwas Weiches. Gehetzt blickte er hinter sich. Fast hätte sich seine Blase entleert. Da stand die Elfenkönigin! Sie hatte sie aufgespürt. Jetzt war alles vorbei!
Er wich vor ihr zurück. Ihretwegen also hatte Madra sich bewaffnet. »Es ist nicht so, wie es aussieht, Herrin.« Verdammt, sie war keine Herrin mehr. Er sollte sich nicht so duckmäuserisch benehmen!
»Was willst du?«, fragte Madra mit fester Stimme.
Die Elfe trug ein Schwert, aber sie wirkte entspannt. Vielleicht wollte sie ja gar keinen Streit, überlegte Nikodemus. Aber nein ... Sie fürchtete sie beide nicht. Sie war mit Ollowain in den Gerichtssaal gegangen und hatte siebzehn Trolle und etliche Kobolde erschlagen. Sie beide waren keine Bedrohung.
»Also bringen wir es hinter uns«, knurrte der Troll, als Emerelle nicht antwortete, und hob kampfbereit seine Keule.
»Nein, nein, nein!« Nikodemus trat zwischen die beiden. »Wir sollten erst einmal reden. Die Köpfe einschlagen können wir uns immer noch.«
Emerelle nickte sacht. »Die Frage ist nicht, was ich hier tue, sondern was ihr hier wollt.«
Das lag eigentlich auf der Hand. Also war es besser, keine Lügengeschichten zu erzählen. »Man sucht dich wegen der Morde in Feylanviek. Das heißt ... Man sucht die Mörder. Bis jetzt wusste niemand, dass du es warst. Du ... «
»Still«, fauchte Madra und ließ zischend die wuchtige Keule durch die Luft schneiden.
»Halt dein dummes Maul, Fuchsgesicht, oder ich stopf es dir hiermit.«
»Muss ich dich umbringen, damit ich mich in Ruhe mit dem Lutin unterhalten kann?«, fragte die Königin beängstigend gleichmütig.
»Glaubst du, du schaffst das?«
Nikodemus schnappte nach Luft. Wie blöd konnte man eigentlich sein? Madra hatte schließlich vor Augen geführt bekommen, wozu sie in der Lage war. Der Lutin hob beschwichtigend die Hände. »Ich finde ...«
Emerelle zog ihr Schwert.
Madra stürmte der Elfe mit einem wilden Kriegsschrei entgegen. Der Lutin warf sich zu Boden und versuchte zur Seite zu rollen, um den gewaltigen Füßen des Trolls zu entkommen. Sein Gefährte verfehlte ihn nur um wenig mehr als Haaresbreite.
Nikodemus ging hinter einem Fels in Deckung. Madra versuchte Emerelle durch eine Finte zu täuschen. Einen anderen Troll hätte er mit diesem Trick wahrscheinlich mit dem ersten Schlag besiegt. Nicht so Emerelle. Sie wich der schwerfälligen Keule ohne Mühe aus, setzte nach und stach Madra durch das Handgelenk der rechten Hand.
Nikodemus konnte hören, wie Elfenstahl auf Trollknochen knirschte. Madra grunzte vor Schmerz.
Die Elfe trat ein paar Schritte zurück. »Ergib dich!«
Tu es, dachte Nikodemus, aber er kannte Madra bereits lange genug, um zu wissen, dass es töricht war, bei ihm auf Vernunft zu hoffen.
»Meine Linke reicht, dich zu zerquetschen, wenn ich dich zu packen bekomme.«
»Du begehst Verrat an deinem König und Skanga, wenn du dich jetzt einfach umbringen lässt!«, rief Nikodemus aus Leibeskräften, aber ohne allzu viel Hoffnung.
Der Troll presste seine Linke auf die Stichwunde. Dunkles Blut quoll ihm zwischen den Fingern hindurch.
»Ich würde es begrüßen, wenn ihr beide mit mir ins Kobolddorf kämet«, sagte die Elfe milde. »An eurem Tod ist mir nicht gelegen. Ganz im Gegenteil. Mit dir hätte ich sogar Pläne, Madra. Ihr kennt ja den kleinen Fluss beim Dorf. Ein Stück in die Berge hinein gibt es eine Stelle, wo ein steinernes Becken ausgewaschen ist. Ihr kennt den Ort. Dort erwarte ich euch.«
»Du meinst da, wo du mit deinem Beschäler gevögelt hast«, stieß der Troll hervor.
Nikodemus hielt den Atem an. Das war so unnütz. Dieser Idiot!
Die Elfe blieb erstaunlich gelassen. »Ich hätte andere Worte gebraucht, aber ja, ich meine diesen Ort.«
»Dein Blut wird den Fluss hinabfließen und deinem Beschützer zeigen, dass du tot bist.«
Sie nickte. »Wenn du sehr viel Glück hast, vielleicht.« Sie drehte sich um und war kaum einen Herzschlag später in der Dunkelheit verschwunden, so als sei sie nur ein Geist gewesen.
»Feige Elfenschlampe! Ich hätte sie in Stücke gerissen.«
Nikodemus wagte sich aus seiner Deckung. »Ich sollte mir deine Wunde mal ansehen.
Die blutet ja immer noch.«
Der Troll stieß einen unartikulierten Fluch aus, aber er ließ sich vor ihm auf die Knie nieder. Nikodemus hatte keine Lust, seine magischen Fähigkeiten einzusetzen, um Madra zu heilen. Zu heilen hieß immer, den Schmerz mit den Kranken und Verletzten zu teilen. Was diesem Riesentrottel geschehen war, daran war er selbst schuld.
Der Lutin legte seine kleine Hand auf das massige Handgelenk seines Gefährten.
Madra zuckte leicht. »Halt still! Das ist keine Kleinigkeit.« Er schloss die Augen und dachte sich in den Troll hinein, bis er die Muskeln, Sehnen und Adern im Geiste vor sich sah. Er begann den Schmerz zu spüren und wich ihm aus. Das war nicht seine Sache! Ein Knochen war leicht verletzt. Aber keine größere Ader war durchtrennt und auch keine Sehne. Bei einem Stich durchs Handgelenk war dies das reinste Wunder.
War es Zufall? Oder war die Elfe so zielsicher?
Er schlug die Augen auf. »Das wird gut verheilen. Ich sollte es verbinden.«
»Glaubst du, ich kann in ein paar Stunden wieder kämpfen?«
Nikodemus war fassungslos. »Nein. Und das ist dein Glück! Sie könnte dich in kleine Scheiben schneiden. Sie hätte leicht die große Arterie in deinem Handgelenk durchtrennen können, dann würde dein Blut jetzt...«
»Die große was?«
»Die größte Ader!« Nikodemus musste sich beherrschen, um ihm nicht auf den Kopf zuzusagen, dass er ihn für einen Riesentrottel hielt. »Du nimmst jetzt am besten das Amulett, das Skanga dir gegeben hat, und wirfst es von dir, so wie sie befohlen hat.
Mit ihr und einiger Verstärkung können wir die Elfen sicher überwältigen. Allein wird uns das niemals gelingen!«
»Kennt ihr Lutin keine Ehre?«
»Ehre ist etwas für große Krieger wie dich. Bei meiner Körpergröße kann ich mir keine Ehre leisten.«
»Deshalb sind die Lutin ein wanderndes Volk ohne Heimat, und wir Trolle herrschen in Albenmark«, stellte Madra selbstzufrieden fest.
»Leider habe ich kein Verbandszeug«, entgegnete Nikodemus. Er hatte überlegt, etwas von seiner Winterkleidung in Streifen zu reißen. Aber bei genauerer Betrachtung war das entschieden zu nett. »Du solltest die Wunde mit deinen Fingern zudrücken.«
»Mehr kannst du nicht tun?« Madra wirkte jetzt misstrauisch. »Kannst du die Wahrheit nicht vertragen?«
»Die Wahrheit ist, dass ich keinen Verband habe«, entgegnete Nikodemus spitz. »Aber Skanga wird dir sicher helfen können.«
»Die alte Vettel brauche ich nicht. Du machst das! Später. Im Kobolddorf wird es etwas zum Verbinden geben.«
Nikodemus traute seinen Ohren kaum. »Warum?«
»Sie will etwas von uns«, sagte Madra ruhig. »Ich habe sie auf das Schlimmste beleidigt, aber sie hat es einfach übergangen. Ich sage dir, sie will was. Sie braucht uns. Ich werde hinuntergehen und herausfinden, was es ist. Ich werde nett zu ihr sein. Ihr helfen. Und wenn sie mir vertraut, schlage ich ihr den Schädel ein. Wir werden Helden sein, Fuchsgesicht.«
Nikodemus wurde übel. »Du willst da hinunter? Warum hast du sie überhaupt angegriffen, wenn du das willst?«
Der Troll lächelte. »Das musste sein. Sie hätte sonst dem Frieden nicht vertraut.«
Das war verrückt. Völlig verrückt! Was bildete dieser Troll sich ein, wenn er dachte, er könne Emerelle, die Königin der tausend Gesichter, die Meisterin der Täuschung, hereinlegen?
Madra nahm mit der unverletzten Hand seine Keule auf. »Kommst du mit, kleiner Mann? Gehen wir über den Berg.«
Nikodemus fluchte stumm in sich hinein und folgte dennoch dem Troll. Er hatte nicht den Mut, allein in der Wildnis zurückzubleiben.
Sie hieß Elodia, diese kleine Schlampe. Und sie war ein Stein auf Adriens Weg. Sie konnte ihn zum Straucheln bringen. Er hatte ein Falrach-Spiel für ihn aufgestellt und alle Figuren, die bislang in seinem Leben von Bedeutung waren, darauf versammelt.
Und er hatte den Jungen ausgehorcht. Er war ein romantischer Trottel. Wahrscheinlich würde er ihm das aberziehen können. Aber Elodia blieb ein Risiko. Sie musste verschwinden. Natürlich hätte er sie selbst töten können. Aber das wäre eine beleidigend simple Lösung. Jules hatte andere Pläne mit ihr. Sie sollte leiden, nicht sterben!
Der Befehlshaber der Wache stampfte ungeduldig mit den Füßen. Eine halbe Stunde standen sie nun hier und ließen den Eingang zum Laden des Fleischhauers nicht aus den Augen. Elodia hatte sich nur flüchtig umgesehen, bevor sie hineingegangen war.
Sie ahnte das Unheil nicht, das sich über ihr zusammenbraute.
Jules spürte, dass der Hauptmann das Mädchen lieber laufen lassen wollte. Aber er fürchtete die blaue Kutte der Priester. Auch wenn Cabezan einst den Mord an Guillaume befohlen hatte, so wurde die Geschichte inzwischen so verdreht erzählt, als hätten die Krieger des Königs versucht, den Priester zu retten. Er duldete die Tjuredkirche, auch wenn er deren Glauben nicht angenommen hatte. Ja, er hatte sogar einen Priester als Berater an seinem Hof. Also war es besser, es sich mit einem Tjuredpriester nicht zu verscherzen. Man konnte nicht ahnen, ob dessen Einfluss bis zum Hof des Königs reichte.
»Habt ihr gesehen, wie viele Blumensträuße sie in ihrem Korb hatte?«, fragte Jules höflich.
»Ist das von Belang?«, entgegnete der Hauptmann gereizt.
»Es ist ein Detail. Wer alle Details beachtet, der geht Lügen weniger leicht auf den Leim. Es waren sieben Blumensträuße.«
Der Hauptmann nickte geistesabwesend. Er war ein verhärmter, älterer Mann. Sicher hatte er früher einmal von Größerem geträumt, als die Wache einer Stadt wie Nan-tour zu befehligen. Vielleicht war er einer von denen gewesen, die ausgeritten waren, um Guillaume zu töten.
Jules hätte leicht in den Erinnerungen des alten Kriegers lesen können, doch er hütete sich davor. Sollte sich sein Verdacht bestätigen, dann mochte er sich vielleicht zu unbedachten Gewalttaten hinreißen lassen. Er hatte Guil laume gemocht. Er war das einzige Kind, das er mit einer Elfe gezeugt hatte. Er wäre zu Großem berufen gewesen! Wohin hätte sein Leben geführt, wo sein Tod doch schon das Glaubensgebäude einer ganzen Kirche zu verändern vermochte. Jules musste sich eingestehen, dabei ein wenig nachgeholfen zu haben. Aber dennoch ...
Es begann zu regnen. Ein eisiger Schauer. Der Hauptmann und seine beiden Wachen suchten Schutz in einem Hauseingang und fluchten leise. Fast hätten sie übersehen, wie Elodia sich davonschlich. Sie hatte jetzt ein Tuch über den Korb geworfen, um ihre empfindlichen Strohblumen vor dem Regen zu schützen.
»Heh!«
Das Mädchen zuckte zusammen, als er sie anrief. »Bringt sie her ins Trockene«, befahl der Hauptmann mürrisch.
Statt das Mädchen einfach zu packen, sprachen die Wachen Elodia freundlich an und baten sie über die Straße. Jules schüttelte den Kopf. Wozu ein hübsches Gesicht und ein ansehnlicher Körper doch alles taugte. Sie war wirklich ein angenehmer Anblick.
Er konnte verstehen, dass Adrien sich in sie verliebt hatte.
»Was hat dich ins Haus des Fleischhauers verschlagen?« Sogar der Hauptmann wirkte weniger bärbeißig als zuvor.
»Ich ... Ich verkaufe Blumen. Strohblumen, jetzt im Winter. Ich ziehe sie selbst. Und färbe sie.«
»Und das hat über eine halbe Stunde gedauert, dem Kerl einen Strohblumenstrauß aufzuschwatzen«, mischte sich Jules ein.
»Er konnte sich nicht entscheiden.«
Jules schlug das Tuch über dem Korb zurück. Deutlich sah man zwei große Würste zwischen den Blumen stecken.
»Ein stattlicher Lohn für einen Strauß Strohblumen«, bemerkte der Hauptmann. Er strich über seine grauen Bartstoppeln und runzelte die Stirn. »Sieben Sträuße. Genau so viele, wie du im Korb hattest, als du das Haus betreten hast. Ich mag es nicht, wenn man mich belügt, Mädchen. Was also hat sich ereignet?«
»Ich ... ich habe den alten Strauß mitgenommen. Deshalb sind es wieder sieben. Ich tausche jede Woche die Strohblumen aus.«
Einen kurzen Augenblick hatte Jules Mitleid mit ihr. Diese Lüge war einfach zu erbärmlich!
»Du tauschst jede Woche Strohblumen aus!«, fuhr der Hauptmann sie nun harsch an.
»Warum? Weil sie welken?«
»Ich …«
»Packt diese Schlampe!«
Wie leicht sie mit solchen Beleidigungen dabei waren! Eben noch war er freundlich gewesen. Jetzt schien er ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Während Elodia sich im Griff der Wachen wand, hob er ihr Kleid hoch und packte ihr zwischen die Schenkel. Sie begann zu weinen.
Der Hauptmann führte seine Finger an die Nase und schnupperte übertrieben laut daran. Dann schlug er sie so heftig, dass ihr Kopf in den Nacken flog. »Man kann noch riechen, was du mit dem Fleischhauer getrieben hast!«
»Bitte, ich …«
»Unzucht ist nur im Badehaus geduldet, du dumme, kleine ... « Er schüttelte den Kopf.
Sollte sein plötzlicher Zorn etwa schon wieder verrauchen? Menschen! »Sie hat den König um den Fünften betrogen«, sagte Jules leise. Jedes Badehaus hatte dem König den Fünften als Abgabe zu entrichten. Cabezan hatte sich diese besondere Steuer vor einigen Jahren einfallen lassen, als seine Schatzkammer wieder einmal leer war und sich abzeichnete, dass der Stadtstaat Marcilla nur mit Waffengewalt überzeugt werden konnte, sich dem Königreich Fargon anzuschließen.
»Ich habe nie Geld genommen«, sagte Elodia mit halb erstickter Stimme. »Nur Würste oder ein Brot oder eine kleine Flasche Apfelwein. Das meiste habe ich am Haus der Heiligen Frauen abgegeben.«
»Jetzt beschmutzt sie auch noch die Kirche«, empörte sich Jules, obwohl er innerlich über dieses Geständnis auflachte.
Eine der beiden Wachen, die sie gepackt hielten, ein untersetzter Mann mit fleischigem Gesicht, stieß ihr den El enbogen in die Seite. »Wie kannst du es wagen, die Heiligen Frauen zu beleidigen, Schlampe!«
Sie knickte in sich zusammen. »Aber es stimmt«, stieß sie stöhnend hervor. »Mein kleiner Bruder ... Sie haben ihn in ihrer Obhut.«
Der Hauptmann hielt den Krieger zurück, als er ihr einen weiteren Schlag versetzen wollte. »Was macht dein Bruder bei den Heiligen Frauen?«
»Es war der letzte Wunsch meiner Mutter, dass er ein Priester wird. Ich bezahle mit Wurst, Brot und anderen Dingen für seinen Unterricht und seine Unterkunft.«
»Was heißt anderen Dingen?«, fuhr sie die Wache an. »Du willst doch nicht etwa behaupten ... «
Elodia hob schützend die Arme über den Kopf.
»Genug!« Der Hauptmann drängte seinen Lakaien aus dem Hauseingang. »Das bleibt unausgesprochen. Wir schaffen sie jetzt ins Badehaus am Fischmarkt. Soll sie dort ihrem schändlichen Tun nachgehen. Damit ist dem Gesetz Genüge getan.«
Das war keine Lösung in Jules’ Sinne. Elodia sollte spurlos verschwinden und nicht in einem der Hurenhäuser der Stadt untergebracht werden, wo Adrien sie womöglich eines Tages noch entdecken würde. »Habt Ihr nicht den Ehrgeiz, Eurem König aufzufallen, Hauptmann?«
Der Befehlshaber der Stadtwache warf ihm einen verständnislosen Blick zu, und Jules ging auf, dass seine Wortwahl ein wenig unglücklich gewesen war. »So wie ich den König kenne, schätzt er es, wenn er über Diebe, die ihn bestohlen haben, selbst zu Gericht sitzen kann.«
»Ihr glaubt doch nicht, dass ihn der fünfte Teil einer Wurst oder eines Brotes interessiert!«
»Ich denke eher, dass ihn diese hübsche Frevlerin ablenken wird. Was habt Ihr zu verlieren, wenn Ihr sie in Eisen an den königlichen Hof schaffen lasst?«
Der Hauptmann strich sich nachdenklich über sein breites Kinn. Begriff er, dass dies seine letzte Gelegenheit war, dem Posten in einer Provinzstadt zu entkommen? »Wenn ich sie wegbringen lasse, zahlt niemand mehr für den Jungen. Die Heiligen Frauen werden ihn auf die Straße setzen. Dann habe ich noch einen Bettler und Dieb mehr in der Stadt.«
»Dann schickt den Jungen doch gleich mit ihr«, entgegnete Jules lächelnd. »Er war der Nutznießer von Elodias entgeltlichem Beischlaf. Vom Betrug am König. So trifft auch ihn eine Teilschuld. Im Übrigen herrscht, wie man hört, ein steter Bedarf an hübschen Jünglingen am königlichen Hof.«
»Tut das nicht«, schrie das Mädchen auf. »Bitte! Ich mache alles, was ihr wollt, aber lasst meinen Bruder in Frieden. Er ist noch ein Kind.«
Der Hauptmann überging ihr Flehen. »Schafft sie weg!«, befahl er den Wachen.
»Zunächst in den Kerker. Ich bin mir über ihr Schicksal noch unschlüssig. Eine Sünderin sollte nicht daneben stehen, wenn ihre Sünden abgewogen und ihr Urteil bestimmt wird.«
Elodia, die bisher alles stumm erduldet hatte, bäumte sich plötzlich auf. Wütend sah sie noch hübscher aus, dachte Jules. Das junge Mädchen sah ihm ins Angesicht. Sie war fast einen Kopf kleiner als er, von zierlicher Statur mit langem, dunklem Haar. Ihre Augen waren dunkel. Die Farbe konnte er in der regnerischen Nacht nicht erkennen.
Ihr schmales Gesicht hatte fast etwas Elfisches.
»Du bist ein böser Mensch!«, stieß sie voller Wut hervor und spie ihm ins Gesicht.
Der Hauptmann schrie seine Wachen an. Sie wurde da-vongezerrt und stieß dabei üble Verwünschungen aus.
Der Kommandant der Stadtwache schien plötzlich Sorgen zu haben, dass Elodias Ausfälle auch ein Nachspiel für ihn haben könnten. »Es tut mir leid«, murmelte er verdrossen.
Jules wischte sich den Speichel aus dem Gesicht. »Das muss es nicht. Sie hat mich nicht beleidigt. Ich weiß, wie grundlegend falsch das ist, was sie sagte. Also trifft es mich nicht. Ich bin kein böser Mensch.«
»Ihr sagtet, Ihr kennt den König?«
»Nicht von Angesicht zu Angesicht. Doch ist mir sein Hof wohlvertraut.«
Der Hauptmann war misstrauisch. Er stellte ein paar Fragen, die Jules mit Leichtigkeit beantworten konnte. Er konnte die Sorge des Hauptmanns verstehen. Der königliche Hof war ein Schlangennest. Wenn Cabezan auf einen aufmerksam wurde, dann war das weitaus häufiger ein Unglück, als dass daraus etwas Gutes erwuchs.
Jules erzählte ihm vom wachsenden Einfluss der Tjuredkirche bei Hof. Davon, wie Cabezan vor aller Augen in Aniscans vor der schwarzen Eiche gebetet hatte, an der der Heilige Guillaume von Pfeilen durchbohrt verbrannt war. Es war schon ein übler Scherz, dass jener König, der für Guillaumes Tod verantwortlich war, die Tjuredkirche nun in aller Öffentlichkeit anerkannte. Und manche Prediger verstiegen sich dazu, zu behaupten, es sei Tjured selbst, der ihn dafür mit einem langen Leben beschenkte.
Der Hauptmann wollte sich überreden lassen. Seine Enttäuschung und Verbitterung waren groß genug, dass er sich an jeden Strohhalm geklammert hätte, um von hier fortzukommen. Er stimmte zu, Elodia und ihren Bruder zum Königshof zu schicken.
Und er war entschlossen, eine Anklageschrift zu verfassen, in der er die Vergehen des Mädchens noch ein wenig ausschmückte. Als sie beide sich trennten, war der Hauptmann in geradezu euphorischer Stimmung und glaubte, eine goldene Zukunft sei endlich zum Greifen nahe.
Jules blieb in dem Hauseingang stehen und sah auf das Haus des Fleischhauers. Der Kerl hatte mit seinem Appetit auf ein junges Mädchen den Lauf der Geschichte verändert. Und er stand dort an seinem Arbeitstisch, stopfte Würste mit zweifelhaftem Inhalt und ahnte nichts von alledem.
Jules stellte sich vor, was für ein Ritter aus Adrien werden würde. Ein Held. Der Begründer eines kriegerischen Ordens, der bald schon zum Schwertarm der Tjuredkirche werden würde. Sein Leben musste makellos sein. Für ein Mädchen wie Elodia war darin kein Platz! Sie war ein Stein auf seinem Weg. Ein Stein, der nun fortgeräumt war.
Er verneigte sich in Richtung des schäbigen Hauses und dankte dem Fleischhauer stumm, einen Anlass gegeben zu haben, sie fortzuschaffen. Dann machte er sich auf den Weg. Er wollte bis zum Morgengrauen zurück in den Bergen sein, und der nächste Albenstern lag einige Meilen vor der Stadt.
Während er durch den Regen schritt, schweiften seine Gedanken zurück zu dem Tag, an dem Guillaume gestorben war. Damals hatte ihn jäher Zorn gepackt. Sein Tod war zu früh gekommen. Jules hatte gehofft, die Elfen würden ihn nicht ermorden, sondern ihn stattdessen nach Albenmark bringen. Oder offen gegen Emerelle rebellieren. Al sein Trachten war es, Albenmark zu schaden. Und dieses Kind, halb Elf und halb von seinem Blute, wäre dazu vollkommen gewesen. Aber Cabezans Krieger hatten alles zunichte gemacht. Und er hatte den König verflucht. Cabezan war damals schon alt gewesen. Deshalb hatte er Guillaume ja an seinen Hof holen wollen. Er war ein eingebildeter Dummkopf, der jedes kleine Zipperlein zu einem großen Unglück aufblies.
Aus einem Mückenstich machte er einen Furunkel. Aus einem Furunkel eine Pestbeule.
Jules’ Fluch besagte, dass Cabezan an keiner Krankheit sterben sollte. Und dass er an jedem Tag in seinem jämmerlichen kleinen Leben krank sein würde. Ernsthaft krank.
Der König hatte keine Zähne mehr. Seine Zehen waren ihm abgefault. Die Finger von der Gicht zu steifen Krallen geformt. Ausschlag wucherte auf Cabezans Haut. Vor allem an jenen Stellen, an denen er selbst sich nicht mehr kratzen konnte. Jeder andere wäre längst tot, aber der König überstand jede Sieche. Er war wohl der einzige Mensch, der inzwischen schon dreimal an der Pest erkrankt und dann wieder davon genesen war.
Wenn Jules sich nicht irrte, dann war Cabezan inzwischen wohl um die neunzig Jahre alt. Der König hatte seine beiden Söhne und bereits den ersten seiner Enkel begraben.
Gesunde, kräftige Männer. Sogar drei seiner Urenkel waren bereits in ein Alter gekommen, in dem man nach der Krone hätte greifen können. Zwei von ihnen hatte er hinrichten lassen. Der dritte war auf die winzige Halbinsel Valloncour verbannt, wo er weitere Nachkommen zeugen sollte und sich ansonsten aus allen Staatsgeschäften herauszuhalten hatte.
Die Langlebigkeit des Königs sorgte für endloses Gerede im Volk. Die Heiden ahnten ganz richtig, dass er verflucht sei. Allerdings vermuteten sie, Cabezan habe die alten Götter beleidigt. Vielleicht weil er seine Männer in den Steinernen Wald geschickt hatte oder weil er zu freundlich zu den ungewaschenen Eiferern war, die das Wort Tjureds in die Welt trugen und alle anderen Götter verdammten.
Die Tjuredpriester hingegen, unter denen er, Jules, so hohes Ansehen genoss, deuteten Cabezans Unfähigkeit zu sterben, ganz anders. Sie glaubten, ihr Gott würde das Leben des Königs so lange währen lassen, bis dieser sich zu den Lehren ihrer Kirche bekehren ließ. Dann erst würde der gnädige Tod ihn finden und ihn von all seinem Leid erlösen.
Cabezan entschied sich für keines der beiden Lager. Obwohl er sein Leben zweifellos schon lange nicht mehr genoss, hielt er umso sturer daran fest, je länger es währte.
Niemand bei Hof war vor den verrückten Ängsten des Königs sicher. Überall vermutete er Verschwörer, die ihn ermorden lassen wollten, um seinen Thron zu stehlen. Seine Leibwache, die Stierköpfe, wie man sie nach ihrem Wappen nannte, waren Henker! Sie führten jeden seiner Befehle aus, ohne sich mit Fragen der Moral zu belasten.
Giftmord, die Kabalen seiner Enkelinnen, sowie Machtkämpfe unter den Stierköpfen und hohen Beamten des Königreichs schafften eine Atmosphäre bei Hof, in der jeder gegen jeden stand und ein Leben einen Hundedreck wert war. Wenn Elodia dorthin gebracht wurde, dann war ihr ein schreckliches Ende gewiss. Und auch ihrem kleinen Bruder, denn Jules wusste natürlich, warum so viele Knaben an den Hof gebracht wurden und dann spurlos verschwanden.
»Komm zu uns, Falrach!« Es war eine Stimme, der man nicht widerstehen konnte. Wie ein Gift durchdrang sie ihn. Das Gefühl, zu fallen, endete.
Seine Augenlider gehorchten ihm wieder. Er kniff sie zusammen, um sich dem Anblick der Toten zu verschließen. Es half nicht. Selbst mit geschlossenen Augen nahm er noch alles wahr. Er konnte sehen, so absurd das auch sein musste.
»Komm zu uns!«
Niemals würde er gehorchen. Er wusste nicht, welchen Zauber Oblon herbeigerufen hatte. Aber er war sich sicher: der Stimme zu folgen, würde ihn ins Verderben stürzen.
Verzweifelt riss er wieder die Augen auf. Die Hütte um ihn herum hatte sich verändert. Oblon war verschwunden. Ein kleines Feuer brannte, ohne Wärme auszustrahlen. Entlang der Hüttenwände saßen die Ahnen.
Falrach konnte sich umsehen. Die Lähmung seiner Glieder war ganz gewichen.
Oblons Ahnen sahen nicht mehr tot aus. Und auch nicht richtig lebendig. Ihre Augen waren erfüllt von kaltem, blauem Licht, die Gesichter immer noch dunkel und verschrumpelt. Aber jetzt bewegten sie sich. Nicht verstohlen, wie eben noch. Sie machten kein Geheimnis daraus, tot zu sein und zugleich auch nicht.
Manche tuschelten leise miteinander.
Ein altes Koboldweib mit schwerer Muschelkette um den Hals erhob sich. Sie stützte sich auf einen mit verschlungenen Brandmustern bedeckten, hellen Stab. »Da bist du nun also, Falrach. Du bist kein Geist, wie ich sehe.« Sie neigte sanft das Haupt. Aber nicht zu ihm. Er sah sich um. Dicht hinter ihm erhob sich Gestalt gewordene Dunkelheit. Ein Schattenriss mit vage verschwimmenden Rändern. Von ihm ging die Kälte aus, die die Wärme des Feuers auslöschte.
Niemand blickte mehr auf ihn. Alle Kobolde sahen den Schatten an. Manche rückten zum Eingang der Hütte hin. Andere beugten demütig das Haupt. Nur die Alte schien ungerührt zu bleiben.
»Das ist der Schatten, der auf deinem neuen Leben liegt, Falrach. Ollowain. Er ist tot.
Er ist wahrhaftig tot! Auf eine andere Art, als wir es sind. Ausgelöscht. Zerstört für immer. Nur seine Lebenskraft blieb zurück. Gefangen in der Hülle seines Körpers. Sein Wille zu sein. Bald wird er den Willen ausformen, dich zu zerstören. Du musst diesen Schatten loswerden, Falrach. Er ruft Unheil auf dich herab. Und auch auf jene, die bei dir sind. Du musst dieses Dorf verlassen. Sonst trifft das Unheil auch unsere Enkel.«
Falrach war überzeugt zu träumen. Es gab keine Geister! Und wenn er je wieder erwachen sollte, dann würde er Oblon töten, ohne auch nur einen Herzschlag zu zö-
gern. Diese hinterlistige, kleine Schlange!
»Du irrst dich, Elf. Er ist nicht dein Feind. Er hat dich auf diese Geistreise geschickt, damit wir dir helfen. Damit wir sehen, was sich vor dem Auge des Sterblichen verbirgt. Er glaubte, du seiest besessen, und wollte dir helfen. Tu ihm nichts zuleide. Wir wachen über ihn.«
Falrach hoffte, aus diesem Alptraum bald aufzuwachen. Er sah über seine Schulter zu dem Schatten.
»Er wird dich begleiten, wohin immer du gehst. Du musst zu Firaz, wenn du ihn besiegen willst. Sie kann dir helfen. Wir können dir nur helfen zu verstehen.«
»Wer soll das sein?«
»Eine Schamanin«, entgegnete die Alte. »Sie ist machtvoll. Sie ist eine Gazala. Ich kann nicht über sie sprechen. Ihre Zauber schützen sie vor Geistern. Sie lebt im Jadegarten.
Sie solltest du fürchten, wenn du ihr begegnest. Falls du den Weg findest. Der Drachenatem schützt sie.«
»Und wenn ich nicht gehe?«, fragte Falrach.
»Dann wird der Schatten dich verschlingen. Sei nicht töricht, Elf. Die Welt der Lebenden ruft dich zurück. Wir können dich nicht mehr lange halten. Glaube nicht, dies sei ein Traum. Dann wird dein Schatten dich holen.«
Falrach lachte jetzt. Waren es der Maisschnaps oder die Kakteenstücke? Dies alles geschah nicht wirklich. Es war Koboldaberglaube! Und Oblon würde nicht wagen, ihm im Rausch etwas anzutun. Nicht, solange Emerelle lebte.
Die Alte schlug mit ihrem Stab nach seiner Hand. Er wich nicht aus. Warum auch?
Was konnte ihm eine Traumgestalt schon antun.
Scharfer Schmerz fuhr durch seinen Handrücken. »Hüte dich vor deinem Hochmut, Elf. Er ist nicht minder gefährlich als der Schatten.«
»Wer bist du?«
»Geister haben keine Namen mehr. Namen gehören nur den Lebenden. Wir alle sind eins.« Bei den Worten begann sie dünner zu werden und blasser. Ihr Leib verzerrte sich. Ebenso wie die Leiber der anderen Kobolde ringsherum.
Sie hob ihre schlangenhaften Arme und formte aus reisigdürren Fingern einen Trichter. »Geh!«
Wie ein Sturmwind peitschte ihm das Wort entgegen. Die Kobolde wurden zu Rauchfäden. Er stürzte und schrie.
Dann war da noch ein anderer Schrei. Falrach riss die Augen auf. Dicht vor ihm stand Oblon, der ihn mit schreckensweiten Augen anstarrte. »Du bist ja immer noch da, Geist.«
Ohne auf die Nasen und Zehen seiner mumifizierten Ahnen zu achten, drängte er sich an der Wand entlang zum erweiterten Eingang und floh aus der Hütte.
Falrach fühlte sich ganz benommen. Ihm war übel. Er krümmte sich zusammen.
Stechender Kopfschmerz peinigte ihn. Er brauchte etwas zu trinken. Unter Mühen drehte er sich um. Dann stützte er sich auf die Hände auf.
Die glühenden Kohlen im kleinen Feuertopf waren noch immer das einzige Licht in dieser Leichenkammer. Es war gerade hell genug, ihn das dunkle Mal auf seinem Handrücken erkennen zu lassen, dort, wo ihn der Hieb der Geisterfrau getroffen hatte.
Sie hatte tief geschlafen in der Nacht. Sie hatte das Verhängnis nicht kommen sehen.
Auch jetzt war sie noch nicht erwacht. Melvyn ballte die Fäuste, und die Klingen in seinen Armschienen schnellten vor. Sie waren aus bestem elfischen Silberstahl gefertigt. Sie würden durch Muskeln, Sehnen, ja sogar durch Knochen schneiden. Er würde etliche Trolle töten. Aber er würde am Ende nicht siegen können. Der Elf wusste das.
Deutlich sah er die Schemen der Wächter auf dem verschneiten Bergkamm. Sie gaben sich keine Mühe, sich zu verstecken. Sie wollten, dass er wusste, wo sie waren. Überall, auf allen Bergkämmen ringsherum. Was war geschehen? Warum hatte der Herzog sie beide fliehen lassen? Und nun wurden sie umstellt. War das ein Spiel, so wie eine Katze mit einer Maus spielt?
Wolkentaucher wusste sicherlich auch schon, was geschehen war. Er hielt sich zurück.
Der Schwarzrückenadler war klug genug, um zu wissen, dass auch er keine Wende herbeiführen könnte. Wenn er nahe der Felsnische landete, würden die Trolle angreifen. Und Kadlin hatte nicht die Kraft, um sich an den Beinen des Adlers festzuhalten und einen Flug wagen zu können. Wie er es auch drehte und wendete, sie kamen hier nicht fort. Ihr Weg war zu Ende.
Nachdem er das akzeptiert hatte, überkam Melvyn große Ruhe. Er hatte getan, was er tun konnte. Es nutzte nichts, noch länger mit dem Schicksal zu hadern.
Er dachte an Leylin. Sie war allein in der Höhle am Albenhaupt. Sie hatte entschieden, mit ihm dorthin zu gehen, und auf die Fürstenkrone Arkadiens verzichtet, die ihr als Shandrals Witwe zugestanden hätte. Aber die Elfen Arkadiens waren berüchtigt für ihre Intrigen und Machtkämpfe. Sie beide hatten nach den Kämpfen der Trollkriege Frieden gesucht. Und den konnten sie am besten in der Bergwildnis am Albenhaupt finden. Doch jetzt machte sich Melvyn Sorgen. Leylin war von Kindheit an bei Hof aufgewachsen. Sie war es gewöhnt, Diener für alles zu haben. Am Albenhaupt aber war sie allein. Nach der Palastrevolte gegen Shandral vermochte sie keinem Kobold mehr zu trauen, obwohl ihr Leben verschont worden war und man ihr kein Leid zugefügt hatte.
In den Wochen, die sie dort gemeinsam gelebt hatten, war sie ganz gut zurechtgekommen. Er musste schmunzeln. Nein, nicht wirklich. Sie hatte sich bei allem ungeschickt angestellt. Aber sie hatte den Willen, es besser zu machen. Und zuletzt war es auch ein wenig besser geworden. Sie war eine begabte Zauberweberin.
Er musste sich um sie keine Sorgen machen! Sie konnte fort, wenn sie es wol te. Wenn der Winter einfach kein Ende nahm. Und die Einsamkeit.
Er wünschte, er wäre jetzt bei ihr. Er sehnte sich danach, ihre blütenzarte Haut zu berühren. Neben ihr zu erwachen nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht. Warum war er nur fortgegangen? War er nicht für ein Leben in Frieden geschaffen? Leylin hatte bemerkt, dass er immer rastloser geworden war. Sie hatte ihn in dem Plan, seine Schwester zu besuchen, noch bestärkt. Sie beide hatten ja nicht geahnt, was Kadlin vorhatte. Und statt vernünftig darüber nachzudenken, wie erfolgversprechend es war, sich zu zweit ausgerechnet mit dem Heerführer Orgrim und einem ganzen Trollherzogtum anzulegen, hatten er und Kadlin sich nur gegenseitig immer weiter aufgestachelt, bis sie beide vom sicheren Erfolg des Unternehmens überzeugt waren.
Er würde vielleicht noch hier herauskommen. Ob Leylin wohl versuchen würde, ihn dazu zu überreden, wenn sie hier wäre? Wahrscheinlich nicht. Seine kleine Schwester den Trollen zu überlassen, wäre ehrlos. Mit dieser Schande könnte er nicht weiterleben. Aber er würde sich an Wolkentauchers Beinen festhalten können.
Er blickte zum Himmel. Graue Wolken, schwer vom Schnee, den sie mit sich trugen, trieben tief über ihm hinweg. Wenn ein Schneesturm einsetzte, könnte er den Trollen ebenfalls entkommen. Aber nicht Kadlin. So geschwächt wie sie war, würde auch ein solcher Versuch ihren sicheren Tod bedeuten.
Was ging bei den Trollen vor sich? Warum hatten sie nicht Wort gehalten?
Melvyn sah nach seiner Schwester. Sie hatte sich wie ein Kind eingerollt, die Hände auf ihre Schultern gelegt. Er hatte sie, so gut es ging, zugedeckt. Ihr Gesicht glühte vor Fieber. Oder waren es die Erfrierungen an Stirn, Nase und Wangen, die ihrem Gesicht die rote Farbe gaben? Ihr Atem ging regelmäßig. Wenigstens das. Er untersuchte ihre Hände. Die Frostbeulen waren dunkler geworden. Sie sahen nicht gut aus. Er seufzte.
Niedergeschlagen verließ er die Deckung der Felsnische. Auf dem Hang gegenüber waren nun weit über hundert Trolle versammelt. Und mit jedem Herzschlag wurden es mehr. Hundert Trolle, das war mehr als genug, um Firnstayn dem Erdboden gleichzumachen!
Ein Trupp, gewappnet mit türgroßen Schilden, löste sich aus der dunklen Linie. Sie liefen den Hang hinab, dass der Schnee nur so aufspritzte.
Melvyn blickte zurück. Ein wenig seitlich gab es einen schroffen Felsen. Mit ihm im Rücken würde er länger durchhalten. Er atmete tief aus, lockerte die Schultern und war bereit für sein letztes Gefecht.
Oblon rannte aus der Ahnenkammer in die ersterbende Nacht. Was sollte er tun? Der Riese würde sich rächen! Das war unausweichlich bei dem, was er ihm angetan hatte.
Dabei hatte er es für alle Beteiligten gut gemeint. Für sich, für das Dorf, die Riesin, die ihren Geliebten zurückbekommen hätte. Der Besessene, der endlich wieder Herr seines Körpers geworden wäre.
Er blieb am Dornenwall stehen und blickte zu seiner Hütte zurück. Es gab alte Geschichten, da opferte der Schamane seine erstgeborene Tochter, um die Drachen gnädig zu stimmen, die Regen schickten, um die Ernte zu retten, oder einen Feind vertrieben. Eine Tochter hatte er nicht. Ob es helfen würde, sein Weib, Firandi, zu opfern? Wohl nicht. Vielleicht sollte er sein eigenes Leben als Pfand an bieten, um Unheil abzuwenden. Vielleicht genügte es dem Riesen ja, ihn niederzumetzeln.
Die Beine, die aus dem erweiterten Eingang der Ahnenkammer ragten, bewegten sich.
Bald würde Falrach herauskommen. Bis dahin musste er eine Entscheidung treffen, dachte Oblon.
Das tiefe Dröhnen eines Muschelhorns klang über den Fluss. Nicht jetzt! Hatte sich denn alles gegen ihn verschworen? Er sah den Hügel hinab. Auf der anderen Seite des Flusses stand eine einzelne Gestalt. Sie war zu groß für einen Kobold. Das konnte man schon von Ferne sehen. Die Trolle kamen!
»Aufstehen!«, rief Oblon aus Leibeskräften. »Die Trolle!«
Die Gestalt überquerte den Fluss. Sie hüpfte von Stein zu Stein. Als sie das Ufer betrat, setzte sie erneut das Muschelhorn an die Lippen.
Der Schamane suchte nach Anzeichen dafür, dass der Troll nicht allein war. Bestimmt lauerten irgendwo seine Gefährten. Das morgendliche Zwielicht verwandelte das Land in ein Reich aus grauem Licht und tiefen Schatten.
Das Dorf war zum Leben erwacht. Er hätte nicht rufen müssen. Allein das Muschelhorn verkündete schon, welches Unheil dieser Tag brachte. Firandi klammerte sich an seinen Arm. »Hast du die Geister verärgert? Du hättest die Wand nicht einschlagen dürfen. Jetzt schützen sie uns nicht mehr.«
»Die Trolle wären ohnehin gekommen«, entgegnete Oblon.
»Wo ist die Riesin?«, fragte einer seiner Vettern. »Wir haben die beiden doch die ganze Zeit durchgefüttert, damit sie uns helfen. Wo ist sie? Und was ist mit dem Kerl?«
Oblon hatte einen Einfall. »Holt das Schwert des Riesen!« Erfreulicherweise fragte niemand, warum. Sie gehorchten einfach nur.
Der Troll marschierte unbeirrbar auf das Dorf zu. Allein, so als sei er unbesiegbar. Er war eine stattliche Erscheinung. Eine Holzkeule, die wie eine Kralle einen schweren Stein umschloss, hatte er lässig auf die Schulter gestützt. Er war gut genährt, trug nur einen Lendenschurz und gekreuzte Muschelschnüre über der Brust. Er strahlte Kraft und Zuversicht aus.
Zehn Schritt vor dem Dornenwall blieb er stehen. »Ich bin Douar, die Stimme der Grauhäute. Ich komme, um euch für euren Frevel zu bestrafen. Ihr habt den Tribut nicht entrichtet. Glaubt ihr, stark genug zu sein, das Volk der Trolle herauszufordern?
Wir zertreten euch wie lästiges Gewürm!«
Seine Brüder und Schwestern ringsherum wichen zurück. Nur Oblon blieb stehen.
Douar war eine eindrucksvolle Erscheinung. Er war mehr als einen Kopf größer. Aber der Schamane dachte nur an die Riesen.
»Die Zeit der Grauhäute ist vorbei. Berichte das deinem Volk, Stimme. Geh und komme nie zurück, dann werden du und die Deinen verschont.«
Douar nahm die Keule von der Schulter und trat einen Schritt näher. »Du musst Oblon sein. Man hat mir von dir erzählt, Schamane. Es heißt, du würdest zu oft mit den Geistern sprechen. Du bist nicht mehr ganz von dieser Welt.« Er wandte sich an die anderen. »Schenkt mir seinen Kopf, und ich werde seine Worte vergessen. Ich fordere fünfzig Krüge voller Maiskörner. Trockenfleisch, genug um dreißig Krieger dreißig Tage lang zu nähren. Zwanzig Kürbisflaschen mit Schnaps und drei Weiber, die unsere Dienerinnen sein sollen. Gebt mir all das, und ich werde nicht den Zorn der Grauhäute auf euch herabrufen. Niemand besiegt uns Trolle.«
Oblon trat zur Seite und deutete auf das Schwert, das mitten auf dem Weg im Dorf lag.
Dort, wo seine Männer es hatten fallen lassen, als sie vor dem Zorn des Trolls zu-rückwichen. »Siehst du diese Waffe, Douar? Geh! Ich befehle es dir ein letztes Mal.
Sonst wird der Riese, der dieses Schwert trägt, meinen Zorn zu deinem Volk bringen!«
Douar streckte sich, um die Waffe besser sehen zu können. Einige Herzschläge lang schien er zu zweifeln, was zu tun war. Dann schüttelte er den Kopf, und endlich fing er leise an zu lachen. »Es gibt kein Geschöpf in Albenmark, das eine solche Waffe tragen könnte.«
»Bedenke gut, was du sagst!« Oblon drehte sich um und forderte die Seinen auf, zur Seite zu treten, damit der Troll Fairachs Füße sehen konnte. Aber sie schienen nicht zu begreifen. Vor Angst waren sie wie versteinert.
Douar hob das Muschelhorn an seine Lippen. Ein langer, klagender Laut fuhr durch das Tal. Und die Felsblöcke auf der anderen Seite des Flusses schienen wie durch Zaubermacht lebendig zu werden. Dutzende Trolle hatten sich dort verborgen und standen nun auf wie ein Mann. Sie schlugen ihre Kriegskeulen auf ihre großen Lederschilde und stürmten mit wildem Geheul in den Fluss.
»Dies ist der Tag, an dem dein Volk sterben wird, Oblon.« Douar hob seine Keule. Er nahm kurz Anlauf und sprang durch die Lücke in der Dornenhecke, in der Oblon eben noch gestanden hatte.
Der Schamane wich aus. Dann griff er sich einen mannlangen Stößel, der in einem steinernen Mörser lehnte. Douars Keule sauste nieder. Er fing den Schlag ab, doch die Kraft des Trolls ließ ihn dabei in die Knie brechen. »Wehrt euch!«, rief Oblon verzweifelt, doch seine Leute warfen sich einfach zu Boden und wanden sich wimmernd im Staub.
Wieder sauste die Keule des Sprechers hinab. Oblon wich aus, doch nicht schnell genug. Der Schlag streifte ihn. Sengender Schmerz fuhr durch seinen linken Arm. Er trat zurück und strauchelte. Fluchend ging er zu Boden. Doch als Douar sich breitbeinig über ihm aufbaute, versetzte er ihm mit dem Maisstampfer einen Hieb ins Gemächt. Leider hatte er kaum ausholen können, so dass der Schlag mit wenig Wucht traf. Doch er genügte, den Troll vor Schmerz aufheulen zu lassen.
»Wehrt euch, verdammt!«, schrie Oblon verzweifelt. Er konnte nicht fassen, dass sie alle sich lieber den Trollen überließen, statt zu kämpfen.
Mit einem Satz war der Schamane auf den Beinen. Er rannte zurück zu der aufgebrochenen Totenkammer seiner Ahnen. »Komm heraus, Falrach. Die Trolle sind da! Sie werden alle umbringen, auch dich.«
Von innen war nur ein undeutliches Gemurmel zu hören. Der Tonfall ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass es Flüche waren. Die langen Beine des Riesen zuckten.
Er hätte ihm nicht zwei Stücke Hattah geben sollen, haderte Oblon mit sich. Er selbst hatte viele Jahre gebraucht, bis er so viel von dem Kakteenfleisch vertrug, ohne tagelang benommen zu sein.
»Oblon!« Der Sprecher kam steifbeinig auf ihn zu. Sein Gesicht war eine Grimasse des Schmerzes. Schweiß perlte von seiner grauen Haut. Einer seiner Ketten war zerrissen, und mit jedem Schritt rieselten kleine, zahnweiße Muscheln zu Boden.
Warum hatte er nie einen Zauber gelernt, der ihm jetzt nutzen konnte? Der Troll würde ihn in Stücke hacken.
Doch plötzlich hielt Douar inne. Endlich hatte er die Beine des Riesen entdeckt! Und Falrach bewegte sich. Sein Allerwertester ruckte nach oben und stieß gegen den Eingang zur Ahnenkammer. Einige Stoffstreifen und Perlenschnüre rissen ab.
Oblon fiel ein Wort der Macht ein, mit dem man Fliegen anlockte. Laut schrie er es dem Troll entgegen, und tatsächlich wich Douar ein wenig zurück. Der Anblick des Riesen hatte ihn erschüttert.
Falrach schob sich aus der Ahnenkammer. Seine Augen hatten blutrote Ränder. Das Gesicht war aschfahl. Er stützte sich auf die Lehmwand und stemmte sich hoch. Sofort knickten ihm die Beine wieder ein. »Wo sind die Trolle?« Die Stimme des Riesen war ein heiseres Krächzen.
Die ersten Trollkrieger sprangen über den nur halb ver schlossenen Durchlass im Dornenwall. Als sie den Riesen entdeckten, endete ihr selbstsicherer Sturmlauf.
»Er wird euch alle töten«, drohte Oblon, während immer mehr Fliegen um ihn herumschwirrten.
Douar hatte sich gefasst. Er deutete mit der Keule auf Falrach. »Dieser Riese ist betrunken und unbewaffnet. Auf ihn, tapfere Grauhäute! Niemand kann uns Trollen widerstehen.« Die übrigen Krieger teilten seinen Kampfgeist nicht. Mit schreckensweiten Augen blickten sie zu dem Riesen auf. Oblon konnte sich gut vorstellen, wie sie sich fühlten. Er kannte den Riesen nun ja schon einige Tage, aber auch er fand ihn immer noch erschreckend groß.
Der Sprecher der Trolle stürmte vor und schlug Falrach mit der Keule aufs Knie. »Seht, er ist kein Kämpfer wie wir!«
Der Riese schwankte. Dann versetzte er Douar einen Tritt, der den Troll durch die Luft wirbeln ließ. Der Sprecher schlug hart gegen die Lehmwand einer Hütte. Benommen rappelte er sich auf. »Packt die beiden! Sie rebellieren gegen die Herrschaft der Trolle.
Ihr wisst, was das bedeutet!«
Oblon fand diese Rede merkwürdig und nicht sonderlich ermunternd. Die Trolle dachten aber offensichtlich anders. Sie duckten sich hinter ihre Schilde und rückten langsam vor. »Helft uns doch!«, rief der Schamane seinen Leuten zu.
»Wer keine Waffe gegen uns erhebt, den verschonen wir!«
Oblon fluchte. Seine Leute hörten auf den Sprecher der Trolle und nicht auf ihn. So ein Pack! Wütend schwang er den Maisstampfer über seinem Kopf und ließ ihn auf den Schild eines Trolls krachen. Die Luft war erfüllt vom Summen Hunderter Fliegen. Der Riese wedelte mit den Armen, um die lästigen Insekten zu verscheuchen.
Der Schamane sprach ein Wort der Macht und legte all seine Wut und seine Enttäuschung in den Zauber. Douar verströmte nun einen Gestank wie eine Jauchegrube an einem heißen Sommertag. Sofort versammelten sich die Flie gen um ihn. Wie dichter Rauch umgaben sie ihn. Der Sprecher schrie. Allerdings nur ein einziges Mal. Oblon lächelte gehässig. Es war kein guter Einfall, seinen Mund zu öffnen, wenn man von so vielen Fliegen umschwirrt wurde.
Unbeirrt vom Schicksal ihres Sprechers rückten die Trolle weiter vor und drängten ihn zurück, bis er dicht neben Falrach mit dem Rücken zu seiner Hütte stand. Der Riese setzte sich mit Fußtritten zur Wehr, gegen die sich die Trolle auch mit ihren großen Schilden nicht schützen konnten.
Sie attackierten ihn auch mit Wurfspeeren, doch er schlug sie einfach aus der Luft, als seien sie von kraftlosen Greisen geschleudert worden. Plötzlich schlug sich Falrach auf die Wange, als wolle er ein Insekt verscheuchen. Ein feiner Blutstropfen rann über seine blasse Haut. Ein vergifteter Blasrohrpfeil musste ihn getroffen haben.
Der Riese ging in die Knie. Mit beiden Händen packte er den nächststehenden Trollkrieger und schleuderte ihn in die Schlachtreihe seiner Gefährten.
Eine Wurfkeule traf Oblon seitlich am Kopf. Benommen torkelt er gegen den knienden Riesen. »Werden die uns fressen?«, fragte Falrach merkwürdig gedehnt, als müsse er jedes Wort mit Gewalt über die Lippen zwingen.
»Dich fressen sie. Für mich werden sie sich etwas Schlimmeres ausdenken.«
Falrach fasste sich mit der Hand an die Stirn. Seine Augenlider flatterten. Sein Gesicht hatte die Farbe von gebranntem Kalk. Oblon kannte die Anzeichen. Jetzt begann er keuchend zu atmen. Das Gift lähmte ihn. Er würde ersticken. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Die Trolle wichen zurück. Sie wussten, dass der Kampf entschieden war. Überall hob Jammern und Wehklagen an. Er konnte verstehen, dass sein Volk es nicht wagte, gegen die Grauhäute zu kämpfen. Wer vermochte schon Trolle zu besiegen! Wenn die andere Riesin auch hier gewesen wäre, hätte die Schlacht vielleicht einen anderen Verlauf genommen. Nun aber war alles verloren.
Falrach stieß sich von der Lehmmauer ab und sprang mit ausgebreiteten Armen den Trollen entgegen. Zwei Krieger verschwanden schreiend unter dem massigen Körper des Riesen. Fünf oder sechs andere stürzten beim Versuch, dem Verhängnis auszuweichen. Fairachs Rechte schloss sich um die Kehle eines Trolls. Die Übrigen hieben mit Keulen und Speeren auf den Riesen ein.
Oblon nutzte die Verwirrung unter den Feinden, um selbst einen letzten, verzweifelten Angriff zu unternehmen. Zwei Schritt hinter ihm ruhten die Ahnen vieler Generationen. Sie sollten sehen, wie er als Held die Reise zu ihnen antrat.
»Ich will mit der Königin sprechen!«, rief der Anführer der Trolle mit einer Stimme, die wie Donner von den Bergen widerhallte. Sie waren vielleicht zehn Schritt vor ihm stehen geblieben.
»Sie hat Fieber. Sie liegt in tiefem Schlaf. Und selbst wenn sie wach wäre, würde sie nicht klar reden können. Ich spreche für sie.«
»Du wirst mir die eine, alles entscheidende Frage nicht beantworten können. Das kann nur sie. Lass mich zu ihr, Elf, oder du stirbst!«
Melvyn lachte auf. Es war ein freudloser Laut, geboren aus Wut und Verzweiflung.
»Du rückst nicht mit Heeresmacht an, um mit ihr zu reden, Troll. Für wie dumm hältst du mich?«
»Da du ein Maurawan zu sein scheinst, für ziemlich dumm. Dumm und gefährlich.« Er winkte seinen Leibwachen. Seine berststeinfarbenen Augen glühten im Morgenlicht wie Katzenaugen, die bei Nacht ein Fackellicht einfingen. »Tötet ihn!«
Die Trolle der Leibwache gehorchten umgehend. Krachend schlugen ihre schweren Schilde gegeneinander, so dass eine Wand aus Holz entstand. Melvyn begriff, dass sie ihn einfach an der Felswand zerquetschen konnten. Statt einen guten Platz zur Verteidigung zu wählen, hatte er sich in eine tödliche Falle manövriert.
Er stürmte vor, warf sich, kurz bevor er auf die hölzerne Wand traf, in den Schnee und versuchte mit seinen Krallenhänden unter den Schilden hindurch die Beine eines seiner Gegner zu attackieren.
»Die Schilde nieder!«, gellte die Stimme Orgrims.
Der Troll konnte ihn nicht sehen, das war völlig unmöglich. Er musste erraten haben, was er tun würde. Knirschend fuhren die Holzschilde in den überfrorenen Schnee. Ein Speerstoß, der über die Schildmauer geführt wurde, verfehlte Melvyn knapp. Er sprang auf und wich bis ganz an den Felsen zurück. Sofort begannen die Trolle wieder vorzurücken.
Es gab nur noch eine letzte, verzweifelte Möglichkeit zu entkommen. Wenn Orgrim auch diesen Plan vorausgesehen hatte, dann wäre er binnen weniger Herzschläge tot, dachte Melvyn. Besser so zu sterben, als hilflos gegen die Felsen gedrückt niedergemacht zu werden, entschied er und stieß sich vom kalten Stein ab.
Er stürmte dem Schildwall entgegen. Seine Rechte schnellte vor. Silberstahl fraß sich in Eiche. Er stieß sich ab. Die zweite Kralle schlug gegen den Schildrand. Melvyn zog sich hoch. Einen Lidschlag lang kauerte er auf der Schildkante. Das Gesicht des entsetzten Trolls war weniger als eine Elle von ihm entfernt.
Der Maurawan stieß sich ab und landete im Schnee. Ohne zu zögern, stürmte er geradewegs auf Orgrim zu. Wenigstens diesen einen Troll wollte er töten, bevor er niedergemacht wurde. Er wusste um Orgrims Ruf als Heerführer, und er war sich sicher, dass dessen Tod die Geschichte Albenmarks verändern würde. Ganz gewiss würden die Elfen und Kentauren eines Tages gegen die Herrschaft der Trolle rebellieren. Und dann war es besser, wenn sie nicht gegen Orgrim antreten mussten.
Der Trollfürst gab ihm mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass auch er den Zweikampf suchte. Orgrim hob seinen Kriegshammer, eine Waffe mit einem schweren Granitkopf, und spreizte die Beine leicht.
Melvyn war sich klar, dass er einen schnellen Sieg brauchte. Er würde versuchen, die Waffe zu unterlaufen, dem Troll die krallenbewehrte Linke in den Magen rammen und mit einem Sprung ihm mit der Rechten die Kehle zu zerfetzen. Orgrim trug keinerlei Rüstung. Nichts würde ihn vor den Silberstahlkrallen schützen.
Plötzlich ließ der Troll seine Waffe sinken. Er hob den linken Arm und deutete zur Felswand. »Warte! Sieh zurück!«
Melvyn griff nicht an. Aber blickte auch nicht zurück. War das eine Finte? Jetzt seinen Gegner aus den Augen zu lassen, wäre tödlicher Leichtsinn.
Orgrim schien seine Gedanken zu erraten. Er wich einige Schritte zurück, so dass der Abstand zwischen ihnen größer wurde. Auch gab er seiner Leibwache ein Zeichen, die Waffen gesenkt zu halten.
»Bitte, kämpft nicht!« In der plötzlichen Stille war Kadlins schwache Stimme zu hören.
Melvyn ließ alle Vorsicht fahren und blickte zurück. Seine Schwester hatte sich in der Felsnische erhoben. Unsicher stand sie auf schwachen Beinen. Sie war noch nackt und hielt die Kleider an sich gepresst, mit denen er sie zugedeckt hatte.
»Gehen wir zu ihr?«, fragte Orgrim.
»Was willst du?«, fuhr Melvyn den Trollfürsten an. »Was gibt es noch zu besprechen?«
»Komm mit und höre zu!« Ohne auf Antwort zu warten, setzte der Troll sich in Bewegung.
Melvyn begann zu laufen, so dass er immer zwischen dem Troll und seiner Schwester blieb.
»Ist das die Art, wie Trolle zu ihrem Wort stehen? Du hattest uns freien Abzug versprochen!«
Orgrim ließ sich nicht zu einer Antwort herab.
Melvyn erreichte vor dem Herzog die Felsnische. Breitbeinig stellte er sich vor seine Schwester.
»Eine Frage, Weib.« Orgrim ignorierte ihn weiterhin.
»Hättest du dich an unseren Pakt gehalten? Wärst du in deinem Königreich geblieben?
Oder wärest du wiedergekehrt, um erneut nach der Leiche deines Vaters zu suchen.«
»Ich wäre wiedergekommen«, entgegnete Kadlin mit schwacher Stimme.
Die Worte trafen Melvyn wie ein Dolch in den Rücken. Wie konnte sie so naiv sein!
»Sie hat Fieber ... «
»Das schließt eine ehrliche Antwort nicht aus«, sagte der Troll kühl. Er deutete zu dem Hang. »Ich habe meine Krieger versammelt, um dein Königreich zu zerstören. Ich werde bald nach Albenmark müssen. Und ich habe es bereits erklärt: Als ich das letzte Mal die Nachtzinne verlassen habe, fand ich bei meiner Rückkehr meine Weiber und meine Welpen gemordet. Ihr habt sie bei lebendigem Leib verbrannt.« Der Troll griff sich nach seinem Herzen. »Weißt du, was das für ein Gefühl ist? Ihr habt mir mein Herz herausgeschnitten. Ich lebe noch. Ich atme noch. Aber eigentlich bin ich tot. Ich hatte entschieden, dass du und die Deinen dieses Gefühl kennenlernen sollen.«
»Ich war sehr klein, als ihr Trolle meine Heimat überfallen habt. Aber ich kann mich noch an die erfrorenen Kinder erinnern, die ich halb von einem Leichentuch aus Schnee zugedeckt auf dem Eis der Fjorde habe liegen sehen. Wegen dieses Krieges bin ich von meinem Vater getrennt aufgewachsen.«
»Du weißt, warum wir damals gekommen sind? Es war dein Vater, der als Erster das Schwert erhoben hat, als er den Elfen zu Hilfe eilte!«
»Und jetzt tötest du meine wehrlose Schwester, weil dies die einzige Antwort ist, die dir auf all das Blutvergießen einfällt?«, fuhr Melvyn den Trollfürsten an. »Und wie wird es dann weitergehen? Kannst du mit diesem Häuflein Trolle alle Menschenkinder umbringen, die im Fjordland leben? Oder werden dir welche entkommen, die dann ihrerseits auf Rache sinnen.«
»Welch glücklicher Tag, dass ich mich im Licht deiner Weisheit sonnen darf, Elflein.«
»Was willst du, Troll? Lass uns hinübergehen und den Streit unter uns ausmachen, oder hast du Angst, dich mit einem Elflein zu schlagen?«
»Ich bin hier, um die Menschenkinder besser kennenzulernen. Ich will sicher sein, dass sie niemals mehr ihr Schwert gegen meine Heimat erheben werden. Die Menschen folgen ihr. Jetzt, in dieser Stunde, ist der alte Mann ohne Nase nur noch drei Meilen entfernt. Er hat alle Krieger aufgeboten, die er finden konnte. Jeden Trottel, der auch nur eine Mistgabel tragen kann. Sie alle werden bis zur Mittagsstunde tot sein, wenn ich es will.«
»Schneid mir den rechten Arm ab!«
Melvyn fuhr zu Kadlin herum. Sie sollte besser den Mund halten! Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Vorgebeugt stützte sie sich auf einen Stein. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick vor Schwäche zusammenbrechen.
»Schneid mir den Schwertarm ab, dann bist du sicher vor ihm.«
Der Troll legte den Kopf schief. Es war unmöglich, in seinem grauen Gesicht zu lesen.
Zu fremd waren seine Züge. Lächelte er? »Darauf könnte ich mich einlassen«, sagte Orgrim schließlich.
»Ich nicht!« Melvyn hob drohend die Krallenfäuste. »Du rührst sie nur über meine Leiche an.«
»Wenn das dein Wunsch ist, Elflein.« Orgrim hob seine Keule.
»Lass es ihn tun, Melvyn. Bitte.« »Du hast Fieber. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich…«
»Stel dich nicht zwischen mich und mein Volk!« Er sah zu ihr hinüber. Ihre Züge waren hart geworden. Sie bot all ihre Kraft auf, drückte den Rücken durch und stellte sich aufrecht hin. Dann streckte sie ihren Arm vor. »Diesmal wird unser Pakt mit Blut besiegelt. Ich schwöre bei den Göttern des Fjordlands, ich werde keinen Krieg mehr gegen dich führen.«
»Und du wirst nicht mehr in mein Land kommen und versuchen zu stehlen, was du für immer verloren hast.«
Ein Muskel in ihrer Wange zitterte, so sehr spannte sie sich an. »Ja.« Sie sah zu ihm. Ihr Blick gebot ihm zu schweigen. Sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben. Was wusste er schon von der Welt der Menschen?
»Du wirst sie umbringen ... «
»Vielleicht beschützen sie ja ihre Götter.«
Ein zynischer Troll! Wer hatte je von so etwas gehört! Jedes Albenkind wusste, dass es keine Götter gab! Sie existierten nur, damit sich die Menschenkinder ihre Welt erklären konnten. Sie wollten immer alles erklären.
»Lass ihn vorbei, Bruder.«
Melvyn gehorchte. Auch der Troll wirkte angespannt. Er lehnte seinen Kriegshammer gegen den Fels. Immer wieder blickte Orgrim zu ihm hinüber, so als fürchte er, hintergangen zu werden. Der Hüne zog ein Messer aus schwarzem Vulkanglas aus seinem Gürtel.
Kadlin hielt noch immer ihren Arm ausgestreckt. Er packte ihre Hand.
Melvyn riss unwillkürlich die Krallenfäuste hoch.
Der Troll schnitt der Königin in die Handfläche. Dunkles Blut troff in den zerwühlten Schnee. Dann schnitt er sich selbst in die Hand und hob sie hoch über den Kopf, wie um sie all seinen Kriegern zu zeigen. Blut rann ihm den Arm hinab.
»Ich schließe Frieden mit dir, Menschentochter. Ich tue es gegen den Rat meiner Ältesten. Sie haben mir gesagt, dass du mich hintergehen wirst. Ich tue es, weil mich dein Mut beeindruckt hat. Du hättest deinen Arm gegeben für dein Volk. Du hast es gewagt, mir ins Gesicht zu sagen, dass du wiederkommen würdest. Davon waren auch meine Berater überzeugt. Hättest du etwas anderes gesagt, dann wärst du jetzt tot.
Vielleicht überlegst du schon jetzt, ob du mich hintergehen willst. Aber ich bin ein Mann, der seine Zukunft selbst formt. Alles ist möglich, wenn wir es wollen.« Wieder winkte er den Kriegern auf dem Hügel zu. »Ich habe entschieden, dir die Leiche deines Vaters zu überlassen. Dann hast du keinen Grund mehr, wortbrüchig zu werden. In meinem Volk ist ein Eid, den man mit seinem Blute schwört, so fest wie das Gebein der Erde. Ich kenne mein Rudel, Menschentochter. Es wird wilde Welpen geben, die über die Grenze gehen werden, um Vieh zu stehlen. Ich werde das nicht verhindern können. Und du wirst deine Rudelführer nicht daran hindern können, dass sie sich hin und wieder daran versuchen, einen Troll zu töten. Doch wir beide wollen uns versprechen, dass wir nicht mehr die Waffen gegeneinander erheben. Und dass nie mehr ein feindliches Heer das Land des anderen betritt.« Er machte eine abrupte Bewegung mit der Hand, so dass Kadlin sein Blut ins Gesicht spritzte. Dann sah er sie erwartungsvoll an.
Seine Schwester blickte fragend zu ihm, doch auch Melvyn wusste nicht, was der Troll erwartete. Er war ernüchtert, fühlte sich vorgeführt und beschämt. Klackend ließ er die Krallen aus Silberstahl in seine Armschienen zurückfahren.
Orgrim kniete vor Kadlin nieder und nahm vorsichtig ihre blutende Hand. Er berührte damit sein Gesicht. Ja, er leckte nach dem Blut!
»Nun ist es mit Blut beeidet«, sagte er so laut, dass es auch die Krieger auf dem Hügel hören konnten. »Bringt ihren Vater.« Leise fügte er hinzu: »Eine letzte Bedingung stelle ich noch. Ich will, dass man mir dein Herz bringt, wenn du eines Tages stirbst, Menschentochter.« Er drehte sich zu Melvyn um. »Du wirst das tun!«
Er war sprachlos. Ihr Herz! Er wusste, dass Trolle besonders tapfere Gegner ehrten, indem sie ihr Herz verspeisten. Sie glaubten, deren Mut in sich aufzunehmen, wenn sie es taten. Aber die Vorstellung, eines Tages das Herz seiner Schwester aus deren Leib zu schneiden ... Das war zu viel!
»Ich denke nicht...«
» ... dass dies ein Hindernis für unseren Frieden sein wird«, sagte Kadlin entschieden, und ihr Blick gebot ihm erneut zu schweigen. Sie hatte ihre letzte Kraft in diesen Blick gelegt. Nun sank sie am Felsen in sich zusammen.
»Bringt ein Fell für sie«, rief Orgrim.
»Wer sich des Wuchers mit Essbarem schuldig gemacht und seiner Herde auf diese Weise Schaden zugefügt hat, der ist einem Rudelführer auszuliefern. Der Rudelführer wird den Straftäter auf einem öffentlichen Platz vor den Augen der Geschädigten bei lebendigem Leib verspeisen.
Ein Händler, der mit falschen Gewichten auf seiner Waage betrogen hat, der ist einem Rudelführer auszuliefern. Auf einem öf entlichen Platze wird ihm das Hundertfache des Gewichtes, um das er betrogen hat, vor aller Augen aus seinem lebendigen Fleisch geschnitten.
Wer einen Viehdieb stellt, bevor jener sein eigenes Land erreicht, der darf den Dieb erschlagen und wird dafür nicht verfolgt werden.
Ein Viehdieb, der es schafft, das gestohlene Vieh auf sein eigenes Land zu treiben, gilt nicht weiterhin als Dieb und darf nicht mehr belangt werden. Wer gegen ihn die Hand erhebt, wird vom Gesetz verfolgt werden.
Ein Händler, der mehr als die Hälfte des Preises, um den er eine Ware eingekauft hat, auf den Weiterverkaufspreis aufschlägt, ist wie ein Dieb zu behandeln. Für den ersten Diebstahl wird er mit einem glühenden Eisen im Gesicht gebrandmarkt. Für den zweiten Diebstahl sol ihm eine Hand abgehackt werden. Wird er ein drittes Mal überführt, so ist sein Leben verwirkt.
Wer zum Schaden der Herde Geschäfte mit dem Geld und Gut anderer macht, der muss den Schaden mit seinem eigenen Geld und Gut begleichen. Sollte dies nicht ausreichen, so wird auch al er Besitz seiner Blutsverwandten eingezogen. Ist auch das nicht genug, dürfen der Betrüger und al seine Verwandten in die Sklaverei verkauft werden. Dies Geld wird ebenfal s an die Geschädigten weitergegeben ... «
»Wer in betrunkenem Zustand einen anderen tottrampelt oder verletzt, der wird dafür in al er Öf entlichkeit streng gescholten werden. Er fällt jedoch nicht unter die Blutsgerichtsbarkeit, da er im Augenblick des Unglücks nicht Herr seiner Sinne war.« Der stets so beherrschte und überhebliehe Elija Glops vermochte seine Stimme kaum im Zaum zu halten, während er die Worte vorlas. »Das ist kein Gesetz! Das ist eine ganz unverhüllte Beleidigung aller Kobolde. Es wird zu Aufständen kommen, wenn dieses Gesetz öffentlich verlesen wird.«
»Warum? Es könnte doch auch ein betrunkener Kobold auf eine Blütenfee treten?«, entgegnete Skanga lustlos. Am liebsten hätte sie Elija aus dem Thronsaal geworfen, aber bald würde sich im Albenstern vor ihnen ein Tor öffnen, und die Schamanin wollte, dass der Lutin beobachtete, ob dabei alles mit rechten Dingen vor sich ging. Ihr Besuch bei Alathaia, der Elfenfürstin von Langollion, war ein einziges Ärgernis gewesen. Diese aufsässige Elfenschlampe hatte unverschämte Forderungen gestellt.
Noch in dieser Stunde würde sie kommen! Und Elija sollte beobachten, ob sie versuchte, Krieger durch das Goldene Netz zu führen, um den Palast zu stürmen. Ihr war jeder Verrat zuzutrauen. Leider hatte Elija sich in den Kopf gesetzt, ausgerechnet jetzt über den ersten Entwurf des Trollgesetzbuches zu reden.
Am liebsten würde Skanga ihn packen und ihm den Fuchskopf von den schmalen Schultern reißen. Vielleicht würde sie sogar von seinem Hirn essen. Er war unbestreitbar schlau. Leider war er unberührbar für sie. Er hatte es geschafft, sich ins Vertrauen des Königs Gilmarak zu schmeicheln. Ihn zu töten, würde mehr Ärger einbringen, als es das kurze Vergnügen wert war.
»Mir liegen fünf Schreiben von Fällen vor, in denen Kobolde durch betrunkene Trolle zu Tode kamen. Der schlimmste Fall hat sich vor neunzehn Tagen in Lavianar in der Provinz Arkadien ereignet. Dort kamen vier Kobolde um, und elf weitere wurden verletzt, weil ein Trupp besoffener Trolle auf die glorreiche Idee kam, ein Kobold-weitwerfen zu veranstalten.«
Skanga blickte zu Birga, die neben ihr stand. In ihrer Aura herrschte das matte Rot beherrschter Wut vor. Vielleicht könnte sie ihre Schülerin dazu aufstacheln, diesen lästigen Besserwisser umzubringen?
»Und die Gesetze zu Wucher, Geldverleihern und Gewinnraten im Handel! Wenn diese Gesetzte in Kraft treten, dann wird der Handel in sich zusammenbrechen. Gesundes Gewinnstreben wird dann lebensgefährlich!«
»Du sagst doch so gern, dass alle Albenkinder Brüder sind, Elija. Warum sollte man dann dulden, dass einige Brüder sehr reich sind und andere aufgrund ihrer Machenschaften bettelarm bleiben? Liegt es daran, dass auch die Lutin gute Geschäfte im Karawanenhandel machen? Sollte nicht jemand anderes als du darüber urteilen?«
»Ich weise jegliche Anwürfe zu Befangenheit entschieden zurück. Jeder weiß, dass ich für das Volk eintrete und keinerlei persönliches Gewinnstreben mein Antrieb ist. Ich habe keinen Gewinn aus dem Aufstand oder meinem Amt gezogen. Und da wir gerade vom Volk reden: Wir sollten auch diesen dümmlichen Begriff Herde aus den Gesetzestexten streichen! Sprechen wir doch einfach vom Volk! Das kann jeder verstehen. Bitte, Skanga, ich sehe ja die löblichen Absichten hinter diesem Gesetzeskodex, aber ein solches Werk sollte man in die Hände von erfahrenen Schreibern und Beamten legen.«
»Ich will einen Text von zehn Seiten und nicht zehn Bücher voll mit einem Recht, das Kundige so verdrehen können, dass jedes beliebige Urteil möglich ist. Du redest so gern vom Volk, Elija. Welcher einfache Küchenkobold könnte sich einen guten Schriftgelehrten leisten, der ihn gegen seinen grausamen Herrn vertritt? Ich glaube, man kann zu allen Verbrechen auf zehn Seiten eine Aussage machen. Halte mich nicht für dumm, weil ich dem Volk der Trolle entstamme. Du wirst…«
Ein schmaler Streifen blendenden Lichts stieg aus dem Schlangenmosaik inmitten des Thronsaals und weitete sich binnen eines Herzschlags zu einem magischen Tor.
Skanga krallte ihre gichtkrummen Finger in die Armlehnen des Throns. Es war so unvermittelt gekommen, dass sie im ersten Augenblick erschrak, obwohl sie gewusst hatte, dass Alathaia diesen Weg nehmen musste.
»Was siehst du?«, fragte sie den Lutin. Die magischen Auren waren so stark, dass sie einander überlagerten und sie nicht ins Goldene Netz blicken konnte. Sie dachte daran, wie Emerelle den Angriff auf ihre Burg abgeschlagen hatte, indem sie einen Albenpfad mit einem Wort der Macht durchtrennt hatte. So viel Tod und Unheil hatte sie damit heraufbeschworen!
»Alathaia kommt allein«, sagte Elija. »Sie scheint ... «
In dem Augenblick trat die Elfenfürstin durch den Albenstern in den Thronsaal. »Sie trägt ein schwarzes Kleid«, flüsterte Birga in ihr Ohr.
Als ob das eine Rolle spielen würde! Skanga sah nur klar die Aura der Elfe. Sie war erfüllt von arroganter Zuversicht.
»Sie hält ein Büchlein in der Hand. Ich glaube ... Ja, auf dem Einband ist Blut.«
Das sah auch Skanga. Den Blutflecken haftete noch eine eigene, wenn auch blasse Aura an. Es konnte nicht viel mehr als eine Woche her sein, dass dieses Blut vergossen worden war.
»Wie ich sehe, Skanga, sind meine Bedingungen nicht erfüllt worden. Emerelles Burg sollte verlassen sein! Nun sehe ich deine hässliche Schülerin und ... Ist es das Gesicht der Fürstin von Vahlemer, das sie da als Maske trägt? Entzückend. Ihr Trolle seid doch immer wieder für eine Überraschung gut. Wenngleich ich die heutige Überraschung, nicht allein in Emerelles Schloss zu sein, nicht schätze. Was soll dieser Lutin hier? Ich bin auf Lutin nicht gut zu sprechen! Jag ihn davon!«
Elijas Aura hatte eine eigenartige Farbe angenommen. Es war das kalte Blau der Angst, aber durchzogen von einem milchigen Unterton. Er gab der Aura etwas beinahe Körperliches. So etwas hatte Skanga noch nie gesehen. Der Lutin hatte zweifel os große Angst, doch nicht um sich.
»Darf ich das Buch einmal sehen?« Elija sprach mit tonloser Stimme.
»Er starrt auf das Buch«, flüsterte Birga, als habe sie erraten, was sie dachte.
»Ist dieser Lutin von irgendeiner Bedeutung?«
»Elija. Geh!«, befahl Skanga in einem Tonfall, der jeden Troll hätte die Flucht ergreifen lassen.
»Dieses Buch. Ich kenne es. Die Prägung im Leder. Ich habe ihr dieses Buch zum Geschenk gemacht. Die Flecken … Ist das …«
»Geh, Elija! Zwinge mich nicht, es dir noch einmal zu befehlen. Was nun in diesen Mauern geschieht, ist nicht für deine Augen oder Ohren bestimmt. Versuche nicht, mich zu hintergehen.« Sie flüsterte ein Wort der Macht. Es war erstaunlich, wie viel Widerstand der kleine Lutin leistete. Seine Körpergröße ließ nicht ahnen, welch machtvollen Willen er besaß. Doch schließlich zerbrach er. Linkisch drehte er sich um und verließ mit steifen Schritten den Thronsaal.
»Ist das der Geist der neuen Herrschaft, dass Kobolde keinen Befehlen mehr gehorchen?«
»Sie lächelt unverschämt«, flüsterte Birga.
»Du möchtest einen Zauber von mir erlernen, Alathaia. Du solltest höflicher sein.«
»Und du brauchst etwas von mir, das du nirgendwo anders bekommen kannst.«
»Ich habe schon einmal Elfen gegen Emerelle ausgesandt. Ich werde es auch ein zweites Mal ohne deine Hilfe schaffen«, entgegnete die Schamanin ruhig. Sie tastete nach ihren Amuletten. Als sie den Albenstein fand, rieb sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Macht des Steins löschte den Schmerz in ihren entzündeten Gelenken.
»Seitdem hat sich alles geändert. Solange Emerelle herrschte, war es nicht schwer, Elfen zu finden, die ihren Untergang wollten. Doch nun wünschen sich fast alle ein schnelles Ende deines Königs Gilmarak. Du brauchst meine Hilfe. Du weißt das. Und deinen Zauber werde ich auch ohne dich erlernen. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Du würdest viel Zeit und viel Blut aufwenden müssen.« Skanga überlegte, wie viel Ärger ihr die Hilfe Alathaias wert war. Das Maß war bald voll! »Was ist das für ein Buch, das der Lutin so unbedingt sehen wollte?«
»Es ist der Schlüssel zu etwas, das mir vor kurzem verlorenging. Du weißt ja, dass diese schmeichlerischen, kleinen Lutin in Wahrheit alle Diebe sind. Du solltest sie vom Königshof vertreiben. Man kann ihnen nicht trauen.«
»Was suchst du?«
Statt sofort zu antworten, schlug die Fürstin das Buch auf. »Sie sind dort verborgen, wo Blätter, die der Wind nie davontrug, vom letzten Zeugnis einer alten Liebe behütet werden.
Das beschreibt einen Ort in dieser Burg.«
»Wer sind sie?«
»Es ist die Rede von drei Karfunkelsteinen! Und nein, ich weiß nicht, welche Namen sie tragen. Sie sind mir gestohlen worden, und ich glaube, sie wurden hierhergebracht.«
Karfunkelsteine? Skanga erwartete nicht, eine ehrliche Antwort zu bekommen, wenn sie Alathaia fragte, was sie damit vorhabe. Es wäre dumm, mit ihr deshalb einen Streit anzufangen. Die Elfenfürstin hatte ärgerlicherweise Recht. Nur sie konnte ihr helfen zu finden, was sie brauchte, um Emerelle zu töten. »Karfunkelsteine«, sagte sie bedeutungsschwer und wusste doch nichts.
»Sie lächelt hochmütig«, flüsterte Birga. »Darf ich aus ihrem Gesicht eine Maske machen, wenn wir sie nicht mehr brauchen? Ich glaube, ich könnte dieses Lächeln für die Ewigkeit einfangen.«
Skanga überging das. Manchmal war Birga auch zu dumm! Sie hatte nicht das Zeug dazu, diese Elfe zu besiegen. Selbst Emerelle fürchtete Alathaia. Sich mit ihr einzulassen, war so, als lege man sich in ein Bett voller Vipern. »Und du glaubst, hier findest du die Blätter, die der Wind nie davontrug? Was haben sie mit deinen Karfunkelsteinen zu tun?«
»Diese Blätter sind belanglos. Ich glaube, es handelt sich um Gedichte von Blütenfeen.
Die anderen Worte sind der Schlüssel. Das letzte Zeugnis einer alten Liebe. Ich habe dieses Büchlein immer und immer wieder gelesen in den letzten Tagen. Ich denke, ich weiß jetzt, wo ich suchen muss. Es ist hier auch die Rede von einer verborgenen Kleiderkammer der Königin.«
Skanga hörte das Rascheln von Buchseiten.
»Hier steht es: Am hintersten Ende sah ich jenes weiße Kleid, das sie auf dem Begräbnis Fairachs getragen hatte. Seitdem hatte sie es nicht mehr berührt. Ich glaube, dieses Kleid ist das Zeugnis einer alten Liebe. Dort, wo die Weidenpuppe mit diesem Kleid steht, muss ich suchen! Im Turm der Königin. Ganz oben unter dem Dach. Dort verbirgt sie ihre Schätze.«
»Ich glaube nicht, dass ich meinen alten Knochen den Aufstieg auf den Turm zumuten will.«
»Ich hatte ohnehin die Absicht, allein zu gehen.«
»Birga wird dich begleiten, werte Freundin. Das ist mein letztes Wort. Die Trolle sind die Herren von Burg Elfenlicht. Du wirst nichts an dich nehmen, ohne dass Birga es sieht. Und versuche nicht, sie zu hintergehen!«
Endlich sah Skanga einen Anflug von Zorn in Alathaias Aura. Es war nur ein kurzes Aufflackern. Die Elfe verstand es meisterlich, ihre Gefühle zu beherrschen. Der Fürstin war sicherlich bewusst, dass sie in ihrer Aura lesen konnte. Und wie viel ihre blinden Augen noch sahen.
»Was für ein Vertrauensbeweis, dass du mir deine Schülerin überlässt! Du schmeichelst mir, Skanga.« Sie verneigte sich. »Wenn du nichts dagegen hast, werde ich mich nun auf die Suche nach dem Diebesgut machen.«
»Geht!«
Skanga lauschte auf die Schritte der beiden, die bald in der Ferne der weiten Palasthallen verklangen. Karfunkelsteine! Was wollte die Fürstin damit? Skanga kannte sie nur aus Märchen. Da hieß es, dass ein Karfunkelstein im Augenblick des Todes eines Drachens entstand. Sein Lebenswille, seine Magie, sein Bewusstsein, alles, was ihn ausmachte, zog sich in seinem Herzen zusammen und wurde zu einem Stein. Angeblich unterschieden sich diese Steine in nichts von belanglosen Feldsteinen an einem Wegrand. Sie waren etwas kleiner als eine Koboldfaust. Ihnen schien keinerlei Magie innezuwohnen. Und gingen sie einmal zwischen anderen Steinen verloren, dann war es fast unmöglich, sie wiederzufinden.
Skanga erinnerte sich an eine Geschichte, in der es hieß, man könne mit Karfunkelsteinen Warzen behandeln. Sicher wusste auch Birga davon. Hoffentlich war sie nicht so töricht zu versuchen, Alathaia einen der Steine zu stehlen.
Als Emerelle auf dem Felskamm hoch über dem Dorf stand, wusste sie, dass sie zu spät kam. Scharen grauhäutiger Kobolde stürmten Oblons Dorf. Sollten das die angeblichen Trolle sein? Das Erschrecken traf sie so tief, dass die Zeit aus reiner Gehässigkeit langsamer zu verstreichen schien, damit sie jede Einzelheit des Unabwendwendbaren in sich aufnehmen konnte. Sie sah die merkwürdigen Fratzen auf den Schilden der Krieger. Sah all die kauernden Kobolde, die das Unheil wehrlos über sich ergehen ließen. Doch nicht dies war es, was sie so tief berührt hatte. Sie sah Falrach zu Boden gehen. Als sein Sturz endete, begann ihrer. Sie sprang! Ohne zu denken, stürzte sie sich die Klippe hinab. Dabei breitete sie die Arme aus wie Flügel, nur dass sie kein Vogel war. Der Wind verfing sich nicht so sehr in ihrem flatternden Gewand, als dass er sie getragen hätte. Obwohl sie sich mit aller Kraft abgestoßen hatte, traf sie fast unmittelbar ein scharfer Schmerz am linken Fuß. Sie hatte eine vorspringende Felskante gestreift.
Der Schlag verwandelte den Flug mit ausgebreiteten Armen in ein trudelndes Chaos.
Und noch einmal strafte sie die Zeit. Sie war wie einer jener wunderlichen Gummi-klumpen gewesen, mit denen die Baumwanderer aus den tiefsten Dschungeln Vahan Calyds handelten. Jener Klumpen, die man zu erstaunlicher Länge auseinanderziehen konnte. Hatte sich die Zeit eben noch zu einem endlosen Augenblick des Schreckens gedehnt, so schnellte sie nun in sich zusammen. Alles ging zu schnell, um einen klaren Gedanken zu fassen. Der Grund am Fuß der Klippen sprang ihr entgegen. Das rechte Wort der Macht wollte ihr nur mit quälender Langsamkeit über die Lippen kommen.
Der Schmerz im Fuß drohte ihr einen Aufschrei statt eines Zaubers zu entreißen.
Endlich stieß sie dieses widerspenstige Wort hervor, das sich an ihre Zunge krallte wie eine Zecke in zarte Nackenhaut. Die letzte Silbe und der Aufschlag kamen fast zugleich. Nun war es ihr Körper, der in sich zusammenschnellte. Der einen Schlag erfuhr, der sie jeden Knochen, jede Muskelfaser, jede zum Zerreißen gespannte Sehne fühlen ließ. Sie kam mit den Füßen zuerst auf und versuchte den Aufschlag zu mildern, indem sie in eine kauernde Stellung zusammenschnarrte. Der Fels erbebte unter der Wucht ihres Aufschlags. Die Risse im Stein offenbarten ihr wohlgehütetes Geheimnis. Das, was sie in jedem Augenblick des Wachens und auch des Schlafes durch Magie, die längst ein Teil ihrer selbst geworden war, verbarg. Selbst während der langen Ohnmacht nach ihrer Verwundung in Vahan Calyd hatte dieser Zauber nicht aufgehört zu bestehen.
Sie schnellte vor, fort vom zerschmetterten Stein. Sie lief dem Schlachtgetümmel entgegen. Sie versuchte den Lauf der Zeit zu überrunden. Noch während sie lief, zog sie ihr Schwert. Sie spürte die Hitze in ihrem Blut, die sie so sehr fürchtete. Den Jähzorn, der ihr kaltblütiges Denken, für das sie gerühmt und gefürchtet war, zerschmolz. Eine Hitze, die nur noch einen einzeln rot glühenden Gedanken kannte. Ollowain! Sie würde es nicht zulassen, dass er starb.
Mit einem weiten Satz war sie über die Dornenhecke hinweg. Sie nutzte nicht die Lücke, durch die sich die grauhäutigen Kobolde drängten. Sie trat auf ein gewölbtes Lehmhüttendach, das sie gerade lange genug trug, dass sie sich abstoßen konnte, bevor es mit einem mürrischen, dumpfen Geräusch in sich zusammenbrach.
Sie landete auf einem grauen Nacken, der mit überraschtem Knacken so gründlich zersplitterte, dass rot umrandete Knochenstücke gleich Frühlingsblüten, die den Schnee bezwangen, durch lehmgraue Haut sprossen.
Ihr Schwert beschrieb einen silbernen Bogen durch Lederschilde, Speerschäfte, lebendiges Fleisch und eine trockene Hüttenwand.
Kobolde kletterten auf Ollowains Leib. Sie stachen mit steinernen Speerspitzen nach ihm. Die grauen Krieger triumphierten grinsend über den Riesen, bis das Jubelgeschrei der vermeintlichen Sieger in plötzlicher Stille erstickte.
Der, der gerade mit seinem Obsidianmesser eines von Ollowains Augen aus dessen Höhle hebeln wollte, war der letzte, der verblüfft aufblickte. Zu spät, um der Klinge zu entgehen, die Emerelle in blindem Zorn geschleudert hatte.
Sie traf den Kobold mitten in der Brust und riss ihn fort von seinem Opfer. Wie man einen Schmetterling mit einer Nadel auf ein dünnes Brett spießt, um ihn für die Ewigkeit zu konservieren, so spießte Emerelles Schwert den Kobold auf die Lehmwand von Oblons Hütte.
Während die eben noch übermütigen Riesenbezwinger vor Schreck wie versteinert standen, war die Königin schon über ihnen. Sie sah Ollowains Blut auf den Speer spitzen und hatte das Gefühl, dass ihr Herz Magma in ihre Adern pumpte.
Ihre Rechte schnellte vor und traf den, der versucht hatte, mit seinem Speer das feste Leder der Elfenstiefel zu durchdringen. Der Schlag traf jenen Knorpel, der hoch in der Kehle saß, und dieser wiederum zerquetschte Speiseröhre und Luftröhre des Kobolds.
Emerelle entriss dem Sterbenden seinen Speer. Wieder schien die Zeit ihr einen Streich zu spielen und langsamer zu werden. Ihre Sinne waren weit geöffnete Tore, die alles rings um sie herum zu einem großen Bild fügten. Einem Bild, weit umfassender als jener schmale Ausschnitt, der sich ihren Augen darbot.
Sie roch, wie sich die Gedärme des sterbenden Kobolds entleerten. Sie war sich jedes Tropfen Angstschweißes bewusst, der durch lehmverstopfte Poren sickerte. Sie hörte die zischelnden Worte der Angst und des Hasses, ganz gleich, wie leise geflüstert wurde. Und sie hörte das Geräusch der beiden fliegenden Obsidianäxte, die auf ihren Rücken zielten.
Sie spürte die Blicke. Jeden einzelnen, so als säßen die Koboldaugen gleich Schneckenaugen auf Fühlern, die sich zu grotesker Länge streckten, bis Blicke sie buchstäblich berührten. Sie spürte den feinen, von den stampfenden Füßen der Krieger aufgewirbelten Staub in der Luft, der sich langsam senkte und die feinen Härchen ihrer Arme streifte und ihren Mund mit stumpfem Geschmack füllte.
Sie fuhr unvermittelt herum. Ihr Speer schnellte hoch. Das Stichblatt traf die wirbelnde Axt seitlich und lenkte ihren Flug ab. Sie verfehlte sie nur wenige Zoll und spaltete hinter ihr das erstaunte Gaffen im Antlitz eines grauhäutigen Kobolds.
Bei der zweiten Axt verschätzte sie sich. Es war weniger als ein Lidschlag. Weniger als der winzige Augenblick, den ein Sandkorn brauchte, um durch die Enge eines Stun-denglases zu sickern. Die Spitze des Speeres traf genau auf die Schneide der Axt, statt das Blatt seitlich zu berühren. Das schwarze Vulkanglas zerbarst in tausend nadelspitze Splitter. Emerelle schloss die Augen. Obsidian schnitt in ihr Gesicht. Alle Umstehenden schrien auf. Gepeinigt von den feinen, schwarzen Geschossen, die jenen, die sie unglücklich trafen, für immer das Augenlicht löschten.
Nun wichen alle von ihr zurück. Niemand mehr wagte es, die Hand gegen sie zu erheben. Flüchtig bemerkte Emerelle Oblon. Seine Kehle war von mehreren Schnitten zerfetzt und bis zur Wirbelsäule offen gelegt. Der Schamane starrte mit leerem Blick in den weiten, klaren Himmel. Schon tummelten sich erste Fliegen auf dem gerinnenden Blut, das so gierig vom staubtrockenen Boden getrunken worden war.
Ein wenig weiter lag ein grauhäutiger Krieger. Zusammengekrümmt. Die Augen nur noch leere Höhlen. Aus seinem klaffenden Mund stiegen Schwärme von Fliegen auf.
Emerelles Hand tastete über Ollowains Hals. Sein Pulsschlag war kaum noch zu spüren. Die gestürzte Königin wandte sich um, so dass sie mit dem Rücken zur Hütte neben ihrem Liebsten kauerte. Sie sah in Gesichter voller Hass und Angst. Die grauhäutigen Kobolde waren zurückgewichen. Einige ältere Krieger, vielleicht ihre Anführer, standen beisammen und tuschelten. Sie wusste, dass die Angreifer sich noch nicht geschlagen geben wollten. Wenn sie sich jetzt mit all ihren Sinnen auf Ollowain konzentrierte, um ihn zu retten, dann würden sie augenblicklich wieder angreifen. Sie spürte das Gift im Körper ihres Liebsten. Spürte, wie es ihn immer schwächer werden ließ. Seine Muskeln lähmte, seine Atmung erschlaffen ließ und dem Herzen den Willen zu schlagen nahm. Es war ein Wunder, dass er noch lebte. Im selben Augenblick, in dem sie das dachte, versiegte sein Puls.
Sie zerriss seine Tunika. Legte beide Hände auf seine Brust und presste, um sein Herz zu zwingen, noch weiterzuschlagen. Tränen der Wut standen ihr in den Au gen. Sie konnte ihn heilen. Sie hatte die Macht, das Gift zu Wasser werden zu lassen.
Doch wenn sie es tat, machte sie sich für vielleicht zweihundert Herzschläge lang völlig wehrlos. Eigentlich war dies keine nennenswerte Zeitspanne. Doch es war mehr als genug Zeit, um zu ihr zu kommen und ihr die Kehle zu durchtrennen, so wie sie es mit Oblon gemacht hatten.
Emerelle hörte das Geräusch spritzenden Wassers. Dann spürte sie den Boden erzittern. Sanft nur. Kaum merklich. Doch sie war nicht die Einzige. Dort, wo die Lücke im Dornenwall war, erhob sich Geschrei. Bewegung kam in die Kobolde. Jene, die sie eben noch wie den Tod gefürchtet hatten, flohen nun in ihre Richtung.
Ein älterer Kobold mit mehrfach gebrochener Nase und einer unförmigen Ledermütze auf dem Kopf warf sich vor ihr auf den Boden. »Wir ergeben uns dir, Herrin. Wir ergeben uns!«
Über dem Dornenwall erschienen Kopf und Schultern Madras. Mit einem Schritt setzte der Troll über die Hecke hinweg.
»Achte auf dieses grauhäutige Pack. Sie geben sich als Trolle aus!« Sie wandte sich an die Kobolde des Dorfes. »Das ist ein wirklicher Troll!« Dann beugte sie sich über Ollowain. Sein Körper setzte dem Gift mehr Widerstand entgegen, als sie erwartet hatte. Fast schien es, als sei er bereits mit Hattah vertraut.
Sie schloss die Augen und reduzierte ihren Atem, bis sie denselben langsamen, stockenden Rhythmus Ollowains fand. Ihre Körper wurden eins in ihren Gedanken.
Sie forschte nach dem Gift. Ihr Schwertmeister litt unter den Nachwirkungen eines Rauschs. Seine Leber war angegriffen. Sie isolierte das Gift in seinem Leib und ließ es über die Schleimhäute seiner Nase mit einer geringen Menge dunklen Blutes austreten.
Als sie sich zurücklehnte, war auch sie ein wenig benommen. Sie hatte seinen Schmerz geteilt und auch seinen Rausch. Seine Gedanken aber hatte sie unberührt gelassen.
Nur verschwommen sah sie das Fuchsgesicht. Nikodemus schien unmittelbar vor ihr zu stehen. Sie wurde sich bewusst, dass sie sich statt der betrügerischen Kobolde nur anderen Feinden ausgeliefert hatte.
Der Kobold zwickte sie leicht in die Nase.
»Willst du dein Leben als Fliege beenden?«, stieß sie mit lallender Stimme hervor.
»Herrin, ich wollte mich nur vergewissern, ob ich etwas für euch tun kann. Mir lag es fern, euch …«
»Such mir den Anführer der falschen Trolle!«
»Jawohl, Herrin. Wie Ihr wünscht.« Er zog sich unter Verbeugungen zurück.
Erschöpft fasste Emerelle nach dem Albenstein, der verborgen unter ihrem Gewand auf ihrer Brust ruhte. Seine warme Kraft belebte sie. Ihr Atem ging regelmäßig. Sie war wieder Herrin all ihrer Sinne, als Nikodemus zurückkehrte. Ihn begleitete der ältere Kobold, der ihr vorhin die Unterwerfung seines Volkes angeboten hatte.
Unterwürfig kniete der Häuptling, oder was immer er war, nieder. »Herrin, nimm den Riesen fort, und bitte zürne uns nicht weiter. Wir unterwerfen uns. Wir wussten nicht, dass Oblon und die Seinen unter eurem Schutz stehen. Es tut uns leid.«
Sie sah müde zu dem toten Schamanen hinüber. »Von diesen Worten hat Oblon sehr wenig. So wie ich es verstehe, lebt dein Volk davon, alle anderen Koboldstämme am Rand des verbrannten Landes zu täuschen und zu Abgaben zu zwingen. Wie ich hörte, verhungern deshalb Kinder und Alte. Ich ... «
»Wir sind Trolle ... «, begann der Alte.
Da war wieder das Feuer in ihrem Blut! Sie versetzte dem Kobold eine Ohrfeige, die ihn von den Beinen riss. »Dies dort ist ein Troll!« Sie deutete zu Madra. »Ihr seid nichts als ein Haufen Schmarotzer! Ihr erschafft nichts.
Ihr lebt einzig auf Kosten anderer. Wusstest du, dass die Drachen dies Land hier an einem einzigen Tag verbrannt haben? Nenn mir eine gute Tat, die ihr für andere begangen habt. Gib mir einen Grund, dich und dein Volk nicht ebenso zu vernichten.«
Sie hatte erwartet, dass der Alte sich winden und um Gnade betteln würde. Stattdessen sah er sie fest an und sagte mit stolzer Stimme: »Du kannst uns nicht töten, weil wir die Traumfänger sind.«
Dem alten Kobold schwoll von ihrem Schlag das linke Auge zu. Blut floss aus seiner Nase und tropfte ihm auf die Brust. Aber er hielt trotz ihrer Drohung unerschütterlich ihrem Blick stand.
»Vernichte das Volk der Trolle, und in wenigen Jahren werden auch alle Kobolddörfer entlang der Wüstengrenzen verwaist sein«, sagte er mit fester Stimme. »Denn dann wird niemand mehr die bösen Träume einfangen, die die Yingiz schicken. Sie werden die Stämme verderben. Wir sind der einzige Schutz der anderen.«
Emerelle war überwältigt von so viel Frechheit. »Das ist ein Troll«, sagte sie kühl und deutete auf Madra.
»Das mag anderswo gelten. Hier sind wir die Trolle!«, entgegnete der Alte. »Frage, wen immer du willst. Was alle glauben, wird Wahrheit, Herrin.«
Sie durfte ihr nicht trauen, sagte Birga sich immer und immer wieder. Sie war eine Elfe, allein das war schon Grund genug. Aber Alathaia hatte selbst unter Elfen einen außerordentlich schlechten Ruf. Und ausgerechnet diese Fürstin stellte ihr einfühlsame Fragen. Der Aufstieg zu Emerelles Turmgemach war lang und beschwerlich. Den ganzen Weg über unterhielten sie sich. Und sie sprachen nur von ihr, Birga. Darüber, wie beschwerlich es war, einer blinden und mürrischen Herrin wie Skanga zu dienen. Über aufsässige Kobolde. Über den Makel, den Birga unter ihren bandagierten Händen und der Gesichtsmaske verbarg. Alathaia wusste darum. Die Elfe schien überhaupt fast alles zu wissen. Sie sagte auch, dass sie sich sicher sei, dass Skanga sie nicht mit den Karfunkelsteinen ziehen lassen würde. Nicht bevor das gemeinsame Werk vollendet war. Und sie wusste, dass Skanga sie bei dem Zauber, den sie so unbedingt erlernen wollte, betrügen würde.
Birga sagte nichts dazu. Sie staunte nur, wie gut die Elfe ihre Herrin kannte. War Alathaia so klug, oder war sie am Ende Skanga so ähnlich, dass es ihr leichtfiel, jeden der Schritte der Schamanin im Voraus zu erahnen? Birga fand darauf keine Antwort.
Aber sie fühlte sich wohl in Gegenwart der Elfe. Eigentlich völlig abwegig, dachte sie.
Elfen und Trolle waren nicht füreinander geschaffen. Aber bei Alathaia schien alles anders zu sein.
Als sie endlich Emerelles Gemach erreichten, forderte die Fürstin von Langollion sie auf, einen der Verbände um ihre Hände zu lösen. Lange betrachtete sie die Entstellung.
»Es heißt, Karfunkelsteine besäßen eine heilende Wirkung. Ich werde dir helfen, wenn ich sie gefunden habe.«
Birga war alles andere als zartbesaitet, aber sie war gerührt. Skanga hatte sich noch nie Gedanken darum gemacht, ob die Krankheit zu heilen wäre. Sie hatte die Entstellung einfach als gegeben hingenommen, ebenso wie Birgas magische Begabung.
Emerelles Gemach war beherrscht von einem großen Bett. Die Schamanin empfand dies als einigermaßen verwunderlich, galt die Königin der Elfen doch als prüde und gefühlskalt. Nie hatte man gehört, dass sie einen Mann zu sich holte. Der Gedanke an Männer stieß Birgasauer auf. Obwohl Frauen in ihrem Volk seltene, begehrte Schätze waren, die nur bedeutenden Kriegern und Rudelführern gewährt wurden, hatte sie niemals bei einem Mann gelegen. Ihr ganzer Körper war von den wuchernden Warzen entstellt. Wie Tropfen aus Fleisch waren sie. Unansehnlich, hässlich. Niemand mochte sie berühren.
Ja, den meisten fiel es schon schwer, sie auch nur anzusehen. Deshalb trug sie die Maske und hielt ihre Hände umwickelt.
Sie setzte sich auf das Bett der Elfenkönigin, während Alathaia sich langsam auf der Stelle drehte und in jeden Winkel der Kammer spähte. Das ganze Gemach war durchdrungen vom Geruch der Königin. Besonders das Bett. Elfen schwitzten zwar nicht, aber sie waren nicht völlig geruchlos. Viele benutzten gern irgendwelche Duft-wasser. Sogar die Krieger. Birga fand es befremdlich, sich mit fremden Gerüchen zu schmücken. Andererseits schmückte sie sich ja auch mit fremder Haut. Dass man aber das Verlangen haben konnte, nach Blumen riechen zu wollen, war höchst seltsam. Sie hätte verstanden, wenn man den Duft eines Höhlenbären trug, den man erlegte. Oder den eines anderen Raubtiers. Sie empfand auch den Geruch von Waffenfett und Leder als angenehm.
Eine ganz leichte Note von Waffenfett war auch in Emerelles Kammer zu riechen. Aber es waren andere, schwerere Düfte, die vorherrschten. Blumen schienen es nicht zu sein. Jedenfalls keine, die sie kannte.
Plötzlich glitt ein Spiegel zurück und gab den Blick auf eine verborgene Kammer frei.
Eine Flut neuer Düfte ergoss sich von dort in das Schlafgemach. Weihrauch überlagerte alles andere. Dazu kam alter Stoff. Und ... Birga schnupperte erneut. Es roch nach dem Fell einer Lutin! Die Schamanin brauchte eine Weile, bis sie sich wieder erinnerte, wer genau es war. Sie hatte ein gutes Gedächtnis für Gerüche. Und diese Lutin rochen alle anders. Das war die Kleine gewesen, die zu Elija gehörte. Birga hatte sie schon eine Weile nicht mehr gesehen. Sie überlegte, ob sie Alathaia etwas davon sagen sollte, verwarf es aber sofort. Es war nie gut, zu geschwätzig zu sein!
Die verborgene Kammer war so niedrig, dass Birga geduckt gehen musste. Sie war voller Kleider, die man auf Gestelle aus Weidenholz gezogen hatte. Warum hatte ein einziges Weib so viel anzuziehen? Welchen Nutzen hatte eine solche Verschwendung?
Auf Wandborden lag Schmuck. Es schien, als gäbe es zu jedem der Kleider auch eigene Schuhe.
Sie mochte die Handschuhe aus bunter Seide. Sie waren wie eine zweite Haut. Solche Handschuhe hätte sie auch gern besessen. Sie waren gewiss viel angenehmer zu tragen als die Verbände, die sie sich um die Finger wickelte. Ob man Blutflecken wohl gut aus Seide waschen konnte?
Alathaia sah jedes der Kleider abschätzend an, berührte aber nichts. »Sie wird wissen, dass wir beide hier waren, wenn sie jemals zurückkommt«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, der Spiegel zeigt ihr einen jeden, der dieses verborgene Gemach betritt. Wird Skanga dich vor ihrem Zorn beschützen?«
Birga atmete schwer ein. Sie hatte gespürt, dass der Spiegel von Magie durchdrungen war. Aber das war hier fast alles. Jedes der Kleider war mit Zaubern umwoben.
Deshalb hatte sie keinen weiteren Gedanken an den Spiegel verschwendet.
»Ich kann auf mich allein aufpassen«, sagte Birga und wusste dabei, dass sie gegen Emerelle niemals würde bestehen können.
»Ich würde einem direkten Streit mit ihr aus dem Weg gehen«, gestand Alathaia ganz offen.
Birga war auf der Hut. Die Elfe war zu freundlich. Man durfte ihr nicht trauen!
Die Fürstin ließ das Thema auf sich beruhen. Sie betrachtete wieder die Kleider.
Schüttelte manchmal abfällig den Kopf. Sehr selten schnalzte sie leise mit der Zunge.
Die verborgene Kleiderkammer wand sich in weitem Bogen außen um den Turm. Sie war überraschend groß, dachte Birga. Ob auch in die Mauern des Turms Magie gewoben war? Erschien er dem Betrachter kleiner, als er tatsächlich war? Die Elfen liebten solche Spielereien!
Die Schamanin fand einen schmalen Schrank, der einen seltsamen Duft verströmte.
Neugierig öffnete sie die Tür und fuhr erschrocken zurück. Alle Wände, selbst die Innenseiten der Türen, waren mit Schmetterlingspuppen bedeckt! Was war das für ein Unsinn! Die Puppen lebten!
Birga schloss die Türen kopfschüttelnd. Niemals würde sie die Elfen und ihre Schrullen begreifen!
Alathaia indessen stand nachdenklich vor einem sehr schlichten Kleid. Es war grau, ganz ohne Schmuck. Die Ärmel reichten nur knapp über die Ellenbogen und waren ein wenig ausgestellt. Der steife Stehkragen war so hoch, dass er sicherlich den ganzen Hals verbarg, wenn Emerelle das Kleid anlegte.
Birga spürte die starke Magie, die von dem Kleid ausging. Wieder und wieder hatte man es mit Zaubern umwoben. Sie waren wie die Jahresringe eines alten Baums. Selbst sie spürte ein Prickeln auf ihrer entstellten, gefühllosen Haut, wenn sie dem Kleid nahekam.
»Wir suchen das Zeugnis einer alten Liebe in einer Kammer voller Kleider«, sagte Alathaia nachdenklich. »Glaubst du, dass das hier ein Hochzeitskleid ist?«
»Ich war nie auf einer Elfenhochzeit.«
Die Fürstin lächelte. »Natürlich, Birga. Eine dumme Frage. Außerdem hat Emerelle nie geheiratet. Aber dieses Kleid ... Ich denke, eine Braut hätte es auf einer Hochzeit tragen können. Eigentlich ist es nichts Besonderes, verglichen mit den anderen. Und doch hat Emerelle es aufbewahrt. Sehr lange. Spürst du die Schutzzauber, die Motten fernhalten und Staub und die die Farbe vor dem Verbleichen schützen? Sie sind immer wieder erneuert und verstärkt worden. Dieses Kleid hätte schon vor Jahrhunder ten zu Staub zerfallen sollen. Die Königin hat großen Aufwand getrieben, es zu erhalten. Warum wohl?«
Alathaia kniete nieder und hob den Saum. Die Geste hatte etwas Anzügliches.
Birga konnte kleine Bündel aus Eichenblättern sehen, die von Lederriemchen zusammengehalten wurden. Dazwischen, wie in ein Nest gebettet, lagen drei unscheinbare Steine.
Die Elfe atmete erleichtert aus. Sie nahm die Steine. Dann zog sie das Büchlein, das Birga im Thronsaal aufgefallen war, aus dem Ärmel und legte es an Stelle der Steine in das Versteck.
»Was ist das für ein Buch? Warum lässt du es hier?«
»Es gehörte einer Lutin, die mir nichts sagen wollte und doch alles, was ich wissen musste, schon niedergeschrieben hatte. Sie hielt sich für schlauer als ich es bin. Genau wie ihre Mutter. Und sie ereilte dasselbe Schicksal wie ihre Mutter.« Die Elfe blickte kurz auf und lächelte. »Außer uns beiden gibt es niemanden mehr, dem dieses Versteck bekannt ist. Ich kann mir kaum einen sichereren Ort für das Büchlein vorstellen. Es könnten Jahrhunderte vergehen, bevor jemand den Saum dieses Kleides anrührt. Weil es Emerelle so viel bedeutet, wird niemand es leichtfertig berühren. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass Emerelle es nie getragen hat. Aber vielleicht ist das auch nur meine romantische Ader.«
Birga kam es falsch vor, das Büchlein zurückzulassen. Damit war eine Spur gelegt.
Und wenn der Spiegel wirklich Bilder aller, die diese Kammer betreten hatten, in sich tragen sollte, dann würde Emerelle gewiss sehr gründlich suchen. Aber von alldem sagte sie nichts. Sie würde an der Seite Skangas sein, falls Emerelle jemals hierher zurückkehrte. Dort war sie nicht in Gefahr. Alathaia war es, die mit ihrem Leben spielte!
Die Elfe hielt verzückt die Karfunkelsteine in Händen. Sie waren ein wenig größer als Walnüsse.
»Sie haben keine magische Aura. Wenn sie verlorengehen, ist es fast unmöglich, sie wiederzufinden. Sie sehen zu gewöhnlich aus. Und doch sind sie von Macht durchdrungen. Sie sind so hart, dass kein Werkzeug sie zu kerben vermag. Keine Farbe will auf ihnen haften bleiben. Keinem Goldschmied wird es gelingen, sie in eine Fassung zu zwingen. Sie zu verändern oder zu markieren, ist unmöglich! Gib mir deine Hand, Birga! Ich will dir etwas zeigen.«
»Was?« Es war leichtfertig, einer Elfe zu vertrauen. Trotzdem streckte sie, noch bevor die Fürstin antwortete, bereits ihre Hand aus.
»Darf ich die Stoffstreifen abwickeln?«
Birga sah ihre geheimsten Hoffnungen erfüllt. Die Freude ließ ihr Herz schneller schlagen und schnürte ihr die Stimme ab, so dass sie nur nicken konnte. Kein Zauber, den sie von Skanga erlernt hatte, vermochte ihre Haut zu glätten. Und die alte Schamanin selbst konnte oder wollte ihr nicht helfen. Insgeheim vermutete Birga Letzteres. Skanga war bösartig! Sie wollte nicht, dass sie besser aussah. Das wusste Birga ganz sicher. Es hätte ihr mehr Freiheiten gegeben und sie vielleicht sogar dazu verleitet, sich einen Krieger zum Beischlaf zu suchen. Skanga glaubte, die Liebe schwäche die Zauberkraft. Birga hingegen war überzeugt, dass sie stärker denn je würde, wenn sie nur eine einzige Liebesnacht erleben dürfte.
Alathaia ließ sich nichts anmerken, als sie die grässlich entstellte Hand betrachtete. Mit spitzen Fingern strich sie über die Warzenfläche. Wie Tränen aus Fleisch sahen sie aus.
Sie bedeckten Birgas Handrücken und die Finger.
Behutsam berührte die Elfe sie mit einem der Karfunkelsteine und sprach leise ein Wort der Macht. Birga konnte es nicht verstehen, sosehr sie sich auch anstrengte.
Dieses eine Wort zu beherrschen und einen Karfunkelstein zu besitzen, vermochte sie für immer von ihrem Leiden zu befreien.
Tatsächlich sah es so aus, als trinke der Stein die Tränen aus Fleisch. Zarte, hellgraue Haut blieb zurück, wo Alathaia sie berührt hatte. Es war ein Wunder! Birga standen Tränen in den Augen. Ihr Makel konnte getilgt werden. Sie kannte die Elfe nicht mal einen ganzen Tag, und schon heilte sie sie.
»Zieh dich aus«, sagte Alathaia freundlich. »Ich werde diese Warzen von dir nehmen.
Aber sie werden wiederkommen. Ich kann dir nicht sagen, wie schnell es geschehen wird. Vielleicht dauert es nur ein paar Tage. Vielleicht auch viel länger. Aber es wird geschehen.«
»Jede Stunde ohne die Plage ist ein Geschenk«, entgegnete Birga entschieden. Dann entkleidete sie sich.
Während Alathaia sie mit dem Karfunkelstein behandelte, sprachen sie kaum. Birga genoss das Gefühl, wie der Stein über ihre Haut strich. Al ein seine Berührung löste wohlige Schauer aus.
Nachdem sie geheilt war, betrachtete sie sich lange im Spiegel vor dem Bett der Elfenkönigin. Seit ihrer Kindheit, als der Makel überraschend ausbrach, war ihre Haut nicht mehr so rein gewesen. Nie zuvor hatte sie ihren Körper so deutlich gesehen. In Trollhöhlen gab es keine Spiegel! Und kein See, und sei sein Wasser auch noch so glatt und ungetrübt, vermochte ihr Spiegelbild so klar und deutlich zu zeigen wie das sorgsam geschliffene Kristallglas. Dass er angeblich ihr Spiegelbild bewahren würde, störte sie nicht. So bliebe ihre Schönheit erhalten, und sei es nur in einem Bild, das ein Zauberspiegel eingefangen hatte.
Alathaia sah ihr schweigend zu. Sie bedrängte sie weder durch Worte noch durch Blicke. Dafür war Birga ihr unendlich dankbar. Schließlich legte die Schamanin wieder ihre groben Gewänder an. Sie wickelte die Stoffstreifen um ihre Hände, setzte die Maske auf ihr Gesicht. Diesmal verbarg sie ihre Makel osigkeit, denn sie hatte beschlossen, Skanga nichts von ihrem Geheimnis zu verraten.
»Ich habe eine Bitte an dich«, sagte Alathaia, als sie sich wieder ganz angezogen hatte. Birga war enttäuscht. Sie hatte gehofft, die Heilung sei ein Geschenk. Eine Gabe, die keine Gegenleistung erforderte. »Ja?«
»Bitte verwahre die Karfunkelsteine für mich. Skanga wird fordern, dass sie hierbleiben, bis ich ihr bringe, was ich ihr versprochen habe. Es wäre mir lieber, sie in deiner Obhut zu wissen.«
Die Schamanin war überrascht. Das war keine Forderung, sondern ein Vertrauensbeweis! »Diese Bitte werde ich dir gern erfüllen.« Sie sprach absichtlich ein wenig gestelzt, so wie die Elfen es gerne taten. Sie wollte der Fürstin damit ihre Verbundenheit zeigen.
Alathaia überreichte ihr die kostbaren Steine, und Birga ließ sie in einer Tasche ihres knöchellangen Gewandes verschwinden.
Dann begannen sie den langen Abstieg. Und als sie den Thronsaal erreichten, kam alles genau so, wie Alathaia es erwartet hatte. Skanga hatte eine Wache von fünfzig Trollen aufgeboten. Die Elfenfürstin machte ein paar spitze Bemerkungen. Dann behauptete sie, Birga habe die Steine bereits an sich genommen, da sie offensichtlich um diesen Betrug gewusst habe.
Skanga sah sie überrascht an. Und dann lächelte die alte Schamanin. Es war seit Jahren nicht mehr vorgekommen, dass ihre Herrin ihr so deutlich ihre Zufriedenheit zeigte.
Alathaia öffnete erneut ein Tor in das Goldene Netz. Als sie verschwunden war, blieb Birga das vage Gefühl, dass dieser Tag zu gut gewesen war. Doch sie verdrängte diesen Schatten schnell wieder. Die Nacht würde noch besser werden! Sie würde ihre Maske und ihr schäbiges Kleid ablegen und sich einen stattlichen Krieger suchen!
Lambi stützte sich schwer auf einen hölzernen Stab. Er ging nicht an der Spitze des Zuges. Nicht mehr. Seine Kraft reichte nicht, sich einen Weg durch den Schnee zu bahnen. Er folgte in der ausgetretenen Furche weit hinten in der Kolonne. Es war ihm zuwider, sich eingestehen zu müssen, dass er alt geworden war. Sein Sohn hätte hier an seiner Stelle gehen sollen. Doch der war bei den Kämpfen um die Nachtzinne gefallen. Nun galt es, Kadlin zu retten, falls sie noch zu retten war.
Einhundertdreiundsechzig Freiwillige hatte er um sich geschart. Eigentlich hatte er nicht so viele Männer mitnehmen wollen. Aber sie hatten sich nicht zurückweisen lassen. Er war überrascht gewesen, wie beliebt seine dickköpfige, junge Königin war.
Sie alle hatten sich freiwillig gemeldet. Und die meisten von ihnen wussten genau, was es bedeutete, ins Land der Trolle vorzustoßen. Einige Dutzend Veteranen des letzten Feldzugs ihres Königs Alfadas waren unter den Freiwilligen.
Lambi stützte sich schwer auf den Stab. Heftig atmend sammelte er seine Kräfte. Er war dumm wie Kentaurenschiss. In seinem Alter hatte er hier nichts mehr verloren.
Schon gar nicht mit Kettenhemd, Schild und seinem ebenso hübschen wie schweren Helm. Ein Helm, dessen bronzene Augenringe mit dem davon herabhängenden Kettengeflecht nicht nur sein ganzes Gesicht schützten, sondern auch seine verstümmelte Nase versteckten.
Zischend fuhr sein Atem durch die Kettenringe. Jetzt zogen auch noch die letzten der Truppe grinsend an ihm vorbei. »Wartet, bis ihr in meinem Alter seid, Dreckspack! Ich wette, die Hälfte von euch hat dann nicht mal mehr die Kraft, mit eigener Hand den Löffel mit Hirsebrei zum Maul zu führen. Und ich wünsche euch Schwiegertöchter, die euch, wenn sie euch hastig füttern, unablässig verfluchen. Was ihr euch, verdammt nochmal, auch allesamt verdient habt!«
Lambi setzte sich schnaufend in Bewegung. Er würde nicht mehr lange durchhalten und war doch zu stolz, um die anderen zu bitten, für ihn eine Pause einzulegen. Er nahm seinen Helm ab und band ihn sich mit dem Kinnriemen an den Gürtel. Sein Atem hatte sich als Eis auf den Kettenringen niedergeschlagen. Dennoch konnte man die ersten Vorboten des Frühlings in der Luft spüren. Noch zwei oder drei Wochen, und der Winter wäre vorüber. Ein schlimmer Winter, der die Königsfamilie fast ausgelöscht hatte. Erst Alfadas, dann Ulric und dessen Weib Halgard und jetzt Kadlin.
Er hätte sie in ihrer verdammten Hütte einsperren sollen. Aber sie war die Königin.
Wie hätte er ihr befehlen können? Man sollte sich dieses dumme Gör übers Knie legen und ihm eine verdammte Tracht Prügel versetzen. Weiber taugten nicht für den Thron.
Er blickte auf zu seinen Gefährten, die nun schon ein ganzes Stück vor ihm gingen. Ihr Weg führte sie eine steile Hügelflanke hinauf. Bis oben würde er es schaffen, dann musste er seinen Stolz aufgeben und um eine Rast bitten. So viele Freiwillige für einen Todesmarsch ... Sein Volk war eine Ansammlung von Irren, da konnte es wohl keinen Zweifel geben. Und wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass Kadlin doch keine schlechte Königin war. Jeder einzelne der Männer war allein um ihretwillen hier.
Sie war beliebt! Er lächelte. Und sicher hoffte manch einer, ihr aufzufallen und womöglich ihr Gemahl zu werden. Ein hübsches Weib und ein Thron waren es schon wert, ein paar Unannehmlichkeiten und Gefahren auf sich zu nehmen. Wäre er ein paar Jahre jünger und hätte seine Nase noch, dann würde er genauso denken!
Plötzlich war Lärm über ihm. Aufgeregte Rufe beflügelten seine Schritte. Als er den Kamm erreichte, sah er in der Senke einen Troll durch den tiefen Schnee flüchten.
Vielleicht ein Jäger, den sie aufgeschreckt hatten. Vielleicht auch ein Späher, der die Grenze zum Königreich der Menschen beobachten sollte. Ganz gleich, wer er war, wenn er entkam, dann war es um sie geschehen. Sie waren anderthalb Tagesmärsche tief ins Land der Trolle vorgedrungen. Sie könnten die Grenze nicht mehr erreichen, bevor sie der Ärger in Form von Heerscharen von Trollen einholen würde.
»Worauf wartet ihr? Schießt ihn nieder! Er darf nicht entkommen. Zielt auf die Kniekehlen oder den Nacken. Ein Pfeil in den Rücken wird ihn bei seiner Flucht nicht aufhalten. Sie dringen nicht tief genug ein, um ihn schwer zu verletzen.«
Sie hatten nur wenige Bogenschützen. Jeder wusste, wie wenig Pfeile gegen Trolle auszurichten vermochten. Besonders wenn sie bei einem Kriegszug mit ihren türgro-
ßen Schilden anrückten.
Schon flogen erste Pfeile. Sie waren schlecht gezielt. Nur ein einziger traf. Er schlug in die linke Schulter des Trolls. Der Aufschlag ließ den Krieger kurz straucheln. Doch dann lief er weiter.
Lambi blickte zu Ansgar. So wie er war der alte Jäger ein Überlebender des Feldzugs, den Alfadas in die Snaiwamark unternommen hatte. Er kannte sie. Ihm musste man nicht sagen, wohin er zielen sollte. Die Jahre hatten den Bart des Jägers ergrauen lassen. An seiner rechten Hand fehlten zwei Finger, die er im Kampf gegen einen Berglöwen verloren hatte. Eine Geschichte, so gut, dass zwei Skalden Lieder darüber geschrieben hatten.
Ansgar wählte mit Bedacht einen Pfeil mit besonders geradem Schaft. Er prüfte den Wind. Dann hob er den Bogen. Seine Ruhe verlieh jeder seiner Bewegungen eine eigene Anmut. Dann schnellte sein Pfeil von der Sehne. Lambi verfolgte den Flug des Pfeils mit angehaltenem Atem. Er konnte sehen, wie der Wind ihn ein wenig zur Seite abdriften ließ. Der Troll hatte inzwischen eine sanfte Steigung erreicht und lief sie hinauf, ohne langsamer zu werden.
Die anderen Schützen schössen noch immer, aber Ansgars Pfeil hatte einen roten Schaft und war leicht von den übrigen Geschossen zu unterscheiden.
Ansgars Pfeil traf dicht oberhalb des linken Kniegelenks. Er war leicht nach unten gerichtet. Lambi entfuhr mit leisem Zischen der angehaltene Atem. Er stellte sich vor, wie der Pfeil durch Fleisch und Sehnen schnitt, um direkt ins Gelenk vorzudringen.
Der Troll stürzte der Länge nach. Er stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus und rollte ein Stück den Hang hinab. Ein weiterer Pfeil traf ihn am Arm. Er versuchte aufzustehen, doch das verletzte Bein knickte sofort ein. In hilfloser Wut drohte er ihnen mit seiner Kriegskeule und schrie ihnen eine Herausforderung entgegen. Lambi konnte das nur vermuten. Welcher gescheite Mensch verstand schon die grunzende Sprache der Trolle!
»Geht hinunter und gebt ihm den Rest. Aber vorsichtig! Dann verscharrt ihn im Schnee und verwischt die Kampfspuren!«
Die Jüngsten aus der Kriegsschar stürmten los. Einen Troll zu töten, auch wenn er verwundet war, bedeutete Ruhm. Und je weniger Flaum einem auf den Wangen spross, desto mehr gierte man nach Schlachtenruhm.
»Kannst du dafür sorgen, dass er nicht noch zwei oder drei von diesen Trotteln erschlägt?«
Ansgar nickte stumm und wählte einen weiteren Pfeil aus. Der Troll war mehr als achtzig Schritt entfernt, und es wehte ein unbeständiger, böiger Wind. Das waren schlechte Voraussetzungen für einen guten Schuss. Die übrigen Bogenschützen hatten bereits wieder ihre Köcher bedeckt und nahmen die Sehnen von den Waffen. Sie wussten, dass keiner von ihnen Ansgar das Wasser reichen konnte.
Lambi ging in die Hocke. Sein Herz schlug ein wenig ruhiger. Er lächelte in sich hinein. Die Götter waren ihm gnädig. Er hatte seine Pause bekommen, ohne dass er jemanden darum hätte bitten müssen. Auch Firn meinte es gut mit ihnen. Bald würde es schneien. Und der Gott des Winters würde den Leichnam des Trolls verbergen, bis Tauwetter kam.
Der alte Recke beobachtete, wie die Jungen den Feind umkreisten. Auch jetzt, verwundet, war er noch immer ein tödlicher Gegner. Noch bevor ihr Kreis sich schloss, schnellte der zweite Pfeil von Ansgars Sehne. Er traf rechts, hoch in der Brust, dicht unter dem Schlüsselbein. Ansgar fluchte leise.
»Das war doch ein guter Schuss.«
Ansgar nahm ärgerlich die Sehne vom Bogen. »Zu böig«, murrte er. »Ich hatte auf sein Herz gezielt. Der Pfeil ist um sechs Handbreit fehlgegangen.«
Lambi zuckte mit den Schultern. Niemand außer Ansgar hätte das einen Fehlschuss genannt. Manchmal war es klüger, zu schweigen. Der Bogenschütze hatte kaum Freunde. Er galt als zu verbissen und eigenbrötlerisch. Niemand konnte den Maßstäben gerecht werden, die er für sich anlegte. Vielleicht wollte er auch keine Freunde. Die meiste Zeit war er allein in der Wildnis. Sein Grund, mitzukommen, war die Tatsache, dass auch Kadlin als eine gute Schützin galt. Auf einem Turnier, das Alfadas ausgerichtet hatte, war sie unter die Besten gekommen. Das allein zählte für Ansgar. Dass sie Königin war, war ihm egal.
Die Krieger, die den Troll umkreisten, wurden von zwei Bogenschützen begleitet. Die beiden schössen aus kurzer Entfernung auf den Verwundeten. Der Troll versuchte den Kreis seiner Henker zu durchbrechen. Er wollte zum Kamm des Hangs gelangen oder zumindest einen seiner Peiniger töten. Aber das verletzte Bein machte ihn zu langsam.
Die Krieger wichen ihm aus.
Es war ein ehrloses Gemetzel, dachte Lambi grimmig. Aber es gab keinen anderen Weg. Die Trolle waren zu starke Gegner. Wer sich ihnen unter gleichen Bedingun gen im Zweikampf stellte, der hatte keine Hoffnung zu gewinnen.
Sieben oder acht Pfeile steckten in der Brust des Trolls, als die mit Speeren bewaffneten Fjordländer vorstürmten. Der Hüne konnte nicht einmal mehr einen Arm zur Verteidigung heben, als sie über ihn kamen. Binnen Augenblicken war er niedergemacht. Einer der Männer trennte ihm den Kopf ab und hob ihn auf seinem Speer triumphierend in die Höhe.
Auch die anderen nahmen Trophäen. Einen Zeh oder Finger oder ein Stück Haut mit wulstigen Schmucknarben. Der Schnee war rot von Blut, als sie den Toten den Hang hinabrollten, um ihn neben einem Findling zu bestatten.
Einer der beiden Bogenschützen, die sich an der Hinrichtung des Verwundeten beteiligt hatten, stieg den Hügelkamm hinauf. Dort verharrte er nur einen einzigen Herzschlag lang. Dann kam er wild mit den Armen winkend zurückgelaufen.
Sofort war Lambi auf den Beinen. Nur einen Atemzug später erschienen zwei Trolle auf dem Hügelkamm. Sie blickten hinab auf den blutbesudelten Schnee. Einer winkte.
Wer war noch hinter dem Hügelkamm? Beide Trolle trugen große Schilde. Das bedeutete, dass sie weder Jäger noch Späher waren. Sie waren Krieger! Und Krieger waren nicht in Trupps zu zweit unterwegs.
»Bogenschützen!«, rief Lambi. Der Befehl war unnötig. Die Männer spannten bereits wieder die Waffen. Einem riss in der Hast die Sehne. Fluchend griff er nach dem kleinen Lederbeutel, den er um den Hals trug. Mit froststeifen Fingern versuchte er die Verschnürung zu öffnen.
Ansgar steckte eine Reihe von Pfeilen vor sich in den Schnee.
»Kommt zurück!«
Die Krieger unter ihnen in der Senke waren unschlüssig stehen geblieben. Doch ihr leichter Sieg machte sie tollkühn. Die beiden Bogenschützen legten auf die Trolle auf dem Kamm an.
»Trottel!«, fluchte Lambi leise. Dann schrie er aus Leibeskräften. »Zurück! Kommt sofort zurück!«
Ansgar neben ihm spannte den Bogen. Leise sirrend schnellte sein Pfeil durch die eisige Luft.
Lambi atmete zwei Mal tief ein. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. »Bildet eine lockere Kampflinie entlang des Hügelkamms«, befahl er den Firnstaynern mit ruhiger Stimme. »Die Speerträger gehen in die erste Reihe, ein Stück den Hang hinab. Zwei Schritt hinter ihnen kommen die Schwert- und Axtkämpfer. Alle Bogenschützen bleiben auf dem Kamm. Versucht niemals, den Hieb eines Trolls zu parieren. Weicht aus! Habt ihr das verstanden?«
Manche der Männer nickten. Die meisten sagten gar nichts.
»Ich verspreche jedem, der sich nicht daran hält, dass ich ihm aufs Grab pissen werde, wenn das hier vorbei ist.« Ansgar lächelte grimmig.
Die beiden Trolle stürmten den Hang hinab. Ein Bogenschütze war ihr erstes Opfer.
Mit einem Schildstoß schickte ein Troll ihn in den Schnee. Im Vorbeilaufen sauste die mannslange Keule nieder. Die Wucht des Treffers schleuderte den Bogenschützen bis zum Grund der Senke, wo er mit verdrehten Gliedern reglos liegen blieb.
Die jungen Krieger kämpften tapfer. Sie versuchten die Trolle einzukreisen und einen Vorteil aus ihrer Überzahl zu gewinnen. Keiner lief davon.
»Wir sollten ihnen helfen, statt hier herumzustehen und zuzusehen, wie sie niedergemacht werden«, murrte ein Jüngling mit frostroten Wangen. Ein gellender Schrei unterstrich seine Worte. Ein weiterer Krieger war unter den wütenden Keulenhieben der Trolle gefallen.
Lambi wollte den Jüngling fragen, ob er sein Hirn im Nachttopf vergessen hätte, doch Ansgar kam ihm zuvor. »Hör auf einen Mann, der schon gegen Trolle gekämpft hat, bevor du geboren warst. Haltet die Linie und seht!«
Der Schütze hob seinen Bogen. Ein weiter Pfeil mit ro tem Schaft sirrte davon. Er traf einen der Trolle in die Wange und schlug durch den Mund, so dass die blutige Spitze durch die andere Wange wieder austrat.
Einige Männer jubelten. Ein Speerträger stieß dem verwundeten Troll seine Waffe den Rücken. Ein Rückhand-schlag löschte das Leben des Fjordländers aus, noch bevor der Troll in die Knie ging.
Sofort wurde er erneut angegriffen. Ein wuchtiger Axthieb traf seinen Nacken. Seine Augen wurden weit. Er spie Blut.
Einige der jüngeren Krieger lösten sich aus der Formation und stürmten den Hang hinab, um ihren Gefährten zu Hilfe zu kommen. Der Sieg war zum Greifen nahe, auch wenn der verbliebene Troll keine Anstalten machte, sich zurückzuziehen, sondern mit wütenden Schlachtrufen weiterfocht.
Dann brach das Verhängnis über sie herein. Binnen weniger Herzschläge erschienen Dutzende Trolle auf dem gegenüberliegenden Hügelkamm. Sie waren ungewöhnlich diszipliniert. Statt einfach vorzustürmen, verharrten sie. Rudelführer riefen Befehle.
Auf beiden Flanken lösten sich größere Trupps.
Lambi war klar, was das bedeutete. Dieser namenlose Hügel irgendwo im Trollland würde sein Grabhügel werden. Nie würde er erfahren, was aus seiner Königin geworden war.
»Bogner! Schießt nach eigenem Ermessen. Flügelmänner! Zurückgehen. Wir bilden einen Kreis auf der Mitte des Hügelkamms. Wir müssen die Bogenschützen decken.
Wir …«
Seine Worte gingen im Schlachtgebrüll der Trolle unter, die nun den Hang hinabstürmten. Sie liefen fast Schulter an Schulter. Ihre Schilde waren wie ein hölzerner Wall. Sie schützten sie von knapp unterhalb der Knie bis hinauf zum Kinn.
Bogenschützen konnten da nur noch auf Glückstreffer hoffen.
Als die Trolle auf die wenigen Krieger trafen, rissen diese Lücken in ihren Wall. Aber nicht weil die Fjordländer in ihrem Todesmut über sich hinauswuchsen, sondern weil die Trolle nun ihrerseits Jagd auf Trophäen machten. Die Pfeile der Bogenschützen fanden Ziele, doch nicht einmal Ansgar gelang ein Treffer, der einen Troll zu Boden gebracht hätte.
Lambi verhärtete sein Herz. Das Grauen, das sich unmittelbar vor seinen Augen abspielte, durfte sich nicht auf seine Entscheidungen auswirken. Er machte sich nichts vor. Nur der Kriegsgott Norgrimm oder vielleicht noch Luth der Schicksalsgott, dessen scharfe Klinge die Lebensfäden der Sterblichen durchtrennte, könnten ihnen helfen. Sie waren des Todes. Aber die Art, wie sie starben, mochte darüber entscheiden, ob die Trolle mordend und plündernd nach Firnstayn weiterzogen oder nach der Schlacht zur Nachtzinne zurückkehrten.
»Ruhig, Männer! Wartet, bis sie quieken, wenn sie auf eure Speere laufen. Auch sie bluten und verrecken.«
Lambi erkannte Narvgars Stimme. Der Krieger mit der großen Holzfälleraxt war so wie er ein Veteran aus der Snaiwamark. Obwohl er reich geworden war, hatte Narvgar nie eine wuchtige Kriegsaxt erworben. Er mochte es, wenn die Dinge einfach waren.
Dieselbe Axt, die Eichen und Fichten fällte, hatte auch schon in Trollfleisch geschnitten.
Die letzten Augenblicke vor einem Kampf verstrichen immer quälend langsam. Er wäre gerne kurz pissen gegangen. Merkwürdig. Auch das war immer gleich. Kurz vor dem Kampf hatte er das Gefühl, seine Blase sei zum Bersten gefüllt. Begannen die Kämpfe erst einmal, war das vergessen.
Lambi sah, wie ein Troll, dessen Gesicht von wulstigen Schmucknarben zerfurcht war, einen flüchtenden Bogenschützen beim Bein packte. Der Mann schlug der Länge nach in den Schnee. Schreiend versuchte er einen Halt zu finden. Vergeblich. Selbst wenn er eine Wurzel oder etwas anderes zu packen bekommen hätte, hätte er sich der überwältigenden Kraft des grauen Kriegers nicht widersetzen können. Strampelnd wurde er zurückgezogen. Der Troll stieß dem Schützen mit einer kurzen, harten Bewegung den Schildrand in den Nacken. Aller Widerstand zerbrach.
Lambi hob seine Axt. Sein Blick glitt über die Masse der Feinde. Noch zwei oder drei Herzschläge, dann würden sie die Speerträger in der ersten Reihe überrennen.
Von Liebe und gefangenen Träumen
Emerelle hatte sich in eine der Totenkammern zurückgezogen. Die Grauhäute, wie sie sich nannten, waren entwaffnet worden. Sie hatte Madra und den Lutin zusammen mit einigen Jägern ausgeschickt, um auch die Frauen, Kinder und Alten zu holen, die nicht weit entfernt in der Wüste auf die Rückkehr ihrer Krieger warteten. Neben ihr, zu Füßen der mumifizierten Toten, lag Ollowain. Er schlief. Er würde sich vollständig erholen.
Sie sollte ihn nicht einmal in Gedanken Ollowain nennen. Er war jetzt Falrach. Sie betrachtete sein ebenmäßiges, so vertrautes Gesicht. Der weiße Ritter der Shalyn Falah war so lange ihr Freund und Vertrauter gewesen. Es war schwer, ihn neben sich zu sehen und doch verloren zu haben.
Sie wusste, dass sie Falrach während des Liebesspiels mit Ollowains Namen angesprochen hatte. Es war nicht absichtlich geschehen. Wie tief ihn das verletzt haben mochte, konnte sie nicht ermessen. Er hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen, doch dies eine Wort hatte sein Feuer verlöschen lassen. Er war ein guter Liebhaber, war es schon immer gewesen. Es war leicht, sich ihm hinzugeben und zu genießen.
Emerelle lächelte sanft. Ollowain hingegen war wahrscheinlich eher unerfahren.
Eine einzelne Frauenstimme erklang vor der Hütte. Sie sang eine Totenklage. Es waren keine klaren Worte. Nur wimmernde Laute. Und doch sagten sie mehr über ihr Ge-fühl, als Worte es vermocht hätten. Ob es Oblons Witwe war?
Sie hatte versagt, dachte Emerelle. Sie hatte sich treiben lassen, statt zu führen. All dies hätte nicht geschehen müssen, wenn sie frühzeitiger auf Oblon gehört hätte. Seine Geschichten über Trolle hatte sie schlichtweg nicht ernst genommen. Wäre sie schon gestern Mittag zu Madra und Nikodemus gegangen, statt sich ihrer Lust hinzugeben, dann würde Oblon wahrscheinlich noch leben.
Ich bin nicht mehr die Königin, ermahnte sie sich in Gedanken! Ich bin frei. Aber hieß das, dass sie ohne jede Verantwortung war? Konnte sie so sein? Oder war sie sogar schon immer so gewesen? Um das Verbrannte Land hatte sie sich jahrhundertelang nicht gekümmert. Auch hatte sie keinen Statthalter bestimmt, der ihr berichtete, was hier geschah, oder zumindest ein paar Spitzel hier gehabt, so dass sie informiert wurde, ohne dass jemand mit Befehlsgewalt sie vor Ort vertrat. Wie viele Landstriche gab es noch, in denen Unterdrückung und Gewalt regierten? Zu lange hatte sie sich nur um das Herzland, die Südprovinzen und den Norden gekümmert. Dort drohten die Trolle, gegen die sie in so vielen Schlachten gekämpft hatte. Hier lagen die Fürstentümer der Elfen mit all ihren verborgenen Feinden, die ihr Leben, ihren Thron oder beides wollten. Der Devanthar, dessen Machenschaften sie nicht durchschaute, dessen Ziel ihr aber wohl bewusst war. Er wollte Albenmark zerstören. Vollkommen ohne Gnade. So wie einst die Zerbrochene Welt zerstört worden war. Und die Yingiz, die rätselhaften Seelenfresser aus dem Nichts. Kreaturen, von denen niemand wusste, wer sie erschaffen hatte oder woher sie gekommen waren. Sie war belagert von Feinden gewesen. Jeden Tag. Aber war dies nicht einfach nur eine Ausrede? Ihre Pflichten als Herrscherin Albenmarks waren umfassender. Hätte sie nicht mindestens Vertraute ausschicken müssen, die an ihrer Stelle die Augen offen hielten? War das ein Weg?
Oder bedeuteten Spitzel das Ende von Freiheit? Konnte Freiheit, die man gewährte, wenn man tiefer blickte, nicht in Wahrheit auch ein willkommener Deckmantel für Verantwortungslosigkeit sein?
Nie, seit sie ihren Thron aufgegeben hatte, war sie sich ihrer Orientierungslosigkeit so bewusst gewesen wie jetzt. Sie war nicht einfach eine fahrende Ritterin geworden. Sie hatte sich treiben lassen. Ohne Ziel. Und Falrach hatte darunter gelitten. In Feylanviek, hier unter den Kobolden und als sie ihn in den Armen hielt und Ollowain genannt hatte.
Was war Liebe? Die Seele eines Elfen konnte man am ehesten mit jenen von unglaublicher Lebenskraft erfüllten Bäumen aus dem tiefen Süden vergleichen. Man konnte sie fällen, ja sogar verbrennen. Solange nicht auch die letzte ihrer Wurzeln zerstört wurde, keimten sie erneut. So war es mit der Widergeburt der Elfenseele. Ein neuer Baum keimte aus einer alten Wurzel. Und natürlich unterschied er sich von dem, den er ersetzte. So war es mit Falrach und Ollowain. Falrach war für sie gestorben, und sie hatte ihre Liebe für ihn jahrhundertelang nicht vergessen können. Dann wurde seine Seele in Ollowain wiedergeboren. Und der weiße Ritter war ein völlig anderer.
Sie hatte sich neu verliebt. Still, wohl wissend, dass ihre Liebe von Ollowain nicht erwidert wurde, auch wenn er ihr treuester Diener war.
Warum konnte sie den Mann, der von einem rätselhaften Zauber ausgelöscht worden war und der sie nicht geliebt hatte, nicht vergessen? Warum kehrte ihre Liebe zu dem Mann, der sie tatsächlich liebte, nicht zurück? Dachte man mit kaltem Blut darüber nach, dann war ihr Glück zum Greifen nahe. Warum nahm sie Fairachs Liebe nicht einfach an?
Oder sollte sie jeglicher Liebe entsagen, um erneut nach dem Thron zu streben? In Vahan Calyd, bei der nächsten Königswahl. Wenn die Fürsten, die dort versammelt waren, sie zu ihrer Königin bestimmten, dann könnte sie die Herrschaft zurückerobern, ohne einen einzigen Tropfen Blut zu vergießen. War das der Weg, den ihr das Schicksal bestimmt hatte? Lag es überhaupt in ihrer Macht, ihrem Leben eine andere Wendung zu geben?
Sie war ratlos. »Bringt mir den Anführer der Grauhäute«, sagte sie mit leiser, aber durchdringender Stimme. Sie wusste, dass vor dem Vorhang aus Steinen, Kürbisker-nen und Lederstreifen drei Kobolde kauerten, die darauf warteten, dass sie entschied, wer künftig Oblons Platz als Schamane und Stammesführer einnehmen sollte.
Nur wenig später stieß man den Alten in die Totenkammer. Auch sein zweites Auge war nun zugeschwollen. Es sah aus, als begännen die betrogenen Kobolde nun Rache an den falschen Trollen zu nehmen.
»Was weißt du über die Yingiz?«
Der Kobold fuhr sich mit seiner langen, schmalen Zunge über die Lippen. Sie erinnerte Emerelle an eine Schlangenzunge, auch wenn sie nicht gespalten war.
»Es sind Geschöpfe voller Hass. Sie beneiden uns um unsere Welt. Sogar um die Wüste. Und sie beneiden uns um unsere Körper.« Er blinzelte sie aus seinen zugeschwollenen Augen an, als wolle er die Wirkung seiner Worte prüfen.
Emerelle sagte nichts. Ihr Gesicht blieb ohne Regung.
Zögerlich sprach er weiter. »Es gibt magische Pfade von großer Macht. Mein Volk kann sie nicht betreten. Die fuchsköpfigen Drachenreiter, von denen du einen in deinem Gefolge hast, reisen auf ihnen. Manchmal, wenn ich die Wüste durchquere, finde ich einen dieser magischen Pfade. Ich kann sie spüren. Sie bilden ein großes Netz. Die Alben haben es erschaffen.
In diesem Netz sind die Yingiz gefangen. Doch hier, wo wir leben, sind die Maschen des Netzes sehr weit. Vielleicht wurde es beschädigt, als die Drachen hier kämpften.
Die Yingiz kommen hier unserer Welt näher als anderswo. Sie können nicht in sie hi-neintreten. Aber ihre Stimmen sind manchmal in unseren Köpfen. Und sie dringen in unsere Träume, um uns Angst zu machen und zu schlimmen Taten zu verleiten. Wenn ein guter Mann plötzlich böse wird oder ein Weib zänkisch, dann sind sie von den Yingiz verführt. Sie bringen das Übel in die Welt. Geh hinaus in die Wüste. Man kann zehn Tage wandern, ohne einen einzigen der magischen Pfade zu kreuzen. Dort gibt es nichts. Kein Leben. Die Nähe der Yingiz vermag kleine Geschöpfe wie Vögel, Käfer oder Echsen zu töten.«
Seine Worte erinnerten Emerelle an jene dunklen Tage auf Burg Elfenlicht, als die Blütenfeen starben oder flohen und das Lachen aus den Mauern des Palastes wich.
Konnte der Alte davon gehört haben? Oder sprach er die Wahrheit? Sie hauchte ein Wort der Macht und griff nach seinen Gedanken. Bis in sein Innerstes drang sie vor.
Für sie war es keine Lüge, wenn sie sich Trolle nannten. Sie glaubten zutiefst daran, dass sie Trolle waren. Es war ganz, wie er gesagt hatte. Sein Volk hatte diese Lüge so lange mit sich getragen, bis sie für sie zur Wahrheit geworden war. Und auch was er über die Yingiz sagte, glaubte er. Aber war es deshalb wahr? War es nicht allein das Drachenfeuer, das dieses Land so unwirklich machte? Waren die Schatten der Yingiz hier näher als anderswo in Albenmark?
»Erzähl mir von den Traumfängern, Dobon.« Sie hatte einiges von den obskuren Ritualen seines Volkes in seinen Gedanken gelesen, aber sie wollte es aus seinem Munde hören.
»Du kennst meinen Namen?« Der Kobold fuhr erschrocken auf. »Wer bist du?«
»Eine Feindin der Yingiz. Manche sagen, ich sei schlimmer als sie. Im Gegensatz zu ihnen bin ich aus Fleisch und Blut. Und du kannst sitzen bleiben, denn es gibt keinen Ort, an dem du vor mir sicher wärst, wenn ich mich entscheiden sollte, dir nach dem Leben zu trachten.« Kaum waren die Worte über ihre Lippen, taten sie ihr leid. Lag es an der Nähe der Yingiz, dass sie sich schneller gehen ließ als früher? Hatte das Gift ihrer reinen Boshaftigkeit auch sie berührt? Sie dachte an Feylanviek. Nein, sie hatte sich schon, bevor sie hierhergekommen war, nicht mehr unter Kontrolle gehabt.
Dobon wich nicht weiter zurück. Aber sein Atem ging schwer. Ohne Zweifel hatte er ihr jedes Wort geglaubt. »Bist du ein Devanthar?«
Sie lachte laut auf. Das war grotesk! »Nein.« Woher wusste er vom alten Feind? Der Krieg zwischen Alben und Devanthar lag so lange zurück, dass die meisten Legenden darüber erloschen waren. »Nun erzähl mir, wie man Träume fängt.«
»Es sind fast nur Männer, die Träume fangen dürfen, obwohl unsere Frauen es besser vermögen. Die Gefahr ist für Frauen größer. Wenn sie ein Kind in ihrem Leibe tragen, mag es geschehen, dass die dunklen Träume der Yingiz es töten. Oder schlimmer noch, sie könnten versuchen, dessen Seele zu fressen, um in seinem Leib geboren zu werden.
Wenn Frauen Traumfänger werden, dann geben sie den Umgang mit Männern auf. Sie leben nur noch für die Traummagie. Vielleicht macht sie gerade das stärker.« Er sprach langsam und stockend. Kein Wort kam unbedacht über seine Lippen. Doch Emerelle hatte nicht das Gefühl, dass er es tat, weil er sie belügen oder etwas vor ihr verbergen wollte. Er hatte einfach nur Angst vor ihr.
»In jeder Nacht ziehen unsere Traumfänger aus, um sich den Yingiz zu stellen. Stets sind sie allein. Ihre Kämpfe dulden keine Zuschauer. Ein Traumfänger beginnt schon früh am Tag damit, sich für die Nacht vorzubereiten. Er reibt seine Haut mit frischem Lehm ein. Dann erwählt er einen Vertrauten, um ihm mit Kalk oder zerstoßener Holzkohle das Traumnetz auf den Leib zu malen. Es ist ein magisches Muster. Keine zwei sehen gleich aus. Der Traumfänger weiß, welche Linien und Zeichen in dieser Nacht die Yingiz locken werden, denn er trägt ein Stück trockenes Hattah im Mund, um seine Magie zu stärken. Er zeichnet mit einem Stab das Muster in den Sand. Und sein Vertrauter überträgt es dann sorgfältig auf seinen Leib. Das dauert bis weit in den Nachmittag. Dann verlässt der Traumfänger das Lager. Er geht immer allein. Das Hattah führt ihn. Sein einziger Schutz sind die Geister unserer Ahnen, die immer nahe sind. Er sucht einen Ort, der geeignet ist, dunkle Träume einzufangen, bevor sie die arglosen Schlafenden erreichen. Es ist immer ein Ort, der sich über das Land erhebt. Der Kamm einer besonders hohen Düne. Ein Berg oder eine der einsamen Felsnadeln tief in der Wüste. Sobald der rechte Ort gefunden ist, speit der Traumfänger die Reste des Hattah aus, denn es würde ihn schwächen, wenn er sich den Seelenfressern stellt. Wenn die Dämmerung kommt, beginnt er zu singen. Jeder hat ein anderes Lied. Und er nimmt eine Muschel in den Mund. Du hast sie sicher gesehen.
Kleine, gedrehte Muscheln, die ein wenig wie Hörner aussehen. Unsere Traumfänger tragen sie als Schmuck.«
Emerelle nickte kurz. Sie sagte nichts, um Dobons Erzählung nicht unnötig zu unterbrechen. Er sprach jetzt endlich freier, ohne zu stocken.
»Ich glaube, es ist wichtig, einen Platz zu wählen, der nahe beim Himmel ist. Weißt du, die Yingiz hausen in der Finsternis des Himmels. Manche glauben sogar, die Finsternis kommt von ihnen.«
Die Königin hielt das für dummen Aberglauben, aber sie schwieg.
»Die bösen Träume schweifen über das Land, wenn die Dämmerung sich senkt. Die Traumnetze locken sie an. Ein Traumfänger schläft nicht wirklich. Täte er das, dann wäre er den Träumen ausgeliefert, wie alle anderen auch. Er ist in Trance. In einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Die Geister unserer Ahnen sind dann zum Greifen nahe, sie machen den Traumfängern Mut. Wenn die bösen Träume kommen, dann muss man sie durchleben, auch wenn man nicht schläft. Sie werden eingefangen. In dem kleinen Müschelhorn, das jeder Traumfänger auf seiner Zunge trägt. Die bösen Träume, die die Yingiz schicken, verirren sich in den Windungen der kleinen Muschel. Sie können dort nicht mehr hinaus. Neunundneunzig Nächte lang muss man die Muschel verwahren. In dieser Zeit verliert der Traum all seine Kraft. Danach darf der Traumfänger das Muschelhorn als Schmuck tragen, zum Zeichen dafür, wie er gegen die Yingiz bestand.«
Das alles kam Emerelle sehr abwegig und zutiefst unglaubwürdig vor. »Wie wird der Traum gefangen? Das habe ich nicht ganz verstanden. Was tut der Traumfänger?«
Dobon seufzte leise, als habe er es mit einem begriffsstutzigen Kind zu tun. »Er durchlebt den Traum, nur dass er dabei nicht wirklich schläft. Er kann das Böse beherrschen. Die Geister unserer Ahnen helfen ihm dabei. Es ist das Böse, die Essenz des Traums, das Gift, das übrig bleiben würde, wenn man aufwacht, das er in der Muschel einfängt. Es ist gefährlich. Manchmal beginnen die Traumfänger in ihrer Trance wild zu tanzen. Oder sie schreien und schlagen mit den Armen um sich. Sehr selten kommt es vor, dass sich einer zu Tode stürzt. Das geschieht, wenn das Böse im Traum zu stark ist. Wenn es sich nicht einfangen lässt.« Der Alte senkte den Kopf. Er wirkte, als hätten traurige Erinnerungen ihn übermannt.
Emerelle ließ ihm Zeit, wieder zu sich zu finden. Ganz glauben mochte sie seine Geschichte nicht. Sie war der Überzeugung, dass das Hattah eine Rolle bei den bösen Träumen spielte und auch dabei, wenn die Traumfänger zu tanzen begannen. Wer in Trance auf der Spitze einer Felsnadel tanzte, der musste nicht über einen Traum verzweifelt sein, um sich zu Tode zu stürzen. Vielleicht glaubte der Alte ja wirklich alles, was er erzählte. Die Grauhäute hatten ja auch geglaubt, Trolle zu sein.
Endlich fasste sich Dobon wieder. Aber der Trotz war aus seinem Blick gewichen. »Du hast heute gesehen, wie wir kämpfen. Ereignisse dieser Art sind selten. Es kommt fast nie vor, dass einer der Stämme die Abgaben verweigert. Beurteile mein Volk nicht allein danach. Wir sind keine Mörder und Plünderer.«
»Natürlich nicht«, entgegnete sie ironisch. »Die Toten waren nur ein Missverständnis.«
»Ja, so ist es.«
Emerelle war sich nicht sicher, ob er unglaublich dreist war oder einfach ihre Ironie nicht begriffen hatte. Nachdem sie einander eine Weile schweigend angesehen hatten, blieb ihr keine andere Wahl, als deutlicher zu werden. »Dein Volk erschafft nichts. Ihr droht den anderen Stämmen mit Mord und Totschlag. Und heute habt ihr bewiesen, dass ihr auch gewillt seid, eure Drohungen wahrzumachen. Ihr lebt einzig von der Arbeit anderer. Und es geht euch gut dabei. Deine Krieger sind alle wohlgenährt, einige sind richtiggehend dick. Hier im Stamm sieht keiner aus wie ihr. Du kannst in jede Hütte gehen. Alle sind ausgemergelt und schwach. Weil sie euch ernähren, die ihr ihnen das Mark aus den Knochen saugt.«
Dobon hob abwehrend die Hände. »Es ist nicht so, wie du es schilderst. Wir beschützen sie. In jeder Nacht. Wir bezahlen mit unserem Blut für ihren ruhigen Schlaf, und sie wissen es nicht einmal. Du kannst dir nicht vorstellen, was für Träume es sind, die wir für sie träumen!«
»Das kann ich in der Tat nicht«, entgegnete sie scharf. Inzwischen war sie überzeugt, dass Dobon ihr nichts als Lügen auftischte. Zu absurd war diese Geschichte. »Ich werde selbst Traumfängerin sein und die Wahrheit deiner Worte prüfen.«
Der Kobold sah sie fassungslos an. »Du bist keine von uns. Vielleicht kommen die Träume nicht zu dir.«
»Das wäre ein großes Unglück für dich, denn dann würde ich dich für einen Betrüger und Mörder halten. Und ich würde Oblons Witwe das Urteil über dich und dein Volk fällen lassen.«
»Und das wäre dann Gerechtigkeit?«, entgegnete er bitter.
»Wenn du die Wahrheit gesagt hast, hast du nichts zu befürchten.«
»Was geschieht, wenn du dem Übel nicht widerstehen kannst? Wenn du stirbst?«
»Dann hast du wohl nicht gelogen. Ich werde Anweisung geben, dass man dich und die Deinen in diesem Fall ziehen lässt.«
Dobon nickte nachdenklich. »Du ahnst nicht, in welche Gefahr du dich begibst.«
Einen Moment wollte sie antworten, er könne nicht erahnen, welche Gefahren sie überlebt habe, doch dann ließ sie es auf sich beruhen. Wer war er, dass sie ihm mehr als nötig von sich offenbarte.
Sie wies ihn mit knapper Geste an, die Totenkammer als Erster zu verlassen. Sie musste auf die Knie gehen, um durch die niedrige Türöffnung zu gelangen, und sie wollte nicht, dass er dabei Gelegenheit hätte, ihr auf den Hintern zu starren. In Anbetracht der Tatsache, dass sie angekündigt hatte, sich auszuziehen und mit Lehm einzureiben, mochte das albern erscheinen. Aber er würde nicht Zeuge ihrer Nacktheit sein!
Falrach war zu Kräften gekommen. Er kauerte neben dem Eingang zur Totenkammer und begrüßte sie mit einem melancholischen Lächeln. »Wie es scheint, kann ich nicht allein auf mich aufpassen.«
Es war gewiss nicht gerade feinfühlig, aber sie eröffnete ihm umgehend, dass sie gedachte, das Dorf für ein paar Tage zu verlassen, um in der Wüste für sich allein zu sein.
Er erhob keinen Widerspruch. Er versuchte auch nicht herauszufinden, warum sie es tat. Man konnte das als höflich betrachten. Genauso hätte sich wahrscheinlich Ollowain verhalten. Dennoch war sie gekränkt. Ihr Abschied verlief frostig. Sie berührten einander nicht einmal. Er aus scheuer Zurückhaltung, was früher so gar nicht seine Art gewesen war. Und sie, weil sie einfach verstimmt war. Sie wusste, dass sie ihn ungerecht behandelte. Wahrscheinlich dachte er jetzt, er würde niemals das Richtige tun, ganz gleich, was er auch versuchte.
Sie sagte Dobon, er solle ihr eine der Frauen schicken, die zu den Traumfängern gehörten. Dann verließ sie das Dorf und suchte sich eine abgelegene Stelle am seichten Fluss. Einen Ort, der von großen, ockerfarbenen Felsen gegen Blicke vom Dorf abgeschirmt war. Dort wartete sie. Die Wüste und die Einsamkeit, die sie erwarteten, waren ihr willkommen. Sie musste ihren Weg finden. Und die Kraft, ihn dann zu gehen und sich gegen alle weiteren Fragen und Zweifel zu verschließen. Vielleicht war das Hattah ganz hilfreich für den Anfang.
Stunden vergingen. Die Mittagszeit war längst vorüber, als sie zögerliche Schritte auf dem festen, ausgedorrten Boden hörte, die von leisem Klacken begleitet wurden.
»Hier«, sagte Emerelle.
Orgrim trat auf den Hügelkamm und fluchte. Ein Blick genügte ihm, um zu erahnen, was geschehen sein musste. Er sah den toten Späher. Den Krieger und die Menschenkinder, die niedergemacht worden waren. Seine Krieger hatten die Verteidigungslinie auf dem gegenüberliegenden Hügel durchbrochen, und das Gemetzel war in vollem Gange.
»Halt!« Seine Stimme übertönte Schreie und Waffenlärm. »Halt! Krieger der Nachtzinne!«
Voller Stolz sah er, wie sich die Seinen aus dem Kampf lösten - nicht ohne noch ein paar Verwundete niederzumachen und einige der Leichen für ein abendliches Festmahl mitzunehmen, aber sie zogen sich zurück. Kein einziges Kriegerrudel in Albenmark hätte mitten aus einem siegreichen Gefecht abberufen werden können. So waren nur seine Männer. Und genau darum schickte Skanga nach ihm.
Die Menschenkinder bildeten einen neuen Verteidigungskreis. Ein Krieger mit einem Helm, dessen Kettengeflecht das halbe Gesicht verhüllte, schien ihr Anführer zu sein.
Er wies jedem einzelnen seinen Platz in der Kampfformation zu. Dem Menschensohn musste klar sein, dass er gegen die Trolle nicht bestehen konnte. Aber er dachte offensichtlich nicht daran, sich zu ergeben oder auch nur zu verhandeln.
Orgrim überlegte, ob er doch noch einen Angriff befehlen sollte. Das Herz dieses Kriegers wäre es wert, gegessen zu werden.
Der Schlitten mit der kranken Königin erreichte den Hügelkamm. Sie war auf Bergen von Fellen über dem gefrorenen Leichnam ihres Vaters mit breiten Lederriemen festgebunden. Wie es schien, lag sie in tiefem Fieberschlaf. Gut, dass ihr dieser Anblick erspart blieb.
Neben dem Schlitten ging der merkwürdige Elf. Mit unbewegter Miene betrachtete er den blutgesprenkelten Schnee. »Wirst du sie verschonen?«
Seine Stimme klang schroff. Herausfordernd. »Wie sollte die Menschentochter eine gute Königin sein, wenn die tapfersten ihrer Krieger hier erschlagen wurden? Glaubst du, sie eignet sich als Königin von Feiglingen?«
Der Elf schwieg eine Weile. »Du bist ungewöhnlich für einen Troll«, sagte er schließlich.
»Kennst du so viele Trolle, dass du dir ein Urteil erlauben kannst?«
Das Elflein deutete auf die Krieger, die damit begonnen hatten, die erschlagenen Menschen auszuweiden und zu vierteln. Einer der Krieger aß eine Leber, die so frisch war, dass sie in der kalten Winterluft dampfte. Blut troff ihm auf die Brust. Orgrim lief bei dem Anblick unwillkürlich das Wasser im Munde zusammen.
»Das sind die Trolle, wie ich sie kenne.«
Der Herzog der Nachtzinne nickte. »Ich werde am Abend mit ihnen essen.«
»Du denkst an den Abend, sie fressen schon jetzt. Du planst für die Zukunft. Sie sind ganz Gegenwart. Das unterscheidet dich von ihnen.«
Orgrim sah den Elfen verwundert an. »Versuch nicht, nett mit mir zu reden. Wenn ich dir noch einmal begegne, dann werde ich dich umbringen. Jetzt schaff deine Schwester fort von hier! Und wenn ich dir einen Rat geben darf, treib dich nicht in den Wäldern der Maurawan rum.« Er sah ihm an, dass er unter den Elfen in den Wäldern am Albenhaupt aufgewachsen war. Und Orgrim war überzeugt, dass sie Ärger machen würden. Sie hatten sich nicht einmal Emerelle unterworfen. Und sie lebten an der Grenze zur Snaiwamark, der ursprünglichen Heimat der Trolle.
»Ich werde dir dein Leben schenken, wenn wir uns noch einmal begegnen, weil du meine Schwester verschont hast.«
Orgrim musste unwillkürlich lachen. »Du solltest nicht darauf vertrauen, dass es zu einem ritterlichen Zweikampf kommt, wenn du mich wiedersiehst. Falls es dir entgangen sein sollte, ich bin ein Troll. Wir duellieren uns nicht. Wir schlagen unseren Gegnern die Köpfe ein und essen ihre Leber.« Er deutete auf die ausgeweideten Toten.
»So sieht das aus, Elflein. Das ist dein Schicksal, wenn du mir nicht aus dem Weg gehst. Und jetzt nimm den Schlitten mit deiner Schwester und mach dich davon!«
Erstaunlicherweise gehorchte der Kerl. Er war ungewohnlich. Diese versponnene Sache mit den Metallkrallen. Nie hatte Orgrim einen Elfen getroffen, der mit solchen Waffen kämpfte. Für gewöhnlich versuchten sie, so viel Abstand wie möglich von Trollen zu halten, und schössen feige mit Pfeilen oder sogar mit Speerschleudern. Er musste auch an die Unzahl von Trollen denken, die vor den Mauern des Königssteins verbrannt waren. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, kämpften sie auch mit Speeren oder Schwertern. Aber auch dabei hielten sie eine Armeslänge und mehr Abstand. Mit diesen Krallen müsste sich der Elf auf eine tödliche Umarmung einlassen, wenn er es nicht schaffte, die Kehle zu erwischen. Das war selbstmörderisch. Und ziemlich mutig für einen Elfen.
Der Kleine musste sich ganz schön abmühen, um den Schlitten den anderen Hang wieder hinaufzubekommen. Endlich schickte ihm der Krieger mit dem Kettengeflecht vorm Gesicht zwei Männer zu Hilfe. Wie schwach die Menschenkinder waren und doch mutig. Er hoffte, dass die Geschichte von den heutigen Ereignissen bis ins fernste Dorf des Fjordlands getragen würde. Noch einmal könnte er sich solche Gnade nicht leisten. Das würde man in seinem Volk als Schwäche auslegen. Vielleicht war es auch genau das. Er hatte das Mädchen schon einmal entkommen lassen. Vor langer Zeit, als sie noch ein Kind war.
Er wusste mehr über sie, als er zugegeben hatte. Skanga hatte ihm von ihr erzählt. Die Menschentochter hatte sich einem Shi-Handan gestellt, und sie war bis an die Schwelle des Totenreichs gegangen, um Albenmark zu retten. Es war eine Reise gewesen, wie sie vor ihr noch niemand gewagt hatte. So sollte eine Königin sein. Er wollte sie zur Nachbarin seines Herzogtums haben und niemand anderen. Sie war würdig. So würde er es seinen Rudelführern erklären, wenn sie heute Nacht beisammensaßen. Er hatte entschieden, wer im Fjordland herrschen würde. Und er hatte die Einzige gewählt, die würdig war, an ihrer Grenze zu herrschen. Er war ein Königsmacher.
Orgrim schmunzelte. Das würde seinen Rudelführern gefallen.
Die Menschen zogen sich vom Hügelkamm zurück. Sie hatten sich um den Schlitten mit ihrer Königin geschart. Der Krieger mit dem Kettengeflecht vor dem Gesicht ging als Letzter. Er hob den Arm zum Gruß. Orgrim erwiderte die Geste nicht. So weit ging sein Respekt nicht.
Die Schritte verhielten einen Augenblick. Dann fanden sie zu ihr. Nach den Maßstäben für Kobolde war die Frau groß. Emerelle richtete sich auf. Das Koboldweib überragte um Kopfeshöhe ihr Knie. Sie hatte eine lange, leicht nach unten gebogene Nase. Ihre Gesichtszüge waren unter grauen Lehmschichten, auf die Zeichnungen aus Asche und Holzkohle aufgetragen waren, kaum zu erkennen. Ihre Augen stachen blendendweiß aus tiefschwarzen, aufgemalten Höhlen. Ihre Pupillen waren nur winzige Punkte inmitten schmutziggrüner Iris. Ihr Haar war mit Lehm durchsetzt und zu einer spiralförmigen Frisur gedreht, die an ein Muschelhorn erinnerte. Obwohl, Frisur war eigentlich nicht das rechte Wort, denn ihre Haare wirkten wie ein solider Klumpen, der ihren Kopf nach hinten verlängerte.
Die Muschelschnüre, die sich zwischen ihren sackartigen, eingefallenen Brüsten kreuzten, wiesen sie als erfahrene Traumfängerin aus.
Sie trug einen sehr breiten Gürtel, von dem ein lehmfarbener Lumpenstreifen herabhing, der ihre Scham bedeckte. Auch waren daran etliche kleine Kürbisflaschen und Lederbeutel befestigt. Bei jeder ihrer Bewegungen schlugen einige der Kürbisfläschchen zusammen. Mit beiden Händen hielt sie einen offensichtlich recht schweren Tonkrug, der mit einem schmutzigen, feuchten Tuch versiegelt war.
»Ich bin Imaga«, sagte sie. Ihre Stimme war eine Überraschung. Sie klang jung und wohltönend. In Anbetracht der vielen Muschelhörner, die sie trug, hatte Emerelle mit einer älteren Frau gerechnet. Lehm, Gesichtsbemalung und ihre flachen Brüste hatten ihr Alter verschleiert.
»Es wäre gut, wenn deine Haut feucht wäre.« Sie setzte mit einem erleichterten Seufzer den schweren Tonkrug ab. »Wir werden keinen Lehm hier aus dem Fluss nehmen. Der ist nicht rein genug.« Sie deutete auf den Topf. »Dieser hier kommt aus dem Tal, in dem die Flügelpferde verbrannten. Er enthält eine Spur ihrer Asche. Alle Traumfänger benutzen ihn. Er ist erfüllt von starker Magie.«
Von den toten Pegasi zu hören, erstaunte Emerelle. Sie war überrascht, wie gut die Grauhäute die ältesten Legenden kannten. Geschichten, die andernorts schon vor vielen Jahrhunderten in Vergessenheit geraten waren. Wenngleich sie selbst den Tag, an dem die Pegasi starben, niemals, niemals aus ihren Erinnerungen würde verbannen können.
Die Elfe legte ihr Kleid ab und stieg in den seichten Fluss. Das Wasser war angenehm kühl.
Imaga goss aus einer ihrer Kürbisflaschen eine milchige Flüssigkeit in den Tonkrug.
Dann beugte sie sich vor und begann den Lehm zu kneten, der dabei satte, schmatzende Laute von sich gab.
Emerelle sah eine Weile zu. Und Imaga bedrängte sie weder mit Worten noch Gesten.
Sie war völlig in ihre Arbeit versunken. Die Schatten der Felsen streckten sich nach dem seichten Bach, als die Zeit verstrich. Endlich fasste Emerelle sich ein Herz. Sie stieg aus dem Wasser und kniete sich vor der Koboldfrau nieder. Diese begann sofort damit, die gefallene Herrscherin Albenmarks mit Lehm einzureiben. Er war warm und fühlte sich ein wenig seifig an.
Die kleinen, festen Hände rieben ihn tief in ihre Haut. Jede Pore nahm ihn auf. Imaga hatte ihr bereits beide Arme und den Hals eingerieben, als sie das Schweigen brach.
»Du musst das Hattah nehmen, Herrin. Sonst wirst du nicht wissen, welches Netz du tragen musst, um die bösen Träume zu fangen.«
Emerelle nickte, und Imaga öffnete eines der kleinen Gefäße an ihrem Gürtel. Sie holte etwas daraus hervor, das an ein münzgroßes Stück verschrumpelte, rosige Haut erinnerte.
Die Elfe öffnete den Mund, und Imaga legte ihr das Hattah mit ihren lehmverkrusteten Fingern auf die Zunge. Sie spürte, wie sich ihr Speichel unter dem getrockneten Kakteenfleisch sammelte. Langsam breitete sich ein warmes, sinnliches Gefühl in ihr aus.
Es war wie die Berührung durch den Liebsten und sickerte in all ihre Glieder. Sie fühlte sich ein wenig schwindelig. Stärker als zuvor empfand sie die Hände, die den Lehm in ihre Haut massierten. Imaga arbeitete jetzt an ihren Schultern. Und dünne Rinnsale schmutzig grauen Wassers rannen der Königin zwischen den Brüsten hinab.
Ein Seufzer entfuhr ihr ungewollt. Das sinnliche Gefühl drang in ihre Gedanken und spülte die Erinnerung an Falrachs Umarmungen frei. Daran, wie sie sich zwischen den schwarzen Stoppeln eines frisch niedergebrannten Kornfeldes geliebt hatten, und ein anderes Mal auf Seidenlaken im Haus ihres Bruders Meliander. An seine geflüsterten Liebesschwüre. An ihre Eifersucht auf die Blicke anderer Elfen, die er stets auf sich zog, wenn sie in Gesellschaft waren. Daran, wie sie seine Erfahrenheit im Liebesspiel genossen und gehasst hatte. Nie wollte er ihr verraten, bei wie vielen Frauen er vor ihr schon gelegen hatte. Sie war in den körperlichen Spielarten der Liebe recht einfallslos gewesen. Anfangs. Dann war sie ihm regelrecht verfallen gewesen. Eine Zeit lang.
Die warmen, knetenden Hände, der feuchte Lehm, der nun überall zu sein schien, und die Droge machten die Erinnerungen an vergangene Liebesspiele so wirklich, wie sie nie in all den ungezählten Nächten der Sehnsucht nach Falrach gewesen waren. Den Nächten, in denen sie allein gelegen hatte und überzeugt gewesen war, dass es bis ans Ende aller Zeiten so sein würde. Den Nächten nach seinem Tod.
Sie griff in den grobkörnigen Sand des Ufers, überwältigt von dem plötzlichen Verlangen, etwas zu berühren.
Imaga rieb ihr die Brüste mit Lehm ein. So oft hatten Fairachs Hände dort gelegen.
»Beuge dein Haupt, Herrin.«
Sie gehorchte dem Koboldweib. Ihre Haare wurden zu zähen Lehmschlangen, die schwer von ihren Schläfen hingen.
»Schließ die Augen!«
Die Hände bedeckten ihr Gesicht. Vorsichtiger diesmal. Lehmdurchsetztes Wasser sickerte durch ihre Lippen und vermischte sich mit dem Geschmack des Hattah zu etwas Weichem, Pelzigen, das sich auf ihre Zunge und die Zähne legte. Sie schluckte.
Der Speichel, der ihre Kehle hinabrann, schien mit jedem Zoll, den er tiefer in ihren Leib drang, heißer zu werden, bis er brannte wie die gleißende Glut eines Blitzschlages, gebannt in einen einzigen Tropfen.
Das Licht durchdrang sie. Ihr Blick würde wie flammende Speere sein, wenn sie jetzt die Augen öffnete.
Vage spürte sie, wie ihre Finger durch den Sand fuhren. Dem Durchdrungen sein von Licht folgte ein Gefühl, als seien all ihre Kräfte aufgezehrt. Eine Mattigkeit, die bis ins Innere ihrer Knochen zu greifen schien.
Sie glaubte, sich etwas lallen zu hören. War sich aber nicht sicher, ob die Laute am Ende doch nur Erinnerungsfetzen an lang vergangene Gespräche waren. Hunderte Bilder aus ihrer Vergangenheit bestürmten sie in Gedanken. Es war ein Gefühl, als falle sie durch ihr eigenes Leben zurück zum Augenblick ihrer Geburt. Plötzlich war da nur noch Finsternis. Sie spürte, wie sie belauert wurde. Und sie spürte Geröll unter ihren nackten Füßen!
Erschrocken riss sie die lehmverklebten Augenlider auf. Sie blieb stehen und sah sich verwundert um. Es war Nacht geworden. Die Landschaft, die sie umgab, war fremd.
Weder der Bach noch das Dorf oder eine einzige ihr bekannte Felsformation waren zu entdecken. Ihre Füße schmerzten. Sie bluteten! Wie lange war sie gegangen? Sie sah an sich hinab. Ein aufwendiges Muster aus verschlungenen Kalklinien bedeckte ihren Bauch und ihre Brüste. Vor ihr erhob sich eine Felsnadel aus dem Geröll. Wie ein astloser Baumstumpf ragte sie auf. Emerelle wusste, dass sie am Ziel war.
Alathaia hatte sie warten lassen. Zwei Tage waren vergangen, seit sie die Karfunkelsteine gefunden hatte. Zeit genug, alles vorzubereiten. Und Zeit genug zu bemerken, dass mit Birga eine seltsame Veränderung vorgegangen war. Sie hatte bessere Laune. Und sie wirkte selbstsicherer. Ihre Aura erstrahlte in einem ganz neuen Farbspektrum. Skanga war sich sicher, dass Alathaia etwas mit dieser Veränderung zu tun hatte. Und Birga war, wie es schien, dämlich genug, zu glauben, dass die Elfe ihr einen Gefallen getan hatte. Am liebsten hätte Skanga die dumme Kuh davongejagt.
Aber sie hatte zu viel Mühen in die junge Schamanin gesteckt. Sie wusste schon zu viel, um sie einfach ziehen zu lassen. Und sie zu töten, wäre dumm, es würde viele Jahre dauern, sich eine neue Dienerin wie Birga heranzuziehen.
Sie so zu verändern, empfand Skanga als einen Angriff Alathaias. Leider hatte sie keine andere Wahl, als mit der Elfenfürstin zu paktieren. Voller Selbstgefälligkeit stand die Fürstin inmitten des Thronsaals. Erst vor wenigen Augenblicken hatte sich das Tor im Albenstern geschlossen. Noch lag ein Abglanz seiner machtvollen Magie im weiten Thronsaal und überlagerte die Auren der Anwesenden.
Skanga hatte Madrog, den Anführer der Spinnenmänner, hierherbefohlen, aber er war nicht erschienen. Er hatte nur die zehn Armbrustschützen geschickt, nach denen sie ebenfalls verlangt hatte. Skanga war sich ziemlich sicher, dass der Spinnenmann in der Nähe war. Der Palast war durchzogen von geheimen Tunneln, Gängen und Gewölben.
Die meisten waren den Elfen sicherlich bekannt gewesen und mit deren Bil igung schon beim Bau der Burg errichtet worden. So konnten sich die zahllosen Kobolddiener unauffällig bewegen. Sie waren immer nahe, ohne mit ihren verwachsenen kleinen Leibern das elfische Empfinden für Schönheit zu stören. Diese Gänge und Tunnel waren so eng, dass sich darin nur Kobolde leicht bewegen konnten. Für einen Elfen wäre es schwierig gewesen, dorthin vorzudringen. Vielleicht wenn er auf allen vieren kroch. Für einen Troll war es völlig unmöglich, in dieses Gangsystem einzudringen. So hatten die Kobolde ihre eigene, unangreifbare Burg inmitten der Burg. Skanga wusste genau, dass sich Elija Glops diesen Umstand zunutze machte. Er saß in den verborgenen Kammern zusammen mit seinen Volksräten, wie sich die Abgesandten der Kobolde aus fremden Städten inzwischen nannten. Sie redeten, machten Pläne, ohne dass ein Troll dabei war. Es war höchste Zeit, ihren Verbündeten eine kleine Lektion zu erteilen. Skanga hatte den Bezug eines Stuhls herabreißen lassen, auf dem Madrog erst vor zwei Tagen bei einem Festmahl gesessen hatte. Während die Trolle im Festsaal um ein Feuer auf dem Boden kauerten und Fleisch brieten, gefiel es den Kobolden, die Tischsitten der Elfen nachzuäffen. Sie errichteten lange Tafeln, auf denen weißes Tuch ausgebreitet wurde, stellten goldene Teller und Kerzenhalter darauf und ließen sich bedienen. Hier auf der Burg gab es viele Elfendiener. Wie es anderswo war, wusste Skanga nicht. Elija hatte die Praxis eingeführt, dass man gefangene Elfen vor Körperstrafen bewahren konnte, wenn Freunde und Verwandte von ihnen als einfache Diener für die Kobolde arbeiteten. Der Fuchsmann redete von Umerziehung und davon, dass der verdrehte Geist der Elfen nur durch die einfachen Freuden ehrlicher schwerer Arbeit gerade gerücktwerden könne.
In Skangas Augen waren das nur hochgestochene Worte. Die schlichte Wahrheit war, dass Elija Freude daran hatte, die Elfen zu Frondiensten für die Kobolde zu zwingen.
Dagegen hätte Skanga nichts einzuwenden gehabt. Aber ihr missfiel, dass er die Tatsache nutzte, dass noch kein neues Gesetz niedergeschrieben war, um ganz nach seinen Vorstellungen Recht zu sprechen. In seinem Gerichtssaal hätte Emerelle ihr Blutbad anrichten sollen!
Es war höchste Zeit, dass sie sich weiter um das Gesetzbuch kümmerte. Es musste vollendet, abgeschrieben und in alle Provinzen getragen werden! Sie musste die Zügel straffer ziehen, sonst würde es bald die ersten Aufstände gegen König Gilmarak geben.
Zum Glück war der junge Trollkönig der endlosen Sitzungen im Thronsaal überdrüssig geworden und vergnügte sich inzwischen bei ausgedehnten Jagdzügen im Alten Wald, wo er mit großer Begeisterung den letzten Gelgeroks nachstellte.
Alathaia hatte wie gewünscht drei Elfen mitgebracht. Zwei Krieger und ein Weib.
Skanga hielt nichts davon, wenn man Weiber an der Seite von Kriegern schickte. Aber bei den Elfen, das wusste sie, war das schon immer anders gewesen. Sie waren darauf angewiesen, jeden, der eine Waffe tragen konnte, in den Krieg zu schicken, denn sie waren zu wenige.
Die Elfen waren unbewaffnet, so wie Skanga es gewünscht hatte. Wenigstens daran hatte sich Alathaia gehalten. Dennoch waren die Koboldarmbrustschützen unruhig. Die Leibwachen der Elfenfürstin hatten als Kämpfer einen ausgezeichneten Ruf. Sie standen den Elfenrittern, die Ollowain in der weißen Festung bei der Shalyn Falah ausgebildet hatte, kaum nach.
»Deine Krieger wissen, was sie erwartet?« Skanga war verwundert, dass sich keinerlei Anzeichen von Furcht in ihren Auren zeigten. Ihr missfiel es, Elfen für diese Mission heranziehen zu müssen. Sie hatte verschiedentlich versucht, Shi-Handan aus Trollen zu erschaffen, war daran jedoch gescheitert, ohne verstehen zu können, warum.
Schließlich hatte irgendjemand es auch geschafft, Seelenfresser aus Menschen zu erschaffen, die ja nun wirklich ein Dreck im Vergleich zu einem Troll waren.
»Meine Wachen sind jederzeit bereit, ihr Leben für mich zu geben. Und wie ich sind sie überzeugt, dass mit Emerelles Herrschaft nun auch ihr Leben enden sollte. Zu lange hat sie in Albenmark geherrscht.«
Skanga wusste, dass die Shi-Handan zuallererst Alathaia treu sein würden und dass sie keinem Befehl folgen würden, der sich nicht mit den Interessen ihrer Fürstin deckte. Es war ein Wagnis, ihr eine so mächtige Waffe zu überlassen. Allerdings hatte Skanga vorgesorgt. Sie hatte für sich und den jungen König Gilmarak zwei Amulette erschaffen, deren Macht sie für die Shi-Handan unberührbar machte. Alle übrigen Höflinge und Krieger waren verzichtbar.
Eine Weile betrachtete sie gedankenverloren die magischen Kraftlinien, die sich inmitten des Thronsaals kreuzten. Sieben Albenpfade trafen sich hier und bildeten einen großen Stern. Nun galt es, dieses Wunder der Magie für einen Zauber zu missbrauchen, der allem zuwiderlief, was im Sinne der Alben gelegen hatte.
Skanga straffte sich. Sie hatte Angst vor den Yingiz. Die Kreaturen der Dunkelheit konnten sie nicht berühren. Aber sie musste immerzu daran denken, welches Unheil Emerelle heraufbeschworen hatte, als sie genau an diesem Ort einen der Albenpfade durchtrennt hatte, um die Armee der Trolle, die durch das Goldene Netz vorrückte, in den Abgrund der Finsternis zu schleudern. Sie hatte den Yingiz damit einen Weg nach Albenmark geöffnet. Nicht absichtlich. Das war das Einzige, was man ihr zugutehalten konnte. Aber sie hatte im Kampf um ihren Thron fast die ganze Welt geopfert. Nur mit großem Glück hatten sie die Yingiz zurückschlagen können, als es ihnen gelungen war, einen Weg nach Albenmark zu finden. Und nun begann sie, Skanga, an der nämlichen Stelle, an der das Unheil begonnen hatte, erneut mit diesem unbeherrschbaren Feind zu paktieren. Der Gedanke daran hatte ihr schlaflose Nächte bereitet. Und es geschah sehr selten, dass sie sich ruhelos auf ihrem Lager wälzte.
Der Unterschied zu Emerelles Tun war, dass sie sehr genau wusste, was sie da tat. Es war auch nicht das erste Mal. Sie beherrschte den Zauber und wusste, was sie tun musste, um die Yingiz zu vertreiben. Sie konnte das Ganze beherrschen, sagte sie sich immer wieder, ohne den sengenden Funken des Zweifels ganz zum Verlöschen zu bringen. Es ging darum, Emerelle zu töten. Damit war das größte Unheil abgewandt.
Wer wusste schon, was sie in Zukunft tun würde, um ihren Thron zurückzuerobern.
Sie musste sterben! Nur so konnte sie sicher sein, dass ihr Volk künftig in Frieden leben würde. Sie hatte gar keine Wahl, als jetzt die Yingiz zu rufen und drei Shi-Handan zu erschaffen. Und sie würde die Schattenwesen betrügen. Niemals würde sie zulassen, dass sie einen eigenen, festen Körper erlangten. Niemand wusste, wie sie aussehen würden, wenn sie sich in Fleisch kleideten.
»Nimm ein Stück weiße Kreide, Birga, und zeichne dort drüben einen Kreis auf den Boden, der groß genug ist, dass drei Elflein darin stehen können.« Sie deutete auf die Stelle zwischen den Kraftlinien, die nach Nordosten und Nordnordost verliefen. Sie wusste aus Erzählungen, dass den Boden ein prächtiges Mosaik mit sieben ineinander-verschlungenen Schlangen schmückte. Sehen konnte sie davon nichts. Sie musste sich an den magischen Auren orientieren. »Der Kreis muss nicht wirklich rund sein. Aber er darf keine Lücke haben, und sei sie auch nur so fein wie ein Härchen! Auf dem Boden mit dem Steinbild wird das sicherlich nicht einfach sein. Achte darauf, dass du deine Arbeit gut machst!«
Aus der Aura Alathaias las sie große Neugier. Ohne Zweifel war die Elfe begierig, diesen Zauber zu lernen. Nur deshalb opferte sie so bereitwillig drei ihrer Leibwächter.
»Du kannst auch helfen«, sagte Skanga gönnerhaft. Sie deutete auf das Podest, auf dem Emerelles Thron stand. Dort lagen alle Utensilien bereit, die sie zur Beschwörung benötigte, und auch einige, die völlig überflüssig waren. Kerzen, ein Kleid, ein Stofffetzen von einem Stuhlbezug, das Herz eines Gelgeroks in einer Schale, ein wuchtiger Minotaurenschädel, Steine, in die Runen geritzt waren, und noch etliche andere Dinge, die Alathaia verwirren sollten.
»Nimm den Blutstein, der dort liegt, und ziehe einen weiteren Kreis auf den Boden. Er soll zwei Schritt durchmessen.«
Die Elfe gehorchte und nutzte die Gelegenheit, sich aus nächster Nähe anzusehen, was dort alles lag. Die meisten Dinge würde sie erkennen.
»Was ist das?« Sie deutete auf einen großen Fleischklumpen, der in einer Schüssel lag.
»Das Herz eines Gelgeroks«, entgegnete Skanga knapp, als sei völlig offensichtlich, wozu es diente. Sie wusste, dass es in Langollion keine Gelgeroks mehr gab und Alathaia Schwierigkeiten haben würde, sich ein solches Herz zu verschaffen.
»Wozu dient es?«
»Es ist eines der Lockmittel. Die Yingiz sind Raubtiere. Sie reagieren besonders stark auf Gerüche. Das Herz wird sie aus dem Dunkel locken.«
Die Koboldarmbrustschützen scharrten unruhig mit den Füßen. Wahrscheinlich wusste nicht einer von ihnen, was die Yingiz waren. Aber man musste wahrlich nicht sonderlich klug sein, um auf die Idee zu kommen, dass mit einem blutigen Herzen ein finsterer Zauber gewoben werden sollte.
Es war ein schöner Tag. Der Himmel spannte sich klar und fast wolkenlos über ihnen.
Die verrückten Elfen hatten den Thronsaal ohne ein Dach errichtet. Das helle Mittagslicht bannte alle Schatten. Man würde die Yingiz außergewöhnlich deutlich sehen können.
Skanga hatte ein wenig Sorge wegen des Wassers, das beständig plätschernd die Wände hinablief und das Mauerwerk hinter silbernen Schleiern verbarg. Sein Lärmen könnte die Worte der Macht stören. Sollte sie es darauf ankommen lassen?
Die alte Schamanin ging nun selbst zum Thron. Sie hatte die Zeit, die Alathaia sie hatte warten lassen, dazu genutzt, um ganz besondere Beschwörungskerzen anzufertigen.
Sie hatte unter anderem das Leichenfett einiger Hingerichteter dafür verwendet.
Holzkohle aus dem Stamm eines verbrannten beseelten Baumes gab ihnen ihre schwarze Farbe. Die Dochte waren aus dem Haar einer Elfenjungfer gedreht, die sich erhängt hatte, als sie erfuhr, dass sie einem Trollfürsten zum Weibe gegeben werden sollte. Manche Elfenfamilien waren völlig ohne Skrupel bei den Versuchen, ihre alte Macht zu erhalten.
Aber all diese Zutaten waren nebensächlich. Das Besondere an diesen Kerzen waren die Zauber, die in sie eingewoben waren und die sich entfalten würden, während sie niederbrannten. Es waren nur mindere Zauber, und doch waren sie wichtig, um die Yingiz zu binden und daran zu hindern, den Thronsaal zu verlassen, waren sie erst einmal gerufen. Würde Alathaia versuchen, zu eigenen Zwecken Yingiz zu rufen, um weitere Shi-Handan zu erschaffen, dann würde sie eine unangenehme Überraschung erleben.
Skanga selbst stellte die Kerzen auf. Sie mussten im rechten Abstand zueinander stehen und in den richtigen Winkeln, wenn man gedachte Linien zwischen ihnen zog.
Dadurch würden alle Zauber an Kraft gewinnen. Der Schamanin entging nicht, wie aufmerksam Alathaia jeder ihrer Bewegungen folgte und wie sie gespannt auf jeden Laut lauschte. Doch diesmal half das Geräusch fallenden Wassers! Es erschwerte es der Elfe, zu verstehen. Ja, es übertönte selbst das scharfe Kratzen der harten Kreide auf dem Boden.
Ganz langsam schlich sich eine Veränderung ein. Es war nichts, das man hätte greifen oder auch nur mit einem einzelnen Wort hätte benennen können. Das Licht schien ein wenig blasser zu werden, obwohl keine Wolke vor der Sonne stand. Eine Spannung lag im Thronsaal. Die Vorahnung einer Bluttat.
Madrogs Kobolde waren üble Burschen, die nicht davor zurückschreckten, sich als Meuchler zu verdingen, aber man merkte ihnen deutlich an, dass auch sie begannen, sich zu fürchten. Skanga genoss es. Es war zudem ein wichtiger Bestandteil des Rituals. Der Geruch der Furcht lockte die Yingiz mehr als irgendetwas anderes.
Endlich hatten die Elfe und auch Birga ihre Aufgaben vollendet. Beide schworen, dass ihre Kreise völlig lückenlos waren. »Du weißt, dass die Shi-Handan bösartig sind und dass der Teil von ihnen, den die Yingiz geben, manchmal deine Krieger beherrschen werden.«
Alathaia nickte.
»Aus diesem Grund ist es besser, wenn man immer zweifelsfrei weiß, wen man vor sich hat. Mich interessieren ihre Namen nicht. Aber ich denke, dass sie sicherlich auch zu dir kommen werden, und du solltest dann wissen, wer vor dir steht. Du kennst sie schließlich.«
Ein Hauch von Misstrauen zeigte sich in den Farben von Alathaias Aura.
»Werden sie sich fügen, wenn ich sie nun zeichne?«
Skanga konnte sehen, wie die Elfe mit Neugier und auch Sorge rang, ihr Stolz aber die Oberhand behielt. Bei ihren Kriegern war es anders. Auch in ihren Auren hatte nun Furcht Einzug gehalten.
»Sie werden sich fügen«, sagte die Fürstin mit einer Stimme, der kein Zweifel anzumerken war. Sicherlich konnte man ihn auch nicht an ihrem Gesicht ablesen. Aber niemand, ganz gleich, wie beherrscht er war, vermochte die Farben seiner Auren zu verfälschen. Sie zeigten immer, was einen im Innersten bewegte.
»Nun denn.« Skanga zog das kurze Obsidianmesser aus ihrem Gürtel und weidete sich daran, wie das Entsetzen der Elfen mit jedem Schritt wuchs, um den sie sich näherte.
Sie packte den Vordersten bei den Haaren.
Er hob die Hand, als Krieger gewohnt, sich nicht kampflos aufzugeben.
»Beschäme mich nicht, Elovyn!« Die Worte Alathaias machten ihn fügsam.
»Das in vielerlei Hinsicht Herausragendste sind eure Ohren.« Skanga tastete durch das Haar ihres Opfers, bis sie eines von Elovyns Ohren zu packen bekam. Mit raschem Schnitt trennte sie es ab. »Nun wird der hier auch in Gestalt eines Shi-Handan nicht mehr zu verwechseln sein.«
Sie sah sich nach dem Weib um. Für sie würde es schlimmer sein. Genau das brauchten sie. Skanga packte sie. Sie tastete ihr mit den Fingern über das Gesicht. Die Haut war so unglaublich glatt und zart. »Fürchtest du um deine Ohren, Kleine? Ich müsste dir wohl beide nehmen, um dich unverwechselbar zu machen.«
»Kann man in meiner anderen Gestalt denn nicht erkennen, dass ich eine Frau bin?«
Sie bemühte sich sehr darum, gefasst zu klingen, scheiterte aber.
Alathaia wirkte verärgert. »Ist es unerlässlich, Alyselle zu verstümmeln? Sie ist...«
»Ihr beide seid also sehr um ihre Ohren besorgt? Dann soll sie die behalten!« Mit diesen Worten drückte sie seit lieh auf das linke Auge Alyselles, bis es mit leisem Schmatzen aus seiner Höhle quoll.
Die Elfe schrie auf, während Skanga das Auge umfasste, das an einem dünnen Fleischfädchen herabbaumelte. Die Elfe zuckte erschrocken zurück. Mit dieser Bewegung zerriss sie selbst das Bündel Nervenstränge, an dem ihr Auge noch hing.
Skanga schnippte das Auge achtlos zur Seite. In den Auren der Elfen las sie blanken Hass. Sie musste an Shahondin, den ehrgeizigen Fürsten von Arkadien, denken, dem sie ebenfalls einst ein Auge genommen hatte. Eitelkeit war eine Schwäche, die allen Elfen gemein war. Wenn Schönheit beschädigt wurde, dann waren sie alle gleich jämmerlich!
»Was willst du Valderun antun?« Alathaia war aufgebracht.
Es verwunderte Skanga, dass die Elfe offensichtlich mit ihren Kriegern mitfühlte. Ihr wäre es ganz egal, wenn man einem ihrer Leibwächter ein Auge oder ein Ohr nehmen würde, wenn es darum ging, einen machtvollen Zauber zu weben. Aber so waren sie halt, die Elfen. »Du kannst beruhigt sein. Der dritte ist dadurch gezeichnet, dass ihm nichts fehlt.« Mit einem Lächeln wandte sie sich von der Fürstin ab. »Birga! Überprüfe, ob der Bannkreis um die Elfen unverletzt ist. Und dann tritt mit Alathaia in den roten Kreis.«
Skanga rief ein Wort der Macht. Sie spürte, wie die Albenpfade rings um sie in Bewegung gerieten. Ihre Kraftlinien verzerrten sich. Ein Tor aus gleißendem Licht wuchs aus dem Boden. Es öffnete sich sehr langsam. Die Schamanin musste all ihre Willenskraft aufbieten, um es zwei Handbreit aufzuzwingen.
Die Elfenfürstin hatte sich bereits in den sicheren Bannkreis gerettet. Nur Augenblicke später folgte ihr Birga. Einer der Koboldarmbrustschützen wollte ebenfalls im roten Kreis Schutz suchen. Ein einziges Wort nahm seinen Beinen alle Kraft. Wie mit dem Mosaik auf dem Boden verwachsen, stand er still.
»Aufhören!«, schrie ein anderer Kobold.
Skanga spürte, wie sie auf sie anlegten. Ein heiserer Fluch verwandelte die Bolzen auf den Waffen und in den Köchern in Würmer.
Einige der Kobolde schrien in hellem Entsetzen auf. Sie ahnten, dass auch ihnen ein Platz in diesem Ritual zugedacht war. Einige sanken um Gnade wimmernd in die Knie. Die Übrigen flohen zum hohen Portal, das vom Thronsaal in den Palast führte.
Ein Fingerschnippen Skangas ließ die hohen Bronzepforten zuschlagen. Sie umklammerte jetzt mit der Linken den Albenstein, den sie um den Hals trug. Seine angenehme Wärme gab ihr Kraft. Erneut widmete sie sich dem magischen Tor. Zoll um Zoll zwang sie es weiter auf. Plötzlich mischte sich die Stimme Alathaias unter die ihre.
Die Elfe half!
Endlich war es geschafft. Das Tor ins Nichts klaffte wie eine große, schwarze Wunde inmitten des Thronsaals. Anders als sonst war kein leuchtender Albenpfad zu sehen.
Die Schamanin wandte sich den drei Elfen zu. »Ihr riecht nach nichts. Das bisschen Blut, das geflossen ist, genügt nicht. Die Yingiz sollen schließlich wissen, wohin sie gehen müssen, wenn sie uns gefunden haben.«
Kälte durchdrang den Thronsaal. Skanga ging zum Thron und nahm einen Lederschlauch auf, den sie bereitgelegt hatte. Unter den bangen Blicken der Elfen nahm sie einen großen Schluck daraus. Dann trat sie an deren Bannkreis und prustete die Flüssigkeit zwischen zusammengepressten Lippen hinaus. »Lebertran und Gelgerokblut! Nun riecht ihr wenigstens nach etwas.«
Sie rief ein Wort der Macht, und alle Kerzen flammten gleichzeitig auf.
Der säuerliche Gestank der Angst drang ihr in die Nase. Es waren vor allem die Kobolde. Aber auch die Elfen hatten ihren Hochmut abgelegt.
Skanga sammelte sich. Sie stieß einen Laut wie ein keh liges Husten aus. Es folgten Worte, die keiner lebenden Sprache entstammten. Worte, die sie unter namenloser Qual einst von ihrer Meisterin Mahta Naht erlernt hatte.
Worte, die in jener Finsternis, in der keines der Gesetze Albenmarks mehr galt, Gehör finden würden.
Es wurde kälter im Thronsaal. Das Wimmern der Kobolde wurde leiser. Sie krümmten sich zusammen und schienen noch ein wenig kleiner zu werden. Das Fleisch schmolz von ihren Knochen, bis die Haut in schlaffen Säcken herabhing. Aus ihren klaffenden Mäulern troffen Fäden aus klebrigem, goldenem Licht. Sich schwerelos windend, tanzten sie zu Skangas Gesang und verschwanden durch das magische Tor ins Nichts.
Noch waren die Kobolde nicht tot, auch wenn ihre Körper nur noch groteske Parodien dessen darstellten, was sie noch vor Augenblicken gewesen waren. Ihre Auren waren fast verblasst. Sie waren unrettbar verloren. Ihr Zauber hatte ihnen all ihre Lebenskraft entzogen. Die Essenz dessen, was sie waren. Sie waren mehr als nur tot, wenn das goldene Licht verlosch. Sie waren herausgerissen aus dem Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Sie waren ausgelöscht für alle Zeit. Und ihr Tod diente einzig dazu, die Yingiz anzulocken. Ihr goldenes Licht, das sich vorsichtig ins Dunkel tastete, würde die Schattengestalten neugierig machen.
Die drei Elfen aus Alathaias Leibwache schwitzten nicht. Man roch ihre Furcht nicht.
Aber ihre Auren erstrahlten in dem klaren Blau ungezügelter Angst. Nichts, was immer auch Alathaia ihnen erzählt haben mochte, hätte sie auf das vorbereiten können, was nun geschehen würde.
Ein hechelnder Laut drang aus der dunklen Pforte inmitten des Thronsaals. Die goldenen Fäden hingen leicht vibrierend in der Luft. Ein hauchzartes Band endete in den Körpern der Kobolde. Noch war es mit ihnen nicht vorbei.
Das Dunkel jenseits der Pforte schien zu erzittern. Plötzlich stand Skanga der Atem vor dem Mund. Die Kälte schlug so stark in den Thronsaal, dass sie wie eine körperliche Berührung war. Das Geräusch des fallenden Wassers veränderte sich. Dann erstarb es ganz. Nur das feine Knistern von Eis war noch zu hören.
Sie waren reine Dunkelheit. Einen Augenblick sah es aus, als wolle sich die Finsternis aus der magischen Pforte hinauswölben. Dann war der Erste da. Er folgte einem der Lichtfäden, die er gierig verschlang. Ein Zweiter erschien. Sie gaben hechelnde Laute von sich. Laute ungezügelter Gier. Ein Dritter erschien.
Skanga musste sich zwingen, das Wort der Macht über ihre von der Kälte rissigen Lippen zu bringen. Binnen eines Lidschlags verschwand die dunkle Pforte. Aber nicht die Kreaturen. Die Yingiz hielten nicht inne. Ihre Gier nach dem Lebenslicht der Kobolde ließ sie alles andere vergessen.
Skanga sah zu, wie sie ihre stumpfen Schnauzen in die Brustkörbe der Kobolde stießen. Die Auren verloschen. Die Schatten balgten um den letzten Lebensfaden. Ihre Erscheinung erinnerte an große schwanzlose Hunde. Doch war ihre Form veränderlich. Nicht ganz klar umrissen. Sie streiften nun durch den Thronsaal, in dem sie die Macht ihrer Beschwörung gefangen hielt.
Schnuppernd untersuchten sie die Dinge, die auf dem Podest des Throns lagen. Auch den Bezug des Stuhls, auf dem Madrog gesessen hatte. Dann begannen sie Skanga zu umkreisen.
»Die Alben haben euch eure Leiber genommen und in die Finsternis gestoßen. Ihr seid hier, weil ich euch gerufen habe! Ihr seid gefangen im goldenen Netz, das eure Finsternis umschließt. Ich weiß, wie sehr ihr euch nach Körpern sehnt. Danach, mehr zu spüren als Hass. Den Wind auf eurer Haut. Den Geschmack von Blut auf den Lippen. Ich kann euch all dies geben. Oder euch zurück in die Dunkelheit stoßen.«
Einer der Schatten sprang Skanga an. Grelles Licht flammte auf. So hell, dass es selbst durch ihre toten Augen brannte. Ein schriller Klagelaut erklang, der die Kaskaden aus Eis entlang der Wände leise klirren ließ. Der Schatten, der sie angegriffen hatte, hatte an Substanz verloren. Er war kleiner geworden. Wie ein geprügelter Hund glitt er von ihr fort.
Der Albenstein auf ihrer Brust war so heiß geworden, dass er ihr Fleisch verbrannt hatte. Wie vielen solchen Angriffen könnte sie widerstehen? »Glaubt ihr, ich hätte euch gerufen, wenn ich mich nicht vor euch schützen könnte? Ich könnte euch verschlingen, wenn ich wollte! Seht ihn euch an! Seht, was eine einzige Berührung vermochte! Ich lösche euch aus, wenn ihr mir nicht gehorcht!« Das lag jenseits ihrer Möglichkeiten, aber das konnten sie ja nicht wissen. Sie konnte ihnen Schmerzen bereiten. Töten konnte sie einen Yingiz nicht.
»Ihr werdet meine Henker sein! Ich werde euch das Lebenslicht meiner Feinde schenken. Heute noch richtet ihr einen Verräter für mich. Und dann sucht ihr Emerelle, die Königin der Elfen. Ihr Licht ist stark und alt. Findet sie. Tötet sie, und ich erfülle euch euren sehnlichsten Wunsch. Ich kleide euch in Fleisch!«
Skanga empfand es als beunruhigend, bei den Schattengestalten nicht in Auren lesen zu können. Auch sie verspürte aufkeimende Angst. Mit diesen Kreaturen konnte man keinen Pakt eingehen. Sie würden sich an kein gegebenes Wort halten. Sie sprachen ja nicht einmal. Die Schamanin strich über das Amulett mit dem Albenstein. Seine Kraft zu spüren, half gegen die Angst. Sie war nicht wehrlos! Und auch ihr stand es frei, sich an ein gegebenes Wort nicht zu halten.
Die Schamanin deutete auf den Bannkreis mit den drei Elfen. »Sie sind erwählt, euch einen Körper zu geben, der es euch erlaubt, die Pfade der Alben zu nutzen. Das Goldene Netz wird euch kein Gefängnis mehr sein.«
Skanga blickte zu Alathaias Leibwachen. Sie hätte zu gern gewusst, was die Fürstin den drei Elfen gesagt hatte.
Was sie erwartete, war schlimmer als der Tod. Sie hatten Angst, aber sie machten keinerlei Versuch, aus dem Bannkreis auszubrechen oder um Gnade zu bitten.
»Nehmt euch die Körper! Ihr wisst, was ich von euch erwarte!« Mit diesen Worten setzte Skanga einen Fuß auf die weiße Kreidelinie und verwischte sie. Wie Rauch flössen die Schatten in den Schutzzirkel. In dunklen Schlieren tanzten sie um die Leiber der Elfen. Das Haar der drei überzog sich mit Raureif, so dass es aussah, als sei es binnen eines Herzschlags weiß geworden. Sie waren wie schwarze Schlangen.
Skanga wusste, was geschehen würde. Doch auch sie vermochte es eine ganze Weile nicht wahrzunehmen. Die Elfen atmeten den Schatten ein. Sie kämpften dagegen an.
Doch es war aussichtslos. Bei all ihrer Disziplin vermochten auch sie sich nicht willentlich zu ersticken, indem sie ihren Atem anhielten. Sie versuchten es. Es war ihr letzter Kampf. Und sie scheiterten.
Langsam verblassten die Schattengestalten, bis sie schließlich gänzlich verschwunden waren. Die drei Elfen waren zu Boden gesunken. Wie tot lagen sie in ihrem Bannkreis.
Es herrschte eine unheimliche Stille. Die Kälte war nicht gewichen. Birga und Alathaia wagten es nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Gebannt blickten sie auf den weißen Kreidekreis.
Plötzlich setzte sich die Elfe, der sie das Auge genommen hatte, mit einem Ruck auf. Es war eine unnatürliche Bewegung. Sie wirkte wie eine Holzpuppe, die man an Fäden zog. Dann begann sie zu schreien. Und das wirkte nicht länger hölzern. Sie fasste sich mit den Händen ans Gesicht und wand sich unter Schmerzen. Skanga konnte nicht sehen, was mit ihr geschah, aber sie hörte es. Obwohl auch die beiden anderen Elfen inzwischen schrien, vernahm sie ganz deutlich ein trockenes, leises Geräusch. Es erinnerte an das Knarren der Äste eines toten Baums, wenn sie sich in schwerem Wind wiegten.
Die Schamanin wusste, was sie jetzt durchlitten. Ihre Leiber verformten sich. Ihnen wuchs eine Schnauze mit Reißzähnen, während ihre Stirn abflachte. Am schlimmsten waren die Veränderungen von Armen und Beinen. Die Elfen verwandelten sich in hagere Hunde. Nur dass diese drahtigen Kreaturen groß wie kleine Pferde waren.
Sie zuckten und wanden sich auf groteske Weise. Krallen brachen aus ihren Fingern.
Aus der Haut spross kurzes Fell. Die drei wurden zu Shi-Handan. Zu Seelenfressern.
Skanga hatte gehört, dass man sie im Fjordland auch Wolfspferde nannte. Sie hatten Auren. Diese hatten sich von den Elfen erhalten. Elf und Yingiz teilten sich nun einen Leib. Und der willensstärkere von beiden würde herrschen. Der andere Teil war ein Gefangener. Ein Zuschauer bei Taten, auf die er keinen Einfluss hatte.
Die Schatten waren nicht mehr körperlos, doch waren sie auch nicht zu Gestalten aus Fleisch und Blut geworden. Blauweißes Licht umspielte sie. Man konnte durch die Shi-Handan hindurchsehen und die gefrorenen Wasserkaskaden entlang der Wände des Thronsaals erkennen.
Die Schamanin wandte sich an Alathaia. »Deine Krieger leben noch. Sie sind ebenso Teil der Shi-Handan wie die Yingiz. Weder Klaue noch Zahn kann sie nun verwunden.
Noch der Silberstahl der Elfen. Doch sollten sie sich vor dem minderwertigen Eisen hüten, das Kobolde und Menschen verwenden. In ihm ist etwas, das sie zu verletzen vermag.«
Die geisterhaften Hunde traten aus dem Kreidekreis. Der Schutzbann hatte keine Macht mehr über sie.
»Nun, Fürstin, gefällt dir, was du siehst?«
»Mir ist gleich, wie sie aussehen. Ob sie mir gefallen, sage ich dir, wenn wir von ihren Taten hören.«
Skanga schnaubte. Sie vermochte ihren Ärger nicht ganz zu verbergen. Alathaia war Zeugin eines der machtvollsten und finstersten Zauber geworden, die man wirken konnte. Und sie tat, als sei das nichts! Die Schamanin war sich sehr wohl bewusst, dass die Elfenfürstin Blutmagie wirkte und manche verachtenswerte Mordtat begangen hatte. Ihr Wirken hatte Spuren in ihrer Aura hinterlassen. Auch war Skanga klar, dass Alathaia hier war, um zu lernen. Aber sehen hieß nicht verstehen. Und selbst verstehen bedeutete nicht, dass diese Elfenschlampe in der Lage war, es ihr gleichzutun. So groß ihre Macht auch sein mochte, sie besaß keinen Albenstein.
Skanga fühlte sich mit einem Mal sehr müde. Die Zauber hatten an ihren Kräften gezehrt. Wie auch der Ärger darüber, dass Alathaia sich weigerte, ihr den nötigen Respekt entgegenzubringen.
»Gib ihr die Karfunkelsteine, Birga. Sie hat ihr Wort gehalten.«
Die Schamanin schlurfte hinüber zum Thron. Ihre Finger tasteten nach den Dingen, die sie für die Shi-Handan bereitgelegt hatte. Zuerst fand sie den Bezug des Stuhls, auf dem Madrog gesessen hatte. »Das hier ist mit dem Geruch eines Kobolds durchtränkt.
Er soll das erste Opfer sein. Er hält sich irgendwo in dieser Burg verborgen. Eine leichte Aufgabe. Wähle einen der Deinen dafür aus. Du kannst jetzt aus deinem Bannkreis treten. Sie werden dir nichts tun!«
Alathaia ging, ohne zu zögern, auf die riesigen Hunde zu. Mutig war sie, das konnte man ihr nicht absprechen. Sie flüsterte mit ihnen. Nannte sie bei ihren Namen. Skanga lächelte. Diese Namen waren nur noch die halbe Wahrheit. Ob ihr das nicht klar war?
Sie wählte denjenigen aus, der ganz ohne Verstümmelung geblieben war.
Die Schamanin warf dem Shi-Handan den Stofffetzen vor. Die Kreatur schnupperte kurz daran. Umkreiste den Kissenbezug und schnupperte erneut. »Du kannst ihn töten und alle, die bei ihm sind. Nur die Lutin musst du verschonen. Das sind die Kobolde, die wie Füchse aussehen. Alle anderen sind dein Fraß. Ein Kobold hat kein starkes Lebenslicht. Aber es sind meistens viele von ihnen beisammen. In dieser Burg gibt es geheime Tunnel und Gewölbe. Dort irgendwo wirst du ihn finden. Nun geh!« Wie ein braver Hund lief der Shi-Handan los, wenngleich er in Wahrheit eine Bestie war. Er lief durch die eisüberzogene Wand und war verschwunden.
»Und Emerelle?« Die Fürstin nahm das Kleid auf, das beim Thron lag. Skanga hörte das leise Rascheln des Stoffs. »Das ist aus ihrem Turm, nicht wahr?« Sie hielt es den beiden verbliebenen Wolfspferden hin. »Sucht Emerelle! Tötet sie! Und alle, die ihr helfen.«
»Sie war zuletzt in Feylanviek«, fügte Skanga hinzu. Der Verstand der Elfen würde die Bestien zu der Stadt im Windland führen. Erneut öffnete die Schamanin den Albenstern.
Die Geisterhunde traten durch das magische Portal. Über die Albenpfade würden sie binnen Augenblicken die Stadt im Norden erreichen. Skanga malte sich aus, was geschehen würde, wenn die beiden Shi-Handan auf dem Marktplatz inmitten der Stadt erscheinen würden.
»Wann werden wir von ihrem Tod erfahren?«
Skanga lächelte. »Das kann niemand sagen. Nur eines ist gewiss. Sie werden nicht ruhen, bevor sie Emerelle gefunden haben. Ganz gleich, ob es ein paar Stunden, einen Mond oder ein Jahr dauert. Sie werden sie finden!«
Eine Schmetterlingspuppe hing von einem Stein. Sie sah sie sehr deutlich. Die kleinen Höcker entlang der Nähte, an denen die Puppe bald aufplatzen würde. Das Muster aus dunklen Punkten. Sie hatte fast die Farbe des Steins, von dem sie hing.
Etwas bewegte sich. Emerelle konnte es hören. Da war ein Gleiten. Ein sehr leises, schmatzendes Geräusch. Die Puppe erzitterte. Der Schmetterling rang um seine Geburt in ein neues Leben. Wie vollkommen er sich von der gefräßigen Raupe unterscheiden würde, die er einmal gewesen war.
Ein feiner Spalt klaffte jetzt in der Puppe. Silbern leuchtender Schleim trat aus, und rann träge an der Chitinhülle hinab. Immer heftiger schaukelte das Gefängnis des Schmetterlings. Licht brach aus dem Inneren. Etwas stimmte nicht.
Emerelle trat ein paar Schritt zurück. Jetzt erst wurde sie sich der nächtlichen Umgebung bewusster. Das Hattah vernebelte ihr immer noch die Sinne! Das war kein Stein, von dem die Puppe hing. Es war eine Felswand! Die Puppe war riesig!
Mindestens zehn Schritt lang.
Emerelle zwang sich zur Ruhe. Das war die Droge! Es gab keine so riesigen Schmetterlinge in Albenmark!
Als wäre ein Schleier von ihren Augen gefallen, sah sie jetzt immer klarer. Der Chitinpanzer der Puppe war mit feinem Felsstaub verklebt. Weiter unten lag ein Durcheinander von Felsbrocken in allen Größen. Darüber wogte Staub. Eine Lawine?
Die Puppe war im Fels verborgen gewesen. Im gewachsenen Stein! Was sie für Höcker gehalten hatte, waren Steinklumpen, die noch immer am Gefängnis des Falters klebten.
Verklebte, kaum entfaltete Flügel schoben sich durch den Spalt im schützenden Panzer. Licht troff von ihnen herab. Es wurde kälter.
Ein geschuppter, durchscheinender Schwanz brach hervor. Emerelle wollte fortlaufen und war zugleich so fasziniert von dem Anblick, dass sie sich nicht von der Stelle zu bewegen vermochte. Dann erhob sich der Kopf. Ein mächtiger, gehörnter Drachenkopf, wie sie ihn seit Jahrhunderten nicht einmal mehr in ihren Albträumen gesehen hatte. Weiße Augen mit geschlitzten Pupillen blickten auf sie herab. »Lauf nur! Du kannst mir nicht entkommen.« Er sprach mit angenehmer, dunkler Stimme.
Der Drache streckte seine riesigen Schmetterlingsflügel. Sein ganzer Leib war durchscheinend, als sei er aus dünnem Rauch erschaffen. Zugleich strahlte er eine Kraft aus, die keinen Zweifel aufkommen ließ, dass er ein machtvoller Gegner war.
Emerelle tastete nach ihrem Albenstein. Sie war nicht schutzlos. Sie ... Der Stein, den sie stets an einer Lederschnur auf der Brust getragen hatte, war verschwunden.
»Ich sagte doch, du kannst mir nicht entkommen.« Der Drache schlug vorsichtig mit den aufgefächerten Flügeln. Letzte Schlieren aus silbrigem Licht troffen von ihnen herab. Langsam, so wie man ein zu volles Glas an den Mund führt, löste er sich von der Puppe.
Bei jedem Flügelschlag peitschte ihr der beißende Atem des Winters ins Gesicht. Ihr Schutzzauber, der sie vor Hitze und Kälte bewahrte, war gebrochen!
Sie wich zurück und wollte sich mit einem Wort der Macht gegen die Kälte wappnen.
Ihr Fuß trat ins Leere! Erschrocken blickte sie hinter sich. Sie stand an einem Abgrund.
Es gab kein Entkommen.
Im gleichen Augenblick, in dem ihr das klarwurde, erhob sich der Drache über ihr in die Luft. Sternenlicht brach sich funkelnd an seinen Krallen. Sie waren nicht aus Rauch!
Mit einem Schrei fuhr Emerelle auf und versuchte auszuweichen. Sie stürzte ins Leere.
Ihre Schulter schrammte über Felsen. Die Hände schnellten vor und suchten Halt. Ihre Fingernägel splitterten auf hartem Fels.
Ihr Knie schlug auf Stein. Grelle Lichtpunkte tanzten ihr vor Augen. Etwas schrammte über ihre linke Wange. Im Reflex packte sie in einen klaffenden Felsspalt. Ihre Finger schlossen sich um etwas Festes, vielleicht eine abgestorbene Wurzel. Ihr ganzer Körper schlug gegen die Felswand. Doch der Sturz war beendet. Jeder Muskel schmerzte. Sie war bedeckt mit Schürfwunden und Prellungen.
Eine Weile hing sie dort, schwer atmend und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Nur allmählich wurde ihr bewusst, dass sie eine der hohen Felsnadeln in der Wüste erklommen haben musste. Wie sie dort hinaufgekommen war, daran erinnerte sie sich nicht mehr. Sie wusste noch, wie Imaga sie mit dem magischen Muster bemalt hatte. Danach verschwamm alles zu einem Traum.
Ein Schauder überlief sie. Der Drache ... Seine Stimme war ihr vertraut vorgekommen.
Sie dachte an ihre unendlich entfernte Jugend. An die verzweifelten Kämpfe gegen die Herren Albenmarks. Die Erinnerung war zum Greifen nah! Doch sie verweigerte sich.
Dobon hatte nicht gelogen! Der Alptraum war so wirklichkeitsgetreu gewesen, dass er sie fast getötet hätte. Sie blickte die Felsnadel hinauf. Ihr Sturz war mehr als zwanzig Schritt in die Tiefe gegangen. Den größten Teil der Strecke musste sie an der Steilwand entlang gerutscht sein. Von unten ließ sich nicht erkennen, wie viel Platz die Spitze der Felsnadel bot. Vermutlich kaum genug, um sich zu setzen, ohne die Beine über den Abgrund baumeln zu lassen. Wie war sie nur, vom Hattah umnebelt, dort hinaufgelangt?
Vorsichtig mit den Füßen tastend, suchte Emerelle einen sicheren Stand. Der Fels war noch heiß von der Mittagssonne. Sie musste ein Stück höher steigen, um einen Vorsprung zu erreichen, auf dem sie sich niederlassen konnte. Ihre Magie umgab sie mit angenehmer Kühle. Aber sie litt Durst und hatte nichts zu trinken. Ein Wort der Macht sammelte die Feuchtigkeit in der Luft und ließ sie auf dem glatten Felsen kondensieren. Es war lächerlich wenig Flüssigkeit. Schmerzlich erinnerte sie sich, wie grün und fruchtbar dieses Land einmal gewesen war. Sie dachte an die weiße Pyramide. Ob es sie noch gab? Und an den Jadegarten mit all seinen Wundern?
Sie wagte nicht, ihren Geist schweifen zu lassen, solange sie sich nicht sicher war, ob die Wirkung des Hattah noch andauerte. Sie legte die Rechte über ihre Leber.
Die Wärme ihrer Handfläche drang in das Fleisch. Fast sofort wurde ihr wieder schwindelig. Es schien, als leiste die Droge Widerstand dagegen, aus ihrem Blut gespült zu werden.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Schlafen würde sie nicht mehr. Was hatte dieser Drache zu bedeuten gehabt? War er nur ein Zerrbild ihrer ältesten Ängste? War die Macht der Yingiz hier wirklich so groß, dass sie Träume beeinflussen konnten?
Die Grauhäute mussten ihre Zauber weiterhin wirken! Aber sie würden nicht am Rand der Wüste bleiben. Sie würde nicht dulden, dass sie noch länger alle anderen Stämme tyrannisierten. Sie würde sie zum Jadegarten führen! Die Gärten würden die Kobolde nähren. Wenn es sie denn noch gab.
Elija hörte den anderen kaum zu. Er musste die ganze Zeit an das Buch denken, dass er in den Händen der Elfenfürstin gesehen hatte. Er kannte es gut. Er hatte es selbst ausgesucht. Es war ihres gewesen! Da konnte es keinen Zweifel geben. Aber wie war Gandas Buch in die Hände der Elfenfürstin gelangt? Und waren das Blutflecken auf dem Einband gewesen? Seine Schnauzbarthaare sträubten sich bei dem Gedanken.
Er hatte jedem seiner Kommandanten ein Büchlein gegeben, als er sich sicher gewesen war, dass die Erhebung der Kobolde erfolgreich verlaufen würde. Dass sie es schaffen würden, das Joch der Elfentyrannei abzuschütteln. Er hatte an die Zukunft gedacht, als er ihnen die Bücher mit den leeren Seiten geschenkt hatte. Er erinnerte sich noch daran, was er gesagt hatte!
Wir werden Geschichte schreiben, Brüder und Schwestern! Wir haben bereits damit begonnen.
Und damit künftige Generationen an den Ereignissen, die uns bevorstehen, teilhaben können, möchte ich euch bitten, jedes Mal, wenn etwas in euren Augen Wichtiges geschieht, einen Eintrag in die Bücher zu machen, die ich euch überreicht habe. Eine kurze Notiz mit dem Datum reicht. Bald wird so vieles gleichzeitig geschehen, dass es im Nachhinein schwierig werden mag, alles in der richtigen Reihenfolge zu erzählen. Erwähnt nicht die Namen und Taten anderer Kommandanten. Schreibt nur über euch. So wird kaum Schaden entstehen, wenn eines der Bücher in die Hände der Feinde gelangt.
Elija musste schmunzeln, als er daran dachte, dass sein Büchergeschenk fast durchgängig auf Ablehnung gestoßen war. Er kannte seine Kommandanten! So gut sie als Anführer auch sein mochten, fehlte den meisten von seinen Rotmützen doch der Verstand, um die historischen Dimensionen ihres Aufstands einschätzen zu können.
Sie waren ganz im täglichen Geschäft des verdeckten Kampfes gefangen gewesen. Er aber hatte weiter denken müssen! Der Einzige, der mit großer Begeisterung die Seiten seines Revolutionstagebuchs füllte, war sein kleiner Bruder Nikodemus.
»Elija?«
Er blickte auf. Alle sahen ihn an. Worüber hatten sie gesprochen? Er hatte nicht einmal mehr mit halbem Ohr zugehört. Elija blinzelte müde. Er hatte schlecht geschlafen in den letzten Nächten. Und es hatte zu viele Treffen wie dieses gegeben. Die Burg quoll über vor Kobolden aus allen Provinzen. In ihrer Heimat mochten sie bedeutend sein, aber wenn man die Revolte als Ganzes sah, waren sie bestenfalls die zweite Garde. All seine erfahrenen Kommandanten waren in bedeutsamen Missionen unter wegs, und er saß hier gefangen mit den Trollen und mit den Bürokraten der Revolution.
»Kommandant? Wir waren übereingekommen, dass wir den Trollen einen Gegenentwurf zu ihrem Gesetzbuch überreichen wollen. Was haltet ihr davon?«
Elija schüttelte den Kopf. »Den werden sie benutzen, um sich damit den Arsch abzuwischen. Skanga will ein einfaches Recht. Ein Recht, das sich an der Vorstellungswelt der Trolle orientiert. Und ein Recht, in dem Trolle klar bevorzugt werden. Sie ist die eigentliche Herrscherin, und es wird nichts geschehen, was sie nicht will.«
Betretenes Schweigen machte sich breit. Es war drückend heiß in dem Gewölbe, und es roch nach dem Kalk der Wände. Ihr Versammlungsraum lag etwa dreißig Schritt unter der großen Küche von Burg Elfenlicht und war erst vor wenigen Tagen fertig geworden. Die Wände waren dekoriert mit erbeuteten Waffen. Später einmal sollte es Wandgemälde mit bedeutenden Ereignissen der Revolution geben. Bilder mit klaren, harten Linien, die einfache Kobolde zeigten. Im Kampf gegen die Tyrannen, aber auch in ihren unerschütterlichen Bemühungen, eine bessere Welt zu erschaffen. Kobolde in Schmieden und auf Feldern. Kobolde, die sich freiwillig zu den Soldaten meldeten.
Der Schwarze arbeitete gerade an großen Schautafeln für die Moritatensänger auf den Jahrmärkten. Sie würden von der Geschichte des Aufstands erzählen. Von den großen Heldentaten ganz einfacher Kobolde. Von Männern und Frauen, die in einer anderen Zeit ihr Leben lang missachtete Diener im Schatten der Elfen gewesen waren.
Sie saßen an einem langen Tisch mit einer Marmorplatte. Diese Platte hier hinab in die Höhlengewölbe zu bringen, hatte Tage gedauert. An drei Stellen hatten sie sogar Treppen und gemauerte Tunnel erweitern müssen. Aber Elija hatte sie hier haben wollen.
Die Zeiten, an denen sie auf Steinen um Lagerfeuer hockten, waren vorbei. Der Feld zug war entschieden. Sein Tisch bot zwanzig Kobolden Platz. Und meist reichte das noch nicht. Auch jetzt stand mehr als die Hälfte. Sie waren von überall hergekommen.
Spinnenmänner aus den Mondbergen, Fernhändler aus Feylanviek und Uttika.
Abgesandte einer Lutinsippe aus Manchukett. Sie alle wären in besonderem Maße von den neuen Gesetzen der Trolle betroffen. Elija wusste, dass die Trolle planten, in jede größere Stadt Albenmarks einen Rudelführer mit einer Trollwache zu setzen. Sie sahen nicht einmal, was vor ihren Füßen geschah, und machten Pläne für eine ganze Welt!
Sie wollten umfassender herrschen als die Elfen. Diese hatten niemals überall sein wollen. Die Elfen dachten ganz einfach. Sie nahmen das Beste für sich und überließen den Rest großmütig den anderen Völkern. Elija war überzeugt, dass Emerelle noch niemals in Manchukett gewesen war.
Während die Trolle oben regierten, bauten die Kobolde. Seit dem Tag, an dem sie Burg Elfenlicht besetzt hatten, wurden die bestehenden Tunnel und Gewölbe erweitert. Die Elfen hatten nur daran gedacht, die Kobolde aus ihrem Blickfeld zu halten und ihnen Quartiere zu geben, deren Geruch niemals in ihre feinen Nasen steigen würde. Doch nun entstand eine zweite Burg unter der Burg. Gewissermaßen war sie ein bauliches Spiegelbild der Ereignisse an der Oberfläche. Die Trolle herrschten. Aber es waren meistens Kobolde, die dafür sorgten, dass ihre Pläne Gestalt annahmen. Kein einziger Troll würde einen Schreibkiel in die Hand nehmen, um Skangas Gesetze zu kopieren.
Das war Koboldarbeit! Und weil es so war, würden sich die Machtverhältnisse ändern.
Langsam zwar, aber unausweichlich. Elija entschied, dass es an der Zeit war, auszusprechen, was die Zukunft bringen würde. Bisher hatte er nur mit seinen Kommandanten über diese geheimen Pläne geredet, aber langsam wurde es Zeit, dass auch die Revolutionsbürokraten erfuhren, wohin der Weg führen würde.
»Meine Brüder und Schwestern! Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der Gesetzeskodex der Trolle ganz in unserem Sinne ist. Wie ihr alle wisst, soll er überall in Albenmark Gültigkeit haben. Und er wird sämtliche bestehenden Gesetze außer Kraft setzen.«
Die versammelten Kobolde murrten. Anderan, der Herr der Wasser aus Vahan Calyd, stand auf. Seine grünbraune Haut unterschied ihn von den anderen. Er trug ein Stirnband, um sein strähniges Haar zu bändigen. Das Stirnband war rot. Vielleicht wollte er damit ausdrücken, dass er sich zu den Rotmützen zählte. Als Zugeständnis an das kalte Wetter im Norden hatte der Kobold aus der Region des warmen Waldmeers eine gefütterte Weste angelegt. Sonst war er, abgesehen von seinem Lendenschurz, nackt.
»Bruder Elija, du willst uns doch nicht allen Ernstes vorschlagen, dass wir solchem Unsinn wie der öffentlichen Verspeisung von Wucherern zustimmen sollen. Zumal, wie es scheint, der Begriff Wucher so weit gefasst ist, dass man ihn auf jeden Straßenhändler anwenden kann. Dir ist doch wohl klar, was das für den Handel bedeuten würde. Wenn man nicht mehr auf Gewinne hoffen darf, wer sollte dann das Risiko eingehen, Verluste hinnehmen zu müssen? Der See-und Fernhandel würde völlig zusammenbrechen.«
Zustimmendes Gemurmel begleitete die Worte des Herrn der Wasser. Elija entging nicht, dass die Gesandten aus Manchukett am lautesten waren. Sollte sich da ein Block innerhalb der Rotmützen bilden? Er würde das aufmerksam im Auge behalten!
»Brüder und Schwestern, ich stimme euch von ganzem Herzen zu. Ihr wisst nicht, mit welcher Vehemenz ich unsere Anliegen vor Skanga und König Gilmarak vertreten habe. Aber Worte allein helfen nicht! Ich könnte genauso gut auf einen Granitblock einreden! Trolle verschließen sich jeglicher Vernunft. Hat einer von euch je von einem Troll gehört, der ein Händler war? Sie kennen die Gesetze nicht, die den Handel bestimmen. Und sie ahnen nicht, welche Auswirkungen es haben wird, wenn der Handel zum Erliegen kommt. Nehmt als Beispiel nur die große Snaiwamark-Karawane. Vom Standpunkt eines Händlers betrachtet, ist diese Unternehmung völlig verrückt. Sie verschicken Schätze aus dem Süden zu ihren Höhlenburgen in der Snaiwamark. Und damit sie die Lasten auf Karren statt auf Maultieren transportieren können, wollen sie eine gut befestigte Straße vom Herzland bis zur Schneegrenze in der Snaiwamark bauen. Ich habe versucht, ihnen diesen Unsinn auszureden. Und nun ratet einmal, was Gilmaraks Grund ist, sie zu errichten.
Der Grund, warum Tausende Kobolde eine Straße durch das weite Windland bauen werden.« Er sah herausfordernd in die Runde. Niemand antwortete.
»Die Straße soll gebaut werden, um sich die Arbeit zu ersparen, an der Eisgrenze die Lasten von Maultieren auf Schlitten oder Eissegler umzuladen. Die Wagen, die Gilmarak im Sinn hat, sollen herunterklappbare Kufen haben und einen Mast für ein Segel. An der Eisgrenze wird man die Maultiere ausschirren. Dann werden Trolle und Kobolde die Wagen ziehen, oder sie werden segeln, wenn der Wind richtig steht.«
»Wir haben einen Verrückten auf dem Thron«, empörte sich der Leiter der Gesandtschaft aus Manchukett.
»Nein«, entgegnete Elija lächelnd. »Schlimmer! Einen Troll! Die Snaiwamark-Karawane ist nur eine Narretei. Viel schlimmer ist Gilmaraks Plan, was gemünztes Geld angeht. Er will es abschaffen, weil Trollen die Berührung von verhüttetem Metall unangenehm ist. Er denkt, man könnte gänzlich ohne Geld auskommen, indem man Tauschhandel betreibt.«
Auf einen Augenblick fassungslosen Schweigens folgte ein allgemeiner Tumult.
Gilmarak war vermutlich nicht klar, wie viele über Jahrhunderte angesammelte Vermögen er mit diesem Beschluss vernichten würde. Elija ließ der Versammlung ausreichend Zeit, ihrem Unmut Luft zu machen. Dann hob er beide Arme, um dem Reden ein Ende zu machen.
»Brüder und Schwestern! Wir müssen klar sehen! Die Entmachtung der Elfen war nur ein erster, bedeutender Schritt auf dem Weg in eine bessere Welt. Die Revolution ist noch nicht beendet! Bald wird die Zeit kommen, in der sie ihre Soldaten frisst! Wir alle sehen nun ganz deutlich, dass Trolle großartige Krieger sein mögen, aber zum Herrschen sind sie nicht geboren. Wir sind weit entfernt davon, einen Kampf gegen unsere Verbündeten führen zu können. Wie also werden wir sie los?« Er sah jeden einzelnen der Versammelten an. Die meisten wichen seinem Blick aus. Es war das alte Problem unter Kobolden. Mit dem Mundwerk waren sie schnell dabei. Aber kämpfen wollte im Grunde keiner von ihnen.
»Wir müssen sie gewähren lassen«, fuhr Elija fort.
»Wir sollen tatenlos zusehen?« Wieder war es Anderan, der den Gedanken der meisten Gesandten eine Stimme gab.
»Davon, dass wir tatenlos bleiben, war nicht die Rede. Aber ja, wir müssen zusehen und uns auf eine Zeit nach den Trollen vorbereiten.«
»Warum sollten sie kampflos den Thron aufgeben wollen?«, fragte Anderan.
»Weil sie eigentlich am liebsten in ihren Höhlen in der Snaiwamark sitzen und im ehrlichen Kampf Troll gegen Mammut ihre Erfüllung finden, nicht aber in der Herrschaft über eine ganze Welt. Die Unordnung, die sie anrichten werden, muss ihnen über den Kopf wachsen!
Seht das Zeltlager der Bittsteller vor der Burg. Es wird täglich größer. Und was tut Gilmarak? Er streift durch den Alten Wald, um zu jagen, statt sich um seine Regierungsgeschäfte zu kümmern.«
»Und wie bekommen wir sie in ihre Höhlen zurück?«, insistierte der Herr der Wasser.
»Sie müssen das Herrschen als eine unerträgliche Last empfinden. Lassen wir sie ihren Gesetzeskodex schreiben und das Münzgeld abschaffen. Dann wird der Handel zusammenbrechen. Überall wird es zu begrenzten Aufständen kommen. Und wir werden, während wir offiziell an der Seite unserer Verbündeten stehen, diese Aufstände unterstützen. Wir sollten Waffen an die Kentauren liefern, damit ihnen die Pfeile mit eisernen Spitzen nicht ausgehen. Wir werden Misswirtschaft betreiben.«
Ärgerliches Gemurmel wurde laut. Elija hob erneut die Arme, um es zu ersticken.
»Seht ihr einen anderen Weg? Die Herrschaft der Trolle ist ein unausweichliches Übel auf dem Weg in die Freiheit! Wir allein hätten die Elfen niemals vertrieben. Nun vergällen wir den Trollen den Thron, bis sie freiwillig aufgeben. Wir werden Opfer bringen müssen, gewiss, doch denkt an unser Ziel. Wir haben eine Vision. Ich kann sie deutlich vor mir sehen, die Herrschaft der Kobolde. Ich weiß, was ich ändern will. Ich weiß, wie wir regieren müssen, damit diese Welt gerechter wird! Die Trolle hatten nur eine Vision. Sie wollten Emerelle stürzen. Auf das, was danach folgen sollte, waren sie nicht vorbereitet. Sie haben keinen Plan für die Zeit ihrer Herrschaft vorbereitet. Die Macht ist ihnen als Dreingabe zum Sieg über Emerelle in den Schoß gefallen. Deshalb werden sie sie nicht halten können. Und während wir ihnen ins Angesicht schmeicheln, werden wir hinter ihrem Rücken alles tun, um ihnen die Herrschaft zu erschweren!«
»Und was ist mit den Elfen?«, wollte Anderan wissen. »Wenn die Trolle gehen, dann werden sie nach der Krone Albenmarks greifen.«
»Natürlich werden sie das«, stimmte Elija zu. Auf diesen Einwand hatte er nur gewartet. »Aber sie werden alle zugleich danach greifen, und deshalb werden sie die Krone nicht bekommen. Wir müssen nur dafür sorgen, dass Emerelle tot ist. Sie darf nicht zurückkehren. Sie könnte die Elfen einen. Wenn sie nicht mehr lebt, dann wird auch die Herrschaft der Elfen beendet sein. Wir können ruhigen Gewissens eine Königswahl in Vahan Calyd abhalten. Bringen wir die Trolle so weit, dass sie die Krone nicht mehr haben wollen. Säen wir Zwietracht zwischen den Elfen, und ihr werdet sehen, die Krone Albenmarks wird uns gehören!«
Elija konnte in ihren Gesichtern lesen, dass er sie auf seine Seite gezogen hatte. Selbst der Herr der Wasser schwieg nun endlich. Sein Plan war vollkommen, dachte Elija selbstzufrieden. Sie konnten gar nicht verlieren. Sie waren die Herren von Morgen. Die…
Ein geisterhafter Hundekopf streckte sich aus der gewölbten Decke. Er bewegte den Kopf hin und her, als wolle er Witterung aufnehmen.
Jetzt sahen auch die anderen ihn. Einige sprangen auf. Jene, die nahe der Tür zum Tunnel standen, versuchten zu fliehen. Sie erweckten die Aufmerksamkeit der Bestie.
Sie glitt aus der Decke hinab. Sie war groß wie ein Pferd!
Plötzliche Kälte ließ die stickige Luft knistern. Die Bestie schritt über die marmorne Tischplatte. Sie schnappte nach der Brust des Gesandten aus Manchukett. Ohne Widerstand und ohne Blut zu vergießen, drang die Schnauze ins Herz des Gesandten.
Der Geisterhund zerrte etwas aus der Brust seines Opfers. Etwas klebrig Goldenes, das an hell leuchtenden Honig erinnerte.
Dem Kobold schmolz das Fleisch von den fülligen Wangen. Er stieß einen Schrei aus, der die Gläser klirren ließ. Verzweifelt griff er sich an die Brust. Seine Finger waren nur noch Krallen aus Haut und Knochen. Dann sank er vornüber.
Der Geisterhund schnappte um sich wie ein Hirtenhund, den man in eine Grube voller Ratten stößt. Seine Schnauze fuhr durch Kehle und Kopf eines Kobolds, der erschrocken zurücksprang. Binnen eines Herzschlags alterte er um Jahrzehnte, wenngleich er überlebte. Seine Augen waren zu weißen, blinden Kugeln geworden. Freunde zerrten ihn zurück.
Elija tastete nach dem Dolch an seiner Seite. Mit gezückter Klinge verschwand er unter dem Tisch. Ihm war klar, dass die Tischplatte für einen Geist, der durch Wände ging, kein Hindernis sein konnte. Er hoffte allein darauf, dass der Hund ihn hier nicht sehen würde.
Die Gesandten schrien nach den Wachen.
Stühle purzelten durcheinander. Immer mehr versuchten zum Ausgang zu gelangen.
Elija sah einige stürzen und unter trampelnden Füßen verschwinden. Kälte floss wie ein Strom eisigen Wassers unter den Tisch. Der Hundekopf erschien. Nur zwei Schritt vor ihm. Kalte, blaue Augen fixierten ihn. Elija kroch zurück, bis er gegen eines der Tischbeine stieß. Die Bestie war jetzt unmittelbar vor ihm. Sie bewegte den Kopf, als schnuppere sie. Doch kein Laut war zu hören. Raureif kroch in Elijas Pelz. Er hielt seinen Dolch hoch. Einen rasiermesserscharfen Elfendolch, der jedes Kettenhemd durchdringen konnte! Geschmiedet aus bestem Silberstahl. Eingelegt mit Rubinen. Es war die Waffe eines Fürsten!
Die Bestie kam noch ein wenig näher. Den Dolch beachtete sie gar nicht.
Elija war klar, wie nah er seinem Ende war. Sein Leben lang war er kein Duckmäuser gewesen! Er würde jetzt nicht wie einer sterben. »Verrecke!« Er schnellte vor und stieß dem Geisterhund den Dolch in die Schnauze.
Ohne auf Widerstand zu stoßen, glitt die Waffe bis zu den Rippen. Kälte, die jedes Gefühl auslöschte, durchdrang seinen Arm. Er stürzte vornüber und spürte den Atem der Bestie in seinem Nacken.
»Hierher, Wölkchen!« Anderan war unter den Tisch gekrochen. Er kniete zwischen zwei Stühlen und warf seinen Dolch spielerisch von einer Hand in die andere wie ein Hinterhofmesserstecher.
»Komm, Hundchen. Komm.«
Die Bestie fuhr lautlos herum. Statt auf ihren Angriff zu warten, hechtete Anderan ihr entgegen. Er hielt einen Krummdolch vorgestreckt. Eine lächerlich kleine Waffe im Vergleich zu der riesigen Bestie.
Elija wollte die Gelegenheit nutzen und den Geisterhund von hinten angreifen. Sein rechter Arm gehorchte ihm nicht mehr. Die Hand und der Unterarm waren völlig taub.
Er konnte den Dolch nicht einmal mehr fallen lassen. Dafür tobte in seinem Oberarm sengender Schmerz. Er fühlte sich an, als würde er auf einem eisernen Bratspieß über einem Feuer gedreht.
Elija griff mit der Linken vorsichtig nach der Klinge des Dolches, um die Waffe aus der gefühllosen Hand zu drehen. Als er das Metall berührte, klebte die Haut seiner Finger daran fest. Er zuckte zurück. Die Finger hafteten weiterhin an der Klinge. In Panik zerrte er weiter. Als er sie endlich losgerissen bekam, hafteten blutige Hautstreifen auf dem Dolch.
Der Lutin stöhnte vor Schmerz. Ihm war übel und schwindelig. Er versuchte weiter zurückzukriechen und stieß erneut gegen das Tischbein hinter ihm.
Der Geisterhund wich Anderan aus und schnappte nach ihm. Elija sah, wie die Bestie etwas Goldenes aus dem Arm des Holden zerrte. Der linke Arm des Kobolds verdorrte. Seine linke Gesichtshälfte verlor all ihr Fleisch. Schreiend stieß er mit dem Dolch zu. Die Klinge glitt durch den Körper des Hundes und zog eine Bahn silberner Funken.
Erschrocken fuhr die Bestie zurück. Und dann verschwand sie durch die Tischplatte.
Keinen einzigen Laut hatte sie während des Angriffs von sich gegeben. Es war stil in der großen Gewölbekammer. Aus dem Tunnel hörte man das Lärmen der Flüchtenden.
»Lebst du noch?« Anderan rang hörbar jede Silbe seinem Schmerz ab.
»Ja.« Elija kroch zu dem Holden hinüber. Das Gesicht des Kobolds war grausam verstümmelt. Eine Hälfte war nur noch eine Maske aus Haut und Knochen. Die verdorrten Lippen waren von den Zähnen zurückgezogen, so dass er zu lächeln schien.
»Gut«, stöhnte Anderan. »Sie dürfen dich nicht kriegen. Du bist die Zukunft.«
»Nein«, entgegnete der Lutin. »Wir alle sind es. Alle Kobolde Albenmarks! Deshalb können sie nicht gewinnen.«
»1. Tag. Ich bin umgeben von Verrückten. Da ist die schlammbedeckte Königin, die aus der Wüste zurückkehrte, nur um gemeinsam mit den Grauhäuten und mit mir erneut in die Einöde zu gehen. Die Grauhäute waren entsetzt, aber sie wagen es nicht, gegen uns zu kämpfen.
Obwohl es mehr als dreihundert sind. Sie sind al esamt verrückt. Sie sind Kobolde! Ein wenig groß gewachsen und sehr schmutzig, aber unbestreitbar Kobolde! Sie selbst aber halten sich alle für Trol e, egal, wen man fragt! Und Madra, der einzige echte Trol weit und breit, geht mit Emerelle, statt sie umzubringen oder wenigstens mit mir zu Skanga zurückzukehren, um zu berichten, wo wir Emerelle gefunden haben. Ollowain ist wohl der Verrückteste vor al en. Vor nicht einmal einem Jahr erinnerte er sich an gar nichts, und er zog als Klaves hinter den dicken Ärschen der Hornschildechsen meiner Sippe her, um deren Scheiße aufzusammeln. Jetzt erinnert er sich auch daran nicht mehr. Er hält sich für jemand ganz anderen! Ich bin der Einzige, der klar denken kann unter all den Irren. Ich bin verloren!
2. Tag. Sie sind zu langsam! Gestern haben wir keine fünfzehn Meilen geschafft. Emerelle glaubt, dass es inmitten der Wüste einige Oasen gibt. Ich weiß es, schließlich war ich schon dort. Und weil ich diese Wüste kenne, weiß ich auch, dass wir viel zu wenig Wasser dabeihaben. Wir alle werden verrecken! Wenn meine Sippe hier wandert, dann tragen die Hornschildechsen für jeden Lutin zehn Ziegenschläuche vol Wasser. Hier gibt es nicht einmal einen Ziegenschlauch mit Wasser für jeden Kopf! (...)
4. Tag. Das Wasser ist fast aufgebraucht. Heute haben wir nicht einmal acht Meilen geschafft.
Den Alten und den Kindern fehlt die Kraft für diese Wanderung. Meine Tinte ist auch ganz dickflüssig geworden. Vielleicht werde ich sie morgen trinken. Ich glaube, ich werde nicht mehr viel in dieses Buch schreiben.
5. Tag. Den ganzen Morgen ist sie hin- und hergelaufen. Dann schließlich hat sie sich einen Wanderstab geholt und ihn in den Boden gestoßen. Wenige Augenblicke später brach Wasser aus dem Sand. Ich hatte vergessen, wer sie war. Alle sind erfüllt von neuer Zuversicht. Am Abend hat sie sich nackt unter die Grauhäute gesetzt und mit feuchtem Lehm einreiben lassen.
Für eine ehemalige Königin benimmt sie sich ziemlich schamlos. Heute haben al e gerastet. Ich sehne mich nach unseren Hornschildechsen. Mit ihnen war das Reisen in der Wüste viel einfacher. (...)
6. Tag. Madra ist seltsam! Der Troll redet mit kaum einem der Grauhäute. Aber er hat mit etlichen der Kinder Freundschaft geschlossen. Wenn es dämmert, wir ein Lager aufschlagen und die Erwachsenen sich auf ihre seltsamen Rituale vorbereiten, kommen die Kinder zu ihm.
Er erlaubt ihnen, auf ihm herumzuklettern, als sei er ein lebender Berg.
7. Tag. Ollowain betrügt! Da bin ich mir ganz sicher. Er verführt immer mehr von den Grauhäuten dazu, mit ihm zu würfeln, sobald wir unser abendliches Lager aufschlagen. Er hat einfach zu viel Glück. Und diese Trottel merken nicht, was er mit ihnen treibt. Nimmt sie einen nach dem anderen aus. Er hat schon ein kleines Vermögen an Türkisen und Opalen gewonnen.
9. Tag. Madra sieht aus, als habe man ihn in kochendes Wasser geworfen. Seine ganze Haut ist verbrannt. An manchen Stel en blutet er sogar. Ich hätte nicht erwartet, dass der Trol als Erster sterben würde. Die Grauhäute halten sich gut, solange sie genug Wasser bekommen.
Auch Olowains Gesicht ist ganz verbrannt. (...) 11. Tag. Madra ist zusammengebrochen. Ich habe versucht, ihm das Amulett abzunehmen, aber Emerelle weicht nicht von seiner Seite. Solange er noch laufen konnte, hat er sie nicht an sich herangelassen. Es scheint, als würde sie ihn retten. Dass ausgerechnet sie einen Trol heilt! Sie ist anders, als ich erwartet hatte. Ohne Zweifel ist sie grausam. Sie zwingt einen ganzen Koboldstamm gegen dessen Wil en in eine neue Heimat. Und dann rettet sie den Trol . Ich verstehe sie nicht! (...)
14. Tag. Seit heute weiß ich, dass wir tot sind! Am Morgen sind wir am Skelett einer Hornschildechse vorbeigekommen. Man konnte noch Malereien an der dem Wind abgewandten Seite des Hornschildes sehen. Sie gehörte nicht zu meiner Sippe. Aber ich weiß, dass man nicht weiter gehen darf, als die Hornschildechsen in die Wüste wandern können. Ganz deutlich erinnere ich mich, dass Meister Gromjan, mein Lehrer, davon erzählt hat. Die Alben haben die Erschaffung der Wüste wohl durchdacht. Es gibt eine bestimmte Menge Wasser, die man tragen kann, behauptete Gromjan. Und die sei bei allen letzten Endes fast gleich. Dass ein Troll mehr tragen kann, bedeutet nichts, denn er trinkt auch mehr. Wer vernünftig ist, der geht nur den halben Weg bis zu dieser Grenze, denn sonst kommt er ja nicht mehr lebend zurück. Wer stur bis zum Ende marschiert, der verdurstet. Wer aber diese Grenze überschreitet, weil er anderen Wasser stiehlt oder wie Emerel e Wasser aus dem Boden sprudeln lässt, wo es keines geben sol te, der kommt an einen Ort, wo die Erde Gift atmet. Dort endet al es Leben. Ich fürchte, Emerelle wil uns dorthin führen. Ich begreife nicht, warum sie alle am Leben erhält, um uns diesem Schicksal auszuliefern. Obwohl ich weiß, wohin die Reise führen wird, kann ich nicht mehr zurück. Mir fehlt das Wasser! Auch die Grauhäute scheinen zu wissen, wohin es geht.
Seit gestern schon sind sie unruhig. Immer wieder versuchen ihre Ältesten mit Emerelle zu reden, doch sie hat ihre Ohren gegen alle Klagen verschlossen. (...)«
Elodia sah sich eingeschüchtert um. Noch nie war sie in solchen Kammern gewesen. Es war nicht so, wie sie sich die Burg des Königs vorgestellt hatte. Aber was wusste sie auch schon. Ihren Bruder Jean hatten sie weggeführt. Sie waren grob gewesen, aber sie hatten ihn nicht geschlagen. Und sie auch nicht. Keiner hatte sie auf der Reise zum Kö-
nigshof angerührt. Auch das hatte sie so nicht erwartet. Sie wusste ja, als was sie ihnen galt.
»Komm, Mädchen.« Ein Mann mit spitzem Bart und tief liegenden, dunklen Augen führte sie. Er trug ein Gewand, das den Kutten der Tjuredpriester ähnlich war.
Allerdings war es ganz schwarz und augenscheinlich auch aus viel besserem Stoff. Eine Goldkette mit einem wuchtigen Medaillon, das einen Löwenkopf zeigte, wippte bei jedem seiner Schritte auf seiner Brust. Der Mann war sehr groß und sehr dünn.
»Hast du Angst?«, fragte er unvermittelt.
Sie nickte scheu. Sie waren im Inneren einer großen, von Säulen getragenen Halle, an deren Wänden entlang weite Treppen liefen. Sie hatte den Eindruck, dass man diese Halle nur für die Treppe gebaut hatte! Und sie war größer als jedes Haus in Nantour.
Niemand außer ihnen war in der Treppenhalle zu sehen.
Der Mann mit der Löwenkette hatte ihr Nicken nicht bemerkt, aber er deutete ihr Schweigen wohl als Zustimmung. »Du redest am besten nur, wenn er dich etwas fragt.
Mach dir nicht zu viele Sorgen. Du bist ein hübsches Mädchen. Es macht Freude, dich anzusehen. Mädchen wie dich gibt es selbst hier nicht viele. Eines ist jedoch wichtig.
Widersprich ihm nie! Das kann er nicht leiden. Auch wenn er nicht wie die Könige in den Märchen aussieht, er ist der unumschränkte Herrscher Fargons. Sein Wort ist Gesetz. Seien es nun freundliche Worte oder grob gesprochene Befehle.«
Sie nickte. Dann begriff sie, dass er das ja nicht sehen konnte. »Ich habe verstanden.«
Ihre Stimme war ganz rau. Und die Kehle war ihr eng. Sie hatte so viele Dinge über den König gehört. Sie rechnete mit allem. Selbst wenn er den Befehl geben würde, sie zu schlachten, dann würde sie das nicht überraschen. Auch solche Geschichten hatte sie schon gehört. Dass er sich aus dem Hautfett von Jungfrauen eine Salbe fertigen ließ, mit der er sich jeden Tag einrieb und dass er deshalb so unglaublich alt geworden war.
Je weiter sie hinaufkamen, desto schäbiger sah die Treppe aus. Die Wände waren mit nicht ganz passenden Steinen repariert. Der Putz, den man über den beschädigten Stellen aufgebracht hatte, bröckelte bereits wieder ab.
Der Mann mit dem Löwenamulett blieb vor einer Tür stehen, die ganz aus Gold gefertigt zu sein schien. In der oberen Hälfte war eine Sonnenscheibe in das Gold gearbeitet. Weiter unten sah man Männer mit Tierköpfen vor einem Haus stehen, das von Säulen umringt war.
Ihr Führer klopfte laut.
Elodia trat noch näher an die Tür. Obwohl die Figuren darauf kleiner als ihr kleiner Finger waren, konnte man sie sehr deutlich erkennen. Einer der Männer hatte einen Wildschweinkopf. Ein anderer den Kopf eines Pferdes. Ob das Masken waren?
Die Tür schwang auf. Stickige Wärme schlug ihnen entgegen. Die Luft war von Wohlgerüchen erfüllt, wie Elodia sie aus den Tempeltürmen der Tjuredkirche kannte.
Und noch andere, fremde Gerüche waren dabei.
Breite, halb durchsichtige weiße Stoffbahnen hingen von der Decke. Sie sah Bronzebecken auf massigen Ständern mit Löwenfüßen, in denen Kohlen glommen.
Überall waren Kerzen.
Sie hatte den Raum kaum betreten und begann schon zu schwitzen.
1 Durch die wogenden Stoffbahnen konnte man nicht einschätzen, wie groß das Zimmer war. Sie blickte zur Decke empor. Sie war aus Gips oder weißem Stein gefertigt. In den Stein waren Pferde mit Adlerflügeln geschnitten. Sie sahen wunderschön aus. Die Decke war bestimmt sechs Schritt hoch.
»Komm!« Ihr Begleiter zog sie ungeduldig am Ärmel. Vor ihnen schob ein Krieger eine Stoffbahn zur Seite. Der Ritter trug das Stierkopfwappen der Leibwache des Königs auf seinem Waffenrock. Auch er erschien Elodia unglaublich groß. Er hatte den Schädel kahlrasiert und eine Nase wie ein Messer. Sein Blick verhüllte nicht, woran er dachte, als er sie ansah.
Ihr Führer musste diesen Blick bemerkt haben. Er sagte allerdings nichts.
Weitere Stoffbahnen glitten wie von Geisterhand gezogen zur Seite. Dann standen sie vor dem Bett. Hunderte Kerzen hüllten es in goldenes Licht. Es stand leicht erhöht.
Man musste drei Stufen hinaufsteigen, wenn man an es herantreten wollte.
Ihr Begleiter ließ ihren Ärmel los. Auch vor das Bett waren halb durchscheinende Tücher gespannt. Es war unglaublich groß. Der Mann, den man als vagen Schemen erahnen konnte, wirkte darin klein und zerbrechlich.
»Wenn sie nicht so hübsch ist, wie du gesagt hast, dann lasse ich dich aus dem Fenster stürzen.« Die Stimme war kraftvoller, als Elodia es bei einem so alten Mann erwartet hätte.
»Ich verspreche dir, mein König, du wirst nicht enttäuscht sein.«
»Ja, ja. Das versprecht ihr immer alle ... Ich will sie sehen!« Augenblicklich glitten die Vorhänge vor dem Bett auseinander. Elodia sah, dass sie von dünnen Kordeln gezogen wurden und nicht von Geistern. Die Diener, die dies taten, blieben jedoch ihren Blicken verborgen.
»Komm, Mädchen, komm.« Er sprach, wie man zu einem scheuen Zicklein sprach.
»Meine Augen sind nicht mehr so gut. Du hast die Erlaubnis, dich auf mein Bett zu setzen, damit ich dich besser betrachten kann.«
Sie sah ihn sehr deutlich. Man hatte ihm Kissen hinter den Rücken gestopft, damit es ihm leichterfiel, zu sitzen. Seine Augen lagen unnatürlich weit auseinander. Etwas war mit seiner Nase ... Sie sah aus, als sei sie halb weggefressen. Schlecht verheiltes Fleisch lag offen zutage. Von seinem Kopf hingen nur ein paar dünne Strähnen weißen Haares. Ansonsten war er kahl. Seine Lippen waren so dünn, als habe man ihm den Mund mit einem Messerschnitt ins Gesicht gekerbt. Ein Labyrinth von Falten furchte seinen Hals. Eine Decke war bis weit auf seine Brust hinaufgezogen. Der König war so schmal und ausgezehrt wie ein zehnjähriger Bettlerjunge. Ein Arm lag auf der Decke. Blaue Adern schimmerten durch milchweiße Haut. Überall waren verschorfte Stellen, und auf seinem Handrücken sah Elodia eine offene Wunde. Mit rotbrauner Tinte hatte man verschlungene Muster auf seine Haut getupft. Vielleicht Zauberzeichen? Ein riesiger Ring steckte auf dem Mittel- und Zeigefinger des Königs.
Ein in Gold gefasster Stein prangte darauf. Er zeigte einen roten Stierkopf auf weißem Grund.
»So stellt sich ein junges Mädchen wohl nicht seinen Liebhaber vor?« Ein volltönendes Lachen begleitete seine Worte. »Ich muss zugeben, Balduin hat nicht gelogen. Du bist hübsch!«
Elodia ekelte sich vor ihm, aber sie versuchte ein kokettes Lächeln und betete zu allen Göttern, dass er nicht erriet, wie sehr sie ihn verabscheute. Sie blickte ihm jetzt geradewegs in die Augen, so musste sie den jämmerlichen Rest nicht sehen. Seine Augen waren von tiefem Grün. Sie wirkten nicht alt, obwohl feine rote Äderchen das Weiß durchzogen.
»Hat Balduin dir nicht gesagt, dass man seinen König nicht anstarrt wie einen Tanzbären auf dem Marktplatz?«
Erschrocken senkte sie den Blick. »Verzeih.«
»Tjured sei Dank, du hast eine Zunge. Ohne Zunge wärst du auch nicht zu gebrauchen. Jetzt zieh dich aus!«
Elodia hatte sich schon etlichen Männern hingegeben. Aber meistens war es eine schnelle, hektische Liebe gewesen. Sie hatte ihren Rock gehoben, die Beine breit gemacht und fest an etwas anders gedacht, bis es vorüber war. Nur dreimal hatte sie zärtlichere Liebhaber gehabt, die sie entkleideten, sie dabei streichelten und so romantische Worte fanden, dass sie fast vergessen hätte, dass es nur ein Geschäft war.
Scheu öffnete sie die Brosche ihres Umhangs. Dann streifte sie das Mieder ab, das sie über dem Kleid trug. Ihre Hände zitterten, als sie die Brustschnüre ihres Kleides öffnete. Sie sah, wie dem König ein Speichelfaden über das Kinn lief.
Elodia atmete schwer aus. Dann streifte sie das Kleid zusammen mit dem fadenscheinigen Untergewand über den Kopf.
Jetzt trug sie nur noch den Stoffgürtel, mit den Lederriemchen, die ihre Beinlinge hielten. Und ihre schäbigen, vom Straßenschlamm bedeckten Holzschuhe.
»Das reicht.« Cabezan klopfte mit der Hand neben sich auf das Bett. »Setz dich hier hin. Ich will dich berühren. Und ich will dich riechen.«
Eine Gänsehaut kroch über ihren ganzen Leib. Hoffentlich sah der König nicht mehr gut genug, um es zu bemerken.
Sie gehorchte. Das Betttuch war so zart wie kein anderer Stoff, den sie je berührt hatte.
Von Cabezan ging ein unangenehmer Geruch aus. So nah, wie sie ihm nun war, vermochte auch der Weihrauch den Gestank nicht mehr zu überdecken. Der König roch nach fauligem Fleisch!
»Du bist also eine Hure, die es mit Fleischhauern und anderen armen Würstchen treibt.« Balduin kicherte.
Sie brachte keinen Laut hervor.
»Du bist dumm!« Er legte ihr seine Hand auf den Schenkel. Seine Finger streichelten über ihre Haut. »Du könntest Gold statt Würste bekommen, wenn du zu den richtigen Männern gingest. Wie alt bist du?«
»Sechzehn Sommer.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sechzehn. Das ist gut. Sehr gut...« Er zupfte an ihrem Schamhaar. »Und das hier ist zu bäuerlich!«
Sie wich ein klein wenig zurück. Die Hand des Königs krallte sich in das Fleisch ihres Oberschenkels. Durch die Bewegung hob sich seine Decke kurz, und ein überwältigender Gestank stieg auf. Sie hielt den Atem an und musste die Augen schließen.
Verzweifelt kämpfte sie gegen den Würgereiz an, den der Verwesungsgeruch bei ihr auslöste.
»Gefällt dir mein Parfüm? Tjured ist ein Bastard! Er gefällt mir umso besser, je mehr ich von ihm höre. Schenkt mir Unsterblichkeit und sorgt zugleich dafür, dass ich keinen Spaß an meinem Leben habe. Weißt du, Mädchen, früher, da hätte ich es mit dir getan ... « Seine schmale, dunkle Zunge stach obszön zwischen seinen Lippen hervor. »Leider hat mir Tjured auch diesen Spaß genommen. Manchmal lade ich Tankret ein, irgendeine Dirne neben mir auf dem Bett zu vögeln. Aber zuzuschauen, ist einfach nicht dasselbe.« Er nickte in Richtung der Tür. »Tankret ist mein Leibwächter. Er hat nur eine einzige Tugend. Er ist mir treu. Ansonsten ist er völlig ohne Moral. Aber lassen wir das. Weißt du, woran es meinem Königreich mangelt?«
Elodia blickte um Hilfe suchend zu Balduin, doch der Höfling sah sie ausdruckslos an.
»Nein«, sagte sie schließlich leise.
»An Größe.« Cabezans Hand streichelte wieder über ihren Schenkel. »Dieser Palast hier ist eine jämmerlich schlecht instand gesetzte Ruine. Vor vierzig Jahren hat ein Bauer beim Pflügen auffällig schöne Dachziegel gefunden. Er hat sie auf seinen Karren geladen und auf dem nächsten Markt verkauft. Leider dauerte es ein paar Monde, bis ich davon erfuhr. Als meine Männer auf seinen Acker kamen, waren schon alle Dachziegel ausgegraben. Und die Bauern hatten damit begonnen, Mauerwerk aufzubrechen, weil die Steine, die von den alten Baumeistern verwendet worden waren, so wunderbar gleichmäßig gearbeitet waren. Ich habe den Bauern mit seiner Familie lebendig begraben lassen, damit sie vor ihrem Tod genügend Zeit hatten, darüber nachzudenken, dass alles, was in der Erde meines Königreichs ruht, mir gehört!« Elodia starrte auf einen Fleck auf der Bettdecke. Sie hörte gut zu und versuchte zu vergessen, dass sie nackt war und diese grässliche Hand ihren Schenkel liebkoste und immer häufiger auch über ihre Scham strich.
»Dieser Palast hier ist das Haus, dessen Dachziegel der Bauer gestohlen hat«, fuhr der König fort. »Du weißt ja, der Palast liegt am Fuß eines Berges. Vor langer Zeit löste sich eine Lawine aus Schlamm vom Berghang und verschlang den Palast und alles, was darinnen war. Aber sie drückte nicht die Mauern ein. Es ist ein außerordentlicher Glücksfall. Ein Geschenk der alten Götter. Es gibt kein zweites Haus wie dieses in meinem ganzen Königreich!
Weißt du, dass man mit heißer Luft aus Öfen im Keller die Fußböden in ausgewählten Zimmern anwärmen kann? Es ist ein wunderbarer Ort für einen Krüppel wie mich. Ein Ort, um von vergangener Größe zu träumen. Ich habe die besten Handwerker und Architekten von nah und fern rufen lassen, um dieses Haus zu studieren. Ich habe ganze Wagenladungen an Silber verschwendet, um solche Paläste noch anderswo bauen zu lassen. Aber es werden bestenfalls schlechte Kopien. Die Fußbodenheizungen funktionieren nicht. Die Stuck- und Steinmetzarbeiten sehen wie von Kindern geschaffen aus, vergleicht man sie mit den Originalen. Was hast du aus dieser Geschichte gelernt, Mädchen?«
Die Hand des Königs hielt still. Fast hätte sie ihm in die Augen gesehen. Sie ahnte, dass es nicht gut wäre, wenn sie wieder keine Antwort fand. Der König prüfte sie, auch wenn sie nicht erkennen konnte, mit welchem Ziel. »Mir scheint, die Geschichte besagt, dass die Geschenke der Götter nicht von Menschenhand nachgeahmt werden können.«
Cabezan lachte auf. »Der blau gewandete Narr, den ich mir als Hofpriester halte, würde dir für diese Antwort die Füße küssen.« Er kniff ihr ins Bein. »Obwohl er ein frommer Mann Tjureds ist, ganz Vorbild, ganz von seiner eigenen Heiligkeit durchdrungen, wette ich, seine Küsse würden langsam höher wandern. Ich glaube nicht, dass es viele Männer geben wird, die deinen Reizen widerstehen können, Mädchen. Du bist außergewöhnlich, so wie das hier.« Er drehte sich zur Seite und zog einen kurzen Dolch unter seinem Kissen hervor, dessen Klinge mit ei nem merkwürdigen, blaugrauen Wellenmuster überzogen war.
»Einen Dolch wie diesen kann keiner meiner Schmiede im ganzen Königreich erschaffen. Er ist wie dieses Haus. Ein Relikt vergangener Größe. Es muss eine Zeit gegeben haben, da waren die Menschen bedeutender. Und ihre Könige mächtiger.
Wenn man weiß, wo man suchen muss, dann findet man überall Zeugnisse dieser Zeit.
Auf dem Meeresgrund, nahe bei Marcilla oder in den Bergen in dem Tal, das man den Steinernen Wald nennt. Meist sind die Zeugnisse der Vergangenheit tief in der Erde verborgen. Hunderte Männer suchen für mich danach.«
Elodia hatte davon gehört, dass der König Ritter und Handwerker in den Steinernen Wald geschickt hatte und dass sie dort von einem Geisterritter angegriffen worden waren.
»Ich will nach dieser alten Größe greifen«, sagte Cabezan. »Ich will sein wie die vergangenen Herrscher. Hast du die Tür dieser Kammer gesehen? Sie ist verzaubert.
Wenn man sie nicht freiwillig öffnet, dann kann sie niemand überwinden. Ich habe sie in Iskendria kaufen lassen. Eine ganze Schiffsladung voll Silber musste ich dafür hergeben. Meine Suche nach der verlorenen Größe ist unglaublich teuer. Sie verschlingt Gold und Silber, und was ich dafür zurückbekomme, bringt dem Königreich zunächst nur wenig. Meine Philosophen und Alchemisten untersuchen diese Dinge. Die besten Handwerker, die man für Gold anwerben kann, studieren sie und versuchen es den alten Meistern gleichzutun. Wenn das einst gelingt, wird sich jedes Goldstück hundertfach wieder auszahlen. Weißt du, wenn man ein Leben hat wie ich, dann ist alles, was geblieben ist, der Wil e. Mein Körper ist eine Ruine. Ich kann kaum aus eigener Kraft stehen. Aber mein Geist ist klar. Und ich bin unsterblich!
Mir ist es bestimmt, die Menschheit wieder zu alter Größe zu führen. Einst waren wir genauso mächtig wie Elfen und Dämonen mit ihrer finsteren Magie. Und wir werden es wieder sein! Dabei wirst du helfen.«
Er winkte Balduin. »Das Reden dörrt mir die Kehle aus. Bring mir Wein!«
Sein Diener gehorchte und verschwand augenblicklich zwischen den sanft wogenden Stoffbahnen. Bald waren nur noch seine Schritte zu hören. Er verließ die Kammer nicht. Wieder fragte sich Elodia, wie groß dieser Raum wohl sein mochte.
»Glaubst du an die alten Götter oder an Tjured?«
»Ich bete zu Tjured und den alten Göttern.«
»Ha, das ist der richtige Geist! So halte ich es auch. Wobei mir die alten Götter lieber sind. Dieser Tjured ... « Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was von ihm und seinen Priestern zu halten ist. Wusstest du, dass in mehreren seiner Refugien alle Priester auf rätselhafte Weise verstorben sind? War das die Rache unserer alten Götter? Wenn ja, was ist ein Gott wert, der seine eigenen Priester nicht beschützt? Oder hat er es selbst getan? Aber warum? Was mögen seine Priester getan haben, dass sie eine so grausame Strafe verdienen? Unsere alten Götter sind da leichter zu verstehen. Meine Krieger haben einmal einen seiner Priester ermordet. Einen Wunderheiler, der sich geweigert hat, mir zu helfen. Ich glaube, weil dies geschah, wurde ich mit Unsterblichkeit und ewigem Siechtum beschenkt. Er ist ein verdammter Bastard, dieser Tjured.« Er hustete.
Balduin kehrte mit einem goldenen Pokal zurück. Der König trank gierig daraus. Wein rann ihm über das Kinn und über sein weißes Nachtgewand. Als er absetzte, hielt er ihr das Gefäß hin. »Komm, trink aus einem Becher mit mir.«
Sie nahm den Pokal und drehte ihn ein wenig, damit ihre Lippen auf keinen Fall den Rand dort berührten, wo Cabezans Lippen gewesen waren.
Der Wein war stark. Er rann warm durch ihre Kehle. Als sie absetzte, fühlte sie sich ein wenig benommen.
»Du ekelst dich also vor deinem König«, sagte er nüchtern. Er nahm ihr den Pokal ab und stellte ihn auf einen kleinen Tisch neben seinem Bett.
Elodia schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Es war offensichtlich, dass es stimmte. Auch der Weinbecher war also eine Prüfung gewesen.
»Man hat mir erzählt, dass du dich für deinen Bruder verkauft hast. Ist das richtig?«
Ihr stieg die Schamesröte in die Wangen. Sie brachte kein Wort hervor. Endlich nickte sie.
Seine Hand kroch in ihren Schoß. »Wenn ich dir verspreche, dass es deinem Bruder gutgehen wird, wirst du dann diese Hand küssen? Nicht den Ring. Die Hand!«
Sie sah auf die schwärende, offene Wunde auf dem Handrücken.
»Nun?«
»Ich werde es tun!«
Cabezan hob die Hand. »Worte sind billig, Mädchen. Tue es! Jetzt!«
Sie atmete tief ein. Dann hielt sie die Luft an. Sie nahm die Hand des Königs und führte sie an die Lippen. Er drückte sie fest gegen ihren Mund. Sie spürte das klebrige Wundsekret auf den Lippen.
Endlich zog er die Hand zurück. Ohne zu fragen, griff sie nach dem Weinpokal und trank noch einen Schluck.
Cabezan sah sie an, und ein erstes, dünnes Lächeln spielte um seine Lippen und grub tiefe Furchen in seine Mundwinkel. »Die meisten hätten das nicht über sich gebracht.
Ich werde dich brauchen können. Damit du ganz und gar verstehst wozu, werde ich ein wenig ausholen müssen ... Ich sagte dir ja bereits, wie kostspielig meine Liebe zur Vergangenheit ist. Auch wenn ich König bin, kann ich leider kein Gold scheißen.
Meine Mittel sind begrenzt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie teuer es ist, Kriegsschiffe zu unterhalten. Krieger und Ritter wollen ihren Sold. Waffen und Rüstungen müssen bezahlt werden.
Sie verschlingen unglaubliche Summen. Nun hat mir mein etwas beschränkter Priester schon vor einiger Zeit eine Predigt gehalten, in der es darum geht, dass Tjured sich Frieden auf Erden wünscht. Und dass man Liebe zeugen soll statt Krieg. Diese Worte sind mir lange im Kopf umgegangen. Fast alle Länder rings um Fargon sind ärmer als wir. Sie schauen voller Neid auf unsere Städte. Da gibt es die Barbaren in den Wäldern von Drusna und die Piraten im fernen Fjordland, die jetzt angeblich eine Kriegerkönigin auf ihren Thron gesetzt haben. Gefährlicher noch ist Angnos, wo man die letzte Niederlage gegen die Heere Fargons nicht vergessen hat und immer noch auf Rache sinnt. Dann wären da noch die Piraten auf den Aegilischen Inseln ... Ich könnte wohl noch endlos weiterreden. An Feinden herrscht leider nie Mangel. Die Worte des Priesters haben mich darin bestärkt, einen neuen Weg zu suchen. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die richtige Frau im richtigen Bett leicht tausend Krieger ersetzen kann. Allerdings müssen dies sehr besondere Frauen sein. Schön zu sein, so wie du es bist, genügt nicht. Diese Frauen müssen klug sein. Sie müssen lesen und schreiben können. Sie müssen mir unverbrüchlich ergeben sein. Sie müssen willig sein, Dinge zu tun, die nicht einmal die niedersten Straßendirnen tun würden, und das so gut, dass sie wie eine Droge sind. Die Männer, die die besondere Gunst genießen, mit diesen Frauen ihr Lager und vielleicht auch ihr Leben zu teilen, müssen ihnen mit Körper und Geist verfallen sein. Sie müssen Frauen sein, wie es sie im wirklichen Leben nicht gibt. Vollkommene Geliebte, aber auch Gefährten. Kannst du dir vorstellen, eine solche Frau für mich zu werden? Die Hure deines Königs, die niemals das Lager mit mir teilte. Und die jeden Mann, dem sie sich hingibt, betrügt, weil sie stets nur an die Interessen Fargons denkt.«
Elodia konnte sich vorstellen, was aus ihr werden würde, wenn sie Nein sagte. Sie wusste inzwischen, dass alle Badehäuser des Königreiches von Beamten des Königs beaufsichtigt wurden. Für jeden Beischlaf, der dort stattfand, floss Gold in die Kassen des Königs. Sie war sich ganz sicher, dass man sie in eines dieser Häuser bringen würde, wenn sie Cabezan nicht zu Willen war. Was sie nicht wusste, war, welches Schicksal dann ihren kleinen Bruder erwartete.
»Was wird mein Lohn sein, wenn ich eine Hure für das Königreich werde?«
Cabezan lachte leise. »Wie ich sehe, hast du die richtige Einstellung zu deiner Arbeit.
Mein Preis ist dein Bruder. Er wird eine Ausbildung an meinem Hof bekommen. Man wird feststellen, wozu er sich am besten eignet. Ob er ein Krieger oder ein Schreiber in meinem Scriptorium werden sollte. Oder vielleicht einer der Gelehrten, die für mich nach Relikten der fernen Vergangenheit suchen. Wenn er ins rechte Alter kommt, werde ich für ihn ein Mädchen aus gutem Hause aussuchen. Wenn er das Zeug dazu hat, dann wird er es in meinem Königreich weit bringen. Darauf hast du mein Wort als König.«
Das war mehr, als Elodia zu hoffen gewagt hatte. »Das ist großzügig. Was soll ich nun tun?«
Der König nahm die Hand von ihrem Schenkel. »Morgen wird jemand kommen und dich fortbringen. Du wirst auf deine neue Zukunft vorbereitet werden. Man wird dir einen neuen Namen geben. Und du wirst deinen Bruder und auch sonst niemanden, den du kennst, noch einmal wiedersehen. Es wäre schlecht, wenn dein Bruder wüsste, was du bist.«
»Ja«, sagte sie kleinlaut.
»Du kannst ihm schreiben. Sag, du hättest dich in ein Refugium der Tjuredpriester zurückgezogen. Schreib, es sei dein Preis für seine Zukunft gewesen.«
»Darf ich mich noch von ihm verabschieden?«
»Balduin wird dir jeden Wunsch erfüllen. Aber morgen bei Sonnenaufgang beginnt dein Dienst für dein Königreich. Von da an gehörst du ganz mir. Dies ist die letzte Nacht des Blumenmädchens Elodia. Sehr bald schon wird niemand, der dir früher einmal begegnet ist, dich wiedererkennen. Du sollst mein schärfstes Schwert werden. Und wenn du mir gute Dienste leistest, wird dein Bruder in höchste Würden aufsteigen. Nun geh! Du hast gewiss noch viel mit deinem Bruder zu besprechen.«
Nikodemus hielt den Atem an und pinkelte auf den schmutzigen Stoffstreifen. Sein Urin hatte eine dunkle, fast braune Farbe. Der Lutin war sich sicher, dass das Gift des Landes schon in seinen Körper eingedrungen war! Nie zuvor hatte er etwas wie die Schwefelwüste gesehen! Ein Land voller Gift. Am Boden und in der Luft.
Mit spitzen Fingern nahm er das Stück Stoff auf. Seine Lungen begannen zu brennen.
Voller Ekel wickelte er sich den Stoff um Nase und Schnauze. Alle taten das. Alle au-
ßer Emerelle!
Der Gestank des durchtränkten Stoffs war ungeheuerlich. Nikodemus kämpfte gegen den aufkommenden Brechreiz an. Er atmete zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Jeder Atemzug machte ein zischendes Geräusch. Widerlich!
Er beeilte sich, um wieder zu den anderen aufzuschließen. Sie zogen an einem ausgetrockneten Bachbett entlang. Gelbe Schwefelkrusten überzogen das Ufer. Ein Stück entfernt trieb weißer Rauch dicht über den Boden.
Über den Rand der Senke hinweg blickte man auf eine Ebene, die von ausgetrockneten Bächen und weiten Flächen brodelnden Schlamms bedeckt war. Der Sand hatte mitunter merkwürdige Farben. Mal grünlich, dann rostrot und bald wieder hellgelb bis hin zu weiß. Feiner Staub, der wie Salz in den Augen brannte, wirbelte in der sengenden Luft.
Am Morgen waren sie an einem See vorbeigekommen, den die Kobolde das Drachenauge nannten. Er hatte so seltsam ausgesehen, dass niemand von ihnen auch nur auf den Gedanken gekommen war, in die Nähe seines Ufers zu gehen. Wie ein gewaltiges, blutunterlaufenes Auge lag er in der Wüste. Er hatte eine fast vollkommene Kreisform. In seiner Mitte war das Wasser von dunklem, beinahe schwärzlichem Blau. Darum lag ein Kreis aus hellerem, türkisem Blau. Dicht am Ufer wurde das Wasser dann plötzlich blutrot. Emerelle hatte gesagt, die Farbe stamme von winzigen Tieren, die im Wasser lebten. Aber Nikodemus mochte das nicht glauben.
Vor zwei Tagen war am Horizont vor ihnen ein weites Massiv aus Tafelbergen erschienen. Wie die Festungsmauern einer Stadt von Riesen erhoben sie sich am Horizont. Anfangs hatten die Berge in der Ferne blau ausgesehen. Jetzt wirkten sie rötlich.
Aber obwohl sie ihnen um mindestens dreißig Meilen näher gekommen sein mussten, schienen sie immer noch unerreichbar fern. Dorthin wollte Emerelle die Grauhäute führen. Es hieß, inmitten der Berge gebe es eine Oase. Nikodemus hatte seine Zweifel, wenn er auf das vergiftete Land ringsherum blickte.
Näher als die Berge sah man eine Felsstufe, die sich durch die Wüste zog. Sie schien ein naher Vorläufer der Berge zu sein.
Als er die Grauhäute wieder eingeholt hatte, stieg Nikodemus das kurze Stück zum Rand der Uferböschung hinauf, um zu sehen, um wie viel sie der Felsstufe schon näher gekommen waren. Sie war der einzige Orientierungspunkt, abgesehen von den fernen Bergen. Die Luft tanzte in glasigen Schlieren dicht über dem Wüstenboden. Es war unmöglich, zu sagen, wie weit die Felsstufe entfernt war. Manchmal glaubte Nikodemus dunkle Flecken im Felsen zu erkennen. Gab es dort Höhlen? Die Mittagsstunde war nicht mehr fern. Der Lutin träumte davon, die Zeit der größten Hitze in einer Höhle zu verbringen. Sie sollten nachts wandern! Aber aus irgendeinem Grund wollten das weder die Grauhäute noch Emerelle. In jeder Nacht bezogen Posten auf den Erhebungen rings um den gewählten Lagerplatz ihre Stellung. Nikodemus hatte sie einmal besucht. Es waren keine normalen Wachen. Sie waren in einem Zustand zwischen Traum und Wachen. Manchen troff klebriger, seltsam riechender Speichel aus den Mundwinkeln. Sie hatten Muster, die an verzerrte Spinnennetze erinnerten, auf ihre Körper bemalt. Ganz offensichtlich woben diese mit Muschelketten geschmückten Männer und Frauen irgendeine Art von Magie. Und obwohl Nikodemus insbesondere nachts oft das Gefühl hatte, dass sie belauert wurden, kam es nie zu einem Zwischenfall.
Der Lutin kletterte die Böschung hinab und schloss sich wieder den Kobolden an.
Stunde um Stunde ging ihr Marsch. Sie erreichten die Höhlen nicht, wenn es sie denn überhaupt gab und sie ihm nicht allein von seinem kochenden Verstand vorgegaukelt worden waren. Nicht einmal während der größten Mittagshitze erlaubte ihnen Emerelle eine Rast. Die Elfe wirkte gehetzt. Unbarmherzig wie nie zuvor trieb sie alle an.
Auch das Wasser war knapp geworden. Inmitten der giftigen Schwefelwüste schien auch ihre Magie keine Wunder mehr bewirken zu können. Seit drei Tagen hatte es kein frisches Wasser mehr gegeben. Fast alle Kürbisflaschen waren leer. Nikodemus hatte sein letztes Wasser am späten Morgen getrunken. Obwohl die Grauhäute die Hitze viel besser vertrugen als er - schließlich hatten sie ja auch kein Fell -, würde er jede Wette eingehen, dass auch ihnen nicht mehr viel Wasser geblieben war. Vielleicht wollte Emerelle sie ja zu einer Quelle bringen? Vielleicht würde die Giftwüste schon bald hinter ihnen liegen. Nikodemus blickte zur Uferböschung. Was verbarg sich dahinter? Seine Erschöpfung war jetzt größer als seine Neugier. Müde blieb er auf seinem Platz in der Marschkolonne. Die Augen auf die Fersen der Frau vor ihm geheftet, schlurfte er weiter.
Der Boden war so heiß, dass er durch die Sohlen hindurch die Füße verbrannte.
Nikodemus wunderte sich, wie die Grauhäute das aushielten. Sie gingen alle barfuß.
Er hatte das Gefühl, dass selbst ihre Kinder ausdauernder waren als er. Seit Tagen kämpfte er gegen eine immer tiefere Müdigkeit an. Schon morgens, wenn sie aufbrachen, hatte er das Gefühl, er könne keine Meile mehr gehen. Und dann sah er ihre Kinder, die, ohne zu murren, dem Treck folgten. Nur die Kleinsten von ihnen weinten manchmal. Sie zu sehen, gab ihm zwar keine neue Kraft, aber den Willen, sich nicht gehen zu lassen. Sie nannten ihn Drachenreiter! Die Grauhäute kannten sein Volk. Sie hatten die Lutin wohl manchmal beobachtet, wenn sie zu den anderen Oasen zogen, jenen Fluchtorten der verschiedenen Lutinsippen, die nicht zu tief in der Wüste verborgen lagen.
Die großen Hornschildechsen hielten sie für Drachen. Und die Grauhäute waren überzeugt, dass alle Lutin mächtige Zauberer und Krieger sein mussten, wenn sie Drachen ihrem Willen unterwerfen konnten.
Nikodemus musste unwillkürlich lächeln. Er stellte sich vor, ein Koboldritter zu sein, der auf einem richtigen Drachen ritt. Dann holte ihn die Wirklichkeit ein. Er war ein fußkranker Wanderer, mit einem Lappen voller Pisse vor der Schnauze. Viel größer könnte der Unterschied zu einem Drachenritter wohl nicht sein. Wenigstens war es seine eigene Pisse, dachte er bitter.
Sie passierten eine Stelle, an der sich das Bachbett auf etwa hundert Schritt Länge zu einem Schlammsee weitete. Der Schlamm und die Brühe, die auf ihm stand, schillerten in allen Regenbogenfarben. Es sah hübsch aus. Im Schlamm stiegen dicke Blasen auf, die mit einem schmatzenden Geräusch auf der Oberfläche zerplatzten. Das war neu. So etwas hatte er bei den anderen Schlammlöchern nicht gesehen. Manche der Blasen hielten sich erstaunlich lange. Er ertappte sich dabei, wie er stumm mitzählte.
Auch die Kinder waren begeistert. Plötzlich gab es wieder Lachen im Treck. Manche warfen mit Steinen und Klumpen aus zusammengebackenem Sand nach den Blasen auf dem Schlamm. Eine besonders dicke Blase schien einen Schutzzauber zu besitzen.
Jeder Wurf verfehlte sie. Ein Mädchen lief los, um die Schlammblase mit ausgestrecktem Finger zum Platzen zu bringen.
»Nicht!« Die Warnung kam zu spät. Sie schaffte genau drei Schritt, dann blieb sie schreiend stehen, statt sofort umzukehren. Der zähflüssige Schlamm war kochend heiß. Noch war das Koboldmädchen nur bis zu den Knöcheln eingesunken.
Schwankend versuchte sie zurückzukommen.
Ihre Mutter wollte ihr zu Hilfe eilen, doch zwei Jäger des Stammes packten sie. Alle starrten das Kind an. Doch keiner machte Anstalten, ihm zu helfen. Es war nicht mehr zu retten!
Madra kam. Der Troll streckte sich. Doch selbst seine langen Arme reichten nicht bis zu dem Kind.
Das Mädchen ging in die Knie. Es fing den Sturz mit den Händen ab, riss diese aber sofort zurück, kaum dass seine Finger den Schlamm berührt hatten.
Selbst durch den uringetränkten Stoffstreifen roch Nikodemus den Geruch von gekochtem Fleisch. Voll hilfloser Wut ballte er die Fäuste. Er hatte das Gefühl, es dem Mädchen schuldig zu sein, zumindest nicht einfach wegzusehen. Auch wenn er sonst nichts tun konnte.
Plötzlich trat Madra in den Schlamm. Er machte einen hastigen Schritt, packte das Mädchen und rettete sich auf sicheren Boden. Dunstschwaden wogten über seinen Fü-
ßen wie über Schweinshaxen, die man frisch aus kochendem Wasser hebt. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Aber er gab keinen Laut von sich. Vorsichtig legte er das kleine Koboldmädchen in den Schatten eines Felsens.
Sofort war die Mutter bei der Kleinen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Das Kind war ohnmächtig geworden. Die Füße und die Beine bis fast zu den Knien hatten alle graue Farbe verloren. Sie waren von einem dunklen Rosa. Ein durchsichtiges, leicht gelbliches Sekret nässte durch die Haut.
Auch ihre Hände hatten die Farbe verloren. Die kleinen Finger waren aufgequollen.
Als ihre Mutter die Hand anheben wollte, um sie zu küssen, glitt die Haut wie ein Handschuh von den gekochten Fingern.
Emerelle kam von der Spitze der Marschkolonne. Sie stellte keine Fragen. Ein Blick auf das Kind gab alle Antworten. Madra nickte sie mit stummem Respekt zu. Dann kniete sie sich neben das Mädchen.
Nikodemus sah, wie sie den Albenstein mit der Linken umklammerte, während sie die Rechte sehr vorsichtig auf einen Fuß des Koboldkindes legte. Sie zuckte zusammen.
Die Elfe schloss die Augen. Auch sie schien Schmerzen zu leiden, während die Mutter des Mädchens händeringend neben ihr stand.
Madra hatte sich in den Sand gesetzt. Seine Füße waren mit großen, weißen Blasen übersät.
»Schlimm?« Nikodemus bereute seine dämliche Frage, kaum dass sie ihm über die Lippen gekommen war, aber da war es schon zu spät.
Der Troll sah ihn finster an. »Ihr Kobolde habt doch auch große Kupferkessel, um darin Suppen und Fleisch zu kochen.«
Der Lutin sah ihn verwundert an. »Ja.«
»Bist du als Kind einmal an einen der Kessel gekommen, bevor sie ganz ausgekühlt waren?«
Er nickte.
»Stell dir vor, du hättest die Hand nicht weggezogen. Vielleicht als eine Mutprobe.« Er stieß die Worte gepresst hervor, bemüht, jedes Stöhnen zu unterdrücken. »Du hättest sie auf dem heißen Kupfer gelassen. Bis sie wie gut gebratenes Fleisch gerochen hätten. Bis dein Fleisch bis zum Knochen hinab gar gewesen wäre. Du weißt, wenn man einen Braten aufschneidet, dann ist das Fleisch außen graubraun. Nur tief innen hat es sich eine zartrote Farbe erhalten. Stell dir vor, das ganze Fleisch deiner Hand wäre grau. Und dann erst versuchst du sie fortzunehmen. Aber es geht nicht mehr, weil sie mit dem Metall des Kessels zusammengebacken ist. Du ziehst und zerrst. Als sie endlich doch freikommt, kleben die kümmerlichen Reste deiner Haut noch auf dem Metall. Und Brocken von deinem Fleisch. So fühlt es sich an!« Um die Worte zu unterstreichen, hob Madra seine Füße an.
Nikodemus kämpfte gegen einen Würgereiz an. Die zähe, zerfurchte Haut hatte begonnen, sich von den Fußsohlen zu lösen. So wie vorhin bei der Hand des Mädchens.
»Mein Weg endet hier«, sagte der Troll.
»Nein. Das wird schon wieder.« Der Lutin starrte auf die Füße und wusste, dass er Unsinn redete.
Madra versetzte ihm einen Knuff, der ihn fast von den Beinen riss. Nikodemus wusste, dass es freundlich gemeint war, aber er betastete seine Rippen, unsicher, ob keine gebrochen war. »Für einen Fuchsmann bist du ein guter Freund. Ich werde an dich denken, wenn ich sterbe.«
»Du solltest nicht vom Sterben reden. Du bist doch ein Riese. Die sterben nicht so leicht. Nicht an einem bisschen heißem Sand.« Er sah aus den Augenwinkeln, wie mehrere Grauhäute aufgeregt auf Emerelle einredeten und dabei auf Madra zeigten.
»Du bist so groß ... So ...«Er hatte das Gefühl, einen Stein in der Kehle zu haben.
»Flenn mir bitte nicht auf meine Füße!«
Nikodemus boxte gegen das Knie des Trolls. Es fühlte sich an, als habe er gegen einen Fels geschlagen. »Blödmann!«
»Eine gute Rechte. Reicht sicher, um ein altersschwaches Kaninchen umzuhauen.«
Madra hatte noch nie mit ihm gescherzt. Nikodemus hatte gar nicht gewusst, dass Trolle Sinn für Humor hatten. Das machte es nicht besser. Sein Gefährte nahm Abschied.
Emerelle trat zu ihnen. Sie blickte kurz auf Madras Füße. Dann sah sie ihn an. In ihrem lehmbeschmierten Gesicht zeigte sich keinerlei Regung. »Warum hast du das getan?«
»Weil ich zu schwach war.«
»Zu schwach?«
»Ja, zu schwach, einem dummen, kleinen Koboldbalg dabei zuzusehen, wie es an seiner Dummheit verreckt. Nun werde ich mit ihm zusammen sterben.«
Sie sah erneut auf seine Wunden. »An ein paar verbrannten Füßen muss man nicht sterben.«
Der Troll schnitt eine ärgerliche Grimasse. »Nur habe ich mir einen schlechten Platz ausgesucht, um nicht mehr laufen zu können. Und leider sehe ich hier auch niemanden, der in der Lage wäre, mich zu tragen.«
»Darf ich deine Füße berühren?«
»Ich glaub nicht, dass ich es noch spüren werde.«
Emerelle kniete vor ihm nieder. Nikodemus wurde sich bewusst, dass er auf ihre linke Brust starrte, die kaum eine Armlänge entfernt war. Er hüstelte verlegen und wandte sich ab. Ob sie verrückt geworden war, weil sie ihren Thron verloren hatte? Der Lehm auf ihrer Haut war eingetrocknet und von einem Netzwerk feiner Risse durchzogen.
Sie trug nur einen Lendenschurz um die Hüften. Seltsamerweise war der Stoff von makellosem Weiß, obwohl sie sich von Kopf bis Fuß eingeschmiert hatte.
Jetzt erst bemerkte der Lutin, dass sie neben dem Albenstein noch einen zweiten Halsschmuck trug. Zwischen ihren Brüsten ruhte ein weißes Muschelhorn. Es sah genauso aus wie die, die auch Grauhäute trugen. Bei einer Maurawani hätte er sich über so ein Verhalten nicht gewundert. Aber die unnahbare Emerelle in Schmutz gewan det zu sehen, war schon sehr befremdlich. Und so kniete sie vor einem Troll, der vor einem Jahr in den Heerscharen ihrer Feinde gekämpft hatte und behandelte dessen Füße. Die Welt war verrückt geworden! Es war höchste Zeit, dass sein Bruder Elija sie neu ordnete.
Nikodemus dachte an ihre Mission. Sie sollten die Königin finden, um sie ihren Henkern auszuliefern. Er durfte das nicht vergessen! Wenn sie verrückt geworden war, dann war sie nur umso gefährlicher, bei der Macht, die sie besaß! Sie würde seinen Bruder Elija und alle Rotmützen bekämpfen. Allein deshalb schon musste er sie ausliefern.
Madras Füße sahen mit einem Mal besser aus. Sie waren nicht mehr aufgequollen.
Frische Haut war über die Wunden gewachsen. Der Albenstein gab ihr grenzenlose Macht! Sie sprang auf. »Schnell jetzt! Das muss genügen! Ich werde später noch einmal nach deinen Füßen sehen.« Sie winkte mit beiden Armen. »Steht nicht herum und glotzt. Lauft!«
Mit wütenden Worten trieb sie alle an. Dann eilte sie wieder an die Spitze des Zuges.
Einige der Grauhäute murrten leise. Aber niemand wagte es, offen Widerstand zu leisten. Das war im Kleinen genau so, wie es gewesen war, als sie noch auf dem Thron gesessen hatte. Sie traf einsam ihre Entscheidungen und trieb alle an. Verdammte Tyrannin! Sie würde immer so sein!
Nikodemus sah Madra an, dass er immer noch Schmerzen hatte. Und auch das Koboldmädchen, das sie behandelt hatte, lag wimmernd in den Armen seiner Mutter.
Warum hatte sie die beiden nicht vollständig geheilt, wenn sie so große Macht besaß?
Nach einer Weile hatte Nikodemus das Gefühl, dass die Grauhäute schneller gingen.
Keiner sprach mehr. Jetzt hatten sie sich völlig der Willkür der Elfe unterworfen. Er hätte etwas gesagt, wenn seine Zunge nicht dick geschwollen in seinem Mund gelegen hätte. Er hatte Lust, zu rebellieren. Er dachte daran, einfach etwas langsamer zu gehen, statt immer mehr zu hetzen. Aber er befürchtete, dass sie ihn einfach zurücklassen würden, wenn er nicht mit ihnen Schritt hielt.
Sogar Madra beeilte sich. Ein merkwürdiges Geräusch erklang in der Ferne.
Nikodemus hatte so etwas noch nicht gehört. Die anderen gingen noch schneller.
»Was ist los?«
»Der Sand kommt«, flüsterte ein alter Kobold, der sich auf einen Stock stützte. »Der Sand kommt!«
Das war so ziemlich das Verrückteste, was er je gehört hatte, entschied Nikodemus.
Hier war überall Sand. Seit er mit Madra aus dem Albenstern in dieses verfluchte Land getreten war, sah er nichts als Sand und Steine!
Die Grauhäute begannen zu laufen. Emerelle führte sie über die Böschung des Bachs hinweg. Es herrschte helle Panik.
Nikodemus kletterte in aller Ruhe über die Kante aus brüchigem Sand. Die Tafelberge am Horizont waren verschwunden. Graubraune Wolken hingen tief am Himmel. Nein... Sie wälzten über den Boden. Der Lutin brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was er sah.
»Der Sand kommt«, murmelte er schwerfällig mit ausgedorrter Zunge. Ein Sandsturm!
Er hatte davon erzählen hören. Sie konnten tagelang dauern. Der Sand schliff einem das Fell von Gesicht und Rute, dann die Haut. Er würde immer weiter schleifen. Er tötete Hornschildechsen wie Lutin. Nichts war ihm gewachsen, wenn der Sturm lange dauerte. Die einzige Hoffnung, zu überleben, war ein Windschutz.
Emerelle deutete auf die Felsstufe. Hatte sie den Sturm die ganze Zeit kommen gefühlt?
»Lauft!«, rief sie gegen den Wind an, der der Sandwalze vorauseilte. Sie deutete auf eine dunkle Öffnung in den Felsen. »Dorthin! Das ist die einzige Höhle, in der wir alle Platz finden. Lauft!«
Madra packte einige der Koboldkinder. Er nahm sie unter die Arme. Eines saß auf seinem Nacken, so wie Nikodemus es auch schon getan hatte. Mütter kamen herbei gerannt und wollten ihm weitere Kinder bringen. Sieben nahm er mit. Dann stieß er alle anderen zurück und begann zu laufen. Der verdammte Troll ließ sie bald alle hinter sich.
Nikodemus’ Herz schlug wie ein Trommelstock gegen das Gefängnis seiner Rippen. Er lief, wie er noch nie in seinem Leben gelaufen war, die Augen verzweifelt auf die Wand aus wirbelndem Sand gerichtet. Die Höhle war mindestens eine Meile entfernt.
Er wusste, dass sie es nicht schaffen konnten. Nur Madra und die sieben Kinder würden vielleicht entkommen.
Kadlin blickte in das Antlitz des Mannes, der einmal ihr Vater gewesen war und den sie doch kaum gekannt hatte. Die Kälte hatte seinen toten Körper vor dem Verfall bewahrt. Seine aufgebrochene Brust war unter seinem Kettenhemd verborgen. Kadlin hatte sich die Wunde angesehen, obwohl sowohl Lambi als auch Melvyn versucht hatten, sie davon abzuhalten. Die ganze Totenfeier über hatte sie an sich gehalten. Jetzt aber ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie war allein im Grabhügel. Die Fackeln an den Wänden waren fast heruntergebrannt. Alle anderen waren längst gegangen. Schwach hörte sie das Lärmen der Totenfeier in der Königshalle ihres Vaters.
»Werde ich eine gute Herrscherin sein? Ich wünschte, du wärest noch hier. Ich ... « Sie war noch schwach vom Fieber und saß auf der Pritsche des Wagens, auf dem ihr Vater umringt von den Waffen seiner Feinde aufgebahrt lag.
Ein muffiger Erdgeruch hing in der Kammer. Alfadas hatte dieses Grab bauen lassen. Es lag inmitten des Erdhügels am Rand des königlichen Dorfes Firnstayn. Die Grabkammer war mit dicken Kiefernbalken verschalt. Zwei Fackeln spendeten warmes, gelbes Licht. Kälte sickerte durch den Gang, der hinaus in die Nacht führte. Wenn sie die Kammer verließ, würde sie mit einem schweren Rollstein verschlossen werden. Und dann würde man den Tunnel ganz mit Erde auffüllen. Draußen an der Hügelflanke würde man die ausgestochenen Grassoden wieder an ihren Platz legen, und in zwei Wochen würde niemand, der es nicht wusste, mehr erkennen können, wo genau der Eingang zum königlichen Grab lag.
Sie erhob sich müde. Aus Erzählungen wusste sie, wie sie als kleines Mädchen in einem blauen Kleid an diesem Fjord gespielt hatte. Und wie sie bei einem Fest dem Bä-
renbeißer namens Blut auf die verletzte Schnauze gelangt hatte und alle Gäste vor Schreck den Atem anhielten, aus Angst, der große Hund würde sie zerfleischen.
Angeblich hatte sie auch an der Seite ihrer Mutter Asla gestanden, als das Wolfspferd in das alte Langhaus des Alfadas eingedrungen war. An all dies konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie war zu klein gewesen. Die Trolle hatten ihr schon damals Alfadas genommen, als ihre Familie während der Kämpfe im Elfenwinter auseinandergerissen wurde. Damals, als die Schlachten beendet waren, hatte ihre Mutter Asla entschieden, mit ihr und Kalf in ein einsames Tal weitab von jeder Siedlung zu flüchten. Ihre Mutter hatte ihr nie erklärt, warum sie das getan hatte.
Kadlin wusste, dass Asla Kalf, den Jäger und Fischer, von ganzem Herzen geliebt hatte. Und sie selbst hatte Kalf die meiste Zeit ihres Lebens für ihren Vater gehalten.
Sie blickte in das Antlitz ihres leiblichen Vaters. Selbst im Tod wirkte es noch müde und ausgezehrt. Er war ein einsamer Mann gewesen. Er hatte nie wieder eine Frau genommen. Lange hatte er nach ihr und Asla gesucht. Er hatte ihren vermeintlichen Tod nie verwunden. Kadlin fand, ihre Mutter hätte ihr früher sagen sollen, wer ihr leiblicher Vater war. Sie hätte selbst wählen sollen, wo sie leben wollte.
Sie blickte zu den beiden leeren Totenlagern, die für sie und Asla gemacht waren. Sie sahen aus wie schmale Betten. Das Leinenzeug war mit dunklen Stockflecken übersät.
Ihr Totenlager war klein. Das Bett eines Kindes. Darauf lag eine halb verbrannte Puppe, die einst ihr gehört hatte. Alfadas hatte sie in den Trümmern ihres niedergebrannten Hauses gefunden, als er von seinem Feldzug in die Snaiwamark zurückgekehrt war. Auf Aslas Lager lag eine Kette aus bunten Perlen. Ihr Vater hatte sie nie vergessen. Deshalb war sie in den Norden gegangen, um seine Leiche zu holen.
Sie war es ihm schuldig gewesen.
Sie küsste ihn auf die Stirn. Sie würde nie mehr in die Grabkammer kommen, schwor sie sich. Nicht, solange sie lebte. »Wir sehen uns in den Goldenen Hallen. Ich weiß, du bist dort und wartest.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab. Mit festem Schritt verließ sie die Totenkammer. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Kaum dass sie den Hügel verlassen hatte, begannen die Krieger ihrer Leibwache damit, den Zugang zum Grab zu verschließen.
Lambi hatte auf sie gewartet. »Du warst lange dort unten.«
»Ja.« Sie wollte allein sein. Und doch wusste sie, dass sie zur Totenfeier musste.
»Wirst du Frieden mit den Trollen halten?«, fragte er ohne Umschweife. »Alle wissen das mit dem Herzen ... «
»Sie wollten ihn damit ehren, behauptet Melvyn.«
»Ich glaube das auch.«
Kadlin dachte darüber nach. »Ich werde es dem Herzog nicht verzeihen.«
»Aber du wirst Frieden halten?« Sie schwieg.
»Verdammtes Gör! So warst du schon als Kind!«, entfuhr es ihm.
»Soweit ich gehört habe, hat man dich von mir ferngehalten, als ich noch ein Kind war.«
»Dein Vater hat mir so oft von dir erzählt, dass es mir vorkommt, als seiest du meine eigene verzogene Tochter!«
Die Worte waren zu viel. Ihr stieg ein Kloß in den Hals, und sie biss sich rasch auf die Lippen, um nicht loszuweinen.
»Du hast den Elfenwinter überlebt, du hast in der Schlacht an der Nachtzinne gekämpft, du hast ein Wolfspferd erschlagen. Du bist der einzige lebende Mensch, der zur Schwelle der Goldenen Hallen ging und wieder zurückkehrte. Und du bist nur mit deinem verrückten Bruder in Orgrims Herzogtum gereist, um Alfadas zurückzuholen.
Ihr zwei habt euch einem ganzen Heer von Trollen gestellt. Das ist genug für ein Leben. Das wären sogar für zwei Leben genügend Heldentaten. Niemand wird die Heldensaga glauben, die Isleif dichtet, wenn du noch mehr vollbringst.«
»Wer ist Isleif?« Sie hatte sich jetzt fast wieder in der Gewalt und war froh, dass ihr Lambi Gelegenheit gab, über etwas anderes als ihren Vater sprechen zu können.
»Isleif ist ein sehr talentierter junger Skalde, den ich in einer Schenke in Gonthabu kennengelernt habe. Er hatte schon von sich aus damit begonnen, eine Saga über dich zu dichten. Ich habe sie ein wenig verbessert.« Er deutete zum Langhaus des Königs hinauf. »Er ist auch dort oben. Es wäre an der Zeit, dass du dir selbst einmal anhörst, was er über dich dichtet.«
»Ich habe kein Interesse an Lügengeschichten.«
»Es ist besser, wenn sich Könige zu Lebzeiten selbst darum kümmern, welche Lügen über sie verbreitet werden, als wenn es andere tun, wenn sie tot sind! Stell dich nicht an wie ein bockiges Kind. Sei eine Königin! Weißt du ... « Plötzlich brach seine Stimme.
»Für meinen Jungen gibt es kein Grab. Und für die, die mit mir gekommen sind, um dich zu holen und die von den Trollen erschlagen wur den, wird auch niemand einen Grabhügel errichten. Wir trinken in dieser Nacht auch zu ihrem Andenken. Komm mit und erweise ihnen Ehre. Oder geh mit deinem Bruder, der unten am Fjord auf dich wartet. Aber dann komm nie wieder, hörst du! Wenn du in dieser Nacht nicht auf dem Thron von Alfadas sitzt und ein paar verdammt an-rührende Worte für unsere Toten findest, dann bist du es nicht wert, unsere Königin zu sein!«
Sie packte ihn bei den Schultern. »Ich werde nicht davonlaufen. Aber ich muss Melvyn verabschieden. Dann komm ich zum Fest. Ich verspreche es dir.«
»Ich warte hier«, brummte er missmutig.
Es war nur ein kurzes Stück Weg hinunter zum Wasser. Hinter sich hörte sie das Zischen der Spaten, die ins aufgeworfene Erdreich glitten. Und das dumpfe Geräusch der Erde, die in den Tunnel geworfen wurde. Sie hatte das Gefühl, dass all ihre Trauer wie ein zweites Kind in ihr lag. Ein Druck in ihrem Magen. Eine große, lebendige Kugel.
Sie legte die Hand auf ihren Bauch. Das Kind war reglos. Sicher schlief es. In den Fiebertagen auf dem Schlitten hatte sie es oft gespürt. Es war stark. Es würde leben!
Melvyn wirkte verloren. Er stand ganz allein am Ufer. Sein Umriss zeichnete sich schwarz gegen das Wasser ab, auf dem sich der Mond spiegelte.
Als sie an seine Seite trat, war sie plötzlich verlegen um Worte. Sie hätte sich gefreut, wenn er geblieben wäre. Aber sie wusste, dass er das nicht konnte. »Sie schließen das Grab jetzt«, brachte sie endlich hervor.
Er nickte. Auch er schien bedrückt. Vielleicht mochte er auch keine Abschiede.
»Wolkentaucher wartet auf dich?«
Ihr Bruder deutete in Richtung des Hartungskliffs auf der anderen Seite des Fjordes.
Majestätisch erhob sich der steile Berg über das Wasser. Ein Kreis aus uralten Steinen krönte sein Haupt. »Er ist dort oben. Wenn du gehst, wird er mich holen kommen.«
Sie wollte ihm noch so viele Dinge sagen. Doch der Festlärm von der Königshalle erinnerte sie daran, dass auch ihr keine Zeit mehr blieb. »Ich wollte mich noch dafür bedanken, dass ich noch all meine Finger und Zehen habe.«
»Du hast gutes Heilfleisch.«
»Du weißt, dass ich sie ohne deine Zaubermacht verloren hätte. Und mit erfrorenen Wangen hätte ich für den Rest meiner Tage wie ein junges Mädchen ausgesehen, das bei jedem Wort, das man an es richtet, schamhaft errötet.«
»Ich glaube, dass du auch mit grauem Haar noch wie ein junges Mädchen sein wirst.
Wahrscheinlich wird es dir in Zukunft schwerfallen, Fremde davon zu überzeugen, dass du die Königin bist. Du solltest dir ein bisschen Würde zulegen und vielleicht nicht immer in Hosen herumlaufen.«
Sie kannte seine Spaße und ahnte, dass sie womöglich noch derber werden würden.
Eigentlich war das nicht seine Art. Es sei denn, er wollte seine wahren Gefühle verbergen. Kadlin nahm seine Hand und legte sie an ihren Bauch. Das Kind war jetzt wach. Deutlich spürte sie seine Tritte. Alle Härte verschwand aus Melvyns Gesicht, als er es fühlte. »Sein Vater ist tot. Wenn es leben wird, dann nur, weil du uns gerettet hast.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das …«
»Ganz gleich, was du auch sagen willst. Für mich wird es immer so sein. Deine Bereitschaft, allein gegen hundert Trolle anzutreten, und dein Glück haben uns gerettet.«
Er lächelte. »Du redest schon wie eure Sagendichter. Aber nein, das war kein Glück.
Orgrim mag dich, meine sture kleine Schwester. Wahrscheinlich denkt er insgeheim, dass du, wenn du nur ein wenig größer, grauer und haarloser wärst, ein verdammt gutes Trollweib abgeben würdest.«
»Und wenn du etwas weniger Unsinn reden würdest, würdest du einen verdammt guten Bruder abgeben.«
Er senkte den Blick. Sie spürte, dass es nicht wegen ihrer Worte war. Da war etwas, das ihm einfach nicht über die Lippen kommen wollte. Seine Spaße, sein merkwürdiges Verhalten: All das sprach für sich. Es schrie ihr förmlich entgegen, dass dahinter mehr steckte. Was ging in ihm vor?
Sie sah nur einen Weg, es herauszufinden. Sie drückte seine Hand, die noch immer auf ihrem Bauch lag. »Sag es.« Er sah überrascht auf. »Was?«
Wie verräterisch ein einzelnes Wort doch sein konnte. Es sollte Unwissenheit vorschützen und tat doch genau das Gegenteil. Kadlin ging nicht darauf ein. Sie sah ihn einfach nur an.
»Ich ... « Er räusperte sich. »Wenn Skanga Orgrim zu sich befiehlt, dann kann das nur eines bedeuten. Es wird Krieg geben in Albenmark. Und die Maurawan waren schon immer Feinde der Trolle. Ich muss Leylin dort fortholen ... Ich muss sie ... « Kadlin konnte ihm ansehen, wie er innerlich all seinen Mut zusammennahm. »Können wir hierherkommen?«
Sie konnte nicht begreifen, warum ihn diese Frage solche Überwindung gekostet hatte.
»Ich würde mich freuen. Komm an meinen Hof. Ich ...«
Er hob abwehrend die Hand. »Wir werden uns einen einsamen Ort suchen. Irgendwo an der Grenze zu den Trollgebieten. Wir werden so gut wie unsichtbar sein.«
»Warum? Es gibt keinen Grund, dass du dich ... «
»Ich sehe aus wie ein Elf«, unterbrach er sie. »Und die Menschen hier glauben, dass Elfen Unglück bringen. Sie haben den Elfenwinter nicht vergessen und auch nicht, wie Emerelle kam, um Alfadas zu rauben. Ich habe sie reden hören, als sie dich zurückgebracht haben.«
Kadlin waren seine Worte ganz fremd. Aber vielleicht lag es daran, dass sie die Königin war und niemand offen mit ihr sprach. Außer Lambi! »Wir werden ihnen zeigen, dass sie sich irren!«
Er zögerte.
Sie strich sanft über seine Hand. »Bitte. Ich werde dich brauchen. Du bist hier willkommen.« Sie lächelte. »Und du sagtest ja schon, dass ich stur bin. Wehe dem, der dich oder Leylin schlecht behandelt. Wir werden einen Ort finden, an dem ihr in Frieden leben könnt.«
Er wirkte erleichtert, obwohl sie nicht darauf geschworen hätte, dass er ihr Angebot annehmen würde. Schweigen lag zwischen ihnen. Ein gutes, verstehendes Schweigen.
Endlich drückte er ihr die Hand. »Sie warten auf ihre Königin. Du musst gehen.«
»Wenn du nicht kommst, werde ich dich suchen gehen!«
Er lachte. »Ja, das würde ich dir zutrauen.« Darauf nahm er sie in den Arm. »Mach keinen Unsinn«, sagte er zärtlich.
Kadlin musste schlucken. Sie sah ihm nach, wie er am Ufer entlangging. Hoch oben am Hartungskliff löste sich ein großer Schatten aus dem Dunkel der Felsen. Sie beneidete ihn um seine Freiheit. Sie würde jetzt auch gern mit einem Adler fliegen.
Mit einem Seufzer wandte sie sich ab. Dann straffte sie sich und ging zu Lambi, der noch immer am Grabhügel wartete. Der alte Krieger war sichtlich erleichtert.
»Ich hätte nicht darauf gewettet, dass du kommst. Aber gut, dass du da bist. Es sind fast alle wichtigen Jarls dort oben. Mehr als bei deiner Krönung. Wir sollten das Schauspiel noch einmal wiederholen. Ich werde dir die Krone aufs Haupt setzen und dich zur Königin ausrufen. Und unser Skalde wird die ersten Verse aus dem Heldenepos über dich vortragen. Alle dort oben haben schon getrunken und um die Toten geweint.
Es wird leicht sein, ihre Herzen zu berühren. Du wirst sehen, deine Herrschaft beginnt...«
» ... mit einer Lügengeschichte!«
Lambi lachte laut auf. »Fast dasselbe hat dein Vater in der Nacht seiner Krönung gesagt. Und doch wurde aus ihm ein König, von dem man noch in tausend Jahren er-zählen wird. Er sagte auch, ich sei ein Mann ohne Moral. Ich finde, das ist nicht ganz richtig ... Mir fehlt die Moral nur dort, wo sie im täglichen Leben allzu hinderlich ist. Du wirst sehen, ein König braucht einen solchen Mann an seiner Seite. Alles Licht wird auf dich fallen. Ich erledige, was im Schatten getan werden muss.«
Falrach sah den Troll loslaufen und blickte zu der Wand aus Sand und Staub. Ein Troll, der den Helden spielte und Kinder rettete? Er blickte auf die flüchtenden Kobolde. Sie waren viel zu langsam! Er könnte es schaffen. Emerelle auch. Aber sie würde bei den Kobolden bleiben. Er tastete über den schweren Beutel mit Türkisen, der von seinem Gürtel hing. Das war das Gewicht eines Kindes. Und sein großes Zweihandschwert wog mindestens so viel wie drei Kinder. Ollowain hätte sicherlich nicht gezögert. Er fluchte leise und ließ den Gürtel mit den Türkisen fallen. Dann warf er das Schwert zur Seite und sah sich um. Ihm war gestern schon ein Mädchen aufgefallen, das hinkte.
Seine Haare waren zu Dutzenden kurzen Zöpfen geflochten, die ihm wie Stacheln vom Kopf abstanden. Und eine blinde Alte, die am Stock ging.
Die Blinde sah er zuerst. Sie war die Letzte im Zug. Man würde sie zurücklassen! Er lief zu ihr. »Du wirst jetzt getragen werden, Mütterchen.«
»Nimm einen, der sein Leben noch vor sich hat, du ... «
Ohne auf ihre Einwände zu achten, hob er sie sich auf den Rücken. »Halt dich fest. Ich schaffe den Weg zweimal!« Das war gelogen. Obwohl die Alte nur noch aus Haut und Knochen bestand, war sie schwerer, als er erwartet hatte.
Er sah sich wieder nach dem Mädchen um. Er hatte ihren Vater in den letzten Nächten beim Würfeln ausgenommen. Zuletzt hatte der Kerl sogar seine Muschelkette gesetzt und verloren. Falrach hatte sie genommen. Aus Prinzip. Das Würfeln war kein Spaß! In seinem früheren Leben hatte er sich mit allen Arten von Spielen seinen Lebensunterhalt verdient. Und er war nicht arm gewesen.
Er entdeckte das Mädchen, das er gesucht hatte, weiter vorne. Ihr Vater und ihre Mutter hatten es auf ihre überkreuzten Arme gehoben und liefen, so gut es ging. Und es ging schlecht. Er rannte zu ihnen. »Los, leg deine Arme um meinen Hals und schling die Beine um meine Hüften. Ich nehm dich vor den Bauch!«
Der Sturm riss ihm die Worte von den Lippen, aber das Mädchen schien verstanden zu haben. Ihre Eltern halfen ihr. Sie war sehr leicht, doch Falrach wusste, dass er mehr nicht tragen konnte. Er war halt kein Troll!
Dann lief er los. Der Lärm des Sturms schwoll an. Er drang nicht nur durch seine Ohren. Er war in ihm. Erschütterte seinen ganzen Leib. Und er schien ihn zurück-zudrängen zu den anderen, die trotz all ihrer Bemühungen hinter ihm zurückfielen.
Gemeinsam mit der Frau, für die er einmal gestorben war.
Die Böen, die der brodelnden Sturmwand vorauseilten, trafen ihn wie Schläge. Wie große, graubraune Staubgeister streiften sie über die Ebene. Falrach hätte jeden Eid geschworen, dass sie die Richtung wechselten, wenn er ihnen nahekam. Natürlich war das Unsinn.
Die Alte auf seinem Rücken wurde mit jedem Schritt schwerer. Und die Kleine klammerte sich so verzweifelt um seinen Hals, dass ihre Fingernägel in seine Haut schnitten. Ihr Kopf war fest gegen seine Brust gedrückt, und er spürte, dass sie schluchzte, obwohl der Sturm längst keinen Laut mehr duldete, den er nicht selbst hervorbrachte.
Madra war schnell! Der verdammte Troll würde das Rennen gewinnen. Daran hatte Falrach nun keinen Zweifel mehr. Er schaffte es nicht, den Vorsprung des Trolls einzuholen. Das würde es ihm leichter machen, dass er all die Türkise zurückgelassen hatte. Sie waren ein verlorener Einsatz. Das geschah auch ihm hin und wieder.
Erneut peitschte ein Staubgeist in sein Gesicht. Der Sand, den er mit sich führte, schnitt Falrach in die Haut. Er spürte, wie die Alte auf seinem Rücken zu rutschen begann.
Fluchend schob er einen Arm hinter seinen Rücken, um sie zu stützen.
Der Felsvorsprung war nicht mehr weit entfernt. Er war höher, als Falrach geschätzt hätte. Bestimmt drei Schritt. Wenn nicht mehr. Ein paar Augenblicke noch! Die Alte auf seinem Rücken rief etwas, aber er verstand in dem Lärm kein Wort. Dann drosch sie mit ihrem Stock auf ihn ein. Hielt die verfluchte Vettel ihn vielleicht für ein Rennpferd?
Er riss den Kopf in den Nacken. Nicht zu schnell. Er wollte ihr nur einen Stoß versetzen. Und da sah er es. Aus der Wand aus wirbelndem Tod löste sich ein mächtiger Staubarm und hielt auf sie zu. Einen Herzschlag lang erstarrte er und gaffte.
Das war unmöglich. Es war gegen die Regeln! Wie konnte ein Teil einer Sturmwand plötzlich schneller werden als der Rest?
Madra traf es zuerst. Der Troll wurde förmlich verschlungen.
So kurz vor der steinernen Stufe zu scheitern, empfand Falrach, als habe das Schicksal mit gezinkten Würfeln gespielt. Er presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf in Erwartung dessen, was kommen musste. Zuletzt hatte er sich die Richtung eingeprägt, in die der Höhleneingang lag.
Er hatte sich innerlich gewappnet und glaubte darauf vorbereitet zu sein, wenn die riesige Staubwalze des Sturms ihn verschlang. Er war es nicht!
Schon in dem Augenblick, als der Sturm ihn verschlang, musste er die Augen zukneifen. Und dennoch brannten sie, als sei heißes Salz hineingestreut worden.
Obwohl er den Kopf gesenkt hatte, half es nur wenig. Staub, Sand und feine Steinsplitter waren überall. Sie verstopften seine Nase und verwandelten seinen ohnehin schon trockenen Mund in eine Wüste, die nach Schwefel schmeckte.
Der Sand verstopfte Falrach die Ohren. Das war das einzig Gute! So wurde das unbeschreibliche Heulen des Sturms zu einem dumpfen Dröhnen.
Die Fingernägel des Mädchens gruben sich noch tiefer in sein Fleisch. Die Alte schlug wieder mit ihrem Stock auf ihn ein, dann gab sie es auf. Er konnte nicht schneller. Er musste dem Wind jeden Schritt abtrotzen. Ein heftiger Schlag traf ihn an der Schulter.
Kurz darauf zuckte das Mädchen in seinen Armen zusammen. Der Wind war so stark, dass er kleine Steine aufgewirbelt hatte. Und seine Wut gab ihnen eine Kraft, als seien sie von einer Armbrust abgefeuert worden. Einer schrammte über seine Schläfe hinweg. Falrach war sich sicher, dass die Wunde blutete. Aber Wind und Sand trockneten sie sofort.
Plötzlich ließ die Wut des Sturms ein wenig nach. Benommen taumelte er weiter und schlug gegen ein Hindernis. Die Felsstufe! Noch immer wagte er nicht die Augen zu öffnen, aber seine geschundenen Finger konnten den Fels ertasten. Doch hatte er wirklich den Weg behalten? Als er den Eingang zur Höhle das letzte Mal gesehen hatte, war er genau darauf zugegangen. Er hatte sie also verfehlt! Hatte er sich so sehr gegen den Wind gestemmt, dass er zu weit nach links geraten war? Oder hatte der Druck des Sturmes ihn nach rechts geschoben? Davon, dass er die richtige Antwort fand, hing ihr Leben ab! Er hätte gern eine Münze geworfen. Es gab keine logische Entscheidung, also konnte er sich auch seinem Glück anvertrauen, und zumindest in seinem früheren Leben war sein Glück eine über jede Vernunft hinaus verlässliche Größe gewesen.
Eigentlich gehörte es sich, die beiden anderen an der Entscheidung zu beteiligen.
Schließlich ging es nicht um sein Leben allein. Doch der tosende Sturm machte es un möglich, miteinander zu reden. Also entschied er, wenn das Mädchen sich zuerst regte, würde er links an der Felswand entlanggehen. Bewegte sich hingegen zuerst die Alte, dann ginge es nach rechts.
Er kniete, leicht gegen den Felsen gestützt. Deutlich empfand er nun den Schmerz des wundgescheuerten Fleischs.
Von Sturm gepeinigt, dehnten sich die Augenblicke. Endlich hustete das Mädchen.
Falrach war erleichtert. Hätte er es nicht dem Schicksal überlassen, wäre die Herz-Seite seine Wahl gewesen.
Blind tastete er sich am Fels entlang. Einen Schritt, zwei. Plötzlich verlor er den Halt und stürzte nach vorn. Seine Knie prallten hart auf Stein. Das Mädchen schrie auf.
Etwas packte ihn beim Arm. Er wurde nach vorn gezogen.
»Hast du es also doch geschafft«, erklang Madras kehlige Stimme.
Falrach wurde emporgehoben und ein kurzes Stück getragen. Der Lärm ließ nach.
Noch immer klammerte sich das Mädchen an ihm fest. Er öffnete die Augen. Seine Lider und Wimpern waren so sehr von Sand verklebt, dass er sie sauberreiben musste.
Die Augen brannten. Er vermochte kaum etwas zu sehen. Es war zu dunkel. Schwach konnte er den Umriss des Trolls erkennen. Sie waren in der Höhle! Sie schien groß zu sein. An der Wand vor ihm zeichneten sich regelmäßige, runde Formen ab.
»Wasserkr...« Den Versuch, zu sprechen bezahlte er mit einem Hustenanfall.
»Ja, scheiß Wasserkrüge. Sie müssen sehr alt sein. Obwohl sie verschlossen sind, sind sie trocken. Hab drei eingeschlagen. Die sind trocken wie Hasenköttel.« Mit diesen Worten ging er zu den Kindern, die weiter hinten in der Höhle kauerten. Dort redete er leise auf sie ein. Sie schienen ihm völlig zu vertrauen.
Falrach kämpfte den Husten nieder. Sein Glück hatte sich also erschöpft. Aber er lebte!
Vorsichtig löste er den Griff des Koboldmädchens. Wie es wohl hieß? Er drückte es an sich, um es zu trösten. Sofort krallten sich die kleinen Finger wieder in seine Kleider. Er wiegte es, bis die Angst wich. Schließlich löste die Kleine sich aus seiner Umarmung. Sie streckte einen Arm aus, so dass ihre Fingerspitzen die Höhlenwand berührten, und ging dorthin, wo Madra kauerte.
Falrach hörte leises Kichern. Dann stand der Troll auf und kam zu ihm zurück.
»Du siehst aus, als hätte dich ein Pferd ein paar Meilen durch den Dreck gezogen«, erklärte Madra ihm überflüssigerweise. Falrach verzichtete darauf, dem Troll eine passende Antwort zu geben.
»Bin vor dem Sand hier angekommen«, sagte Madra. »Meine Kleinen sind da vorne.
Kauern alle auf einem Haufen wie ein Wurf junger Welpen.«
»Warum ... « Fairachs Hals und sein Mund waren so trocken, dass der Versuch, zu sprechen, sich anfühlte, als zöge jemand eine schartige Klinge seine Kehle hinauf.
»Weil sie ein bisschen wie mein Volk sind.«
Falrach traute seinen Ohren nicht. Madra war der Letzte, von dem er erwartet hätte, dass er die Lügengeschichten der Grauhäute hinnahm.
»Emerelle hat sie einfach aus ihrer Heimat vertrieben. Ohne Gnade. Ganz wie mein Volk lange vor meiner Geburt. Deshalb haben wir ihr den Thron genommen. Sie soll wissen, wie sich das anfühlt, heimatlos zu sein.«
Der Elf war erstaunt. Er wusste nur sehr wenig über die lange Zeit, die zwischen seinem Tod und dem Wiedererwachen verstrichen war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Emerelle die Trolle ohne Grund gestraft hatte. Aber war es die alte Emerelle, an die er sich da in Gedanken klammerte? Es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass sie sich von dem Tag an, an dem sie allein in die Wüste gegangen war, sehr merkwürdig verhielt. Allein schon, sich so nackt unter den Kobolden zu zeigen! Und dass sie ihnen gestattete, sie mit Lehm einzureiben!
Er hatte mehrfach versucht, sie darauf anzusprechen. Aber sie wehrte jedes Gespräch ab. Schließlich hatte er es aufgegeben. Er würde sich ihr gegenüber nicht erniedrigen!
Sie schien den Grauhäuten plötzlich unbegreiflich nahezustehen. Und das, obwohl sie die Kobolde in die Verbannung zwang.
Madra hatte sich aufgerichtet. Er ging zum Höhleneingang und kehrte mit der Alten auf den Armen zurück. Vorsichtig legte er sie neben Falrach auf den Boden. »Sie hat es nicht geschafft. Ich glaube, der Sand hat sie erstickt. Siehst du? Ihr ist das Tuch von Mund und Nase gerutscht.«
Der Elf fühlte sich, als sei ihm eine große Bleikugel in den Magen gefallen. Er hätte besser auf sie achtgeben müssen! Hatte sie deshalb mit dem Stock auf ihn einge-droschen? War ihr der Mundschutz verrutscht, und sie hatte um Hilfe geschrien?
Er bettete ihr die Hände über die Brust. »Bitte verzeih.« Ihr Gesicht war vom Sand entstellt. Unwillkürlich tastete auch er sich über Stirn und Wangen. Sie waren mit klebrigem Sand überzogen.
»Ja, du siehst nicht mehr so gut aus wie heute Morgen«, sagte Madra, als könne er in seinen Gedanken lesen. Der Troll stand auf.
»Was hast du vor?«
»Ich geh noch einmal hinaus. Vielleicht finde ich noch welche …«
»Du würdest in dem Sturm nicht einmal deine Zehen finden!«
Madra lachte trocken. »Das ist der Fehler mit euch Elfen. Ihr messt immer alle an euch.« Er deutete in Richtung der Kinder. Falrach erkannte die Stachelfrisur seines Mädchens unter ihnen.
»Ich hab ihnen mein letztes Wasser hiergelassen. Sie werden den Sturm überstehen.«
»Es ist nicht klug ... «
Madra winkte ab. »Ich bin doch nur ein Troll, ich muss nicht klug sein. Das ist die Aufgabe von euch Elfen.« Mit diesen Worten trat er durch den Höhleneingang.
Falrach sah zu den Kindern. Es wäre verantwortungslos, sie allein zu lassen! Was für eine wunderbare Ausrede, schalt ihn eine innere Stimme. War es so? War es tatsächlich nur eine Ausrede? Was hätte Ollowain getan?
Falrach ballte die Fäuste. Er sollte aufhören, sich das zu fragen. Er war nicht Ollowain!
Es war völlig ohne Belang, was der Schwertmeister getan hätte! Er war Falrach, der Stratege Emerelles. Die Schwertarbeit hatte er früher anderen überlassen. Er hatte geplant, versucht, alle Unabwägbarkeiten vorauszuahnen. Er war gut darin gewesen.
Tödlich gut ... Jetzt dort hinauszugehen, war die blanke Unvernunft. Wäre das ein Spiel, dann würde er jetzt aussteigen und seinen Gewinn behalten.
Er ging zu den Kindern. Die meisten waren eingeschlafen. Nur ein etwas älterer Junge hielt noch Wacht. »Geht Madra meine Mutter holen?«
Falrach räusperte sich. Er brachte noch immer kein Wort hervor. Also nickte er nur.
»Der Riese ist nett. Er hat mir gesagt, dass ich bestimmt einmal ein großer Trollkrieger werde. Und dass ich auf die anderen aufpassen soll, bis er zurückkommt. Du kannst dich auch schlafen legen. Ich halte Wache.«
Jetzt boten ihm also schon Kinder an, über ihn zu wachen.
»Du siehst nicht gut aus, Riese. Dein ganzes Gesicht ist voller Blut. Bevor sie eingeschlafen ist, hat Ganya mir erzählt, wie schwer du mit dem Sturm gekämpft hast.
Madra hatte mehr Glück. Wir haben die Höhle erreicht, ohne gegen den Sand kämpfen zu müssen. Ich glaube, Madra will dir zeigen, dass er genauso stark ist wie du. Deshalb musste er gehen.«
Falrach atmete schwer aus. Noch immer brannten seine Lungen vom Sand. Hatte der Junge Recht? War Madra der Beschämte?
»Ich ... muss ... gehen«, krächzte der Elf unter Mühen.
Der Junge nickte ernst. »Madra hat gesagt, dass du ihm helfen würdest.«
Verdammter Troll! War Madra denn ein Hellseher? Er sollte ihn zum Würfeln herausfordern, wenn das alles hier vorbei war. Das würde sicher ein interessantes Spiel.
Ein wenig benommen wankte er zum Eingang der Höhle und blickte hinaus. Der Sturm hing wie eine dichte, braune Wolldecke, die fast alles Licht verschluckte, vor der Öffnung im Fels. Dort hinauszugehen, war verrückt. Er musste diesem Troll nicht beweisen, dass er genauso tapfer war wie er.
Falrach zog sein Halstuch vor Mund und Nase. Er musste nur sich selbst etwas beweisen. Vielleicht auch Emerelle. Der Wind würde ihm diese dummen Gedanken aus dem Kopf pusten.
Der Elf atmete noch einmal tief durch, dann trat er hinaus. Tausend winzige Hände schienen auf ihn einzuschlagen und zu versuchen, ihm die Kleider vom Leib zu reißen.
Mit dem Wind im Rücken kam er besser voran. Er konnte laufen! Ein Hochgefühl überkam ihn. Es schien, als werde er wie von Flügeln getragen. Er würde dem Sturm einfach davonlaufen! Fast hätte er vor Freude aufgejauchzt, doch so viel klarer Verstand war ihm dann doch noch geblieben, dass er nicht mitten in einem Sandsturm den Mund aufmachte.
Etwas riss ihm die Beine weg. Ein jäher, stechender Schmerz fuhr durch seinen linken Fuß. Der Wind trug ihn noch im Sturz ein Stück weiter. Er streckte die Arme vor.
Plötzlich schien alles unnatürlich langsam zu geschehen. Er bereitete sich auf den Sturz vor, als eine Bö ihn wie ein Fausthieb in den Rücken traf und zu Boden schleuderte.
Sein Kopf schlug gegen etwas Hartes. Gleißende Lichtpunkte löschten das wogende Braun des Sandsturms.
Er war nicht bewusstlos. Es war eher ein Zustand wie morgens, wenn man nicht mehr schläft, aber auch noch nicht den Willen aufbringt, sich von seinem Lager zu erheben. Er spürte, wie der Sand ihn zudeckte. Es war eine weiche, warme Decke.
Nikodemus nahm es Madra übel, dass der Troll all die Kinder, aber nicht ihn mitgenommen hatte. Sie waren doch Gefährten. Als auch noch der Elf davongelaufen war, hatte der Lutin sein Bestes gegeben, den beiden zu folgen. Aber es war aussichtslos gewesen. Er hatte einfach zu kurze Beine. Tod durch kurze Beine, dachte er grimmig. Irgendwie hatte er sich sein Ableben anders vorgestellt. Nein, das stimmte nicht. Bis jetzt hatte er sich noch nie viele Gedanken über sein Ableben gemacht.
Er blickte auf die braune Wand, die ihnen entgegenstürmte. Plötzlich streckte sie einen Arm vor und verschlang den Elfen. Nikodemus war völlig perplex. Stürme taten so etwas nicht! Er war sogar stehen geblieben.
Emerelle rief etwas. Ihre Stimme ging im Sturm fast unter. Er hatte nicht darauf geachtet. Er starrte nur auf die Wand, die vorrückte und den Fangarm wieder in sich aufgenommen hatte.
»Komm!« Ein älterer Kobold mit einer merkwürdigen Ledermütze packte ihn und zerrte ihn mit sich mit. »Hast du denn nicht gehört? Wir sollen uns dicht um sie scharen!«
Willig ließ sich der Lutin führen. Die Elfe hatte ihre Arme über den Kopf erhoben. Ihre Handflächen waren aufeinandergepresst. Ein Lederriemchen hing dazwischen hinab.
Nikodemus wusste, dass sie als die wohl mächtigste Zauberin Albenmarks galt. Aber vor der Sturmwand, die den ganzen Horizont ausfüllte, wirkte sie lächerlich winzig und zerbrechlich.
Diesmal lösten sich gleich zwei Fangarme. Nikodemus suchte nach einer Erklärung, wie das möglich war. Gab es im Wind vielleicht Strömungen wie im Wasser? Wehte er an manchen Stellen heftiger? Das konnte sein, es war ein ganz natürliches Phänomen.
Nur dass die Arme genau nach ihnen griffen und es auf der viele Meilen weiten Sturmwand nicht noch mehr dieser Strömungstentakel gab, war schon merkwürdig.
Aber merkwürdige Zufälle geschahen!
Warum hatte er sich eigentlich nicht in einen Falken verwandelt? Der Lutin stöhnte auf. Was für ein Idiot er doch war! Der Schrecken hatte ihm den Verstand gelähmt!
Jetzt war es zu spät. Der Gewalt des Windes würde er nicht mehr entkommen können.
Dobon, der alte Kobold mit der Ledermütze, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er hatte den Seufzer offensichtlich als ein Sich-Ergeben in den unausweichlichen Tod verstanden. »Ich hatte sie gewarnt.«
Obwohl er nur leise sprach, verstand Nikodemus ihn ganz klar. Der Lärm des Sturmes war fast völlig verebbt. Sicher gab es auch dafür eine natürliche Erklärung!
»Der Jadegarten gehört den Drachen. Sie wollen nicht, dass andere ihn betreten. Sie haben ihn geschützt!«
So ein hirnverbrannter Unsinn! Es gab keine Drachen mehr. Die Staubwand war jetzt nur noch fünfzig Schritt entfernt.
»Das ist kein Sturm. Das ist der Drachenatem.«
Noch zehn Schritt! Nikodemus duckte sich instinktiv, obwohl ihm klar war, dass es ihm kaum helfen würde. Er hob schützend die Arme. Eine absurde Geste angesichts der überwältigenden Macht, die binnen eines Herzschlags über ihn hereinbrechen würde. In der Not klammert man sich an jeden Strohhalm, dachte er. Dann wunderte er sich, wie lange es dauerte, bis das Verhängnis kam. War es ein schlechter Scherz des Schicksals? Wurde sein letzter Augenblick gedehnt, damit er sich aller Facetten von Todesangst voll bewusst werden konnte? Würde jetzt sein Leben noch einmal an ihm vorüberziehen? Seine endlosen Stunden mit Meister Gromjan, der ihn in der weiten Steppe des Windlands Magie gelehrt hatte. Seine verlorene Liebe Liza, die schon lange nicht mehr auf ihn wartete.
Nichts von alldem geschah. Endlich blinzelte er und blickte zwischen den Armen empor, überzeugt, der Sturm habe auf diesen Augenblick gewartet, um ihm mit glühendem Sand sein Augenlicht auszulöschen.
Gelbbraunes Zwielicht umfing ihn. Der Sand war keine drei Schritt entfernt. Das Toben des Sturms war durch ein leises, kratzendes Geräusch ersetzt. Eines von diesen Geräuschen, die einem, obwohl kaum wahrnehmbar, eine Gänsehaut verursachen. Es sah aus, als habe den Sturm eine Wand aus Glas aufgehalten. Manchmal zogen silbrige Schlieren darüber. Er blickte auf. Sehr hoch über ihren Häuptern wölbte sich das Glas zu einer Kuppel.
Als er zu Emerelle sah, stockte ihm der Atem. Zwischen den gefalteten Händen, die sie dem Himmel entgegenstreckte, war ein Licht, das Haut und Fleisch durchdrang. Er sah die Knochen ihrer Hand als Schatten, eingebettet in einen dunkelrosa Schimmer.
Die Gelenke und selbst die Armknochen bis fast zum Ellenbogen waren zu sehen. Ein feiner Rauchfaden stieg zwischen den gefalteten Händen auf. Ganz gerade, bis er in der Wölbung der hohen Kuppel verschwand. Fast schien es, als sei sie an einem Faden aus Rauch aufgehängt.
Sie stand genau in der Mitte ihres schützenden Gefängnisses.
Neugierig streckte Nikodemus die Hand nach der magischen Wand aus, die sie beschützte. Ein Schlag traf seine Finger. »Bist du verrückt?« Dobon war bei ihm, und der alte Kobold war außer sich. »Du bist doch ein Drachenrei ter! Du müsstest es am besten wissen, was es heißt, den Drachenatem zu berühren!«
Nikodemus sah den Alten verärgert an. »Und was heißt es?« Jetzt ruhten die Blicke der Grauhäute nicht mehr auf Emerelle, sondern auf ihm. Selbst die Kinder gafften.
»Der Drachenatem entkleidet jeden, der in den Jadegarten will. Erst reißt er dir die Kleider vom Leibe. Dann die Haut. Zuletzt bleiben nur noch deine blankpolierten Knochen. Es ist ein Zauber, alt wie die Drachen selbst. Er wurde einst von ihrem König gewoben. Und auch wenn die großen Drachen schon seit vielen Generationen gegangen sind, so bestehen ihre Zauber doch fort. Niemand kann die Orte betreten, die sie für sich allein geschaffen haben. Nur diejenigen, die sie zu sich rufen, sind vor dem Drachenatem geschützt. Alle anderen wird er verderben.«
»Das sind Märchen«, murmelte Nikodemus, um sich Mut zu machen. »Das ist nur ein Sandsturm. Sonst nichts.«
»Halt einen Finger hinaus, wenn du mir nicht glaubst«, beharrte der Alte.
Der Lutin zögerte. Er sah zu Emerelle. Eine blasse, blaue Flamme leuchtete zwischen ihren Händen auf und verschwand. Einen Herzschlag später war sie wieder da.
»Niemand kann den Drachen widerstehen!«, sagte Dobon mit Bestimmtheit. »Ich habe bis zuletzt nicht geglaubt, dass sie uns in den Jadegarten bringen will. Ich dachte, sie hätte sich eine der anderen verborgenen Oasen als Ziel gesucht. Eigentlich hätten wir gar nicht so nahe kommen dürfen. Hier war niemand mehr, seit...«
Eine riesige, blutige Gestalt trat durch den Bannkreis. Sand flutete hinter ihr durch die Öffnung, die sein Leib geschlagen hatte. Alle wichen vor dem Ungeheuer zurück. Ein Schrei ließ Nikodemus herumfahren. Eine junge Koboldfrau mit einem Muster wie ein Spinnenetz über ihren nackten Brüsten war zu weit zurückgewichen. Sie war mit einem Fuß durch den Zauberbann getreten. Die Macht des Sturms zog sie heraus. Zwei Frauen versuchten sie festzuhalten. Immer gellender erklangen die Schreie des Opfers.
Auch die anderen Frauen wurden auf die Schutzwand zugezogen. Es war, als lauerte dort draußen ein gieriges Raubtier, das nichts, was einmal in seine Fänge geraten war, wieder losließ. Mehr und mehr Kobolde griffen nach ihren Armen und ihrem Körper.
Sie zerrten und stemmten sich gegen die Wut des Sturms.
Die Unglückliche wurde nun langsamer hinausgezogen. Ihre Stimme verlor an Kraft.
Die Schreie wurden leiser. Unter dem rissigen Lehm sah Nikodemus alle Farbe aus ihrem Gesicht weichen.
Wer immer dem Bannkreis bis auf einige Zoll nah kam, ließ los. Fingerbreite um Fingerbreite wurde sie hinausgezogen. Noch stemmten sich ihre Brüder und Schwestern gegen das Unausweichliche, doch der Lutin ahnte, dass der Kampf schon längst verloren war. Die Stimme der Frau war erstorben. Der Sturm hatte all ihr Blut aus dem wunden Körper gesogen.
Erschüttert sah er zu dem Riesen auf, und Dobons Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Der Drachenatem entkleidet jeden, der in den Jadegarten will. Erst reißt er dir die Kleider vom Leibe. Dann die Haut… Vor ihm stand Madra! Der Sand, durchsetzt mit messerscharfen Steinsplittern hatte den Troll gehäutet. Seine nackten, geschundenen Muskeln lagen offen zutage. Madra hatte außer einem Lendenschurz keine Kleidung getragen.
Er ging vor Emerelle in die Knie. Wieder tänzelten Flammen um ihre Fingerspitzen.
Länger diesmal. Der Rauchfaden, der zwischen ihren Händen aufstieg, war dunkler.
Es roch nach verbranntem Fleisch.
»Sie kann der Drachenmagie nicht widerstehen«, sagte Dobon, der noch immer neben ihm stand. »Weder der Riese Madra, so unermesslich seine Kräfte auch sein mögen, noch die Zauberin kann es. Wir sind verloren!«
Nikodemus hatte den Eindruck, dass die Kuppel über ih nen nicht mehr so hoch war wie zuvor. Wie lange konnte Emerelle den Albenstein noch halten, mit dem sie ihre Magie verstärkte und der ihre Hände verbrannte?
»Madra! Kannst du mich hören?«
Der Troll drehte den Kopf in seine Richtung. Ein Teil seiner Lippen war vom Sand weggeschliffen. Die großen Fangzähne lagen bloß. Blut rahmte die Zähne.
»Findest du den Weg zurück?«
Der Troll öffnete das Maul. Ein heiserer Laut entrang sich seiner Kehle. Nikodemus konnte nicht verstehen, was er sagte. Er ging zu seinem Freund. Der Troll zitterte am ganzen Leib. Blut sickerte durch das rohe Fleisch. Es vereinigte sich zu dünnen Strömen, die seinen Leib hinabrannen. Man musste kein Heilkundiger sein, um zu erkennen, dass er unrettbar verloren war. »Findest du den Weg zurück?«
Wieder das Röcheln. Es war aussichtslos!
»Ich bin es, Nikodemus.« Er sah hinauf zur Kuppel. Jetzt war sie ganz sicher niedriger.
Dobon hatte Recht. Was immer es auch war, wogegen die Königin ankämpfte, alte Magie oder doch nur ein wütender Sturm, sie würde verlieren!
Er legte die Hand auf das rohe Fleisch von Madras Wade. Er drückte zu. Die Muskeln zuckten unter seiner Berührung. »Du musst dem Druck meiner Hand folgen, Madra.«
Der Troll stöhnte auf.
»Du wusstest, dass du dazu berufen bist, ein Held zu sein. Erinnerst du dich, wie wir darüber gesprochen haben. Jetzt ist deine Stunde gekommen! Bitte, bewege dich.«
Unsicher machte Madra einen Schritt. Sich zu bewegen, tat ihm nicht gut. Deutlich sah Nikodemus, dass noch mehr Blut aus dem geschundenen, mit Staub und Sand verklebten Fleisch sickerte.
»Sehr gut! Geh noch ein Stück.« Er brachte den Troll bis unmittelbar vor Emerelle. Sie hatte sich in der ganzen Zeit, in der sie gegen den Sturm ankämpfte, nicht bewegt.
All ihre Sinne waren allein auf das verzweifelte Kräftemessen gerichtet.
»Kannst du sie sehen? Du musst Emerelle hochheben.«
Madra machte eine Bewegung, die wohl ein Kopfschütteln sein sollte. Er neigte sich ein wenig. Jetzt erst konnte Nikodemus das geschundene Gesicht in aller Deutlichkeit erkennen. Die Augen des Trolls waren nur noch Höhlen voller verkrustetem Blut.
Der Lutin kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn bei dem Anblick überkam. Hatte der Sturm mit besonderer Macht Madras Gesicht angegriffen? So, wie er mit einem Fangarm den Elfen verschlungen hatte? Ohne Zweifel waren die Verletzungen im Gesicht besonders schwer.
»Du musst sie hochheben. Vorsichtig. So wie du die Kinder hochgehoben hast. Sie wirkt einen Zauber, der uns alle am Leben erhält. Mir scheint, sie ist nicht ganz bei sich. Der Zauber darf nicht gestört werden. Hast du das verstanden.«
Statt zu antworten, ging Madra in die Knie. Ganz langsam streckte er einen Arm vor.
Er zeigte grob in Nikodemus’ Richtung.
»Du sollst die Hand nehmen und ihn führen«, sagte Dobon. Zum ersten Mal klang Panik in seiner Stimme. »Wir könnten auch alle gemeinsam versuchen, sie hochzuheben.«
Von der Vorstellung, dass Dutzende Koboldhände nach ihr griffen, um Emerelle schwankend in die Höhe zu heben, hielt Nikodemus gar nichts. Er vermied es, noch einmal hinaufzusehen. Er ahnte, was Dobon in Angst versetzte.
Vorsichtig nahm er die Hand seines Freundes. Der Troll zuckte bei der leichtesten Berührung zusammen, gab aber keinen Schmerzenslaut von sich. Nikodemus führte Madras Hand zur Hüfte der Elfe. Madras zweite Hand fand allein ihren Weg.
»Du musst sie ganz sacht hochheben!« Der Geruch nach verbranntem Fleisch wurde immer durchdringender. Das gleißende Licht verhinderte, dass man Emerelles Finger deutlich sah. Aber sie wirkten dünner.
Der Troll stieß einen grunzenden Laut aus, als er die Elfe anhob. Madra bewegte sich unbeholfen. Er drehte sich. Nikodemus achtete darauf, dass er in seinen Spuren ging.
Er hoffte, dass der Troll geradeaus gegangen war und nicht orientierungslos durch den Sturm getappt war. Ihm war bewusst, dass das wohl zu viel der Hoffnung war. Was konnte man von jemandem erwarten, der geblendet und vor Schmerz wahrscheinlich halb wahnsinnig war?
»Die Höhle liegt etwas weiter links«, sagte Dobon. Er hatte sein Volk dicht um Emerelle geschart.
»Du bist dir sicher?«
»Ich habe mein ganzes Leben in der Wüste verbracht. Hier die Richtung zu verlieren, bedeutet das Ende. Vertraue mir.«
Das sagte der Anführer eines ganzen Stammes von Lügnern! Aber hatte er eine Wahl?
Nikodemus war sich nicht ganz sicher, aber auch der Schutzkreis, den der Zauber der Elfe dem Sturm abtrotzte, schien enger geworden zu sein. »Wenn du dich irrst, sind wir tot.«
»Wenn wir nicht losgehen, weil wir über den Weg streiten, sind wir noch sicherer tot!«
Dem ließ sich nichts entgegensetzen. Nikodemus stellte sich neben Madra. Mit leichtem Druck gegen dessen Schenkel brachte er den Troll dazu, die Richtung zu ändern. Überall im Sand war dessen Blut. Seine eigenen Hände waren ganz klebrig vom Blut. Madra schwankte leicht. »Geh! Halt bitte durch!« Wieder drückte er ihm auf den Schenkel. Er sah, wie seine Berührung Blut aus dem rohen Muskel presste.
Der Troll ging sehr langsam. Seine geschundenen Füße hoben sich kaum vom Boden.
Behutsam führte Nikodemus ihn um Felsstücke herum, die aus dem Sand ragten. Und Dobon achtete darauf, dass sie dabei nicht die Richtung verloren.
Die Elfe hielt sich ganz steif. Man hätte meinen können, dass der Troll eine lehmverschmierte Statue trug. Die blassblauen Flammen, die um ihre Finger spielten, verloschen nicht mehr. Nikodemus fragte sich, wie man die Willenskraft aufbringen konnte, einen glühenden Stein festzuhalten. Vielleicht war das Fleisch ihrer Hände miteinander verschmolzen, und sie konnte gar nicht mehr loslassen?
Quälend langsam kam sie voran. Der Lutin hatte das Gefühl, dass der Sturm immer heftiger gegen den magischen Schutzwall anstürmte. Das wütende Gebrüll war lauter geworden. Und immer häufiger zeigten sich die silbernen Schlieren, die ihm schon zu Anfang aufgefallen waren.
Plötzlich stieß jemand hinter ihm einen aufgeregten Ruf aus.
Dobon packte ihn bei der Schulter. »Warte!«
»Uns läuft die Zeit davon!« Wütend blickte Nikodemus zurück. Die Grauhäute gruben mit den Händen im Sand. Zwei Stiefel erschienen. Ein Bein in einer weiten Hose. Falrach! Die Magie, die seine Kleider vor Schmutz bewahrte, schien auch dem schmirgelnden Sand getrotzt zu haben. So ein verdammter Glückpilz, dachte Nikodemus. Er hätte schon bei der Schlacht am Mordstein verrecken sollen. Der Lutin erinnerte sich noch gut, wie schwer verletzt der Elf gewesen war.
Als sie Fairachs Hände und Gesicht freilegten, änderte er seine Meinung. Der Elf war doch kein Glückskind. Dort, wo ihn seine Kleider nicht geschützt hatten, sah er nicht besser aus als Madra. Sein Gesicht war eine einzige blutende Wunde.
»Nehmt ihn mit!«, befahl Dobon.
Eine Gruppe Krieger umringte den Elfen und packte ihn. Sie zogen ihn über den Boden, und obwohl sie recht derb mit ihm umgingen, wachte er nicht mehr auf.
Nikodemus wurde sich bewusst, dass er jetzt völlig den Grauhäuten ausgeliefert war.
Es war niemand übrig geblieben, der ihn hätte beschützen können. Was sie wohl mit ihm anstellen würden, wenn die anderen starben?
Wie sich zeigte, hatte Dobon die Richtung gut eingeschätzt. Sie erreichten die Höhle ohne Zwischenfall. Zuerst wurden alle Kobolde hineingeschafft. Nur im Ein-gangsbereich der Höhle lag ein wenig Sand. Sie fanden die Kinder, die Madra und Falrach hierhergebracht hatten, wohlbehalten vor.
Zuletzt kamen Emerelle und der Troll. Im selben Augenblick, als die Elfe durch den Höhleneingang trat, heulte der Sturm hinter ihr auf wie ein wütendes Tier. All ihre Zaubermacht war verloschen. Nikodemus sah ihre Hände und blickte sofort wieder weg. Sie würde für immer verkrüppelt sein. Da würde ihr der Zauber, den sie in Feylanviek gewirkt hatte, um ihre abgetrennte Hand nachwachsen zu lassen, auch nichts mehr nützen. Er hatte sie nie gemocht. Sie war hochmütig und grausam. Sie verkörperte alle schlechten Eigenschaften der Elfen für ihn. Aber an diesem Tag hatte sie sich selbstlos aufgeopfert. Sie war eine Meisterin der Magie, und der Lutin war sich sicher, wenn sie es gewollt hätte, dann hätte sie leicht einen Weg gefunden, um nur sich und Falrach zu retten. War das die herausstechendste Eigenart einer guten Königin? Ihr Volk in Zeiten der Not niemals im Stich zu lassen?
Sie war nicht ganz bei sich. Schmerz und Erschöpfung hatten sie völlig ausgezehrt.
Einige Koboldfrauen führten sie zu einer Nische, weiter hinten in der Höhle. Sie versuchten ihre Hände zu versorgen, so gut es eben möglich war.
Madra ging dicht beim Eingang in die Knie. Einen Moment lang verharrte er schwer atmend, dann stürzte er nieder. Fast hätte er einen der Alten unter sich begraben, die, am Ende ihrer Kräfte, am Eingang der Höhle verharrt hatten.
Nikodemus eilte an die Seite seines Gefährten. Er hatte erwartet, seinen Freund bewusstlos vorzufinden. Dem war nicht so. Seine entstellten Lippen bewegten sich. Unverständliche Laute entrangen sich seiner Kehle. Der Lutin versuchte, ihm etwas aus seiner Kürbisflasche zu trinken zu geben, doch das meiste rann an den Lippen vorbei. Schließlich riss sich Nikodemus einen Streifen von seinem Hemd, tränkte es mit Wasser und ließ den Troll daran lutschen. So gelang es Madra, ein wenig Flüssigkeit aufzunehmen.
»Wel...pen«, stieß der Troll hervor. Er wiederholte die zwei Silben, und Nikodemus verstand das Wort ganz klar, aber es dauerte eine Weile, bis er begriff, was sein Ge-fährte wollte. Er stand auf und ging in die Höhle. Fast alle Kinder kamen mit ihm, als er sie fragte. Und das, obwohl sie wussten, wie Madra aussah.
Sie stellten sich in mehreren Reihen um den Troll. Einige der Kleineren weinten. Selbst sie begriffen, wie es um Madra stand. Der ältere Junge, den Madra in die Höhle getragen hatte, hatte einen kleinen Tonkrug mit einer fettigen, gelben Salbe mitgebracht.
Vorsichtig tupfte er sie auf die Wunden des Trolls.
Madra zitterte jetzt. Nikodemus war kein Heiler, aber er hatte bei Gromjan und später bei Ganda genug gelernt, um zu wissen, was das bedeutete. Der Troll kühlte aus. Er hatte zu viel Blut und schützende Haut verloren. Sein Körper konnte keine Wärme mehr halten.
Den Hünen so hilflos schlotternd zwischen den Kindern liegen zu sehen, berührte Nikodemus zutiefst. Er räusperte sich, um sein Schniefen zu überspielen.
»Tut das schlimm weh?«, fragte ihn ein kleines Mädchen mit zu Stacheln gedrehten Haaren.
Wieder räusperte er sich. »Er ist ein harter Bursche. Er hält viel aus.«
Nikodemus sah die neue Hoffnung in den Gesichtern der Kinder. Er verfluchte sich.
Was war er nur für ein Idiot!
Das Mädchen beugte sich zu Madras Kopf. »Hast du gehört? Der Drachenreiter sagt, es wird wieder gut.«
Wie konnte er das zurücknehmen? »Ich ... « Der Junge, der die Salbe auftrug, sah ihn finster an. Zumindest ihm war klar, dass hier nichts mehr gut würde.
»Er sagt etwas!«, rief das Mädchen aufgeregt.
Sofort war Nikodemus wieder über seinen Lippen. Madras Atem war kaum noch zu spüren. Aber er versuchte tatsächlich noch etwas zu sagen. »Tus ... « Was sollte das heißen?
»Tus ... « Er bäumte sich leicht auf. Einige der kleineren Kinder wichen zurück.
»Tusni…!«
Der ältere Koboldjunge hatte damit begonnen, die Lederriemchen der Amulette zu durchtrennen. Einige waren mit dem geronnenen Blut auf den Wunden verklebt.
Madras Atem ging schneller. Er begriff wohl, dass es ihm einfach nicht gelang, sich verständlich zu machen. Was war ihm so wichtig, dass er seine letzten Kräfte dafür gab?
Nikodemus sah, wie der Junge das Knochenamulett mit den Federschnitzereien löste.
Madras Blut hob die eingekerbten Linien rotbraun hervor.
»Das gehört mir«, sagte Nikodemus hastig.
Der junge Kobold sah ihn finster an. »Natürlich, darum trägt er es ja auch.«
»Ich habe es ihm geliehen.«
Der Junge hielt es in der flachen Hand und strich mit den Fingerspitzen darüber. »Es ist von Magie durchdrungen. Viel stärker als die anderen Amulette.« Seine Stimme klang jetzt ehrfürchtig. »Es ist...«
».. meins! Her damit.«
Der Koboldjunge wirkte jetzt eher trotzig als finster. Es war unübersehbar, dass das Amulett ihm Angst machte. Nikodemus steckte fordernd die Hand über die breite Trollbrust.
»Schnapp!«
»Nicht!« Es war zu spät. Der kleine Drecksack wollte lässig sein. Er warf ihm das Amulett zu. Es segelte ein kleines Stück durch die Luft. Ein Kranz goldenen Lichts bildete sich um den Knochen. Dann war er verschwunden. »Tusni«, röchelte Madra.
Und jetzt, da es zu spät war, begriff Nikodemus endlich. Tusni ... Tu es nicht! Das war es, was er meinte. Tu es nicht!
»Ich habe hiermit die Probleme dargelegt, die zu erwarten sind. Und ich versichere, meine Brüder und Schwestern werden mit äußerster Bestürzung auf die neuen Gesetze reagieren«, endete die Rede Elijas.
Im Thronsaal von Burg Elfenlicht herrschte einige Augenblicke lang Schweigen. Der Lutin hatte über eine Stunde geredet und die Mehrzahl der anwesenden Würdenträger aus den Reihen der Trolle war eingeschlafen. Die Kobolde aber waren hellwach. An den Farben ihrer Auren war unübersehbar, dass er ihnen aus den Herzen gesprochen hatte. Eins jedoch machte Skanga stutzig. Obwohl er sich sehr ausführlich über die zahllosen Nachteile der Gesetze ausgelassen hatte, hatte Elija nicht ein einziges Mal gefordert, dass sie nicht in Kraft treten dürften. Wer ihn nicht kannte, hätte argwöhnen können, dass es ihm genügte, Andeutungen zu machen oder dass er sich gar mit der Unaufhaltsamkeit der neuen Gesetzgebung abgefunden hätte. Aber daran glaubte die Schamanin keinen Augenblick. Etwas an den Gesetzen gefiel ihm. Sonst hätte er ganz anders vom Leder gezogen.
Skanga war sich unschlüssig, ob sie dem nachgehen sollte. Aus ihrer Sicht war es erstrebenswert, dass diese Dinge geregelt waren. So würde die Herrschaft der Trolle auf festeren Füßen stehen.
»Mein lieber Bruder Elija ...«
Skanga zuckte innerlich zusammen, als sie Gilmarak so reden hörte. Sie hatte gehofft, die ausgedehnten Jagdausflüge hätten ihn dieses Koboldgewäsch wieder vergessen lassen.
».. ich habe mir wiederholt aus deinen Schriften vorlesen lassen, und in Kobolde zum Lichte empor forderst du selbst die Umverteilung der Besitztümer von den wenigen Reichen auf die Unzahl armer Koboldlohnarbeiter. Genau dies wird stattfinden, wenn diese Gesetze in Kraft treten.«
Elija war sichtlich überrascht, dass der junge König seine Schriften nicht nur kannte, sondern auch noch nachreden konnte. Skanga hatte dazu gemischte Gefühle. Dass Elija mit seinen eigenen Waffen attackiert wurde, amüsierte sie, doch dass Gilmarak so tief in die Sichtweise der Kobolde eintauchte, empfand sie als bedenklich. Es war nicht die Aufgabe eines Trollkönigs, verquere Koboldgedanken zu verstehen!
»Ich meinte damit vor allem über Jahrhunderte ohne eigener Hände Arbeit angehäuftes Vermögen, wie es sich im Besitz der Fürstenhäuser der Elfen befindet.
Wenn ein Kaufmann unter hohem Risiko Gewinne erwirtschaftet, dann ist dies durchaus statthaft. Kennst du einen Elfengoldschmied, der das Gold, mit dem er arbeitet, selbst dem Fels abgerungen hätte?«
»Ich kenne auch keinen Koboldkaufmann, der den Weizen, den er mit Gewinn verkauft, im Schweiße seines Angesichts geerntet hätte«, entgegnete der König.
Skanga klopfte Gilmarak auf die Schulter. Das hatte er prima gemacht, aber nun war es genug. Die Schamanin stand unmittelbar hinter dem Thron und hatte einen guten Blick auf die Versammlung im Saal. Es waren weit über zweihundert Kobolde dort, Vertreter aller großen Städte und Handelshäuser. Die Kobolde wurden sichtlich unruhig, als ihr Sprecher von einem dummen Troll in Schwierigkeiten gebracht wurde.
»Du hast die komplexe Dialektik der sozial akzeptablen Distribution eines fluktuierenden Privatkapitals unter Berücksichtigung pluralistischer Interessengruppen noch nicht in all ihren Spielarten erfasst, Bruder Gilmarak. Mit großer Freude stelle ich indes fest, dass du meine Schriften derart aufmerksam liest.
Wir sollten die Anwesenden jedoch nicht mit Debatten auf solch gehobener Verständ-nisebene langweilen.«
Gilmarak wollte noch etwas antworten, aber Skanga war der Meinung, dass genug Unsinn geredet worden sei, und zwickte dem König in die Schulter. Deutlich spürte sie seinen Unwillen, doch der König fügte sich. »Ich nehme dich beim Wort und werde alle Einwände noch einmal bedenken. In einer Woche werde ich den Anwesenden verkünden, zu welchem Schluss ich in Bezug auf die neuen Gesetze gekommen bin. Ich möchte alle hier Versammelten warnen, sich zu große Hoffnungen auf Änderungen zu machen, denn eine Vereinheitlichung und Vereinfachung der vorhandenen Gesetzeswerke halte ich nach wie vor für erstrebenswert. Kommen wir nun zum Nächsten. Ich bitte um Bericht über die Fortschritte beim Entwurf der von mir in Auftrag gegebenen Steppenschiffe. Wer ...«
Skanga blickte zu den Trollherzögen und Rudelführern, die sich ungeniert auf dem Boden des Thronsaals zu einem Verdauungsschlaf ausgestreckt hatten. Die meisten von ihnen würden bald große Städte oder Provinzen regieren. Auch wenn sie die neuen Ideen und den sich ändernden Wortschatz Gilmaraks bedenklich fand, wünschte sie sich doch, dass diese Elite des neuen Königreichs der Trolle zumindest ein Fünkchen der Begeisterung ihres Herrschers aufbringen würde. Vielleicht sollte sie…
Ein kleiner Lichtpunkt leuchtete dicht neben dem Thron auf. Etwas fiel klackernd auf den steinernen Boden. Gilmarak lauschte zu gebannt den Ausführungen eines Koboldbaumeisters, um etwas zu bemerken. Aber Birga streckte gerade ihren Fuß aus, um ihn auf dieses von Magie durchdrungene Ding zu setzen, das da aus dem Nichts erschienen war.
»Gib es mir«, raunte Skanga ihrer Schülerin zu.
Birgas Aura durchflutete das lichte Blau jähen Schreckens. Ertappt streckte sie die Hand aus.
Sobald Skanga das kleine Amulett berührte, erkannte sie es wieder. Und sie spürte das Blut darauf. Emerelle war also gefunden! Aber wie pfiff man Shi-Handan zurück? Die Geisterhunde waren auf der Jagd nach der Königin und nach dem Anführer der Spinnenmänner. Es war unmöglich, einzuschätzen, wo sie sich aufhielten.
Die Schamanin fluchte stumm. Sie würde sich noch einmal mit Alathaia treffen müssen. Vielleicht wusste die Elfenfürstin Rat. Immerhin bestanden die Shi-Handan zur Hälfte aus ihren Vertrauten. Skanga hasste den Gedanken, ausgerechnet sie um etwas bitten zu müssen. Gewiss hatte sie selbst schon versucht, Shi-Handan zu erschaffen, und war gescheitert. Schließlich fehlten ihr wesentliche Teile des Wissens.
»Wir müssen ihr die Hände abnehmen!«
»Bist du verrückt? Sie prügelt dich mit den Stümpfen tot, wenn du es versuchst.«
»Wenn man überhaupt etwas tut, dann sollte man die Arme gleich unterhalb der Ellenbogen absägen«, mischte sich eine dritte Stimme ein.
»Hast du vielleicht eine Säge mit dir herumgeschleppt?«, entgegnete die erste Stimme, offensichtlich eine Frau.
»Wir könnten das Messer des anderen kleinen Riesen nehmen. Das hat er behalten.«
»Und wie willst du einen Riesenknochen durchtrennen?«, merkte die zweite Stimme an. Ein älterer Nörgler, dem man es offensichtlich nie recht machen konnte.
»Wenn man durch das Ellenbogengelenk schneidet, muss man keinen Knochen durchtrennen. Und sieh dir nur an, wie weit die Verbrennungen reichen. Viel gesundes Fleisch wird sie dabei nicht verlieren.« Die dritte Stimme schien einem Mann zu gehören. Er sprach mit großer Begeisterung.
»Man sollte warten, bis sie aufwacht, und sie fragen«, wandte der Nörgler ein.
»Das ganze tote Fleisch wird ihr Blut vergiften. Und wenn das nicht passiert, wird sie zu viel Flüssigkeit über die verbrannten Flächen verlieren. Sieh dir mal an, wie viel von diesem durchsichtigen gelben Sabber aus ihren Verbrennungen tropft. Die ist bald so trocken wie ‘ne alte Jungfer. Ich sage euch, die Arme müssen ab. Gleich am Ellenbogen!«
Durch den Schleier der Schmerzen klangen die Stimmen wie aus weiter Ferne.
Emerelle war am Rande der Ohnmacht. Sie vermochte dem Sinn der Worte, die sie hörte, kaum zu folgen. Den Anfang des Gesprächs hatte sie nicht wahrgenommen.
Das Fleisch ihrer Hände war miteinander verschmolzen. Die Haut der Handflächen war zu Rauch geworden. Der Albenstein lag in den Überresten ihres verbrannten Fleischs eingebettet. Er und das Erbe ihres Vaters würden helfen, sie zu heilen, wenn ihr genug Zeit blieb. Sollten die Kobolde allerdings versuchen, ihr die Arme zu amputieren, bestanden wohl beste Aussichten, dass sie verbluten würde. Oder sie würde am Schock sterben.
»Wir könnten sie auch einfach liegen lassen«, sagte der Nörgler.
»Und dann?«, wollte die Frau wissen. »Was machen wir dann? Zurückgehen? Ohne Wasser werden wir nicht weit kommen. Wenn sie hier stirbt, dann wird unser ganzes Volk mit ihr sterben.«
»Wir könnten versuchen, zum Jadegarten zu kommen«, wandte der Nörgler ein. »Der Sturm flaut ab. Es ist nicht mehr weit. Weniger als einen Tagesmarsch, schätze ich. Wir sollten dann noch den anderen Riesen töten. Der große Riese hat es schon hinter sich.
Dann sind wir wieder frei.«
»Und der Drachenreiter?«, wandte die Frau ein. »Den müssten wir auch umbringen.
Und wie viele von uns werden sterben? Wir haben fast kein Wasser mehr. Wir alle sind geschwächt. Wer überlebt den Marsch durch die Wüste? Acht von zehn? Oder vielleicht nur sieben? Wenn du jemals ein Kind geboren hättest, dann würdest du nicht so leichtfertig über Leben sprechen.«
»Da ich nie eines geboren habe, kann ich für alle denken, statt im Kampf um ein einzelnes Leben das Schicksal unseres Volkes aus den Augen zu verlieren«, entgegnete der Alte gelassen. »Welche Wahl haben wir denn? Hier sitzen und nichts tun? Hier sitzen und ihr die Arme abschneiden und hoffen, dass sie das überlebt? Oder alle Riesen und den Drachenreiter töten und hoffen, dass die meisten von uns durchkommen?«
»Weißt du, was uns im Jadegarten erwartet?«, fragte der jüngere Mann, derjenige, der sich gerade noch mit großer Begeisterung dafür ausgesprochen hatte, ihr ein Messer durch die Armgelenke zu stoßen. »Gibt es noch Drachen?«
»Wenn es noch welche gibt, dann haben die sich wirklich lange nicht mehr sehen lassen. Nein, die großen Drachen sind alle tot«, sagte die Frau entschieden. »Es würde Geschichten über sie geben, wenn sie noch da wären. Es war nie ihre Art, sich zu verstecken. Sie mussten niemanden fürchten.«
»Für uns würde auch ein einzelner, kleinerer Drache genügen«, wandte der Nörgler ein.
»Wir könnten den Drachenreiter mitnehmen«, sagte die Frau. »Er muss wissen, wie man mit ihnen umgeht. Sonst könnte er sie nicht reiten.«
Der Schmerz gewann die Oberhand. Er war wie Tausende kleine Baumwollkügelchen.
Er löschte jede andere Sinneswahrnehmung aus. Verstopfte ihre Ohren, bis die Stimmen zu einem unverständlichen Gemurmel wurden. Verklebte ihre Augen, so dass sie nichts sehen konnte. Hüllte ihren Körper ein, bis keine andere Empfindung mehr blieb als der rasende Schmerz, der sie hinabzog auf ein großes, dunkles Loch zu.
Sie wusste, dass der Albenstein längst erkaltet sein musste. Aber die letzte Erinnerung ihrer Nerven, bevor sie zu Asche wurden, schien unauslöschlich fortzuleben. Der Schmerz des weiß glühenden Steins, der jegliches Leben aus ihren Fingern gebrannt hatte, pulsierte immer noch durch ihren geschundenen Leib. Sie wusste, was geschehen würde, wenn sie aufgab und ihm ins Dunkel folgte.
Sie lauschte auf die Stimmen, aber sie waren in unerreichbare Ferne gerückt. Nicht einmal unverständliches Gemurmel war übrig geblieben.
Sie sind fort, redete sie sich ein und fürchtete zugleich, dass sie es war, die sich mit jedem verzweifelten Herzschlag weiter aus der Welt der Lebenden entfernte. Der Sandsturm ließ nach, hatte der Nörgler gesagt. Sie wusste, warum. Der Sturm spürte sie nicht mehr. Dies war die eine Höhle, in der sie sicher waren. Die einzige unter Dutzenden Höhlen, die sich wie riesige Wurmlöcher durch die Felskante zogen. Nandalee, ihre Mutter, hatte ihr von der Höhle erzählt. Sie selbst war auch schon hier gewesen.
Allein hatte sie den Wettlauf gegen den Drachenatem leicht gewonnen. Und doch hatte sie auch früher schon hier Schutz gesucht. Hatte abgewartet, bis der Sturm verebbte.
Sie wusste, dass es nicht lange dauern würde.
Hätte sie sich nicht mit Madra und dem Mädchen aufhalten dürfen? Der Wettlauf hatte längst begonnen, als die beiden sie mit ihrer Unvernunft alle in Gefahr gebracht hatten.
Wie viel Zeit war verlorengegangen? Fünfhundert Herzschläge? Hätte das ausgereicht, alle anderen in Sicherheit zu bringen?
Der Troll schien tot zu sein. Eine der Stimmen hatte es behauptet. So war ihr Opfer also zumindest zur Hälfte vergebens gewesen. Und wie dankten die Grauhäute es ihr! Sie dachten darüber nach, sie zu ermorden. Nur weil diese heimtückischen Bastarde nicht sicher wussten, ob sie sie noch brauchten, lebte sie noch. Sie könnten es ohne sie schaffen. Sie würden die Schlucht zum Jadegarten erreichen, bevor der Drachenatem erneut tödliche Kraft gewann. Wer bis hierherkam, der war in Sicherheit.
Dünne Bleiadern waren unter dem Fels dieser einen Höhle verborgen. Das Blei blendete den Drachenzauber. Der Sturm konnte sie hier nicht mehr spüren.
Der Sand rings um die Tafelberge, die den Jadegarten schützten, war von Magie durchdrungen. Der alte Zauber der Drachen wirkte über Jahrtausende fort. Er hatte seine Schöpfer überlebt, ohne weniger tödlich zu werden. Der Sand spürte Eindringlinge. Was genau es war, wusste Emerelle nicht. Sie vermutete, dass die Berührung von Füßen den Schutzzauber belebte. Und sie hatte die Erfahrung gemacht, dass es ganz gleich war, ob es ein einzelnes Paar Füße war oder viele Hundert. Der Sand, der mit feinen, nadelspitzen Felssplittern durchsetzt war, sammelte sich nahe bei den Tafelbergen. Alte Magie peitschte ihn auf, bis er in einer riesigen Wolke den Himmel verdunkelte. Der Sturm war wie ein Raubtier, gefangen in einem Käfig und von Wärtern gepeinigt, die mit Stachelruten nach ihm schlugen, bis das Tier in blinde Raserei geriet. Dann öffneten sie den Käfig. Wenn der Sturm eine alles vernichtende Macht gewonnen hatte, wogte er den Wanderern in der Wüste entgegen. Und selbst auf dem Weg nahm seine Stärke immer weiter zu. Erst wenn keine Füße den Sand mehr berührten, ließ er nach und erstarb.
Das Gitterwerk aus Bleiadern blendete den mörderischen Zauber. Wenn sie die Höhle verließen, müssten sie schnell sein. Sie durften nicht nach dem rechten Weg in den Jadegarten suchen. Sie mussten wissen, welche eine Schlucht nicht vor steilen Felswänden endete. Ihnen blieb wenig mehr als ein halber Tag, bevor der Drachenatem erneut über sie herfallen würde.
Wie würde der Jadegarten heute aussehen? Der Herr Albenmarks hatte sich einst dorthin zurückgezogen und Frieden gesucht. Nur Auserwählte durften ihn begleiten.
Die Drachenelfen, die Weisesten unter den Lamassu, Pegasi, die er wie Hunde hielt und über deren ausgelassene Lebenslust er spottete.
Emerelle spürte, wie ihr Herz immer langsamer schlug. Die Brandwunden nässten. Sie zogen alle Flüssigkeit aus ihrem Leib. Selbst wenn es ihr gelang, dem Schmerz zu widerstehen, würde sie innerlich austrocknen. Sie dachte an ihren ältesten Feind. An den Verräter und Lügner, der ihre Jugend bestimmt hatte. Ihr alter Zorn sollte ihr Verbündeter im Ringen mit dem Tod werden!
Als sie an all das dachte, was sie verloren hatte, schlug ihr Zorn eine Bresche durch die Lethargie des Schmerzes. Sie bäumte sich auf gegen das Dunkel. Der Schmerz überflutete sie. Bohrend, den Verstand dem Wahn entgegentreibend. Sie wollte schreien, doch ihre Kehle war so ausgedörrt, dass kein Laut über ihre Lippen kam.
»Das ist das letzte Aufbäumen vor dem Tod«, sagte der Nörgler. »Das sehe ich nicht zum ersten Mal. Gleich hat sie es überstanden.«
Sie wollte sehen, wer das war. Aber ihre Augen waren von Sand und getrockneten Tränen verklebt. Die Lider waren wie verleimt. Ihre Hände konnte sie nicht koordiniert bewegen. Sie ruckten hoch, unfähig, sich voneinander zu lösen.
Emerelle ließ ihrem Zorn alle Zügel schießen. Sie brauchte Flüssigkeit. Sie hätte die drei töten können. Ein Wort der Macht hätte sie verdorren lassen, und die Säfte der Kobolde hätten ihrem sterbenden Leib neue Kraft gegeben. Ihr kam ein Gedanke. Es waren dreihundert Kobolde in der Höhle. Bei jedem Ausatmen verlor jeder von ihnen ein wenig Feuchtigkeit. Die trockene Wüstenluft stahl diesen kostbaren Schatz.
Emerelle versuchte einen Zauber zu ersinnen, die Wüste darum zu berauben.
»Sie hält lange durch«, sagte das Koboldweib.
»Ich habe das Messer geholt«, erklang die jüngere Stimme. »Wir müssen jetzt die Arme abbinden.«
»Das ist vergebliche Liebesmüh«, murrte der Nörgler. »Lasst sie doch einfach gehen.«
Es war das erste Mal, dass Emerelle mit ihm einer Meinung war. Ihr Zauber zeigte Wirkung. Feuchtigkeit schlug sich in ihrem in stummem Schrei erstarrten Mund nieder.
Ein Band wurde um ihren rechten Oberarm geschlungen und festgezurrt. »Du musst die Klinge in die Armbeuge rammen, wenn du es richtig machen willst«, erklärte die Frauenstimme.
Emerelle spürte einen Druck, aber keinen Schmerz. Ein Keuchen entwich ihrer Kehle.
»Sie kommt zu sich.« Die Stimme ihres jungen Peinigers klang ratlos.
»Was ist das? Sieh dir ihre Hände an.«
Die Klinge traf einen Nerv, der durch die peinigende Hitze nicht zu Asche geworden war. Ein grausamer Schmerz stach gleich einem goldenen Lichtspeer durch ihr vernebeltes Bewusstsein. Sie konnte Metall über Knochen schrammen spüren. Rote Wut spülte ihre Selbstbeherrschung hinweg. Sie war nicht mehr sie selbst. Ihr Erbe brach sich mit aller Macht Bahn.
»Ihre Hände! Bei den Geistern unserer Ahnen, sieh nur ihre Hände! Das Licht! Siehst du das Licht? Sie ... « Die Worte des Nörglers vergingen in einem Schrei.
Adrien stützte sich auf seine Spitzhacke und machte eine kurze Pause. Jules war nirgends zu sehen. Allerdings konnte er vom Grund seiner Grube aus auch nicht wirklich weit blicken. Sein Lehrmeister setzte sich gern stundenlang auf einen der kleinen Hügel aus Schutt und Erde und sah ihm beim Arbeiten zu. Jedes Mal, wenn Adrien erlahmte, gab es eine spitze Bemerkung. Für einen Priester konnte er bemerkenswert gehässig sein. Jules’ Worte verfehlten ihre Absicht nie. Stets holten sie auch noch das Letzte aus Adrien heraus. Aber jetzt war er ja zum Glück nicht da.
Erschöpft wischte sich der Junge mit seinen in Lumpen gehüllten Händen über das Gesicht. Obwohl es noch recht kühl war, rann ihm der Schweiß in Strömen über den Körper. Die Übungen begannen Wirkung zu zeigen. Adrien fühlte sich stärker. Die Haut seiner Hände wurde härter; nachdem sie in der ersten Woche voller blutiger Blasen gewesen war, bekam er nun Schwielen.
Ein Schatten glitt über die Grube hinweg. Besorgt sah Adrien zum Himmel hinauf. Ein Adler kreiste dort. Er winkte ihm zu. Der große Vogel war ihm in den letzten Wochen immer wieder aufgefallen. Er war der Einzige, der regelmäßig über dem Tal erschien.
Weit über ihm ballten sich dunkle Wolken.
Der Junge fluchte leise. Das war die größte aller Plagen. Der eisige Regen machte ihm mehr zu schaffen als alles andere. Er kühlte aus, verlor alle Kraft und war vor Zittern kaum noch in der Lage, die Spitzhacke zu halten. Außerdem spülte er die Erde und kleines Geröll von den Abraumhügeln rings herum in die Grube zurück. Das Loch, in dem Adrien stand, durchmaß inzwischen mehr als sechs Schritt. Der Junge hatte es auf die Anweisung seines Meisters immer wieder erweitert. Adrien hegte inzwischen einigen Zweifel daran, ob Jules ihn überhaupt an der richtigen Stelle graben ließ. Er war sich auch unsicher, ob Jules genau wusste, wonach sie suchten, und wenn ja, wo es zu finden war.
Die ganze letzte Woche hatte sich Adrien durch eine Steinschicht gearbeitet. Jules hatte behauptet, es sei der geschmolzene Stein der Halle der Strategen. Das Wort Strategen war dem Jungen fremd, und Jules hatte sich auch keine große Mühe gegeben, es zu erklären. Es schien sich um eine Halle für Feldherren oder besonders bedeutende Krieger gehandelt zu haben. Auf jeden Fall waren es Leute mit hübschen Schuhen gewesen. Nicht alle Steine waren geschmolzen. Immer fand er auch Trümmer, und gestern erst hatte er zwei Paar steinerne Füße ausgegraben, die in Sandalen steckten, deren Riemchen mit Schutzamuletten geschmückt waren. Was für Männer wohl einst in diesen Sandalen in den Krieg gezogen waren?
Der Steinerne Wald beschäftigte seine Fantasie, wann immer er noch genug Kraft zum Träumen fand. Wie hatte die marmorne Stadt ausgesehen, die einst das Tal füllte? Was für Menschen waren es gewesen, die hier lebten? Und warum wusste Jules so vieles darüber? Standen solche Dinge in Büchern? Der Priester versuchte, ihm in den Abendstunden Lesen und Schreiben beizubringen, aber Adrien fand, dass ein Ritter solchen Unsinn nicht benötigte.
Mit einem Seufzer machte er sich an seinen endlosen Kampf gegen Trümmer und Geröll. Von weiter oben musste ein größeres Gebäude den Hang hinabgerutscht sein.
Hier lag alles durcheinander. Steinfragmente, Ziegel, verbogene und halb geschmolzene Kupferplatten. Gerade wegen der Beschaffenheit des Bodens musste er seine Grube immer mehr erweitern, denn das Geröll rutschte von den Rändern nach.
Und je tiefer er kam, desto schlimmer wurde es.
Mit der Hacke lockerte er den Boden zu seinen Füßen und schaufelte dann Hände voll leuchtend roter Ziegelsplitter in zwei Ledereimer. Als er fertig war, hängte er beide Eimer in Haken an eine Stange und machte sich an den Aufstieg über die beiden Leitern, die aus der Grube führten. Unsicher schwankend erreichte er schließlich den Rand der Grube. Jules sollte ihm besser einen Korb besorgen, den er auf den Rücken schnallen konnte. Damit würde er mehr Aushub nach oben bringen können, und es wäre nicht so verdammt schwer, das Gleichgewicht zu bewahren, wie mit den Eimern an der Stange.
In mürrischer Stimmung stapfte er ein ganzes Stück den Hang hinab und schüttete dort die Eimer aus. Gestern hatte er damit angefangen. Hier konnte ihm der ganze Mist wenigstens nicht vom nächsten Regenguss in die Grube zurückgespült werden.
Ein Ritter, der aussah, als habe er in einem Schlammloch gebadet, das war er. Er sah in seinen vor Schmutz starrenden Kleidern so schäbig wie der niederste Tagelöhner aus!
Aber er machte Fortschritte. Bevor Jules ihn fand, war er ein Dieb und Bettler gewesen.
Nun war er jemand, der genau wusste, wo er in der nächsten Nacht schlafen würde, und der jeden Tag zwei reichliche Mahlzeiten bekam. Und wenn Jules dachte, dass es gut für ihn war, Löcher zu graben, dann sollte er sich nicht den Kopf darüber zerbrechen.
Deutlich besser gelaunt kehrte er zu seiner Grube zurück. Es war klüger, sich an dem zu erfreuen, was man hatte, statt darüber nachzugrübeln, was fehlte.
Mit frischer Kraft schwang er die Hacke und arbeitete sich zur Wand der Grube hin vor. Er hatte sich ihr bis auf etwa einen halben Schritt genähert, als seine Spitzhacke ungewöhnlich tief in den Boden eindrang. Er rüttelte am Stiel des Werkzeugs, um das Geröll zu lockern, doch stattdessen sackten die Bruchstücke weg. Vor seinen Füßen hatte sich ein eckiger Schacht aufgetan, der eine Elle im Quadrat maß. Etwas funkelte darin im grauen Licht. Neugierig beugte sich Adrien vor, um es näher in Augenschein zu nehmen.
Der Schacht führte senkrecht in die Tiefe und war aus roten Ziegeln gemauert.
Schlieren von erstarrtem geschmolzenen Gestein zogen sich an den Wänden entlang.
Ein Anblick, der Adrien inzwischen wohlvertraut war. Aber dazwischen war noch etwas anderes. Dick wie einer seiner Finger, funkelte ein Goldstreifen. Vorsichtig machte er sich mit der Hacke daran zu schaffen. Sein Herz schlug schneller. Er hatte noch nie Gold in Händen gehalten. Er konnte nicht einschätzen, wie viel es wert war, aber er wusste, dass man sich schon mit einer einzigen Münze die meisten Träume erfüllen konnte. Und dieser Goldstrang, der sich verästelt wie eine Efeuranke an den Schacht klammerte, hatte sicherlich das Gewicht vieler Münzen.
Ungeduldig warf er die Hacke zur Seite. Das Gold war mit dem geschmolzenen Gestein hier hinabgelaufen. Adrien erinnerte sich an die Geschichte, die Jules erzählt hatte. Dass auch der goldene Dachschmuck der Tempel und Paläste in den Flammen vergangen war und sich durch Abflussschächte tief in die verschütteten Zisternen der Stadt ergossen hatte.
Der Junge packte den Goldast mit beiden Händen und zerrte daran. Der Stein knirschte. Adrien stellte sich einen See aus erstarrtem Gold vor, der irgendwo unter seinen Füßen verborgen lag. Sie waren reich! Er würde das Blumenmädchen suchen und ihr sein Gold schenken. Nie wieder müsste sie zum Fleischhauer gehen. Sie könnte sich ein schönes Stadthaus kaufen und Diener anstellen. Und dann dürfte er es auch wagen, sie nach ihrem Namen zu fragen.
Mit einem Ruck kam der Goldast frei. Adrien landete im Dreck. Triumphierend streckte er das Gold der Sonne entgegen. Er lachte, ließ sich nach hinten fallen und lachte noch lauter. Das Schicksal hatte endlich auch ihn beschenkt!
»Was machst du da unten?« Jules war am Rand der Grube erschienen und sah mit gestrenger Miene zu ihm herab. »Mir scheint, dein Tagwerk ist noch nicht vollendet, und es ist noch nicht an der Zeit, faul seine Glieder auszustrecken.«
»Gold!« Adrien streckte dem Priester seinen Fund mit einem breiten Grinsen entgegen.
»Wir sind reich!«
»Wir streben nach anderen Reichtümern als diesen, Junge. Wirf das weg. Wir brauchen es nicht.«
Adrien traute seinen Ohren nicht. Zum einen sprach Jules in freundlichem Ton. Ganz anders als in den letzten Wochen, in denen er stets den gestrengen Lehrmeister herausgekehrt hatte. Und zum anderen war vollkommen verrückt, was er sagte! Gold wegwerfen! »Was für Reichtümer übertreffen den Wert von Gold?«
»Dich das zu lehren, wird meine schwerste Aufgabe in den Jahren sein, die noch vor uns liegen. Komm aus der Grube. Deine Arbeit endet für heute.«
Adrien befürchtete eine Tracht Prügel. Aber was hatte er schon für eine Wahl? Er verbarg seinen Schatz unter Sand und Geröll, dann kletterte er die beiden Leitern hoch.
»Hast du Angst, ich könnte dich bestehlen?«, fragte Jules belustigt.
Der Junge sah ihn verwundert an. »Nein ... «
»Außer mir gibt es hier niemanden.«
»Aber es könnte sich doch jemand hierher verirren. Das ist ein großer Schatz! Man kann das Gold doch nicht einfach so herumliegen lassen!«
»Niemand wird hierher gelangen.« Er breitete die Arme aus, als wolle er das ganze Tal umfassen. »Dieser Ort gehört uns allein. Und jetzt sag mir, was willst du mit deinem Gold kaufen? Den Felsen dort drüben? Ein besseres Abendessen? Glaubst du, wenn du mir ein Stück Gold in die Hand drückst, dann werde ich ein besserer Koch?« Er deutete zu den Wolken hinauf. »Willst du dir ein Stück Himmel kaufen? Welchen Wert hat Gold hier? Wie macht es dein Leben reicher? Was wird besser, weil du es besitzt?«
Adrien fühlte sich überrollt. Es war doch verrückt, den Besitz von Gold infrage zu stellen. »Wir können es mitnehmen, wenn wir das Tal verlassen. Wenn ich Ritter werde, dann brauche ich ein Pferd, ein Schwert und eine Rüstung. Das wird uns niemand schenken.«
»Du willst ein Ritter Tjureds werden und vertraust lieber auf ein Stück Gold als auf deinen Gott!«
»Ich kann ja nicht erwarten ... « Der Junge seufzte. Er fühlte sich plötzlich undankbar.
Aber er hatte doch Recht! »Wird Tjured ein Pferd aus dem Boden wachsen lassen, wenn wir es brauchen?«, brachte er schließlich mürrisch hervor.
»Ja, wenn auch er davon überzeugt ist, dass wir es brauchen werden, um ihm zu dienen. Zu den Dingen, die du lernen musst, mein Sohn, gehört Gottvertrauen. Tjured lenkt unsere Wege.«
»Vielleicht war es sein Plan, dass ich das Gold finde!«
Jules lachte leise. »Vielleicht. Du kannst es gern aufheben. Lassen wir uns überraschen, welchen Nutzen es bringen wird. Vielleicht hast du es auch gefunden, um zu erkennen, was wirklich wichtig in deinem Leben ist. Manchmal führt Tjured uns auch in Versuchung, Junge. Er will uns auf einen falschen Weg locken, um die Festigkeit unseres Glaubens und unserer moralischen Grundsätze zu prüfen. Denn was ist dein Glaube wert, wenn er sich nie beweisen musste?«
»Du meinst, ein Gläubiger, der einer Versuchung widerstand, ist mehr wert als einer, der immer nur ein vorbildliches Leben führte, weil es nichts gab, das ihn vom rechten Pfad ablenkte? Wenn Gott für jeden von uns einen Plan hat, dann erschafft er selbst Gläubige, die sich beweisen konnten, und andere, denen dies stets verwehrt blieb. Ist das nicht zutiefst ungerecht?«
Jules packte ihn bei den Schultern und blickte auf ihn hinab. »Gut! Wirklich gut gesprochen, mein Sohn. Ich sehe, dein Kopf dient dir nicht allein als ein Platz, um ein paar Büschel Haare unterzubringen. Ich weiß nicht, was für ein Ritter aus dir werden wird, aber in dir steckt ein guter Priester, der scharfsinnig denkt und einmal mit großer Überzeugungskraft das Wort Tjureds predigen wird.«
Der Priester sagte das mit solchem Stolz, dass es Adrien ganz warm ums Herz wurde.
Nie zuvor war er so gelobt worden.
»Weißt du, Junge, leider geht es im Leben nicht um Gerechtigkeit. Das Einzige, worauf wir hoffen dürfen, ist, dass wir stark genug sind, uns selbst und unserem Glauben treu zu bleiben. Nur das liegt in unserer Hand.«
Ein Schrei riss ihn aus seiner Ohnmacht. Falrach war orientierungslos. Die warme Decke aus Sand war fortgezogen worden. Er lag auf Fels. Sein Gesicht und seine Hände schmerzten. Überall um ihn herum waren Kobolde. Manche versuchten, über ihn hinwegzuklettern. Einer trat ihm auf die Hand. Es fühlte sich an, als wolle ein glühender Hammer seine Hand zerquetschen. Falrach stieß den Kerl zurück. Der Elf zog die Hand hoch und sah fassungslos auf das blutige Etwas. Einen Augenblick lang war er überzeugt, die falsche Hand vor Augen zu haben, bis er langsam begriff. Der Sturm! Er hätte die Höhle nicht wieder verlassen dürfen!
Noch immer wichen die Grauhäute in Richtung Höhleneingang zurück. Und das, obwohl dort nach wie vor der Sturm tobte.
Rotes Licht stach in Fairachs empfindliche Augen. Selbst seine Lider waren vom Sand verletzt. Nur dort, wo ihn Stoff geschützt hatte, hatte der Sand keinen Schaden anrichten können.
Jetzt entdeckte er Emerelle. Sie kniete ganz am Ende der Höhle. Eine Aura aus rotem Licht umgab sie. Das verfluchte rote Licht! Er dachte an den Kerker in Feylanviek. An das Massaker an Trollen und Kobolden. Ein Messer ragte aus der Armbeuge der Königin. Sein Messer! Wie war es dorthin gelangt? Vor Emerelle lag eine verkrümmte Gestalt.
Falrach stand auf. Er schwankte, wollte sich mit einer Hand an der Höhlenwand abstützen und schreckte im letzten Moment zurück. Mit seinen gehäuteten Händen könnte er sich nirgendwo festhalten.
Bei jedem Schritt um sein Gleichgewicht kämpfend, gelangte er zu Emerelle. Er war so schwach, dass er der Ohnmacht nahe war, als er sich neben die Königin kniete. Sie war es, die geschrien hatte.
Falrach sah nach dem Kobold am Boden. Der Tote sah aus wie mumifiziert. Emerel es Arme waren vom Ellenbogengelenk abwärts verbrannt. Spiralen roten Lichts wanden sich um sie. Der Elf streckte vorsichtig eine Hand nach ihr aus. »Ruhig«, sagte er leise.
»Hier gibt es keine Feinde.«
Blut rann über die Dolchklinge. Da ihr Arm abgebunden war, wagte er es, die Waffe zu ziehen. Er konnte spüren, wie das Metall über die Gelenkkugel schrammte. Diesmal gab die Königin keinen Laut von sich. Ihre Augen waren weit aufgerissen, doch sie schien nichts zu sehen. Die Pupillen waren nur winzige, schwarze Nadelpunkte.
Ihre Arme sahen jetzt besser aus. Aber ihre Hände ... Er musste sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden. Sie erinnerten an ineinander verschränkte, verkohlte Äste. Die Hände, die ihn einst liebkost hatten. Er dachte wieder an Feylanviek. Offensichtlich vermochte die Königin, sich zu heilen. Jedem anderen hätte man die Arme amputieren müssen. Der Kobold, der tot zu ihren Füßen lag, hatte helfen wollen!
Falrach sah zu den Grauhäuten. Sie alle starrten ihn und die Königin an. Sie waren verängstigt, unentschlossen ... Noch. Würden sie angreifen? Oder davonlaufen? »Er hat ihr ein Messer in den Arm gestoßen!« Es war ungerecht, aber er musste die Tatsachen verdrehen, um die Lage wieder zu beherrschen. »Er hat sie angegriffen!
Habt ihr vergessen, wie sie in Oblons Dorf kam? Wie konntet ihr sie angreifen? Habt ihr vergessen, wie sie euch alle vor dem sicheren Untergang im Sandsturm bewahrte?«
Einige senkten den Blick. Aber ein durchschlagender Erfolg waren seine Worte nicht gewesen. »Sie ist die Herrin der Magie.« Falrach entdeckte den Lutin zwischen den Grauhäuten. Ein falsches Wort von ihm konnte jetzt alles zunichtemachen.
»Nikodemus, komm an meine Seite.«
Der Lutin wurde vorgeschoben. Keiner der Grauhäute versuchte ihn in Schutz zu nehmen. »Ihr werdet...«
Ein Raunen ging durch die Reihen der Kobolde. Einige warfen sich zu Boden, wie es manche Menschenkinder vor ihren Götzenbildern taten. Falrach verstand sie nicht, bis auch er aus den Augenwinkeln sah, wie die Königin ihre Hände hob. Die Handflächen waren makellos weiß. Nichts erinnerte mehr an die Verbrennungen.
Mehr und mehr Kobolde warfen sich nieder. Sogar der Lutin.
Falrach wusste, dass hier kein Wunder geschah. Sie nutzte die Kraft des Albensteins.
Aber er spürte, dass auch noch eine andere Macht wirkte. Etwas Fremdes, Dunkles.
Der Elf hatte die ungute Ahnung, dass Emerelle Kraft aus dem Tod des Kobolds gewonnen hatte, der so leichtfertig versucht hatte, ihren Arm zu amputieren. Sie wirkte Blutmagie!
Sag ihnen, sie sollen ausruhen, erklang ihre Stimme in seinen Gedanken. In sieben Stunden, beim ersten Morgen
licht, werden wir aufbrechen, und wir werden nicht rasten, bevor wir den Jadegarten erreichen.
Erst dort sind wir in Sicherheit.
Er führte ihre Befehle aus. Die Kobolde waren zu verängstigt, um Fragen zu stellen.
Die meisten wagten es nicht einmal mehr, in ihre Richtung zu blicken.
Vierzehn Stunden nachdem sie die Höhle verlassen hatten, erreichten sie jene eine Schlucht, die durch das Felslabyrinth der Tafelberge zum Jadegarten führen würde.
Emerelle war angespannt. So viel Zeit war verstrichen, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Wie würden die Gärten des Drachenkönigs jetzt wohl aussehen? Und wie würde die Gazala sie aufnehmen?
Die Elfe blickte zu Falrach, der als einer der Ersten den engen Saumpfad erklomm, der an der Flanke einer knochenweißen Felswand entlangführte. Bildete sie es sich nur ein, oder hatte er eine sinnlichere Art, sich zu bewegen? Noch in der Höhle hatte sie Falrach geheilt. Sie sehnte sich danach, in seinen Armen zu liegen. Nicht in denen Ollowains! Sie wünschte sich, mit ihm an einem einsamen Ort zu sein. Tagelang! Ihre Gedanken befremdeten sie. Hatte der Marsch durch die Wüste auch sie verändert? Es hieß, in der Wüste würde man zu sich selbst finden. Oder veränderte sie die Lebenskraft, die sie dem Kobold gestohlen hatte?
Sie schob die Gedanken von sich. Ein letztes Stück Weg war noch zu gehen. Eine letzte Probe zu bestehen. Wie der sah sie zu Falrach. Er hatte einen guten Körperbau. Er war wie geschaffen dazu, mit ihm ... Sie schritt weiter aus. Nicht jetzt!
Die Schlucht lockte mit einem kleinen See, dessen Wasser fahlgrün schimmerte. Früher einmal hatte es dort Kaimane gegeben; sie hatten auf Steinböcke und andere Tiere gelauert, die aus den Felsen hinabstiegen, um dort zu trinken. Emerelle bestand energisch darauf, den schmalen Pfad zu nehmen, der aus der fast senkrechten Felswand geschlagen war. Die Grauhäute sahen sehnsüchtig zum Wasser hin, doch wagte es keiner, sich ihr zu widersetzen. Sie spürte den Hass der Kobolde. Er war die Kraft, die sie noch auf den Beinen hielt. Die meisten Kinder mussten inzwischen getragen werden. Ein Greis war auf dem letzten Stück Weg durch die Wüste an Entkräftung gestorben. Aber sie marschierten.
Auch Emerelle fühlte sich zu Tode erschöpft. Alle äußerlichen Wunden waren verheilt, aber die Schmerzen hatten ihre Kräfte aufgezehrt und ihre Seele verletzt. Sie hatte sich verändert ... Wenn sie einige Nächte gut geschlafen hätte, dann wäre das vorbei, redete sie sich ein.
Ein Schwärm hellgrüner Palmwächter flog durch die Schlucht. Die kleinen Vögel musterten sie neugierig. Gewiss hatten sie noch niemals Zweibeiner gesehen! Mit munterem Gezwitscher stürzten sie sich in die Tiefe. Sie schössen dicht über dem schillernden Wasser dahin und verschwanden dann zwischen den Uferpalmen.
Der Pfad, dem sie folgten, war kaum eine Elle breit. Einige der Grauhäute drückten sich dicht an den heißen Fels und vermieden es, hinabzusehen. Emerelle war schwin-delfrei. Jedes Mal, wenn der Pfad sich um einen Felsvorsprung wand oder eine Kehre machte, beugte sie sich weit über den Abgrund, um aus einem anderen Blickwinkel in die Schlucht hinabzuschauen. Der See hatte einen anderen Umriss als früher. Wie sehr sich das weite Tal wohl verändert hatte?
Hier zwischen den Tafelbergen hatte der Zauber, den die Grauhäute so treffend Drachenatem nannten, keine Macht mehr. Der Wind, der über die weißen Felsen strich und über die Jahrhunderte die seltsamsten Formen in den weichen Stein schnitt, wurde nicht durch Magie gezeugt.
Ihr Anstieg dauerte mehr als eine Stunde. Emerelle wusste, das sie ihr Ziel fast erreicht hatten, als die Marschkolonne vor ihr ins Stocken geriet. Auf den Zehenspitzen am Abgrund entlanglaufend, drängte sie sich an den Grauhäuten vorbei. Der kleine See mit den Palmen lag mehr als zweihundert Schritt unter ihr. Der Felsen fiel fast senkrecht in die Tiefe. Sie blickte über ihre Schulter hinab, und ein seltsames Gefühl überkam sie. Eine sinnliche Schwere, tief in ihrem Bauch, verbunden mit der Lust, sich mit ausgeweiteten Armen nach hinten fallen zu lassen. Sie wollte nicht Selbstmord begehen. Nie würde sie sich auf diesem Weg davonstehlen! Es war einfach die Lust, sich fallen zu lassen. In ihrer Vorstellung verhieß der Fall Freiheit. Sie sollte schlafen, ermahnte sie sich in Gedanken.
Der enge Saumpfad weitete sich jetzt. Er hatte sie um einen weiten Felsvorsprung geführt, so dass sich nun ein Blick auf einen Abschnitt des Tals ergab, der für sie während des ganzen Aufstiegs unsichtbar geblieben war. Die Himmelsbrücke und das Sonnentor, so hatten die Drachenelfen es einst genannt. Emerelle erinnerte sich an die Stimme ihrer Mutter. Sie hatte oft von den Drachenelfen erzählt. Von all den Wundern, die nur sie sehen durften.
Emerelle selbst war noch den Alben begegnet, doch in jener Zeit, als die Ordnung, die sie hatten erschaffen wollen, zerbrach. Als das strahlende Reich der Drachen versank und die Alben sich von den Geschuppten abwandten und nur wenig später von ihrer ganzen Welt.
Die Himmelsbrücke war eine schmale Ader aus schwarzem Basalt. Entblößt vom weicheren weißen Gestein spannte sie sich über einen Abgrund, den Wind und Wasser in Jahrtausenden geformt hatten. Nur zehn Zoll maß die Brücke an ihrer engsten Stelle. Wer dort stand, über sich das unermessliche Blau des Firmaments und unter sich zweihundert Schritt bis zum Boden, der hatte das Ge-fühl, mitten im Himmel zu stehen. Die Schlucht verengte sich an dieser Stelle. Dadurch wurde der Wind verstärkt. Er zerrte mit tausend unsichtbaren Händen an jedem, der es wagte, seinen Fuß auf den Basalt zu setzen. Ihre Mutter Nandalee hatte erzählt, der Weg über die Brücke sei eine der Prüfungen der Drachenelfen gewesen. Manch mutiger Krieger scheiterte hier. Diese Brücke war weit schlimmer als die breitere Shalyn Falah.
Ein Stück entfernt konnte man die Reste einer Basaltbrücke erkennen, die in die Schlucht gestürzt war. Ein Anblick, der die Zweifel über die verbliebene Brücke noch vertiefte.
Jenseits der Brücke lag das Sonnentor. Es war aus weißem Felsgestein, in das der Wind ein weites, rundes Loch gefressen hatte. Auch das umliegende Gestein war korrodiert, so dass man einen riesigen Ring vor sich sah. An sieben Abenden im Jahr füllte die untergehende Sonne den inneren Kreis. Der merkwürdige Fels war eine Laune der Natur, und doch war es ein tiefes, mystisches Erlebnis, die Sonne gefangen in einem Steinring zu sehen. Wer bis dorthin gelangte, der hatte es geschafft, der hatte sich die Anwartschaft darauf erworben, ein Krieger der Drachen zu werden.
Emerelle blickte hinab ins Tal. Natürlich waren die Knochen der Gescheiterten längst vergangen. Die Himmelsbrücke und das Sonnentor waren Relikte eines vergangenen Zeitalters. Es gab keine Drachen mehr, und auch ihre Ritter waren längst nur noch der Stoff von alten Geschichten, die so fantastisch klangen, dass viele argwöhnten, sie seien von Dichtern und Aufschneidern ersonnen.
Emerelle ging an den Grauhäuten vorbei bis zur Brücke. »Das hier ist der Weg. Wer die Brücke überschreitet, der ist frei von mir. Jenseits des Sonnentors erwartet euch ein Tal, in dem ihr alles, was ihr zum Leben braucht, im Überfluss finden werdet.«
»Herrin, wir sind nicht so schwer wie du. Uns wird der Wind in den Abgrund zerren.«
Dobon, der Sprecher, stand inmitten der Zögernden. Emerelle war sich fast sicher, in seiner Stimme die Stimme des Nörglers wiederzuerkennen, der geraten hatte, sie ihrem Schicksal zu überlassen, als sie wehrlos in der Höhle gelegen hatte. Ihre Erinnerung an das Gespräch war nur undeutlich. Letzte Gewissheit würde sie nie haben.
Aber Dobon war der Anführer der Grauhäute. Er musste es gewesen sein! Wer sonst hätte den Mut und die Unverfrorenheit gehabt, einen solchen Vorschlag zu machen?
Bei dem Gedanken an das Gespräch überkam sie heiße Wut. »Ich werde die Brücke überqueren. Was ihr tut, ist nun eure Angelegenheit.« Sie deutete hinab in das Tal.
»Dorthin zu gehen, ist keine Lösung. Ein paar Wochen, und ihr habt alles Wild erlegt und jeden Busch und jede Palme kahlgefressen. Dann müsst ihr erneut hierherkommen. Ihr seid nun eurem Schicksal überlassen. Erinnert dich das an etwas, Dobon?«
Der alte Kobold mit der gebrochenen, unförmigen Nase trat dicht vor sie. »Du hast uns also reden gehört, Herrin. Und nun willst du Rache? Bedenke, dass nur noch ich und meine Tochter übrig sind. Den, der dir helfen wollte, hast du schon gemordet. Mein Volk ist nicht schuldig. Sie wissen nicht, was gesprochen wurde. Sind mein Leben und das meiner Tochter der Preis? Wirst du meinem Volk dann helfen?«
»Nimm deine Tochter bei der Hand. Geh mit ihr über die Brücke. Zeig mir, wie viel Mut du jetzt noch hast.«
»Du bist grausam, Herrin. Hattest du je ein Kind? Kannst du ermessen, was es heißt, es bei der Hand zu nehmen und mit ihm in den Tod zu gehen?«
»Du, der du mich hilflos meinem Schicksal überlassen wolltest, wagst es, von Grausamkeit zu sprechen?«
Der alte Kobold wich vor ihrem Zorn nicht zurück. Er sah sie fest an. »Ich wollte dich töten, um mein Volk vor deiner Willkür zu schützen. Nenne das grausam, wenn du willst. Aber sage mir, welchen Nutzen hat deine Grausamkeit jetzt? Wen beschützt du?«
Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Noroelle, das war ihr einziger Gedanke. Die Elfenmagierin war einst ihre Freundin und Vertraute gewesen. Auch zu ihr war sie grausam gewesen. Und davor hatte es so viele andere gegeben. Al die Verbannten. Alle, die an ihrem Willen zerbrochen waren, bis hin zu ihrem Bruder.
Sie atmete schwer aus. Sie hatte nichts ohne Grund getan. Noroelle hatte ein Dämonenkind geboren und es versteckt, selbst nachdem sie wusste, dass es die Kraft haben könnte, Albenmark zu zerstören. Sie hatte ihre Strafe verdient! Genau wie alle anderen auch. Sie war die Herrscherin Albenmarks gewesen. Es war die Pflicht von Herrschern zu strafen, wo es notwendig war!
Oder war das nur eine Ausrede? Hatte sie wirklich einen Hang zur Grausamkeit? Jetzt war sie nicht mehr die Herrin Albenmarks. Stand es ihr zu, über die Grauhäute zu richten? Sie begriff, dass sie zwar ihre Krone abgelegt hatte, nicht aber ihren Willen zu herrschen. Es war ihr Leben gewesen, so unendlich lange ... Konnte sie ein anderes Leben führen?
Ihr Blick suchte Falrach. Er sah sie vorwurfsvoll an. Olowain hätte sich schützend vor die Grauhäute gestellt. Doch der weiße Ritter war tot. Vergangen für immer. Er konnte nicht zurückkehren, so wie Falrach nach all den Jahrtausenden. Von Ollowain war nichts geblieben als sein Leib.
Trauer schnürte ihr die Kehle zu. Jetzt erst begriff sie, wie sehr sie den weißen Ritter gebraucht hatte. Oft hatte er ihr die Gnade abgetrotzt, die ihrem verhärteten Herzen fehlte. Olowain konnte nur fortleben, wenn sie es schaffte, seinen Großmut in ihr Herz zu lassen. Er musste in ihr leben. In ihren Taten.
Das war alles, was noch von ihm geblieben war.
Diese schwarze Brücke, inmitten weißer Felsen, war ihr Scheideweg in ein anderes Leben. Sie war noch immer die Gefangene ihrer Krone und dessen, was ihre unendlich lange Herrschaft aus ihr hatte werden lassen. Es war an ihr, dies abzulegen.
Dobon stand vor ihr. Aber jetzt war das Koboldmädchen an seiner Seite, das sie mit Lehm eingerieben und auf das Ritual der Traumfänger vorbereitet hatte. War sie seine Tochter?
Emerelle kniete nieder. »Nimm deine Tochter bei der Hand.«
Dobons Unterlippe zitterte. Seine Gesichtzüge wurden weich. Er widersprach nicht. Er streckte Imaga seine knorrige alte Hand entgegen. Auch sie fügte sich widerspruchslos in ihr Schicksal.
Emerelle begann zu singen. Leise und mit geschlossenen Augen. Sie öffnete sich ganz der Berührung des Windes. Es war sehr lange her, dass sie diesen Zauber das letzte Mal gewoben hatte. Wer sich darauf verstand, vermochte selbst Stürme damit zu besänftigen, solange sie nicht magischer Natur waren wie der Drachenatem.
Als der Wind in der Schlucht erstarb, nahm sie Dobon bei der Hand und führte ihn gemeinsam mit Imaga über die Brücke. Dann kehrte sie zurück und nahm die nächsten Kobolde bei der Hand. So ging sie wieder und wieder. Sie trug die Kinder auf ihren Armen. Erlaubte ihnen, mit ihrem Haar zu spielen. Mit jedem Mal, das sie über die Brücke ging, wurde ihr das Herz ein wenig leichter.
Falrach schloss sich ihr an. Auch er half, die Kobolde zum Sonnentor zu begleiten.
Einige waren so mutig, den Weg allein zu machen, nun, da sie die gefährlichen Winde nicht mehr fürchten mussten.
Nachdem die Grauhäute anfangs noch angespannt gewesen waren, scherzten sie bald. Emerelle schwieg. Sie sang leise ihr Lied. Sie genoss es, wie Falrach sie ansah. Sie hatte ihn überrascht und seine Anerkennung gewonnen.
Sie selbst aber war überrascht, wie viel ihr seine Blicke bedeuteten. Seine Blicke! Nicht Ollowains.
Nur Nikodemus Glops blieb mürrisch. Er wirkte, als wolle er etwas sagen. Aber er wagte es nicht, zu ihr zu kommen. Wahrscheinlich war er erzürnt darüber, dass sie Madras Tod mit keinem Wort gewürdigt hatte. Sie hatten die Höhle bei Sonnenaufgang zügig verlassen. Emerelle war aufgefallen, dass Amulette und sogar ein paar Kinderspielzeuge rings um den toten Troll gelegen hatten. Die Grauhäute würden ihn nie vergessen.
Als der letzte Kobold die Himmelsbrücke überschritten hatte, fühlte sie sich erleichtert.
Wie ein junges, verliebtes Mädchen hatte sie auf ihrem letzten Weg im Vorübergehen Fairachs Hand gestreift. Ihr Lohn war wieder einer dieser Blicke gewesen, die ihr Herz schneller schlagen ließen. Im Jadegarten würden sie beide endlich allein sein können.
Das Tal war groß genug, um einen einsamen Ort zu finden.
Die Sonne stand schon tief am Himmel. Das Abendlicht tauchte die weißen Felskämme in weiches, rosa Licht. Im Tal unter ihnen wuchsen Schatten von blassblau bis tiefschwarz.
Keiner der Kobolde hatte das Sonnentor durchschritten. Emerelle vermochte nicht einzuschätzen, ob sie ihr den Vortritt lassen wollten oder ob sie fürchteten, hinter dem seltsamen Felstor erwarte sie ein neuer Schrecken. Sie konnte es verstehen. Das Sonnentor lag höher als die Felsen der Tafelberge dahinter. Und auch höher als die Himmelsbrücke. Von dort, wo sie standen, sah es aus, als würde das Tor in den Himmel und nirgendwo sonst hinführen.
Die Grauhäute begegneten ihr immer noch mit Misstrauen. Also ging sie voran. Sie trat, ohne zu zögern, in das weite Rund des Tores. Erst wenn man dort stand, vermochte man auf den Jadegarten hinabzublicken. Viele Meilen erstreckte sich das von Tafelbergen eingefasste Tal. Eine weiße Pyramide erhob sich majestätisch über das Grün der verwilderten Gartenlandschaft. Funkelnd brach sich das Licht der Abendsonne in der goldenen Spitze des gewaltigen Baus. Al en Schutzzaubern zum Trotz, die vor Jahrhunderten bei der Errichtung der Pyramide gewirkt worden waren, wucherte Unkraut in den Steinritzen, und an einigen Stellen hatten sogar junge Bäume Halt im Gemäuer gefunden.
Die übrigen Prachtbauten im Tal waren unter üppigem Grün verschwunden. Das Drachenfeld, jener weite Platz nahe der Pyramide, auf dem die einstigen Herren der Welt in einem vergangenen Zeitalter mit ihrem Gefolge gelandet waren, wenn sie den abgelegenen Jadegarten besuchten, war nicht mehr auszumachen. Ein Teil von ihm schien von einem neuen See bedeckt zu sein. Aber sicher war sich Emerelle nicht, so sehr hatte sich das Tal verändert.
Die langen Schatten der östlichen Tafelberge griffen bereits nach der Pyramide, als die ersten Grauhäute zögerlich durch das Sonnentor traten. Sie betrachteten das Tal mit Staunen und auch ein wenig Furcht. Nie zuvor hatten sie so üppiges Grün und so viel Wasser gesehen. Sie waren Geschöpfe der Wüste. Vom Ufer des großen Teiches stieg ein Schwärm großer, weißer Vögel auf und flog zu seinen Nestern irgendwo am nördlichen Ende des Tals.
Die Dämmerung ging rasch in Dunkelheit über, und Emerelle bedrängte die Kobolde, ihr zu folgen. Diesseits des Sonnentors führte eine weite Treppe entlang der Steilwand, die von Terrassen unterbrochen wurde, die stets neue, fantastische Ausblicke auf das Tal boten. Die eingestürzten Dächer der Aussichtspavillons, große Felsbrocken auf den Terrassen und Treppen und klaffende Spalten im Weg lieferten Zeugnis von Erdbeben, die die Tafelberge erschüttert hatten.
Emerelle wusste, dass sie den Talgrund nicht mehr erreichen konnten, bevor er völlig im Dunkel lag. Sie hatte ein anderes Ziel. Bald wählte sie zur Überraschung der Kobolde einen Weg, der erneut bergan führte. Das leise Murren der Grauhäute ignorierte sie. Die Elfe wusste, wie kalt es an den Bergflanken bei Nacht wurde. Es war wichtig, einen gut geschützten Lagerplatz zu finden.
Die neue Treppe, der sie folgten, mündete in einen Tunnel, der einen weiten Felsvorsprung durchstach. Die Bronzetore, mit denen sein Eingang einst hatte verschlossen werden können, standen weit offen. Blaugrüne Edelpatina überzog das Metall und hatte auch verwaschene Spuren auf dem Steinboden hinterlassen. Die Reliefs zweier steigender Pegasi, die das Tor flankierten, hatten die Jahrtausende besser überstanden.
Der fünfzig Schritt lange Tunnel war von den Erdbeben weitestgehend verschont geblieben. Putzbrocken, die aus seiner Decke gebrochen waren, knirschten unter Emerelles Füßen. Ein leicht muffiger Geruch lag in dem Gang.
Die Elfe wusste, wie nah sie ihrem Ziel nun waren. Sie beschleunigte ihre Schritte. Als sie aus dem Tunnel trat, standen erste Sterne am Nachthimmel. Ihr Weg hatte sie erneut auf eine Aussichtsterrasse geführt. Doch diese war nicht erbaut worden, um den Blick über die Pyramide, die Gärten und verschwundenen Paläste schweifen zu lassen. Die Terrasse lag auf einem weiten Felssims, von dem man auf eine große Nische in der gegenüberliegenden Steilwand sah. Dort, im Schutz der Felsnische, lag die alte Veste, das ehemalige Quartier der Drachenelfen. Massige, würfelförmige Bauten drängten sich aneinander. Fenster gab es nur in den oberen Etagen der Gebäude. Und auch sie waren nur so schmal wie Schießscharten.
Einige der Gebäude sahen aus, als seien sie von schweren Katapultgeschossen getroffen worden. Mauern waren eingestürzt und gaben den Blick frei in die Eingeweide der Festung. Wo die Außenmauern intakt waren, konnte man erkennen, dass sie einmal mit großformatigen Flachreliefs bedeckt gewesen sein mussten. Reste von Farben hatten sich auf den Steinbildern erhalten. Haushohe Krieger, gewappnet mit nach unten spitz zulaufenden Langschilden, hielten auf den Mauern der Veste ihre Äonen dauernde Wacht. Sie sahen nicht nach schmucken Palastwachen, sondern eher nach kampferfahrenen Veteranen aus. Ihre Köpfe blickten herausfordernd der Terrasse entgegen. Sie wirkten beunruhigend. Noch beunruhigender war jedoch, dass in dreien der Fenster Licht glomm. Damit hatte Emerelle nicht gerechnet.
Balduin war ins Bad des Königs berufen worden. Er hasste es, Cabezan in all seiner Nacktheit zu sehen. Den ausgemergelten, alten Leib, bedeckt von schwärenden Wunden. Aber er verstand es, seine Gefühle wohl zu verbergen.
Schon auf dem Flur schlug ihm die schwüle Hitze des Wassers entgegen. Er hoffte, dass das Schlimmste schon vorüber war. Balduin war keineswegs zartbesaitet. Vor einigen Jahren noch war er einer der Befehlshaber von Ca-bezans Truppen gewesen. Er hatte bei Avron und Ruon-nes gekämpft. Er hatte alle Schrecken des Krieges gesehen und sich an so manchen Taten beteiligt, auf die kein Mann stolz sein konnte.
Ein blasser Diener öffnete ihm die Tür zum Bad und eilte davon. Cabezan saß auf dem Rand eines Marmorbeckens, von dem Wasserdampf aufstieg. Blutrote Rosenblätter schwammen auf dem Wasser. Tankret, der Leibwächter des Königs, stand nahe dem Bad. Wie sein König war er nackt bis auf ein Tuch, das lose um seine Hüften geschlungen war. Im Gegensatz zu seinem Herrn trug er jedoch einen Dolch, eine schlanke Ritualwaffe mit einem prächtigen Rubin als Knauf. Scheide und Gürtel waren aus scharlachrotem Leder mit Goldbeschlägen. Für den Wert der Waffe konnte man wahrscheinlich ein ganzes Bauerndorf bekommen.
Neben Tankret stand ein schlanker Knabe. Er war keine zehn Jahre alt, schätzte Balduin. Trotz der Hitze im Bad zitterte der Junge. Sein Gesicht war stark geschminkt.
Man hatte ihm eine Perücke aus blondem Lockenhaar aufgesetzt. Erst auf den zweiten Blick erkannte der Hofmeister, wer das war. Sie hatten sich Elodias kleinen Bruder geholt. Das war ein Fehler!
»Du siehst in letzter Zeit gar nicht gut aus«, sagte der König.
Balduin hatte das Gefühl, als zöge sich eine Schlinge um seinen Hals zusammen.
Tankret bedachte ihn mit einem abfälligen Lächeln. Der Krieger war mindestens zwanzig Jahre jünger als er. Tankret stand in der Blüte seiner Manneskraft. Mit seinen geölten Muskeln und seiner bronzefarbenen Haut war er ein Bild von einem Mann, auch wenn einige Narben auf seinen Armen und der Brust in Balduins Augen einen Makel darstellten. Aber er wusste, dass Cabezan solche Narben mochte.
»Du wirkst müde, mein Freund.« Der König runzelte die Stirn. »Willst du etwas sagen?«
»Der Junge ... Es ist Elodias Bruder. Ihr werdet doch nicht ...« Er war zu vorsichtig, um es auszusprechen. »Sie erwartet seine Briefe. Es wäre schlecht, wenn sie erführe …«
Der Knabe blickte gehetzt zwischen ihnen hin und her. Er begriff nicht, wovon sie sprachen. Aber er schien ein Unheil zu ahnen. »Es tut mir leid, dass ich die Tinte vergossen habe und das Pergament unbrauchbar gemacht habe. Es war ein Unglück.
Das wird nie wieder vorkommen ... «
Balduin bemerkte erst jetzt die Reste von Tintenflecken an Händen und Unterarmen des Knaben.
»Aber, mein Junge, sehe ich aus, als würde ich wegen solcher Kleinigkeiten lange zürnen?« Der König schlug sein Tuch zurück und streckte einen Fuß in das warme Wasser. Er stieß einen wohligen Seufzer aus. »Das tut gut.« Mit einiger Mühe streckte er auch den zweiten Fuß ins Wasser. Dann winkte er dem Jungen. »Du heißt Jean, nicht wahr? Ein hübscher Name für einen hübschen Jungen. Komm ein bisschen näher.
Meine Augen sind nicht mehr so gut.«
Als Jean nicht sofort gehorchte, packte Tankret ihn und schob den Knaben vor seinen König. Der Junge war so verängstigt, dass er sich weder wehrte noch den geringsten Laut von sich gab.
Cabezan zwickte den Jungen in die Brust. »Was für eine makellose Haut du hast, Jean.
Was für ein Geschenk! Sieh mich nur an. Das tut die Zeit all jenen an, denen die Gnade eines frühen Todes verwehrt bleibt. So wunderbare Haut... Wusstest du, dass Pergament aus Haut gemacht wird, Junge? Es ist sehr kostbar. Um ein einziges Buch zu machen, muss man eine ganze Herde schlachten. Blut ist der Preis für Wissen. Es ist der Preis für fast alles im Leben.«
Balduin wurde übel. Er ahnte, was kommen würde.
»Dreh dich einmal um, mein Junge.«
Jean gehorchte.
Mit angehaltenem Atem beobachtete Balduin, wie die Finger des Königs über den Rücken des Knaben fuhren. Sie umrissen ein Rechteck auf der glatten Haut. So groß wie eine Pergamentseite.
»Das beste Pergament wird aus der Haut ungeborener Ziegen und Lämmer hergestellt.
Das muss man sich vorstellen. Ihr Leben endet, bevor es begonnen hat. Und doch währt es auf gewisse Weise für Jahrhunderte, denn ihre Haut trägt unsere Geschichte weiter. Oder heilige Schriften der Tjuredkirche. Oder Verträge, die Königreichen Frieden bringen. Was hast du in deinem Leben getan, das wirklich hervorragend ist, Jean?«
Der Junge glotzte verängstigt.
»Jean, du kannst doch sprechen, oder? Willst du deinem König seine Frage nicht beantworten?«
»Ich kann die Namen aller Heiligen schreiben«, stieß er hervor.
Cabezan nickte. »Heiligennamen aufschreiben ... Ich glaube, das können Dutzende in diesem Palast. Das also ist deine größte Leistung in deinem jungen Leben. Gehört der Name Guillaumes zu denen, die du gelernt hast?«
»Ja, mein König.« Die Stimme des Jungen war kaum mehr als ein Flüstern.
»Kennst du auch die Geschichte Guillaumes?« Ein harter Unterton schwang jetzt in der Stimme des Königs mit.
»Ja, er ist der größte unter den Heiligen.« Jean hatte offensichtlich ein wenig Mut gefasst. Vielleicht weil er nun über etwas reden konnte, das ihm vertraut war. »Er wurde von den Elfen ermordet. Er war durchdrungen von der heiligen Kraft Tjureds.
Eine Berührung seiner Hände genügte, um Blinde wieder sehen und Krüppel wieder gehen zu lassen.«
Balduin sah, wie der König seine Fäuste ballte. »Ja, das konnte er wohl. Es gibt Hunderte, die von diesen Wundern Zeugnis ablegen können. Nur war er auch störrisch und ungehorsam. Wusstest du, dass er sich mir verweigert hat, als ich ihn rufen ließ, um auch mich zu heilen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. Er war so arglos, dachte Balduin bekümmert. »Mein König, Ihr wisst, dass wir nicht auf die Dienste des Mädchens im Refugium ... « Er wagte es nicht, Elodias Namen auszusprechen. Er wollte den Jungen nicht argwöhnisch machen. Vielleicht kam er ja davon, wenn Cabezan sich besann.
Der König winkte ärgerlich ab. »Schweig, Balduin. Es ist sehr unhöflich, eine Unterhaltung zu stören. Wie soll mein kleiner Gast da guten Benimm lernen?«
Cabezan strich wie der über die Haut des Knaben. »So zart.« Er sah zu Tankret. »Siehst du das? Er hat nicht einen einzigen Pickel. Keine Unreinheit in der Haut. Keine Schramme. Kein Rötung.« Der König seufzte. »Ich glaube, der liebe Jean ist in allem das genaue Gegenteil von mir. Was meinst du, Jean? Ist das so?«
Balduin hielt den Atem an. Ganz gleich, welche Antwort der Junge gab, sie würde gegen ihn verwendet werden. Der Hofmeister kannte die grausamen Spiele seines Königs nur zu gut.
»Ja«, sagte Jean zögerlich.
»Du glaubst also, du bist besser als ich?«, fuhr Cabezan den Knaben an. »Nein, mein König, ich …«
»Du widersprichst mir! Jetzt bin ich also auch noch ein Lügner!«
Jean sah den alten Herrscher in fassungslosem Entsetzen an. Und dann begann er zu weinen. Es war herzzerreißend. Er war völlig hilflos.
»Hör auf zu flennen! Pass auf, dass deine Tränen nicht in mein Bad fallen, Dummkopf!
Weißt du denn nicht, wie sehr Tränen der Haut schaden? Tankret!«
Der Leibwächter verpasste Jean eine Ohrfeige, die den Jungen von den Beinen riss. Er fiel vor das Bad und rollte sich zusammen wie ein kleines, wehrloses Tier. Er schaffte es nicht, seinen Tränen Einhalt zu gebieten. Leise wimmernd lag er dort.
Balduin dachte, dass Cabezan sich nur an toten schönen Dingen erfreuen konnte. Eine Statue, dieser Palast, ein Mosaik. All die Schätze, nach denen er forschen ließ.
Lebendige Schönheit aber forderte ihn stets heraus, sie zu zerstören. Elodias Körper war nur deshalb unversehrt geblieben, weil der Alte sich noch großen Nutzen von ihm versprach. Aber im Refugium würde man ihre Seele zerstören, da war sich Balduin ganz sicher. Er wusste nicht, was man mit ihr anstellen würde, aber das Blumenmädchen würde sterben. Sie würde etwas ganz anderes sein, wenn sie das Tor wieder durchschritt, um ihren ersten Auftrag für den König zu erfüllen.
»Steh auf, Jean!«, sagte Cabezan mit kalter Gehässigkeit. »Und untersteh dich, auch nur eine Träne in dieses Bad fallen zu lassen! Tränen sind voller giftiger Salze!«
Vielleicht hatte der Junge ihn nicht gehört. Jedenfalls blieb er liegen.
»Tankret!«
Der Leibwächter beugte sich hinab und packte Jean bei den Schultern. Er stellte ihn hin. Eine Hand blieb im Nacken des Jungen.
»Jean. Wie kann sich hinter einem so makellosen Gesicht in einem so zarten, jungen Körper so viel Schlechtigkeit verbergen? Du hast mich beleidigt, mir unterstellt, ein Lügner zu sein, und auch noch versucht, mich zu vergiften. Du hast mich enttäuscht.
So wie Guillaume.«
»Ich wollte nicht ... «, stieß Jean schluchzend hervor. »Ich ... «
»Hör auf zu weinen! Tankret, trockne seine Tränen!«
Einen Augenblick lang wirkte der Krieger bestürzt. Ein Anblick, den Balduin genoss.
Der Hofmeister wusste nur zu gut, dass es klüger war, die Befehle seines Königs umgehend zu befolgen. Und Tankret wusste es auch! Der Krieger riss sich das Tuch von seinen Lenden und wischte damit über Jeans Gesicht. Doch es half wenig. Der Kleine weinte einfach weiter.
»Jean«, die Stimme des Königs klang versöhnlich. »Du wolltest mich nicht kränken. Du bist nicht wie Guillaume, nicht wahr?«
Der Junge nickte, so gut das mit Tankrets Hand im Nacken ging.
»Du würdest sicher alles tun, um mir zu helfen. Wenn du mich heilen könntest, würdest du mich dann im Stich lassen?«
»Nein, bestimmt nicht«, stieß Jean unter heftigen Schluchzern hervor.
»Dann, bitte, hör auf zu weinen. All diese Tränen wegen eines Missverständnisses ...«
Jean kämpfte mit sich. Es dauerte eine Weile, bis er sich beherrschte und sein Tränenstrom versiegte. Aber seine Angst war noch nicht vergangen, das sah man deutlich. Der Kleine spürte, dass etwas zutiefst nicht in Ordnung war.
»Du willst mir also helfen?« Jean nickte heftig.
»Komm her.« Der alte König drehte sich ein wenig in seinem Bad. Rosenblätter wirbelten durch das Wasser. »Siehst du dort die kleine Einbuchtung auf dem Rand des Beckens?«
Wieder nickte der Junge. Ein tiefer Schluchzer entstieg seiner Brust, aber er schaffte es, seine Tränen zurückzuhalten.
»Leg dort deinen Kopf hin, mein Kleiner. Der Platz ist sehr bequem. Die Stelle wurde von meinem Steinmetz dafür geschaffen, dort seinen Kopf zur Ruhe zu betten. Ich mache das auch oft.«
Der Junge gehorchte. Er war so arglos, dachte Balduin bitter. Das waren sie alle. Er erlebte dies nicht zum ersten Mal. Kaum hatte Jean den Kopf in die Ausbuchtung gelegt, stemmte ihm Tankret sein Knie in den Rücken, packte die blonde Perücke, riss sie hinab und schleuderte sie von sich, um dann nach den echten Haaren des Jungen zu greifen. Er bog Jean den Kopf weit in den Nacken, zog den Dolch und schnitt dem Knaben tief in die Kehle. Ein Strom von Blut spritzte hervor und ergoss sich in das Badewasser, wo es in Wirbeln in schauriger Harmonie mit den Rosenblättern tanzte.
Der Junge brachte keinen Ton hervor. Tankret ließ ihn wie ein Stück Vieh ausbluten.
Cabezan aber lehnte sich im Wasser zurück und seufzte zufrieden. »Weißt du, Balduin, die Alchemisten faseln vom Wasser des Lebens und suchen seit Jahrhunderten mit größter Verbissenheit nach diesem wundersamen Elixier. Dabei ist es so leicht zu finden! Das Wasser des Lebens rinnt durch unsere Adern. Es ist Blut.
Junges Blut vermag all meine Leiden besser zu lindern als jede Paste oder Tinktur, die je ein Quacksalber auf meine Haut aufgetragen hat.«
»Wenn Ihr es sagt, Majestät.« Balduin kämpfte gegen Übelkeit an. Wie sehr er dieses Ungeheuer verachtete! Aber er wagte es nicht, seine Hand gegen Cabezan zu erheben oder sich zu verschwören. Dutzende hatten das schon versucht, und alle waren sie gescheitert.
»Du siehst wirklich nicht gut aus, Balduin. Du solltest auch in dieses Bad steigen.
Natürlich erst, nachdem ich es verlassen habe. Tankret tut es auch manchmal. Die Kraft des Blutes glättet und verjüngt deine Haut. Und sie stärkt deinen Körper. Wenn du es über dich bringst, etwas von dem Wasser zu trinken, dann wirst du merken, wie es auch deine Gedärme und deine Leber stärkt. Kinderblut ist wahrlich ein Allheilmittel!«
»Ich weiß nicht ... «, brachte Balduin unter Mühen hervor. In Wahrheit wusste er es ganz genau! Er wollte sich nicht noch tiefer in die Verbrechen seines Königs verstri-cken. »Ich denke, es war nicht klug, ausgerechnet Jean zu töten. Seine Schwester wird seine Briefe erwarten ... «
Cabezan winkte ab und drehte sich wie ein Aal im blutigen Wasser. Mit beiden Händen schlug er es sich ins Gesicht, damit es jeden Flecken seiner kranken Haut benetzte. Balduin sah mit Schrecken, wie der König tatsächlich davon trank! Er gurgelte es in der Kehle.
»Du wirst die Briefe schreiben, Balduin«, sagte er schließlich. »Der Junge konnte ohnehin nur ein paar Heiligennamen schreiben. Sie hat noch nie einen Brief von ihm bekommen. Also male die Buchstaben sehr ordentlich, so wie es Kinder tun, und schreibe ihr, wie schön das Leben bei Hof ist.«
»Aber wenn sie misstrauisch wird? Ich weiß fast nichts über die beiden. Ich könnte kaum eine Frage nach ihrer Vergangenheit beantworten.«
Der König schenkte ihm ein blutiges Lächeln. »Ich ver traue ganz deinem Einfallsreichtum, Balduin. Du machst das schon. Ich weiß, wie sehr dir daran gelegen ist, mich nicht zu enttäuschen.«
Der Hofmeister verneigte sich. »Darf ich nun gehen, Majestät?«
»Du darfst dich auskleiden.«
Eisiger Schrecken fuhr ihm durch die Glieder. »Ich ...«
»Schämst du dich? Ich halte es schon aus, den ausgemergelten Körper eines alten Mannes zu sehen. Er wird nicht schlimmer aussehen als meiner.«
»Ich … Danke, aber ich …«
»Mein lieber Freund, ich möchte, dass du nach mir in dieses Bad steigst. Es wird dir guttun. Ich weiß es. Manchmal muss man gute Freunde zu ihrem Glück zwingen.
Tankret wird mir dabei gewiss behilflich sein, wenn mein Zureden allein nicht hilft.«
Der Leibwächter bedachte Balduin mit einem gehässigen Lächeln. Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.
»Du warst mir immer ein guter Berater, Balduin. So gut, dass ich mir meinen Hof nicht ohne dich vorstel en kann. Also werde ich mich um deine Gesundheit kümmern. Ein kleines Blutbad wird dich kräftigen. Vertrau mir.«
Nikodemus drängte sich zwischen den Grauhäuten hindurch. Er war froh, dem Tunnel entronnen zu sein. Ihm kam dieses Tal nicht gut vor. Er war schon in anderen Oasen im verbrannten Land gewesen. Aber keine war wie diese hier! Es war ein unheimlicher Ort. Ein Ort, an dem die Vergangenheit nicht ruhen wollte.
Er blickte hinüber zu der Festung in der weiten Felsnische. Zu den Lichtern. Drei der Fenster waren erleuchtet. Und es gab noch ein viertes Licht. Im Felsboden vor der Festung.
Es gab nur einen einzelnen Albenpfad hier. Der Lutin hatte eine Karte der magischen Pfade im Kopf. Seine Sippe hatte sie gefertigt. Es war eines ihrer Geheimnisse. Sie kannten das Goldene Netz besser als jeder andere. Zu oft mussten sie dorthin fliehen.
Nikodemus wusste, dass es hier nur einen einzigen Albenpfad gab. Er schnitt längs durch das Tal. Mitten durch die unheimliche Pyramide. Theoretisch konnte man an einer beliebigen Stelle einen Albenpfad verlassen. Aber es zu tun, war der blanke Leichtsinn. Dafür waren sie nicht geschaffen. Man brauchte einen Schnittpunkt. Und je mehr Pfade sich an einem Punkt kreuzten, desto besser! Durch einen Stern zu gehen, der nur aus zwei Linien gebildet wurde, war ebenfalls gefährlich. Man mochte einen Sprung durch die Zeit machen oder sogar ganz verlorengehen. Kein Lutin, der etwas auf sich hielt, würde einen Albenstern nutzen, an dem sich weniger als vier der magischen Pfade kreuzten.
Nikodemus blickte zweifelnd zu den Lichtern. Skanga und ihre Häscher konnten noch nicht hier sein. Es war kaum einen Tag her, dass das Amulett verschwunden war.
Andererseits, sie war Skanga, die mächtigste Schamanin aus dem Volk der Trolle. Wer wusste schon, über was für dunkle Kräfte sie gebieten mochte, von denen er keine Ahnung hatte?
Emerelle wandte sich ihnen zu. »Dort drüben ist unser Nachtlager. Folgt mir!« Mit weiten Schritten betrat sie den Weg, der entlang der Bergflanken hinüber auf die andere Seite führte. Im Sternenlicht konnte man ihn nur undeutlich erkennen. Es lag noch mindestens eine halbe Stunde Fußmarsch vor ihnen, schätzte Nikodemus.
Der Lutin musste laufen, um zu der Elfe aufzuschließen. Die übrigen Kobolde folgten.
Sie waren fast am Ende ihrer Kräfte. Emerelle verlangte ihnen zu viel ab!
Wieder blickte er zu den Lichtern in der Festung. Erwartete Skanga sie dort?
Endlich erreichte er die Königin. »Herrin, auf ein Wort.« »Nicht jetzt!« Sie sagte es freundlich, aber bestimmt. »Aber ...«
»Nicht jetzt, Nikodemus! Ich muss all meine Sinne offen halten und auf das Tal lauschen. Ich kann jetzt nicht reden. Später.«
Auf das Tal lauschen? Die Elfe beschleunigte ihre Schritte noch einmal, und er gab den Versuch auf, mit ihr Schritt halten zu wollen. Was fürchtete sie? Konnte sie Skanga spüren? Oder wartete etwas anderes in der Festung auf sie? War es hier so gefährlich, dass man in einer Festung übernachten musste?
Der Lutin blickte auf das Tal hinab. Seltsame Laute drangen aus dem Wald. Waren das Tiere? Was für Geschöpfe lebten hier? Er hatte die Grauhäute viel über Geister reden hören. Gab es sie wirklich? Wenn ja, dann war das hier ein Platz, den Geister lieben würden. Wieder dachte er, dass dies ein Ort war, an dem die Vergangenheit nicht ruhen wollte.
Er sah Emerelle nach. Sie trug keine Waffe. Sie trug nicht einmal mehr ordentliche Kleider. War sie verrückt geworden? Madra war anderer Meinung gewesen. Mit jedem Tag, den sie in Gesellschaft der Elfe verbracht hatten, hatte er vor Emerelle mehr Respekt gewonnen. Zuletzt war er der Überzeugung gewesen, dass sie auf einer großen Suche war und dass es sich auf jeden Fall lohnen würde, in ihrer Nähe zu sein, wenn sie fand, wonach sie suchte. Was das war, hatte der Troll nicht benennen können.
Er vermisste Madra. Dieser riesige Trottel. Er hätte einfach in der Höhle bleiben können, statt noch einmal hinaus in den Drachenatem zu laufen. Er hatte sie alle gerettet, dessen war sich Nikodemus sicher. Emerelle hätte es nicht mehr bis zur Höhle geschafft. Aber Madra hatte das nicht wissen können. Bestimmt nicht! Es war nur seine Dickköpfigkeit gewesen, die ihn hinausgetrieben hatte ... Oder hatte er doch etwas geahnt?
»Ich vermisse dich, mein Freund«, murmelte er leise. Es auszusprechen, machte es leichter, seine Trauer zu ertragen. Dass er einen Troll Freund nannte ... Er wurde noch sentimental. Ein Kommandant konnte sich so etwas nicht leisten. Er war seinem Bruder verpflichtet und der großen Erhebung der Kobolde. Und nicht einem Troll...
Er hatte neben Madras Leiche einen Hosenknopf gelegt. Er hatte nichts anderes gehabt, worauf er verzichten konnte. Und ohne den Knopf, nur vom Gürtel allein gehalten, hatte er nun dauernd das Gefühl, seine Hose würde ihm noch während der nächsten paar Schritte bis zu den Knöcheln herabrutschen. Immer wieder packte er sich an den Hosenbund und zog sie hoch. Das war den Grauhäuten auch schon aufgefallen, und sie machten Spaße über ihn. Den Knopf als Andenken bei Madra zu lassen, war wirklich eine verrückte Idee gewesen. Auf diese Weise würde er ihn ganz gewiss so schnell nicht vergessen, dachte Nikodemus, und zog die Hose wieder hoch.
Der Elf, Ollowain, lief an ihm vorbei und eilte an Emerelles Seite. Die Grauhäute ließen sich Zeit. Sie waren erschöpft, ja, aber sie gingen mutwillig immer langsamer. Er konnte sie verstehen. Gewiss dachten sie, dass doch die beiden Riesen nachsehen sollten, wer die Lichter in der Festung entfacht hatte.
Nikodemus begann auch zu laufen. Wenn er seinen Namen groß machen wollte, dann musste er vorne dabei sein. Madra war tot. Wer sollte jetzt bezeugen, dass er je einen Troll geritten hatte? Er brauchte eine neue Heldentat. Vielleicht könnte er Emerelle das Leben retten? Sein Bruder würde das nicht schätzen, aber von so einer Tat würde man sich noch in hundert Jahren erzählen.
Heute Morgen noch war ihm egal gewesen, was mit Emerelle geschah. Ja, er hatte herbeigesehnt, dass Skanga schnell käme, damit die Quälerei und die endlosen Mär sehe endlich ein Ende hätten. Aber die schwarze Brücke hatte ihm die Augen geöffnet.
Dort hatte er begriffen, was königlich war. Emerelle mochte die Grauhäute nicht, dessen war er sich ganz sicher. Niemand mochte sie! Und dennoch hatte sie sie über den Abgrund getragen.
Die Festung war weniger als fünfzig Schritt entfernt, als die beiden Elfen anhielten und sich berieten. So konnte er zu ihnen aufschließen. Außer Atem erreichte er sie.
»Leise«, zischte Ollowain ihn an. »Was willst du hier?«
»Ich muss mit Emerelle reden. Es ist...«
»Nicht jetzt!« Sie selbst hatte geantwortet. »Wenn du mitkommen willst, dann sei leise.
Falrach, du gehst zuerst hinein!«
Der Elf zog seinen Dolch. »Mein Schwert ist mir leider abhanden gekommen. Das wird…«
Emerelle legte ihm die Hand auf den Waffenarm. »Steck ihn weg. Du brauchst keine Waffen. Du bist die Waffe!«
Er lächelte melancholisch. »Das war Ollowain.«
»Das gilt auch für dich. Vertraue dir.« Sie gab ihm einen Kuss. Kurz, aber leidenschaftlich. »Ich vertraue dir, Falrach.«
Nikodemus fand das alles im höchsten Maße befremdlich. Elfen waren eindeutig schwerer zu verstehen als Trolle. Ganz besonders diese beiden. Er hatte das Gefühl, dass viel Ungesagtes zwischen den beiden schwang. Als Falrach ging, wirkte er irgendwie größer. Es war aberwitzig, das wusste Nikodemus. Aber der Kuss und die Worte hatten ihn irgendwie wachsen lassen.
Schweigend sahen sie ihm nach, bis er hinter den Ruinen verschwand.
»Willst du immer noch mit?«, fragte Emerelle leise. Nikodemus nickte und hoffte, dass sie keine weiteren Fragen stellen würde. Es wäre ihm schwergefallen, seine Beweggründe zu erklären. Wenn er sagte, dass er ein Held sein wollte, dann hätte sie ihn vermutlich belächelt. »Herrin, Skanga wird kommen. Sie weiß, wo wir sind.«
Die Elfe nickte. »Du hast sie also benachrichtigt.« »Es war keine Absicht.«
»Und jetzt willst du mit mir gehen und dich womöglich in Gefahr begeben.«
Er nickte. »Ja, das will ich.«
»Ihr Lutin seid ein sehr seltsames Volk, Nikodemus. Sehr seltsam.« Sie sah zu den Grauhäuten. Sie waren ein ganzes Stück entfernt stehen geblieben und warteten, was geschehen würde. »Skanga kann nicht schneller hierher gelangen als wir. Der nächste Albenstern, den sie ohne Gefahr durchqueren kann, ist eine Woche Fußmarsch entfernt. Und auch sie muss den Drachenatem überwinden. Wir sind hier sicher. Für eine kurze Zeit zumindest. Das da vorn ist nicht sie. Sie müsste frei durch die Albenpfade und das Nichts streifen können, um so schnell hierherzu-gelangen. Das vermag nicht einmal sie.«
Das ließ sich nicht von der Hand weisen, dachte Nikodemus, und dennoch fühlte er sich nicht viel besser. Sie war schließlich Skanga. Vielleicht fand sie einen Weg.
»Willst du immer noch mit? Und wem gehört eigentlich deine Loyalität?«
Nikodemus nahm sich ein wenig Zeit, die Frage zu bedenken. Seltsamerweise bedrängte ihn Emerelle nicht.
»Meine Loyalität gehört mir«, sagte er schließlich.
Die Elfe lächelte. »Wahrhaft die Antwort eines Lutin. Wollen wir gehen?«
»Ja.« Das Wort kam ein wenig zögerlich. Hatte er seinen Mut überschätzt? Er folgte der Elfe. Bald hatten sie die alte Festung erreicht. Drohend ragten die Mauern über ihnen auf. Der Boden war bedeckt mit Gesteinstrümmern und trockenem Vogelkot, der unter seinen Sohlen leise knisterte. Emerelle hingegen bewegte sich völlig lautlos. Sie war wie ein Schatten.
Das Festungstor lag seitlich hinter einem vorkragenden Turm, so dass es von der Terrasse beim Tunnel nicht zu sehen gewesen war. Die hohen Pforten standen offen.
Die Türflügel schimmerten, als seien sie aus lauterem Gold geschaffen. Reiter, die auf Pegasi einen fliegenden Drachen begleiteten, schmückten das Tor.
Nikodemus’ Fell sträubte sich. Der ganze Ort war von mächtiger Magie durchdrungen.
Einige der Zauber waren gewoben, um dem Verfall entgegenzuwirken. Andere stärkten die Mauern oder erhielten die Leuchtkraft der Malereien, die die Wände des Innenhofs schmückten.
Die Flanken des Hofs waren von Ställen gesäumt. Waren hier einmal Pegasi untergebracht gewesen? Stellte man geflügelte Pferde in Ställe?
Emerelle sah sich nicht um, sondern ging zielstrebig auf die andere Seite des Hofes zu.
Ein von Säulen getragenes Vordach verwehrte den Blick auf den Eingang zum massigen Bauwerk. Hoch über dem Hof lag ein Fenster, aus dem warmes, bersteinfarbenes Licht fiel.
Nikodemus hatte das unbestimmte Gefühl, dass Emerelle diesen Ort kannte. Sie eilte die weiten Treppenstufen zum Vordach hinauf und verschwand im tiefen Schatten.
Der Lutin hatte Schwierigkeiten, die Treppe zu bewältigen. Hier hatten keine Kobolde gewirkt, so viel war sicher. Die Stufen zu erklimmen, war ein Kraftakt. Und nirgends gab es eine Rampe oder eine Treppenflucht mit flacheren Stufen. Wer hier wohl einst den Elfen den Arsch nachgetragen hatte, dachte er gehässig.
Im Schatten des Säulendachs wartete niemand auf ihn. Nach kurzer Suche fand er den Eingang zum Hauptgebäude. Er lag in einer Achse mit dem Tor auf dem Hof. Seine Schritte hallten unnatürlich laut, als er eintrat. Er hatte das Gefühl, in einem sehr großen Raum zu stehen. Aber es gab kein Licht. Er konnte kaum die Hand vor Augen sehen.
Ein trockener, staubiger Geruch hing in der Luft. Sollte er nach Emerelle rufen? Wo steckten die beiden?
Seine Augen gewöhnten sich einfach nicht an die Dunkelheit. Es war, als läge ein Zauber auf diesem Turm, der ihn verbergen sollte. Was für eine hirnverbrannte Idee, mit diesen beiden Elfen mitzuziehen. Er hätte es besser wissen müssen. Wenn es hart auf hart kam, durfte man sich als Kobold niemals auf Elfen verlassen. Die dachten an das kleine Volk stets zuletzt, wenn überhaupt.
Vielleicht sollte er umkehren? Aber dann würde er vor den Grauhäuten wie ein Feigling dastehen. Das kam nicht infrage! Mit ausgestreckten Händen tastete er sich vorwärts. Auf dem Boden lag Geröll. Aber auch andere Dinge waren dort. Einmal knirschte etwas metallisch, als er daran stieß. Dann trat er auf einen dicken Teppich.
Beklommen sah er zurück. Jetzt konnte er auch den Eingang nicht mehr entdecken.
Was war das? Das Tor zum Hof, in den Sternenlicht fiel, hätte sich deutlich gegen die Finsternis dieser Halle abzeichnen müssen.
Irgendwo knirschte etwas. Nikodemus hielt den Atem an. Er war hier nicht allein! Das Geräusch war von links gekommen. Also würde er nach rechts ausweichen. Er machte einen Schritt, dann noch einen … Da wurde er gepackt und hochgehoben!
Er versuchte seinen Angreifer zu beißen, doch eine starke Hand drückte ihm die Schnauze zu. »Vor dir war ein Loch im Boden.«
Das war die Stimme des Verrückten, der nicht länger glaubte, Ollowain zu sein.
»Du bist nicht in Gefahr.«
»Wo ist Emerelle?«
»Sie ist nach oben gegangen.«
Wie er sich gedacht hatte. Elfen scherten sich einen Dreck um Angehörige des kleinen Volkes.
»Sie hat mich geschickt, dich zu holen.«
Nikodemus knurrte leise. Na gut, meistens scherten sich Elfen einen Dreck um Kobolde. »Warum ist es hier so verflucht dunkel?«
»Wegen all der Toten«, sagte der Elf niedergeschlagen. »Es war keine Zeit, sie zu bestatten. Deshalb wurde dieser Zauber gewirkt, um sie vor den Blicken zu verbergen.«
Nikodemus überlegte, ob es wohl sehr kaltherzig wäre, nachzufragen, von was für Toten hier die Rede war. Und vor allem, was sie umgebracht hatte. Indessen trug Falrach ihn lautlos durch die Halle. Es war demütigend, wie ein kleines Kind herumgetragen zu werden! Aber er hielt die Schnauze. Fragte nicht nach Toten und beschwerte sich auch nicht. Elfen waren einfach zu empfindlich, um mit ihnen vernünftig reden zu können.
Es war, als stoße man mit dem Kopf durch die Oberfläche eines Gewässers, so plötzlich änderte sich das Umfeld. Es war noch dunkel, aber vor ihnen fiel ein warmer Lichtschein durch eine Zimmertüre. Sie befanden sich auf einem Flur. Und endlich setzte Ollowain ihn ab!
»Dort vorne ist Emerelle«, sagte der Elf und deutete auf die erleuchtete Tür.
Nikodemus sog misstrauisch witternd die Luft ein. Sie war trocken. Auch hier roch es nicht nach Verfall. Nur nach Magie. Vorsichtig näherte er sich der Tür. Sie war eine von mehr als einem Dutzend an dem Flur. Jede der Türen sah anders aus. Sie waren mit Intarsien geschmückt oder aus verschiedenfarbigen Hölzern gearbeitet. Nur eine einzige stand offen.
Das Zimmer, in dem Emerelle sich befand, war geräumig, aber nicht riesig. Ein Elf hätte wohl gesagt, dass es exquisit eingerichtet war. Sie mochten leere Zimmer, in denen nur wenige Möbel und einzelne Kunstwerke standen. Hier gab es ein schmales, recht unspektakuläres Bett. Einen Tisch mit geschwungenen Bronzebeinen und einer Platte aus grünem Stein. Daneben ein Ding, das halb Stuhl und halb Bank war, mit einem hohen Rückenteil. Es sah hübsch aus und ungemütlich.
Eine meergrüne Lacktruhe mit aufgemalten, springenden Delfinen rundete die Einrichtung ab. Ein langer Schild mit Kampfspuren zierte die Wand. Dahinter eine Lanze. An anderer Stelle hingen gekreuzte Schwerter. Auf dem Tisch stand eine Steinskulptur, die eine abstrakte, sich windende Form zeigte, ohne dass man benennen konnte, was genau sie darstellte. Von dem Stein ging das Licht aus. Nikodemus hatte ähnliche Steine schon zuvor gesehen.
Barinsteine nannten die Elfen sie. Mit welcher Magie man Licht in sie hineinbekam, wusste der Lutin nicht. Sie waren selten. Und ihr Licht strahlte über Jahrhunderte, wenn es einmal entzündet war.
Emerelle ging gedankenverloren in dem Zimmer auf und ab. Dabei ließ sie die Hände über die spärlichen Möbel gleiten. Die Art, wie sie sich bewegte und wie ihre Finger zärtlich über die glatten Oberflächen strichen, strahlten eine stumme Trauer aus, die Nikodemus nicht mit Fragen zu stören wagte.
Der Lutin sah zu Ollowain, der an der Tür verharrte. Der Elf machte eine flüchtige Geste in Richtung des Tischs.
Nikodemus zögerte kurz. Er hatte Sorge, dass jede Bewegung Emerelle stören könnte.
Doch dann siegte seine Neugier. Er stieg auf das seltsame Sitzmöbel. Auf dem Tisch lag ein Stück Pergament. Es war vergilbt und augenscheinlich schon sehr alt. Aber statt Fragen zu beantworten, warf es nur neue auf. Zwei Zeilen in geschwungener, altertümlicher Schrift standen dort.
Ich weiß, du wirst hierherkommen, Emerelle. Ich erwarte dich beim Drachenthron.
Emerelle bewegte sich vorsichtig über den Kiesweg. Es erinnerte sie an ihre Kindheit.
Ihre Mutter hatte ein Spiel daraus gemacht, ob sie es schaffte, lautlos über einen Kies weg zu gehen. Damals, als Kind, hatte Emerelle keine Ahnung gehabt, wie wenig Spiel das in Wahrheit war. Ihre Mutter hatte sie auf eine Jugend voller Fluchten vorbereitet, denn Nandalee hatte gewusst, dass sie kommen würden. Jene übermächtigen Feinde, die Herren der Welt.
Dieser Kiesweg war in erstaunlich gutem Zustand, wenn man bedachte, wie lange er nicht mehr gepflegt wurde. Alles in diesem Tal war von der Magie der Drachen durchdrungen. Der Garten war einmal für die Ewigkeit angelegt worden. Es war ehrfurchtgebietend, zu sehen, wie die Drachenmagie im Duell mit Zeit und Natur Bestand bewahrt hatte. Emerelle hatte Zweifel, dass sie Schutzzauber von ähnlicher Macht wirken könnte. Der Kiesweg führte durch einen Dschungel. Dazu war der große Garten inzwischen geworden. Rechts und links des Weges hatten sich Böschungen aus neuer, tiefschwarzer Erde gebildet. Das Resultat eines jahrtausendelangen Zyklus aus Vergehen und Wiedererstehen. Kaum eine Wurzel hatte den Kiesweg durchbrochen.
Nur an wenigen Stellen lagen verfaulende Blätter oder spross ein Grasbüschel. Es war genug, um sich mühelos ohne ein Geräusch über den Weg aus schneeweißen Kieseln zu bewegen. Und doch war er immer noch ein Zeugnis der Drachenmacht.
Emerelle hatte Falrach und Nikodemus zurück zu den Grauhäuten gebracht. Die Festung war sicher. Für eine Nacht würde sie den Grauhäuten ein gutes Quartier bieten. Die Elfe hatte ihren beiden Gefährten nicht gesagt, wohin sie gehen würde, aber sie ahnten es gewiss. Die weiße Pyramide beherrschte das ganze Tal. Es war offensichtlich, dass man den Drachenthron dort finden würde. Und Emerelle wusste genau, wer sie darauf erwartete.
Die Geräusche des Dschungels drangen auf sie ein. Das Zirpen von Insekten, die Balzrufe eines Affen. Einmal das schrille Klagen einer Nachtschwinge. Es roch nach Morast, nach verfaulenden Blättern und dann wieder nach schweren Blüten.
Der See, der nahe der Pyramide lag, hatte seine Uferbefestigungen gesprengt. Er griff hinaus in den Park. Seine streng abgezirkelten Grenzen waren verschwunden. Auf einer neuen Insel stand ein einzelner Mangobaum. Der Duft seiner Früchte überlagerte jeden anderen Geruch.
Jemand hatte Trittsteine in das flache Wasser gelegt. Sie führten zum Eingang der Pyramide, jenem gewaltigen Tor, das sich weit vor der Pyramide erhob. Ein Tor, das groß genug war, einen Sonnendrachen zu verschlucken.
Die Pyramide war ein künstlich erschaffener Berg. Die Idealform eines Berges! Einst hatten die Urahnen der Drachen in großen Höhlen gelebt. Zuletzt aber hatten sie sich ihre Berge und Höhlen selbst erschaffen. Sie hatten Landschaften geformt, und wer ein kundiges Auge hatte, der vermochte das Wirken der Drachen auch nach vier Jahrtausenden noch an vielen Orten Albenmarks zu erkennen.
Vorsichtig setzte Emerelle den Fuß auf den ersten Trittstein. Das Wasser verströmte einen Modergeruch. Nicht weit entfernt sah sie zwei Krokodile am Ufer liegen und dösen. In ihrer neuen Heimat würden die Grauhäute nicht nur als Traumfänger kämpfen müssen. Hier erwarteten sie auch greifbare Gefahren. Emerelle dachte an all die Geschichten, die sie über den Jadegarten gehört hatte. Krokodile waren nicht das einzige Übel, das man hier fürchten musste.
Siebzehn Trittsteine führten über den seichten See bis zum Eingang der Pyramide. Die Kraft der Erdbeben, deren Zeugnisse sich allerorten im Tal fanden, war auch hier unübersehbar. Risse fanden sich im bleichen Mauerwerk des flachen Bauwerks mit seinen stämmigen Säulen. Schmutzschlieren zogen sich über den Boden des Eingangs und über die weite Rampe, die in die Tiefe führte. Drachen mochten keine Treppenstufen. Wege, die auch sie benutzten und die ein Gefälle überbrückten, waren stets als Rampen angelegt worden. Deshalb lag der Eingang fast zweihundert Schritt vor der Pyramide. Die Rampe führte in sanftem Gefälle zum Thronsaal, der tief unter dem Prachtbau lag.
Als Emerelle zwischen den Säulen hindurchtrat, fröstelte es sie. Die Geschichte schien hier stillzustehen. Weihrauchduft lag in der Luft. Die Fresken an den Wänden erstrahlten in so üppigen Farben, als seien sie eben erst vollendet worden. Sie zeigten einen gewaltigen Sonnendrachen, dessen Flügel mit bunten Mustern fast wie bei einem Schmetterling bedeckt waren. So sehr Trolle Metalle verabscheuten, Drachen hatten sie geliebt. Der Drache auf dem Bild trug Schmuck. Goldringe durchbrachen die Ränder seiner Flügel. Prächtige Reife umfassten seine Füße. In die tödlichen Krallen waren komplexe Spiralmuster graviert. Sie waren eitel gewesen!
An den Wänden des Gangs, der mit leichter Neigung abwärts führte, leuchtete das warme Licht von Bannsteinen. Zum Weihrauchduft mischte sich nun auch der Gestank brackigen Wassers.
Emerelle beschleunigte die Schritte und verschloss sich den Bildern. Sie hatte diese Zeit tief in ihrem Herzen begraben. Die Schrecken der Drachenkriege, den Tod ihrer Mutter und Fairachs, all das war um sie herum nun wieder lebendig. Der Schrecken und der Glanz des Zeitalters, in dessen höchste Blüte sie hineingeboren war.
Der Gang öffnete sich in eine weite Halle. Wuchtige Säulen erhoben sich, um eine Decke zu tragen, die weit über ihr in der Dunkelheit verborgen blieb. Wasser war in die Halle eingedrungen. Das Licht dreier Feuer, die in goldenen Räucherpfannen brannten, brach sich im makellosen Schwarz seiner Oberfläche. Blaugrauer Rauch schwebte in dichten Schwaden über dem Wasser.
Inmitten des überfluteten Saals erhob sich eine flache Insel aus dem Wasser. Der Drachenthron. Leichte Vertiefungen waren in die steinerne Insel eingearbeitet. Sie war vollkommen auf die Körpermaße des Königs angepasst worden. Dort hatte er einst gelegen, halb zwischen Träumen und Wachen. Er hatte Gärten ersonnen und künftige Schlachten im Krieg gegen die Devanthar überdacht.
Jetzt wartete auf dem Drachenthron die Gazala. Sie hatte ihre schlanken Gazellenbeine nach hinten gestreckt und stützte sich auf ihren Handflächen ab. Den Oberkörper zurückgebogen, das Kinn herausfordernd vorgestreckt, hatte sie etwas zutiefst Animalisches. Gewundene Hörner wuchsen aus ihrer Stirn und krümmten sich in weitem Bogen ihrem Rücken entgegen. Die Gazala war nackt. Sie hatte sich allein in Farben gekleidet. Verschlungene Muster in Weiß, Scharlachrot, Dunkelblau und hellem Grau bedeckten ihren gebräunten Leib. Ihre Augen waren geschlossen.
Weihrauch umspielte sie.
Emerelle war sich sicher, dass die Gazala wusste, dass sie eingetroffen war. Sie war eine Seherin. Viel zu klug und begabt. Sie und ihre Schwester waren einst eine Gefahr gewesen. Es war besser, wenn die Zukunft ungewiss blieb. Firaz und Samur aber hatten sie jedem entblößt. Auch wenn sie, nach Art der Orakel, manches Mal in viel-deutigen Versen sprachen, so mochte der Kluge in ihren Worten doch stets die Wahrheit zu finden.
»Willkommen, gefallene Königin!« Die Stimme der Gazala war durchdringend. Es war eine von jenen dunklen, leicht rauchigen Frauenstimmen, die Emerelle stets ein unangenehmes Gefühl bereiteten. Es war eine Stimme, die einen durchdrang. Deren Worte tief im Inneren vibrierten.
Emerelle trat in das Wasser. Es war warm. Der Schmutz gab ihm eine schlammige, weiche Dichte. Es streichelte über ihre Beine. Ihre Zehen gruben sich in weiches Sedi-ment. Ihre Schritte ließen dunkle Wolken unter der Wasseroberfläche aufsteigen.
Sie spürte eine flüchtige Berührung. Etwas hatte kurz ihre Wade gestreift. Die Elfe zwang ihren Ekel nieder und ging weiter.
»Blutegel, Wasserratten, Schlangen und eine Vielzahl von Würmern und kleinen Insekten.« Die Worte bohrten sich in ihre Eingeweide.
Emerelle hatte sich in Gedanken gefragt, was in diesem Wasser lebte. Aber sie hatte es nicht wirklich wissen wollen! So war sie schon früher gewesen. Gerne hatten Firaz und ihre Schwester Samur mehr Wahrheiten ausgesprochen, als man wissen wollte.
Bis zu den Hüften reichte Emerelle nun das Wasser, und der Boden war immer noch leicht abschüssig. Wie tief war es? Die Elfe blickte auf, doch diesmal schwieg die Seherin. Firaz hockte sich hin. Wegen der Gazellenbeine sah es seltsam aus. Die Winkel, in denen sie die Gelenke knickte, schienen nicht zu stimmen.
»Du solltest der Silberschale neben deinem Thron nicht zu sehr vertrauen. Sie ist nicht aufrichtig. Sie zeigt nur die dunkle Seite der Zukunft.«
»Ich weiß«, entgegnete Emerelle.
»Und von mir erhoffst du dir eine Antwort zu Ollowain. Ausgerechnet von mir, die du mich vor mehr als dreißig Jahren verbannt hast. An einen Ort, an dem außer mir niemand lebt. Dreißig endlose Jahre kam niemand, um mich nach der Zukunft zu fragen.«
Emerelle blieb stehen. Sie hatte sich der Gazala auf etwa sieben Schritt genähert. Das trübe Wasser reichte ihr nun bis zu den Brüsten. »Allein wirst du in Zukunft jedenfalls nicht mehr sein«, entgegnete die Elfe. »Das Volk der Grauhäute wird von heute an im Jadegarten leben.«
»Sie werden mich nicht stören«, erwiderte die Gazala mit einem eigenartigen Lächeln.
»Ich hasse dich, Emerelle, denn du hast mein Leben zerstört. Aber dies ist ein Orakel, und du hast eine weite, gefahrvolle Reise gemacht, um hierherzukommen. Ich werde dir eine Frage beantworten. Nur eine einzige! Wähle gut!«
Emerelle musste nicht überlegen. Die Gazala wusste ja bereits, wonach sie fragen würde. »Wie kann ich Olowain zurückholen?«
Firaz sah sie durchdringend an. Ihre Augen waren von einem warmen, hellen Braun. Ihre Iris füllte das ganze Auge. Kein Weiß war zu sehen.
Die Elfe fühlte sich unter dem Blick unbehaglich. Etwas stimmte nicht.
Firaz stieg ins Wasser. Sie kam zu ihr. Sie trat so nah an sie heran, dass Emerel e den Atem der Gazala auf dem Gesicht spüren konnte. »Ich habe dich viele Jahre lang tief gehasst, denn du hast mein Leben zerstört. Und das nur, weil ich tat, was mir bestimmt war. Mein Hass hat mich dazu verführt, deine Zukunft zu erkunden. Deshalb wusste ich, dass du kommen wirst. Und ich wusste, was du fragen wirst. Ich sage dir das alles, damit du mir glaubst, wenn ich dir jetzt antworte. Meinen Hass habe ich lange abgelegt. Ebenso meine Furcht um den Tod. Denn ich weiß schon seit langem, wann ich sterben werde und wie es geschehen wird. Als junge Frau war ich so dumm, meine Schwester danach zu fragen. Sie hat mir ehrlich geantwortet. Seitdem liegt der Schatten des Todes, den andere erst spüren, wenn ihr Ende naht, über meinem Leben.«
Emerelle hatte das Gefühl, dass Firaz zu lange allein gewesen war. Ihre Rede erschien ihr wirr. Aber sie war ein Orakel. Und alle Orakel waren dafür berüchtigt, keine klaren Antworten zu geben. Sie beherrschte sich, die Gazala nicht zu unterbrechen.
»Ich weiß, deine Liebe zu Ollowain ist unerfüllt. Trotzdem fragst du nach ihm ...
Falrach könnte dir alles geben, wonach du dich sehnst.« Sie lächelte. »Aber du greifst immer nach dem Unerreichbaren. Das ist dein Schicksal. Doch nun zu deiner Frage.
Wie du Ollowain zurückholen kannst, kann ich dir nicht sagen.«
Emerelle war so vor den Kopf geschlagen, dass sie einige Augenblicke brauchte, um sich zu fassen. »Du willst mir nicht helfen! Orakel müssen eine Antwort geben!«
»Das tat ich auch.«
»Diese Worte kann ich nicht akzeptieren! Du ... « »Kein Orakel in Albenmark kann dir deine Frage beantworten. Damit ist alles gesagt. Nun geh! Ich erwarte noch zwei Besucher.«
Emerelle vermochte ihre Wut kaum zu beherrschen. Sie war überzeugt, dass dies Firaz’
Rache war! Das war kein Orakelspruch! Orakel atmeten Rauch ein, warfen Knochen, taten irgendwelche seltsamen Dinge. Nichts davon hatte Firaz getan! Die Elfe mochte nicht glauben, dass die Gazala ihre Frage schon lange gekannt hatte und ebenso diese Antwort. Sie würde einen Weg finden, Firaz zum Reden zu bringen. Sie würde alles tun, um Ollowain zurückzugewinnen. Doch nicht in dieser Nacht. Mochte Firaz ihre anderen Besucher empfangen. Sie hatte Zeit! Sie würde sie besuchen, sobald ihr eine Möglichkeit eingefallen war, eine bessere Antwort aus ihr herauszuholen.
»(...) So stand sie auf der Schwelle der Goldenen Hallen und bat die Recken des Fjordlands, für die Elfen ins Felde zu ziehen. Und so kämpften sie auf fremder Wallstatt und retteten die Mark der Alben, wo deren Kinder jede Hof nung auf einen Sieg verloren hatten. Und in ihrer Mitte focht Kadlin, den tapferen Lambi an ihrer Schwertseite, den selbstlosen Answin bei ihrem Schildarm. Und sie siegten über das Heer von Ungeheuern, das nach Albenmark einfiel. Und ihr Ruhm unter den Kindern der Alben war ohne Grenzen. Ein Schif aus lauterem Gold brachte die Heldenkönigin und ihre Recken zurück nach Firnstayn. Doch fand sie auf dem Throne keine Ruhe. Als sie für der Alben Kinder focht, war ihr Vater Alfadas vom Trollkönig Orregrim erschlagen worden. Der getreue Lambi bot ihr an, den Heerbann des Fjordlands zu versammeln, und das, obwohl es Winter war. Kadlin aber verbat ihm das. Sie wollte keinen Recken für die Blutfehde ihrer Familie opfern. So schlich sie allein aus der Königsburg und reiste durch eisigen Winterwind gen Norden, bis sie schließlich vor der Nachtzinne stand. Dies ist die Feste der Trolle. Eine Burg hoch und mächtig wie ein Berg. Da rückte die Schildwache gegen sie aus, und sie spotteten über die winzige Menschentochter. Kadlin aber zog kalten Herzens ihr Schwert.
Sieben Streiche bedurfte es, die Wachen zu fälen. Und sie nahm das Wachhorn der Toten, geschnitten aus dem Zahn eines Ungeheuers, lang wie ein Mann und schwer wie ein Ochsenjoch. Als sie hineinstieß, hal te das Horn so laut, dass man es noch in Firnstayn wie fernes Donnergrol en vernahm. Da trat Orregrim selbst auf die Zinnen seiner Veste. Als er aber die Menschentochter sah, da mochte er nicht glauben, dass sie al ein seine Recken erschlagen hatte. Und er schickte seinen Heerbann, und sie bezogen in weitem Kreise Posten um Kadlin.
Mehr als tausend Trolle umringten sie, doch Kadlin blieb weiterhin kalten Herzens. Da schickte Orregrim seinen ersten Krieger, sie zu erschlagen. Es war ein Elfenschlächter und Drachentöter. Ein Troll, so stark, dass er al ein einen Ochsenkarren samt Gespann zu heben vermochte. Fünf Schritt maß er vom Scheitel bis zur Sohle, und die Keule, mit der er zum Kampfe zog, wog so schwer, dass wohl drei Männer sie nicht hätten heben können. Wohl eine Stunde dauerte der ungleiche Kampf. Und die Grundmauern der Nachtzinne erbebten, wenn einer der schweren Hiebe die Königin verfehlte und auf den Felsboden traf. Kadlin durchtrennte dem Hünen die Sehnen an den Fersen, und als er stürzte, nahm sie ihm den Kopf. Die Trol e aber waren ob des Todes ihres größten Kriegers so erschrocken, dass niemand mehr gegen die Menschentochter kämpfen mochte. Da lud Orregrim sie an seine Festtafel, um mit ihr zu speisen. Es wurden die köstlichsten Gerichte aus See und Land aufgetragen. Schwerer Honigmet floss in Strömen. Kadlin aber blieb besonnen. Sie aß in Maßen und trank nur wenig. Als ihr aber ein in Honige gebratenes Stück Fleisch aufgetragen wurde, erkannte sie darin das Herz ihres Vaters.
Da überkam sie das heiße Blut ihres Großvaters Mandred, und sie erschlug ihren Tischnachbarn mit ihrem Methorn. Sie wütete so schrecklich, dass bald überal im Festsaal tote Trol e lagen und großes Klagen und Wehgeschrei anhob. König Orregrim beugte vor ihr das Knie und bat sie um Vergebung. Und er überließ der Königin Kadlin den Leichnam ihres Vaters und einen Schlitten vol er Gold. Auch gelobte der Trol könig, dass nie wieder ein Troll einen Fuß auf den Boden des Königreiches Firnstayn setzen werde.
Als man ihren toten Vater vor sie brachte, da verging der wilde Zorn der Königin. Sie nahm den großen Schlitten. Und sie allein zog ihn über die Berge bis hin nach Firnstayn. Auf dem ganzen Weg aber weinte und klagte sie über das grausame Schicksal ihres Vaters Alfadas, dem sie als Kind im Elfenwinter entrissen ward.
So viele Tränen vergoss sie auf dem Weg zurück, dass den Leichnam des Alfadas ein Panzer aus Eis umgab, als sie Firnstayn erreichte. Und so legte man ihn in seinen Grabhügel. Und es heißt, dies Eis werde nicht schmelzen bis zu jenem Tage, an dem Mandred wiederkehrt und sich die toten Könige aus ihren Gräbern erheben werden, um in die letzte Schlacht um das Land der Fjorde zu reiten.
Kadlin aber nahm ihren Thron, und wenige Wochen nach ihrer Heimkehr gebar sie ein wunderschönes Mädchen. Doch war das Haar des Kindes weiß wie frischer Winterschnee ob all der Schrecken, die es schon vor seiner Geburt erlebte. Wegen des weißen Haares nannte ihre Mutter sie Swana Björnsdottir. So lebte die Königin für einige Jahre in Frieden und sah ihre Tochter aufwachsen, doch ihr wildes Blut war nicht gezähmt. Und es kam der Tag, an dem sie erneut zum Schwerte griff, als (...)
Nacherzählung der Verse des Skalden Isleif, Band 3 der
Tempelbibliothek zu Firnstayn, s. 72.
Falrach hatte die Stimme zum ersten Mal gegen Mittag gehört. Sie war wie ein Wispern im Wind. Ein Raunen im Rascheln der Blütenblätter des Oasengartens. Und er wusste, dass nur er sie hörte. Anfangs hatte er versucht, sie zu ignorieren. Die Stimme für eine Sinnestäuschung gehalten. Vielleicht war er zu lange in der Hitze gewesen? Er war immer noch geschwächt vom langen Marsch durch die Wüste und all seinen Qualen.
War das Hattah der Quell der Stimme? Das Gift der Kakteen? Vielleicht hatte es seinen Verstand angegriffen?
Einen Tag waren sie nun im Jadegarten. Die Grauhäute hatten in kleinen Jagdgruppen die verwilderte Parklandschaft durchstreift. Nie zuvor hatten sie so reichliche Jagd-beute gemacht. Allerlei Echsen, sogar ein junges Krokodil hatten sie erlegt. Dutzende bunte Vögel. Eine Gazelle und auch eine Gämse. Sie bereiteten ein großes Festmahl vor, doch Falrach stand nicht der Sinn nach Geselligkeit. Falrach hatte sich von ihrem ausschweifenden Fest zurückgezogen. Nun dämmerte es, und der Elf ertappte sich dabei, dass er zu überlegen begann, ob es die Geister, von denen Oblon erzählt hatte, vielleicht wirklich gab.
Endlich entschied er, den Stimmen nachzugeben. Vielleicht würde das ihn befreien? Er hätte auch zu Emerelle gehen können, doch seit sie beim Orakel gewesen war, war sie seltsam in sich gekehrt. Was immer die Gazala ihr gesagt hatte, hatte sie zutiefst aufgewühlt.
Falrach machte einen weiten Umweg durch den Garten. Vorbei an den Lilienteichen und Pavillons aus tausendjährigen Rosenstöcken. Die Stimme hatte ihn ermahnt, ganz sicherzugehen, dass er nicht verfolgt wurde. Immer wieder drehte er sich um, wechselte die Richtung oder hielt inne, um auf verstohlene Geräusche zu achten.
Endlich, als er überzeugt war, allein zu sein, verließ er den Weg und schlich in das Dickicht des riesigen, verwilderten Gartens, bis er den Eingang zur Pyramide sah.
Ganz in der Nähe lungerten einige Grauhäute herum. Sie hatten mitten auf dem Weg ein Feuer entfacht und verbrannten Rosenholz und Streifen von Palmrinde. Falrach traute seinen Augen nicht! Diese Barbaren hatten tatsächlich einige der uralten Rosenstöcke bis zu den Wurzeln abgeschnitten, um die dicksten Zweige zu verfeuern.
Rauch, schwer vom Duft des Rosenöls, zog über den Weg und stieg in Wirbeln entlang des makellos weißen Mauerwerks der Pyramide dem Nachthimmel entgegen. Auf der goldenen Spitze brach sich das Licht der Sterne. Deutlich konnte man das mit Emaille eingelegte, allsehende Auge erkennen. Das Zeichen der Orakel.
Die fremde Stimme drängte Falrach, nicht länger zu verweilen, um den Grauhäuten zuzusehen. Sie führte ihn auf die Rückseite der Pyramide, wo am Fuß eines abschüssigen Hangs ein dunkler Teich lag. Sternlibellen tanzten mit grüngelb schimmernden Leibern im Dunkel der beginnenden Nacht ihren Liebesreigen. Leichter Modergeruch stieg vom Ufer auf. Zikaden und andere Geschöpfe der Dämmerung hatten ihre Lieder angestimmt.
Hoch über ihm, verborgen von den Orchideen, die sich in den Astgabeln eines alten Magnolienbaums eingenistet hatten, widmete ein Drachenrufer seine melancholische Klage dem weiten Sternenhimmel.
Am Ufer fand Falrach einen weiteren Pavillon, dessen steinernes Kuppeldach von sieben Statuen getragen wurde. Es waren schlanke Frauengestalten, die zu tanzen schienen. Sie hatten die Hände über den Kopf erhoben und griffen in fein gearbeiteten steinernen Rauch, der in träge wallenden Schwaden das Kuppeldach formte. Einzelne Flecken aus sanft zitterndem Sternenlicht, reflektiert von der spiegelnden, schwarzen Oberfläche des Teichs, entrissen die meisterliche Arbeit der Steinmetzen dem Schleier der beginnenden Nacht.
Verborgen hinter Rosenranken, die in den Pavillon hinreichten, entdeckte Falrach eine Treppe, die hinab ins Dunkel führte. Die Stimme drängte ihn weiter. Vorsichtig tastend nahm er Stufe um Stufe. Bald verstummte das Abendlied des Dschungels. Stille umgab ihn und der Geruch alten Mörtels.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel. Auch das war früher, als seine Seele noch in seinem eigenen Körper lebte, besser gewesen. Die Treppe hatte ihn zu einem Tunnel geführt. Er sah so wenig, dass er zur Sicherheit eine Hand an der Wand entlanggleiten ließ, als er weiterging. Die Oberfläche war unregelmäßig. Sie schienen mit aufwendigen Reliefs geschmückt zu sein.
Bald sickerte schwaches, gelbes Licht ins Dunkel, zeichnete Konturen auf die Wände und tiefe Schatten. Falrach glaubte das Tal wiederzuerkennen, denn die Bilder zeigten eine einzelne Pyramide, umgeben von Gärten und Palastbauten. Ein Drache hatte hier regiert. Auf den Bildern umgab er sich mit einem prächtigen Hofstaat. Seine Leibgarde schien aus Elfen zu bestehen. Falrach wurde das Herz schwer, als er die Bilder sah. Sie erinnerten ihn an sein Leben. An die Zeit vor dem Drachenkrieg. Als die Drachenelfen die stolze Garde der Herren der Welt gewesen waren. Die Elfen hatten alles von den Drachen erlernt. Ihre Kultur, die Magie, ja, sogar ihre Musik war durch die Drachen beeinflusst worden. Heute schien dies in Vergessenheit geraten zu sein. Alle glaubten, die Elfen seien schon immer die Herren der Welt gewesen, aber er wusste es besser. Er war ein Gestrandeter aus einem fremden Zeitalter.
»Falrach!« Die Stimme war jetzt nicht mehr in seinem Kopf. Eine rauchige, leise Frauenstimme hallte durch den Tunnel. »Falrach!«
Der Ruf hatte etwas Magisches. Er war genauso zwingend wie jene Stimme, die in seinem Kopf erklungen war. Der Elf beschleunigte seine Schritte und gelangte bald ans Ende des Tunnels. Ein weiter, von Wasser überfluteter Saal lag vor ihm. In seiner Mitte erhob sich eine flache Insel. Dort kauerte die Gazala.
Emerelle hatte voller Zorn von der Seherin erzählt.
Auf ihre Art ist sie hübsch, dachte Falrach. Sehr ungewöhnlich, aber hübsch. Er war noch nie einer Gazala begegnet. Seherinnen und Spieler passten nicht gut zusammen.
Sie winkte ihm zu. »Komm, Falrach.«
Er stieg in das brackige Wasser und watete zur Insel. Firaz wartete reglos. Sie stand neben einer Feuerschale, aus der duftende, dichte Weihrauchschwaden aufstiegen. Als er ans Ufer trat, kam sie ihm entgegen. Zärtlich wie eine Liebende legte sie ihm eine Hand auf die Wange. Sie sah ihn durchdringend an. Nicht einmal blinzelten ihre hellbraunen Augen.
»Du hast eine lange Reise gemacht«, sagte sie schließlich vieldeutig. »Noch nie kam jemand wie du zu mir.«
Er wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte.
»Fürchtest du dich vor Ollowain?«
»Nein.« Er sagte es ein wenig zögerlich, verwundert darüber, dass die Seherin ihm Fragen stellte.
Sie nahm seine Hand und betrachtete das Netzwerk der Linien. Nur einen Augenblick lang. Dann schüttelte sie den Kopf. »Hier kann ich dein Schicksal nicht lesen. Du warst einst ein Schlachtenlenker. Und dein Leib gehörte einst dem Schwertmeister der Königin. Komm mit mir!«
Sie ging zu einer Mulde am hinteren Ende der Insel. Dort standen sieben Ledersäcke in einer Reihe. Sie wählte den dritten aus und öffnete dessen Verschnürung. »Greif hinein, Falrach. Ganz gleich, was dabei geschieht! Greif mit beiden Händen zu. Hol heraus, was immer du zu packen bekommst, und lass es vor mir auf den Boden fallen.«
Falrach tat, wie ihm geheißen. Der Sack war voller scharfkantiger Metallstücke. Er schnitt sich.
»Du darfst nicht loslassen. Nimm, was du als Erstes berührt hast. Das ist wichtig!«
Wieder schnitt er sich. Falrach kämpfte den Reflex nieder, einfach loszulassen. Er zog die Hände aus dem Sack. Klirrend fiel das Metall zu Boden. Es waren Bruchstücke von Schwertklingen. Manche so breit wie drei Finger. Andere nur winzige Splitter. An den meisten Stücken haftete frisches Blut. Ungläubig blickte er auf seine offenen Hände.
Die Innenflächen waren zerfurcht von einem Netzwerk von Schnitten. Blut troff aus den Wunden auf den Boden.
Firaz hatte sich über das Muster aus Metallsplittern und verwischtem Blut gebeugt.
»Kannst du etwas zur Seite gehen? Wenn jetzt noch weiter Blut nachtropft, verdirbt es das Orakel.«
Falrach gehorchte, wandte den Blick aber nicht von seiner verletzten Hand ab. »Was ist das?«
Die Gazala machte mit einem ärgerlichen Winken klar, dass sie nicht gestört werden wollte. Aufmerksam betrachtete sie das Muster auf dem Boden. Dabei wiegte sie sich leise summend vor und zurück.
Falrach zog sich einen kleinen Metallsplitter aus der Hand und ließ ihn zu Boden fallen. Die Wunden waren allesamt nicht tief, aber zwei von ihnen bluteten stark. Er drückte die Wundränder zusammen und sah der Gazala zu.
Es dauerte schier eine Ewigkeit, bis sie sich erhob und ihn ansah. »Du bist mehr, als du scheinst, Falrach.«
Er musste sich beherrschen, um sich seine Enttäuschung nicht unmittelbar anmerken zu lassen. Was für ein nichtssagender Spruch! Das hätte ihm auch irgendeine Gossen-wahrsagerin in einer beliebigen Stadt sagen können.
»Ollowain wird zurückkommen. Aber es wird nicht der Schwertmeister von einst sein.
Und du entscheidest darüber, was für ein Mann er sein wird. Du kannst ihn auch aufhalten. Jetzt, in dieser Nacht. Ich könnte dir dabei helfen.«
Das war jetzt so weit von jedem Jahrmarktswahrsager gewäsch entfernt, dass er sie einfach nur verdattert ansah. »Wie kann ich ihn denn aufhalten?«, brachte er schließlich heraus.
»Ollowain ist tot. Er ist ermordet. Seine Erinnerung, alles, was sein Leben ausmachte, ist fort. Aber etwas ist geblieben. Stell es dir wie ein großes, leeres Gefäß vor. Ein Gefäß, das begierig ist, gefüllt zu werden. Es nimmt alles in sich auf, was du über Ollowain hörst. Wie er gelebt hat, was er getan hat. Wenn es weit genug gefüllt ist, dann wird sich daraus ein Bewusstsein bilden. Lass dir also niemals von jemandem den Lebensweg des weißen Ritters erzählen. Auf die Weise würde er wiederauferstehen. Aber das Ganze ist ein Trug. Es ist nicht der wahrhaftige Ollowain, der zurückkehrt. Es ist ein Ollowain, wie er in den Erinnerungen jener fortlebt, die ihm begegneten, und schlimmer noch, der Ollowain aus den Geschichten, die man sich über ihn erzählt. Wenn du ihm sagst, dass er als Kind einen schwarzen Hund hatte und ihm ein paar Anekdoten darüber erzählst, dann wird er es von Stund an glauben.
Es wird zu seiner Vergangenheit, obwohl sie niemals stattgefunden hat. Wie ich schon sagte, Ollowain ist ein leeres Gefäß, das gefüllt sein will. Und es ist diesem Gefäß ganz gleich, was du hineinfüllst. Es kann nicht zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden.
Ich denke, die ersten Geschichten, die hineingegeben werden, haben das größte Gewicht. Sie legen das Fundament, auf dem sich seine Persönlichkeit aufbauen wird.«
Falrach hatte Schwierigkeiten, das alles zu verstehen. »Er ist also tot.«
»Alles, was ihn ausmachte. Aber der Körper, in dem deine Seele und alle Erinnerungen an dein Leben erwachten, will ihn zurückhaben. Nur - da gibt es nichts mehr, was man zurückholen könnte. Deshalb wird er einen neuen Ollowain ausformen. Aber es wird nicht der sein, der er einmal war.«
»Aber seine Seele ... « Er hob hilflos die Hände.
»Seine Seele und die Erinnerung an sein Leben sind nicht dasselbe. Ihr beide habt dieselbe Seele. Aber ihr habt zwei verschiedene Leben. Und sein Leben wurde gelöscht. Es gab in alter Zeit eine Stadt mit Namen Tildanas. Dort versammelten sich jene Zauberweber, die sich den dunklen, abseitigen Pfaden der Magie verschrieben hatten. Sie erschufen auch die Traumscheiben, Scheiben aus Ton, auf denen immer dichtere Reihen von Schriftzeichen erscheinen, wenn man sie betrachtet. Manche Weise sagen, ihr ursprünglicher Zweck sei es gewesen, die Erinnerungen von Sterbenden zu erhalten. Aber sie konnten auch wie eine Waffe benutzt werden. Wer sie unwissend betrachtet, dem wird die Persönlichkeit gestohlen. Und er merkt es nicht einmal. Ich denke, Ollowain wurde ein Opfer dieses Zaubers in abgewandelter Form.«
»Gibt es denn einen Gegenzauber?«
Die Gazala sah ihn zweifelnd an. »Vielleicht. Wenn man die Traumscheiben, oder was auch immer Ollowains Erinnerungen in sich aufnahm, wiederfinden könnte. Möglicherweise könnte man ihm sein Bewusstsein dann zurückgeben. Aber es würde nur schwer möglich sein. Tildanas versank vor langer Zeit im Meer. Manche sagen, es war das Werk der Devanthar, weil sie die Magie fürchteten, die dort ersonnen wurde. Das Wissen seiner Zauberweber gilt als verloren. Einige Traumscheiben sind jedoch in der Bibliothek von Iskendria erhalten geblieben. Aber niemand weiß mehr, wie sie erschaffen wurden.«
Falrach betrachtete seine verletzten Hände. Ollowain würde also zurückkommen. Das hieß, er würde ein zweites Mal sterben. Und wie es schien, konnte er nichts dagegen tun.
»Ich kann dich von Ollowain befreien«, sagte Firaz erneut.
Falrach fragte sich, ob auch sie sich der dunkleren Seite der Magie zugewandt hatte.
Welche Geheimnisse hatte es in diesem Tal, in dem sie so lange gefangen gewesen war, wohl zu entdecken gegeben? Überall fanden sich Zeugnisse der alten Drachenmagie.
Hatte sie von deren Zaubern gelernt?
»Das wäre, als würde Olowain noch einmal ermordet werden.« Er hob den Blick von seinen Händen. Aber dafür würde er selbst leben, dachte er. Und er war zuversichtlich, dass er Emerelles Herz ein zweites Mal gewinnen könnte.
»So wäre es nicht«, widersprach die Gazala heftig. »Ollowain ist tot! Das ist eine Tatsache. Und solange man die Traumscheiben, oder was immer auch seine Erinnerungen in sich aufgenommen hat, nicht wiederfindet, kann man ihn nicht zurückholen.
Was in dir entstehen wird, ist nicht Ollowain! Das musst du ganz klar sehen. Du tötest ihn nicht! Mit solchen Gedanken musst du dich nicht belasten. Aber das, was in jenem erwächst, das danach lechzt, sich mit Erinnerungen an Ollowain zu füllen, wird deine eigene Persönlichkeit verdrängen. Und es wird keine Frage nach Moral stellen. Du bist der echte Falrach! Und du wirst durch eine Kunstgestalt, die sich für Ollowain hält, ermordet werden, wenn du dich nicht wehrst, solange es noch an der Zeit dazu ist!«
Falrach zögerte. Er blickte auf den Metallsplitter zu seinen Füßen. »Was war das in dem Sack?«
»Zerbrochene Heldenschwerter. Es gibt eine Menge davon oben in der großen Eingangshalle der Festung. Eigentlich waren sie schartig und nach all der Zeit nicht mehr sehr scharf. Aber diese Pyramide sammelt die magische Kraft des Tals. Hier wirken seltsame Zauber. Auch nach all den Jahren verstehe ich sie nicht alle. Bringt man eine stumpfe Klinge nach hier unten, dann wird sie nach einiger Zeit wieder scharf. Frag mich nicht, warum es so ist. Der Splitter, den du in Händen hältst, ist einzigartig. Dies ist Sternenerz, das in die Wüste gefallen ist. Elfenschmiede haben daraus einst ein wunderbares Schwert erschaffen.«
»Die Toten oben ... Wer hat sie angegriffen?«
»Auch da bin ich mir unsicher. Aber es scheint, als hätten die Drachenelfen gegeneinander gekämpft.« »Warum?«
Sie breitete in vielsagender Geste ihre Hände aus. »Ich kann die Fragen der Lebenden beantworten. Die der Toten nicht.«
Falrach nahm den Metallsplitter in die Hand. Auf einer Seite war ein verschlungener Kreis in den Stahl ziseliert. Die andere Seite war blank. »Warum hast du mich in diesen Sack voller scharfer Schwertsplitter greifen lassen?«
»Weil ich Firaz von den Gazala bin. Meine Prophezeiungen sind so genau, dass selbst die Herrscherin Albenmarks sie fürchtete. Einige primitive Wald- und Wiesenhexen benutzen Knochenbeutel und geben sich als Wahrsagerinnen aus. Das ist so, als blicke man an einem klaren Sommertag aus dem falschen Winkel in einen stillen Teich. Man sieht sein eigenes Spiegelbild. Oder besser gesagt, als falsche Seherin eine Projektion seiner eigenen Erwartungen. Den Grund des Gewässers aber, den sieht man nicht. Das, was man sucht, wird durch das Spiegelbild überlagert. Ich bin der Meinung, dass man tiefer und klarer sehen kann, wenn man einen Fokus nutzt, der mit dem, dessen Schicksal man ergründen will, in Verbindung steht. Du bist Falrach, ein Spieler und berühmter Feldherr. Du steckst im Leib Ollowains, des Schwertmeisters der Königin.
Schwerter sind dein Schicksal. Deshalb musstest du in diesen Beutel greifen.«
»Schwerter sind mein Schicksal«, wiederholte er leise und sah auf den Splitter in seiner Hand. »Mein Gefühl sagt mir, dass ich ein Mörder werde, wenn ich dich bitte, dies leere Gefäß, wie du es nennst, zu zerstören.«
»Man kann nichts ermorden, was schon tot ist. Du solltest es genau andersherum betrachten. Das, was anstelle Ollowains in dir erwachsen wird, das wird dich mit Gewissheit töten. Daran kann es keinen Zweifel geben. Ungewiss ist nur, was das für eine Persönlichkeit sein wird.
Die Trolle haben einige eindrucksvolle Namen für den Schwertmeister gehabt. Da hieß er …«
Falrach schnitt ihr mit einer harschen Bewegung das Wort ab. »Das sind Dinge, die ich über ihn nicht hören möchte. Ich glaube, ich habe dich und deine Warnung jetzt gut verstanden. Und da Schwerter ja mein Schicksal sind, soll dieses hier über meine Zukunft entscheiden.« Er hielt den Splitter hoch. »Der Kreis bedeutet, ich stelle mich der Gefahr durch den wiederkehrenden Olowain. Die blanke Fläche aber heißt, dass du das leere Gefäß in mir zerstörst, damit ich in Frieden, wenn auch mit schlechtem Gewissen lebe.« Er lächelte. »Zu meinen guten Eigenschaften gehört, dass sich ein schlechtes Gewissen bei mir nie sehr lange hält.«
Sie sah ihn mit undeutbarer Miene an. Er schnippte den Splitter hoch, fing ihn auf und lege ihn auf seinen Handrücken. Einen Atemzug lang zögerte er es hinaus. Dann zog er die Hand weg, mit der er den Splitter gefangen hatte, schirmte ihn aber gegen den Blick der Gazala ab.
»Und?«
Er ließ das Bruchstück des alten Schwertes zu Boden fallen. »Wie es scheint, werde ich mich Ollowain stellen müssen.«
Die Gazala sah ihn traurig an. »Du entscheidest über dein Schicksal, nicht ein Stück Metall.« Sie bückte sich, hob den Splitter auf und hielt ihn Falrach hin. »Nimm ihn, er wird deine Liebe beschützen.«
Verwundert betrachtete er das blutverschmierte Stück Sternenstahl. Sollte er es wie ein Amulett tragen? »Ich danke dir dafür, dass du mir helfen wolltest.«
»Du hast es verdient. Du bist anders als Emerelle. Ich wünschte, ich hätte je die Liebe eines Mannes, wie du es bist, gewinnen können. Ich bin sicher, dann hätte mich mein Schicksal nicht hierher verschlagen.«
»Sie wird dich gehen lassen. Ich rede mit ihr.«
Die Gazala schenkte ihm ein melancholisches Lächeln.
»Das wird sie nicht. Ich weiß, dass du nun zu ihr gehen wirst. Ich weiß sogar, worüber du mit ihr reden wirst.«
Es war ihm unangenehm, so tief durchschaut zu sein. »Warum hast du mich gerufen, wenn du schon wusstest, wie ich mich entscheiden würde?«
»Aus zwei Gründen. Du musstest die Wahl gehabt haben und klar wissen, welche beiden Wege es für dich gibt.« Sie senkte ihren Blick.
»Und der zweite Grund?«
»Der ist ganz egoistisch.« Sie sah ihn eigenartig an. Die Traurigkeit war aus ihrem Blick gewichen. Sie wirkte jetzt gefasst. »Ich wollte einmal einem Mann begegnen, der sein Leben für seine Liebe gegeben hat. Du bist nicht Olowain, aber wer glaubt, dass du nicht ritterlich bist, der kennt dich nicht.«
»Ich ... « Er räusperte sich verlegen. »Ich werde dann gehen. Ich ... «
»Geh nur zu ihr. Sie wird dich in dieser Nacht brauchen. Du findest sie in der alten Veste im Zimmer ihrer Mutter. Dort, wo meine Nachricht lag. Und noch etwas. Sag dem Lutin, nachts gehen im Tal Geschöpfe um, denen er gewiss nicht begegnen will.
Er ist bei den Ställen und denkt darüber nach, ob er sich den feiernden Grauhäuten anschließen soll.«
Er nickte. Er wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte. Firaz trat einen Schritt von ihm zurück. Er verstand das als Aufforderung, zu gehen. Also zog er sich zurück und watete durch das dunkle Wasser, das den Thronsaal überflutet hatte.
»Falrach!«
Überrascht sah er sich um. Sie stand am Rand der Insel. Unendlich einsam. »Ich weiß, dass du mich belogen hast. Es lag die blanke Seite oben. Ich bin Seherin. Es ist meine Gabe zu wissen.«
Wieder räusperte er sich. Früher war er weniger leicht aus der Fassung zu bringen gewesen.
»Es ist alles gesagt, Falrach. Du kannst ruhigen Gewissens gehen. Ich bin nicht verärgert, weil du mich angelogen hast. Im Gegenteil. Deine Lüge hat mich noch mehr für dich eingenommen. Ich wünsche dir Glück …«
»Du könntest mit mir kommen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann nicht. Ich erwarte in dieser Nacht noch eine Besucherin.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab.
Falrach sah zu, wie sie sich niederkniete und damit begann, die blutbenetzten Schwertsplitter einzusammeln. Sie sah nicht mehr zu ihm hinüber. Erst als er ging, spürte er ihre Blicke im Rücken.
Als er dem Tunnel entkommen war, machte er sich ohne Umweg auf den Weg zur alten Veste. Er lauschte auf die singenden und ausgelassen grölenden Grauhäute. Bald erstickte das Lied des Dschungels den Festlärm. Er fühlte sich ein wenig beklommen.
Und er war froh, dass der Weg zur Veste weit war. So konnte er noch einmal über seinen Entschluss nachdenken. Er versuchte, sein Leben auf eine Aufstellung auf einem Falrach-Tisch zu reduzieren. Er überdachte sein Ziel. Und dann war es wie früher. Ganz deutlich sah er die Züge vor sich, die er machen musste. Das war seine Begabung!
Tatsächlich stand der Lutin auf dem Weg vor der Veste und blickte zum Tal hinab.
»Du solltest nicht zu den Grauhäuten gehen.«
»Und warum sollte ich das nicht tun, Bruder Ollowain?«, fragte der Kobold hitzig.
Falrach ignorierte, dass der Kleine sich nach wie vor weigerte, ihn mit dem richtigen Namen anzusprechen. »Dort unten im Tal lauert etwas, das sogar einen haarigen Lutin fressen würde.«
»Ich werde nicht so dämlich sein, an einem der Teiche mit den Krokodilen vorbeizulaufen.«
»Es ist deine Entscheidung, Nikodemus. Ich überbringe nur eine Nachricht.«
Der Kobold schnaubte verächtlich. »Wessen Nachricht?«
»Es ist der Rat einer Seherin.« Falrach bemerkte, wie sich dem Kleinen das Fell sträubte.
»Wo sollte ich denn stattdessen sein? Diesen finsteren Saal voller Toter werde ich jedenfalls nicht mehr betreten.«
»Wie wäre es mit den Ställen? Die sind doch ganz passabel.«
Der Lutin fluchte leise. »Was ein paar geflügelte Gäule passabel finden und was mir gefällt, geht leider nicht ganz überein.«
Falrach war des Gesprächs überdrüssig. »Wie gesagt, es ist deine Entscheidung«, sagte er und trat durch das Tor der alten Veste. Er spürte ein leichtes Prickeln, als er den unsichtbaren Albenpfad kreuzte, der mitten über den Hof lief. Und er dachte daran, wie es wohl wäre, mit Firaz eine Partie Falrach zu spielen. Konnte man jemanden schlagen, der alle Züge schon im Voraus ahnte? Er konnte im Grunde verstehen, dass Emerelle Firaz und ihre Schwester verbannt hatte. Welcher Herrscher mochte schon einen Untertanen, der all seine Züge durchschaute? Auch wusste er nicht, ob Firaz vielleicht gegen Emerelle intrigiert hatte. Gewiss war sie sehr geschickt darin, die Figuren für ihr Spiel aufzustellen.
Als er sich durch den dunklen Saal tastete, fragte er sich, ob auch er eine Figur auf ihrem Spieltisch war. Dann hörte er Emerelle. Sie ging wieder rastlos in dem Zimmer ihrer Mutter auf und ab.
Obwohl er sich bemühte, lautlos zu sein, hörte er, wie ihre Schritte verharrten, kaum dass er in den Flur vor ihrem Zimmer trat.
»Ich will allein sein!«, sagte sie harsch.
Früher einmal hatte ihn Zurückweisung nur angestachelt. In diesem Punkt hatte er sich verändert. Er fühlte sich unsicher, als er in die Tür trat. Emerelle hatte sich völlig in der Gewalt. Aber die feuchten Bahnen im zerbrökelnden Lehm auf ihren Wangen verrieten sie. Er durfte jetzt nicht gehen! Sie brauchte ihn, auch wenn sie das niemals zugeben würde. Und als er sie so sah, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Für seine Liebe zu ihr zu sterben, war sein Schicksal. Dazu war er auch in seinem zweiten Leben verdammt.
»Ich muss mit dir reden.«
»Worüber?«
»Über Ollowain. Erzähl mir von ihm. Was machte ihn so herausragend? Was war an ihm, dass du ihn so tief in dein Herz geschlossen hast?«
Emerelle sah ihn misstrauisch an. Aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihn nicht mehr fortschicken würde. Er sah es an der Art, wie sie ihn anschaute. Es machte ihm das Herz schwer. Dieser Blick hatte sich in vierzig Jahrhunderten nicht verändert. So wenig wie seine Liebe zu ihr.
»Du wirst nie sein wie er«, sagte sie kühl.
»Ich weiß. Aber ich möchte ihn verstehen können«, log er mit der glatten Zunge des erfolgreichen Spielers.
Das letzte Lächeln
Sie hatte den goldenen Pfad gefunden. Den richtigen inmitten des riesigen Gespinsts, das sich durch das Nichts zog. Sie spürte, wie die Bestie sich in ihr regte. Der Schatten, den sie eingeatmet hatte, um mit ihm zu verschmelzen. Er war klug. Er hatte sich nicht geregt, seit sie Skanga verlassen hatten. Er hatte ihr die Suche überlassen. Aber jetzt wollte er das Töten genießen. Er versuchte, ihren Verstand niederzuringen. Sie war müde. Er nutzte es aus, wenn sie schlafen musste. Ihr neuer Leib kannte solche Bedürfnisse nicht! Er brauchte keine Ruhe. Und wenn sie das Biest nicht an die Kette legte ... Sie wusste nicht, was geschehen war, wenn sie schlief, aber sie ahnte, dass er getötet hatte. Einmal war sie erwacht, als er eine Gruppe Kobolde niedermachte. Ihnen das Licht zu entreißen, war ein unvergleichliches Gefühl. Sie hatte die Bestie gewähren lassen. Sie ahnte, sie würde der Bestie unterliegen. Aber noch nicht jetzt.
Alyselle widerstand dem Drängen. Alathaia und die Trollschamanin hatten sie, ebenso wie ihre beiden Jagdgefährten, genau unterwiesen. Sie wussten, wo Emerelle vor zwei Tagen gewesen war. Es wäre leicht, ihrer Spur zu folgen. Sie hatten klare Befehle.
Aber sie war kein Hund! Ganz gleich, welche Gestalt sie jetzt hatte. Sie konnte denken.
Sie würde nicht hündisch einer Fährte folgen! Sie konnte sich noch gut an die Karten des Verbrannten Landes erinnern. Sie hatte sie studiert wie alle anderen auch, die mit Alathaia geritten waren, um die Lutin zu stellen, die ihre Fürstin bestohlen hatte.
Emerelle war gewiss nicht mehr an dem Ort, von dem das Amulett gekommen war.
Der lag in der Wüste. Was sollte sie dort!
Alyselle ahnte, wohin sie gehen würde. Und sie würde die Königin vor Elovyn und Valderun erreichen! Selbst die Bestie hielt still. Die Elfe wusste nicht, ob dieses Schattengeschöpf ihren logischen Gedanken folgen konnte. Aber es schien begriffen zu haben, dass sie als Erste bei der Königin sein konnten. Sie würden das Licht Emerelles trinken. Und das Licht Ollowains! Was für ein Festmahl würde das werden!
Alyselle spürte die Präsenz eines mächtigen, magischen Ortes in den Schwingungen des Albenpfades. Das musste Emerelles Ziel sein. Jenes verbotene Tal. Als sie die Jagd nach der Lutin Ganda vorbereitet hatte, hatte sie versucht, mehr über diesen Ort herauszufinden. Er wurde von mächtigen Zaubern geschützt. Und es schien, als habe ihn seit Jahrhunderten kein Elf mehr betreten. Nur seinen Namen hatte sie finden können. Jadegarten.
Alyselle glitt durch den goldenen Pfad. Finsternis umschloss sie. Es war eine stoffliche Finsternis, nicht wie das Gefühl des freien Falls in der Dunkelheit des Nichts, jenes magischen Raums zwischen den Welten. Sie durchlebte dies nicht zum ersten Mal. Sie wusste, sie war inmitten festen Felsgesteins. Ihr konnte hier nichts geschehen. Und doch machte es ihr Angst. Sollte sie sich fallen lassen? Oder sollte sie nach oben?
Sie überließ sich dem Biest. Seine Instinkte waren schärfer. Es stieg auf. Sie glitten durch den Stein. Schnell. Dann waren sie im Wasser. Alyselle sah, wie sich Eis um sie bildete.
Es griff über das schwarze Wasser nach einer kleinen Insel. Dort brannten drei Feuer. Sie waren schmerzlich hell nach dem langen Weg durch die Dunkelheit.
Eine Gestalt kauerte auf der Insel. Es war nicht Emerelle!
»Willkommen, Tod!«, grüßte sie eine Frauenstimme. »Ich habe dich ein Leben lang gefürchtet.«
Was redete das Weib für einen Unsinn? Und was war sie? Alyselle hatte eine solche Kreatur noch nie gesehen. Diese langen, gebogenen Hörner. Die Tierbeine. Sie erinnerte an einen Faun und war doch ganz anders. Die Bemalung ihres Körpers … Das war ein Zauber! Sie wollte sich schützen.
Die Bestie stürmte vor. Alyselle versuchte sie zu zähmen. Ein Gedanke nur, und sie waren auf der Insel. Zu schnell. Ihre geisterhafte Schnauze glitt durch die Brust des Weibes. Ihr Licht! Es war köstlich! Der Zauber hatte versagt. Er hatte sie nicht aufhalten können. Wie hätte sie auch wissen sollen, in welcher Form der Tod sie ereilen würde?
Sie sah sie ohne Schrecken an, als sie ihr das Lebenslicht aus dem Leib zerrten. Es war wie ein Darmwurm voller Borsten. Es leistete Widerstand. Aber sie triumphierten. Die Bestie ließ nicht los, wenn sie ein Leben gepackt hatte.
Alyselle sah, wie die Augen des Weibes glasig wurden. Bei ihrem letzten Herzschlag lächelte sie. Warum?
Die Bestie war nicht satt. Sie war es nie. Sie hatte Witterung aufgenommen. Emerelle war hier gewesen. Die Spur war einen Tag alt. Und da war noch ein anderer Elf. Das musste Ollowain sein. Seine Spur war nur ein paar Stunden alt. Sie waren also nah.
Die Bestie stürmte los.
»Ich habe ihm den Befehl gegeben, in der Schlacht den Tod zu suchen.« Es endlich auszusprechen, erleichterte Emerelles Herz nicht im Geringsten. Sie nahm sich zusammen. Ihre Stimme war vollkommen sachlich. Sie durfte ihr Herz nicht öffnen. Sie wollte es nicht! »Ich habe ihn getötet, auch wenn nicht ich es war, die diesen Zauberbann sprach, der all seine Erinnerung löschte.«
Falrach saß ihr gegenüber. Den Kopf leicht geneigt, hatte er ihr zugehört. Viele Stunden lang. Zuerst war sie misstrauisch gewesen, als er sie aufforderte, ihm von Ollowain zu erzählen. Sie hatte die Befürchtung gehabt, er wolle sich mit dem Schwertmeister messen. Sie überzeugen, dass er der bessere Mann sei. Aber nichts von alldem war geschehen. Er hatte einfach nur zugehört. Manchmal hatte er Fragen gestellt. Aber nicht aufdringlich. Es war um Einzelheiten gegangen. Was der Schwertmeister gern gegessen hatte, wie er sich kleidete, wer seine Freunde gewesen waren. Er bemühte sich aufrichtig, den Mann kennenzulernen, in dessen Leib er steckte.
Die Elfe sah Falrach an und versuchte in dessen Gesicht zu lesen. Nichts deutete darauf hin, dass er sie für das, was sie getan hatte, verurteilte. Aber warum sollte er das auch tun! Durch ihren Mord an Ollowain war er schließlich wieder zum Leben erwacht. Er hatte keinen Grund, sich zu beschweren.
»Er kann in der Schlacht nicht getötet worden sein. Weißt du, was genau passiert ist?«
Emerelle atmete schwer aus. Tausendmal hatte sie sich diese Frage gestellt und keine Antwort gefunden. »Er kehrte nicht aus der Schlacht am Mordstein zurück. Und man hat ihn auch nicht unter den Toten gefunden. Für lange Monde dachte ich, die Trolle hätten ihn gleich auf dem Schlachtfeld gefressen. Das tun sie mit Gegnern, deren Mut sie bewundern. Erst viel später erfuhr ich von der Lutin Ganda, dass sie ihn schwer verletzt auf dem Schlachtfeld gefunden hatte. Sie holte ihn in ihre Hütte und pflegte ihn. Anfangs kam es ihr so vor, als habe er keinen Lebenswillen mehr.« Emerelle musste kurz innehalten und um Fassung ringen. »Sie wusste nicht, dass er auf meinen Befehl den Tod suchte. Und dass ich um ihretwillen diesen Befehl erteilt hatte. Er hatte sie vor mir und den Gesetzen der Bibliothek von Iskendria beschützt. Sie hatte dort ein Buch gestohlen. Und er sagte mir, er sei es gewesen. Weil er darauf hoffte, dass ich ihn nicht verurteilen würde ... Er war ja schließlich der Schwertmeister! Und er wusste, dass ich ihn liebte. Er hatte diese Liebe nicht erwidert. Aber er fühlte sich sicher vor meinem Zorn. So dachte ich damals. Und tatsächlich brachte ich es nicht über mich, ihn für den Diebstahl hinrichten zu lassen. Aber dem Gesetz musste Genüge getan werden. Niemand steht über dem Gesetz! Ich konnte ihn nicht ...« Sie hielt inne. Das waren die Lügen, mit denen sie versuchte, ihr Gewissen zu beruhigen, seit sie Ollowain in die Schlacht geschickt hatte. Lügen! Sie wusste es besser. Sie war die Königin. Sie hätte ihn beschützen können. Aber ihre Eitelkeit war verletzt gewesen, weil Ollowain ihre Liebe als Schutzschild für die Lutin Ganda hatte benutzen wollen.
In unzähligen Nächten hatte sie seitdem keinen Schlaf gefunden. Sie hatte ihr unseliges Erbe verflucht. Ihr heißes Blut, das sich hinter der Maske der kühlen, selbstbe-herrschten Herrscherin verbarg. Es schimmerte durch, wenn sie - äußerlich völlig ruhig - unbarmherzige Urteile fällte.
»Wie hast du erfahren, dass Ollowain doch noch lebte?«, beendete Falrach ihr langes Schweigen.
»Gar nicht. Du ... Er stand plötzlich vor mir. Als Gegner im Duell auf der Shalyn Falah.
Ich konnte nicht gegen ihn kämpfen ... « Sie hob in stummer Verzweiflung die Hände.
»Ich habe meine Krone für ihn aufgegeben.«
»Und dann hast du statt seiner mich bekommen.«
»Ich habe nie aufgehört, nach dir zu suchen, Falrach. Jeder deiner Inkarnationen war ich nahe. Nicht nur Ollowain. Unter allen, die nach dir kamen, war keiner wie du.
Wenn ich dich jetzt ansehe, dann blicke ich in das Gesicht eines anderen. Es ist nicht leicht, Falrach. Ich habe gelernt, mich mit deinem Tod abzufinden. Um selbst leben zu können, musste ich dich in meinem Herzen begraben. Und nun bist du wieder da.
Nach so unendlich langer Zeit. Lass mich meine Liebe zu dir wiederfinden. Sie ist nie verlorengegangen. Doch sie ruht sehr tief in mir. Verborgen unter der Erinnerung an viele Leben, durch die ich dich begleitet habe. Du musst...« Verwundert blickte sie zur Tür.
Es war plötzlich kälter geworden. Viel zu kalt für eine Nacht in einer Oase inmitten der Wüste. Sein Atem stand Falrach vor dem Mund.
»Geh!«
»Was ist das?«
»Nichts, wogegen du bestehen könntest. Bitte, Falrach, lass mich dich nicht ein zweites Mal verlieren.«
Eine geisterhafte Gestalt glitt durch die Wand. Ein riesiger Hund. Emerelle malte mit den Fingern ein Zeichen in die Luft und flüsterte etwas.
Der Geisterhund schreckte zurück. Er wich aus, glitt durch die Lacktruhe an der Wand und ließ sie keinen Herzschlag lang aus den Augen.
»Das Fenster. Spring durch das Fenster, Falrach!«
Er konnte sie nicht allein lassen. Ganz gleich, was sie ihm befahl. Er zog seinen Dolch und überließ sich den Instinkten seines fremden Leibes. Er schnellte vor. Das Messer glitt durch die Kehle des Geisterhundes. Wirkungslos. Raureif lag auf der Klinge. Seine Hand fühlte sich an, als habe er sie zu lange in das eisige Wasser eines winterlichen Flusses gehalten.
Noch immer woben Emerelles Hände verschlungene Muster in die Luft. Ein flüchtiger roter Schein begleitete ihre Bewegungen. Er erinnerte an das tiefe Rot langsam erkaltenden Stahls.
Plötzlich fuhr sie herum und schrie ihm ein Wort der Macht entgegen. Die Luft verdichtete sich. Ihm wurde der Atem aus den Lungen gezogen. Ein Luftstoß mit der Kraft einer Trollfaust traf ihn mitten auf die Brust, riss ihn von den Beinen und schleuderte ihn dem Fenster entgegen.
Hilflos mit den Armen rudernd, sah er einen zweiten Geisterhund aus der Zimmerdecke hinabstoßen. Falrach schleuderte seinen Dolch, als er selbst schon durch das Fenster stürzte. »Über dir!« Das Letzte, was er von Emerelle sah, waren ihre schreckensweiten Augen.
Sein Körper schien besser als er zu wissen, was bei einem Sturz zu tun war. Obwohl es kaum einen Herzschlag dauerte, bis er auf das Pflaster traf, hatte er sich ein wenig gedreht. Er landete im Stand, federte in die Hocke, rollte über die linke Schulter ab und war wieder auf den Füßen.
Im Reflex griff er nach seinem Schwert. Doch seine Hand fuhr ins Leere. Er war vollkommen unbewaffnet. Der Schwertsplitter der Gazala, den er in einem Beutel an seinem Gürtel trug, war alles, was er noch besaß.
Geisterhaftes Licht drang aus dem Fenster. Was ging dort oben vor sich? Er musste wieder hinauf! Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Der Lutin.
»Was ist geschehen?«
»Öffne ein Tor auf dem Albenpfad hier im Hof!« Der Fuchsmann sah ihn erschrocken an. »Das geht nicht.«
»Das will ich nicht hören«, entgegnete Falrach scharf. »Tu es!«
»Aber es ist nur ein einzelner Pfad. Wir werden verlorengehen, wenn es mir überhaupt gelingt…«
»Wir werden sterben, wenn du es nicht tust!«
Emerelle sprang rückwärts aus dem Fenster. Sie zog die Beine an, machte einen formvollendeten Salto und landete schwer auf den Füßen. Das Pflaster des Hofs vibrierte unter ihrem Aufschlag, während sie ein Wort rief, so dunkel und fremd, das es nicht für elfische Kehlen geschaffen schien. So hob den Kopf in den Nacken und blickte mit weit ausgestreckten Armen zum Nachthimmel empor. Nackt bis auf den Lendenschurz, mit Lehm beschmiert, ihr Haar zu einem strähnigen, schlangenhaften Zopf gewunden, sah sie aus wie ein rachsüchtiger Waldgeist, der sich aus dem morastigen Boden einer herbstlichen Lichtung erhoben hatte. Wild und bedrohlich erinnerte nichts mehr an die kalte Eleganz der Emerelle von einst.
Falrach blickte unwillkürlich zum Firmament. Er hätte schwören mögen, die Sterne erzitterten, als Emerelle das fremde Wort rief. Das Licht eines jeden Einzelnen wurde einen Herzschlag lang blasser, als lege sich ein Gazeschleier über den ganzen Himmel, um seine Pracht vor den Blicken der Albenkinder zu verbergen. Kaum einen Lidschlag währte dies furchteinflößende Schauspiel, als
die beiden Geisterhunde aus der Wand hoch über ihnen glitten.
Kaum waren sie zu sehen, fuhr ein gleißendes, blauweißes Licht vom Himmel hinab.
Heller als ein Blitz, doch ohne einen Donnerschlag. Es nahm jegliche Farbe aus der Nacht. Bannte das Dunkel. Falrach musste sich abwenden. Seine Augen brannten. Er fürchtete, geblendet zu sein.
Selbst durch die geschlossenen Lider sah er das Licht.
Als er es wagte, die Augen wieder zu öffnen, sah er nur verschwommene Schemen.
Ein seltsamer Wohlgeruch lag über dem Hof.
»Ich bin blind«, wimmerte der Lutin. Er kauerte bei einem Lichtbogen, die Hände vor das Gesicht geschlagen.
Emerelle schwankte, als sei sie verletzt. Sie brach in die Knie. Der Geruch von verbranntem Leder mischte sich unter den fremdartigen Duft. Klirrend fiel Falrach das Metallstück der Gazala vor die Füße. Es hatte sich durch den Lederbeutel gebrannt.
Immer noch jammerte der Lutin. Er hatte ein Tor auf dem Albenpfad geöffnet, doch allein sein Erscheinungsbild machte deutlich, dass es nicht ratsam war, auf diesem Weg zu fliehen. Der Lichtbogen war instabil. Er dehnte sich und sackte dann wieder fast in sich zusammen. Keine zwei Herzschläge behielt er dieselbe Form.
Aber sie würden ihn nicht mehr brauchen. Was immer Emerelle getan hatte, die Geisterhunde schienen besiegt.
Tränen rannen Falrach aus den brennenden Augen. Langsam sah er wieder etwas deutlicher. Er ging zur Königin und hob sie auf. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter.
Alles war gut. Und von nun an würde alles anders werden! Sie waren gerettet. Es war geschafft!
»Wasser«, flüsterte Emerelle. »Bitte, Wasser.«
Ihre Lippen hatten sich dunkel verfärbt. Sie fühlte sich unnatürlich warm an. In einer Ecke des Hofs tröpfelte Wasser aus einem Löwenkopf in eine Pferdetränke.
Vorsichtig bettete Falrach die Königin auf den Boden. Er strich ihr das schmutzige Haar aus dem Gesicht. »Ich hole Wasser.«
Nirgends konnte er einen Eimer oder ein anderes Gefäß entdecken. Also streifte er seine Tunika über den Kopf und hielt den Stoff in das tröpfelnde Rinnsal. Es dauerte lange, bis er sich so weit vollgesogen hatte, dass er Emerelle genügend Wasser in den Mund träufeln könnte. Er würde sie danach in die nasse Tunika wickeln, um ihr Fieber zu kühlen. Wenn er doch nur zaubern könnte!
Der Lutin war verstummt. Kälte kroch Falrach über den Rücken.
Der Elf fuhr herum. Über Emerelle kauerte ein Geisterhund, die Schnauze tief in ihrer Brust versenkt!
Alyselle hätte aufjauchzen mögen. Das Licht aus der Brust der Elfenkönigin war reine Kraft. Sie sah Emerelles Haut unter dem Schmutz welken. Die Königin war wehrlos.
Völlig entkräftet vom Mord an ihren beiden Gefährten. Doch ihr Licht war noch immer unendlich viel stärker als jedes andere, das sie gekostet hatte.
Alyselle merkte, wie sich ihr Körper zu verändern begann. Er wurde stofflicher. Ihre Macht wuchs. Es stimmte also, was die Schamanin gesagt hatte! Wenn man nur genug vom Licht in sich aufnahm, dann erlangten die Shi-Handan einen stofflichen Leib ...
Schritte ließen sie aufblicken. Ollowain stürmte ihr entgegen. Mit bloßen Händen.
Lächerlich. Sie ließ kurz von Emerelle ab. Die Königin würde nicht mehr fortlaufen. Sie konnte sich also ruhig am Licht des Schwertmeisters und des wimmernden Kobolds laben.
Ollowain hielt inne. Er schrie sie an und winkte mit den Armen. Der Narr! Dachte er, sie sei irgendein Raubtier ohne Verstand? Die Bestie in ihr rebellierte. Sie wollte den Ritter töten. Vielleicht ... Ja, sie würde ein Spiel mit ihm treiben. Es konnte nicht schaden, sich zu vergnügen und an seiner Hilflosigkeit zu weiden, bevor sie ihn und die gefallene Königin tötete.
Alyselle wich ein wenig zurück. Sollte er sie doch für eine hirnlose Bestie halten! Das Ungeheuer in ihr bestürmte sie zu bleiben. Seine Gier nach dem Lebenslicht der Königin war schier überwältigend. Aufschub kannte es nicht. Es wollte das Festmahl beenden.
Kaum dass sie zurückgewichen war, stürmte der Schwertmeister vor. Er hob etwas vom Boden auf. Einen Stein? Lächerlich. Bildete er sich ein, sie mit Steinwürfen vertreiben zu können?
Sie glitt noch ein Stück zur Seite.
Ollowain stellte sich breitbeinig über seine Königin. Ein anrührendes Bild. Er war ganz der strahlende Held der Geschichten, die sie über ihn gehört hatte. Eifersucht stach in ihr Herz. Auch sie war eine Heldin! Sie hatte ihr Leben für ihre Herrin Alathaia gegeben, aber über sie würde niemand berichten. Sie war einfach verschwunden.
Alyselle ging dem Schwertmeister entgegen. Er hob drohend die Hand. Sie schnappte nach Emerelles Fuß. Goldenes Licht brach aus der Königin. Zäh. Honigartig. Und unbeschreiblich köstlich. Wie eine Hyäne an ihrem Aas zerrte sie daran.
Schlangengleich wand sich das Licht zwischen ihr und Emerelle.
Alyselle konnte den Boden unter ihren Füßen spüren. Ihre Wahrnehmungen veränderten sich.
Mit einem Schrei stieß Ollowain seine Hand in ihren Leib.
Flammender Schmerz durchfuhr sie. Sie zuckte zurück. Er hielt etwas in der Hand.
Einen Metallsplitter!
Wütend schnappte sie nach seinem Arm. Doch er wich mit unglaublicher Geschicklichkeit aus und stach erneut mit dem Splitter zu. Kleine Blitze spielten um das Metall, als es durch ihren Leib schnitt.
Sie versuchte sein Bein zu packen. Wieder war er schneller und stieß zu. Der Schmerz ließ sie zurückweichen. Was war das? Skanga hatte ihr doch versprochen, dass keine Waffe sie verletzen könnte!
Ollowain kniete nieder. Ohne sie aus den Augen zu lassen, hob er Emerelle auf und legte sie sich über die Schulter. Mit der Linken hielt er immer noch den Splitter auf sie gerichtet. Woher hatte er dieses verdammte Stück Metall? Das war ja nicht einmal eine richtige Waffe!
Der Schwertmeister ging auf das magische Tor zu. Er wollte auf diesem Weg flüchten.
Die Bestie bedrängte sie. Das Ungeheuer wollte losstürmen, aber sie sah nur das Metallstück, mit dem sie verletzt worden war. Sollte er doch ins Goldene Netz treten.
Da würde sie sie alle erwischen. Es war verrückt, durch ein so instabiles Tor zu gehen.
Sie würden in die Zukunft geschleudert werden. Aber ihr würde es nicht schaden. Sie hatte schon alles verloren. Sie konnte nur noch gewinnen. Und sie war entschlossen, sich Emerelle zu holen!
Mit einem barschen Ruf scheuchte der Schwertmeister den Lutin auf. Der Fuchsmann zögerte. Dann blickte er in ihre Richtung.
Komm, bleibe!, dachte sie gehässig. Dein kleines Lebenslicht ist nur ein Happen.
Fluchend trat der Lutin durch das Tor. Ollowain folgte ihm auf dem Fuß.
Alyselle sprang los. In Gedankenschnelle war sie durch das Tor. Etwas packte sie! Ein fremder Zauber! Sie wurde nach vorne gezerrt. Das Gold des Albenpfades wurde zu gleißendem Licht, das sie mit sich riss.
Was stimmte hier nicht? Sie wurde vorwärtsgezogen, ohne dass sie eine Möglichkeit gehabt hätte, auszubrechen. Immer weiter. Sie ahnte, dass sie durch die Zeit stürzte.
Jahrtausende flössen vorbei. Alyselle musste an die lächelnde Fremde denken mit den seltsamen Zeichen auf dem Körper. Das war eine Falle gewesen! Sie war verzaubert worden, als sie durch die Haut der Gazel enfrau gestoßen war, um deren Lebenslicht zu verschlingen.
Die Bestie in ihr bäumte sich auf. Alles verschwamm in weißem Licht. War das das Ende der Zeit?