Adrien duckte sich unter dem Schwerthieb weg, blockte einen Rückhandschlag mit dem Schild, noch bevor der neue Angriff an Wucht gewann, und rammte Jules den Schild und dessen eigenes Schwert gegen die Brust. Der Priester wich zurück, strauchelte aber keineswegs. Er schien in sieben Jahren um keinen Tag gealtert zu sein.
Ganz im Gegenteil. Auch er schien durch die täglichen Übungen an Kraft und Geschicklichkeit gewonnen zu haben.
Er fing sich, täuschte einen Schwertstoß auf Adriens rechten Fuß an, wechselte überraschend die Richtung und zielte auf seinen Schritt. Der Junge rammte die Klinge mit einem Stoß mit der Schildkante zu Boden und berührte mit seinem Schwert Jules’
Nacken. »Du bist tot, Meister.«
Jules ließ schnaufend Schild und Schwert fallen. Er wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. Dann ließ er sich auf einem der Schutthügel nieder.
»Das war das erste Mal, dass ich bei einer Übung drei tödliche Treffer geschafft habe!«
Es gelang Adrien nicht, den Triumph in seiner Stimme zu verbergen. Sechs Jahre hatte er üben müssen, bis es ihm überhaupt einmal gelungen war, Jules zu treffen. Aber in den letzten Wochen wurde er endlich besser und besser.
»Und was heißt das?«, entgegnete der Priester mürrisch. »Hältst du dich für einen Ritter, weil du es schaffst, einen alten Mann zu besiegen?«
»Bei allem Respekt, Meister, aber du bist nicht alt.«
Der Priester lächelte in sich hinein, wie er es oft tat. »Bei allem Respekt, mein Schüler, aber du hast keine Ahnung. Also fassen wir einmal zusammen. Was kannst du?«
»Du hast mich gelehrt, dass es unziemlich ist, mit seinem Können zu prahlen.«
»Und was war das mit dem Jubelgeschrei, dass du mich dreimal tödlich getroffen hast?«
»Eine nicht ganz sachlich vorgetragene Tatsache«, entgegnete Adrien grinsend.
»Wenn ich dich so höre, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Mir scheint, ich habe hier einen Prediger herangezogen, der einem das Wort im Munde verdreht, und keinen Ritter.«
»Das sagst du mir bestimmt schon zum hundertsten Mal. Mir scheint, du bist ein schlechter Lehrer, wenn bei mir einfach keine Besserung eintritt.«
»Und mir scheint, aus dir einen Ritter zu machen, ist so aussichtslos, wie mit blanker Faust aus einem Felsblock eine Statue herausmeißeln zu wollen. Aber fassen wir einmal zusammen, was du gelernt hast. Du kannst lesen und schreiben und sogar schlechte Verse verfassen. Du packst dein Schwert nicht mehr an wie ein Bauer eine Mistforke und bist sogar in der Lage, bei einem alten Mann in anderthalb Stunden Übungskampf drei Treffer zu landen. Aber mach dir keine Illusionen! Solltest du jemals auf einen Elfen treffen, der auch nur halbwegs begabt im Schwertkampf ist, dann wärst du tot, bevor du auch nur deinen vollständigen Namen sagen könntest, Michel Sarti.«
In all den Jahren hatte Adrien sich noch immer nicht ganz an diesen neuen Namen gewöhnt. Auch hatte er Zweifel, dass er tatsächlich der illegitime Sohn dieses Ritters war. Allerdings akzeptierte er, dass dieses Spiel zu Jules’ Regeln gehörte. Schon vor Jahren hatte er sich abgewöhnt, dazu etwas zu sagen. Für die Welt jenseits des Tales würde er Michel Sarti sein. Aber in seinem Herzen war er Adrien.
»Wann ist meine Ausbildung beendet? Wenn du über meine Kenntnisse sprichst, dann hört es sich an, als sei das nichts, aber wie viele Ritter gibt es, die lesen und schreiben können?«
»So wenige, dass ich darauf achten werde, dass du gut genug bist, nicht gleich vom ersten Dummkopf erschlagen zu werden, der, statt sich zu bilden, den ganzen Tag mit Kampfübungen verbracht hat.«
Adrien seufzte. »Ich glaube, für dich werde ich nie gut genug sein. Du willst mich gar nicht weglassen.«
»Ich gebe zu, ohne dich wird es hier in den Bergen vermutlich recht einsam werden.«
Jules erhob sich. »Ich kann verstehen, dass du fort möchtest. Du bist längst ein junger Mann. Manchmal sorge ich mich, dass du zu gut für die Welt jenseits dieses Tals bist.
Dort herrscht ein König, der abgrundtief böse ist. Ein Mann völlig ohne Moral. Du bist in allem das genaue Gegenteil von ihm. Das allein könnte ihm als Grund genügen, dich zu töten.«
»Du hast dafür gesorgt, dass es nicht ganz leicht werden wird, mich umzubringen.«
»Leider scheine ich dir bei unseren Kampfübungen zu oft auf den Kopf geschlagen zu haben. Glaubst du allen Ernstes, du seist bereit, ein ganzes Königreich herauszufordern? Allein?«
»Ich lass den alten König in Ruhe. Ich will nichts von ihm!«
Jules schüttelte den Kopf. »Begreif doch, Junge. Er wird dich nicht in Frieden lassen.
Weil du so bist, wie du nun einmal bist, wird er von dir hören. Und er wird dich nicht in Frieden lassen. Vertrau mir, Junge!«
Adrien stieß ärgerlich sein stumpfes Übungsschwert in einen der Geröllhaufen. Jules würde ihn niemals ziehen lassen, denn dieser verfluchte König Cabezan schien unsterblich zu sein. Er war längst älter, als es sich für einen Menschen geziemte. Jedes Mal, wenn Jules für ein paar Tage den Steinernen Wald verließ, kam er mit neuen Schreckensgeschichten über den König zurück.
Der Junge dachte an das Blumenmädchen. Bestimmt hatte sie sich längst einen Mann erwählt. Wahrscheinlich hatte sie sogar schon Kinder. Hoffentlich nicht von dem widerlichen Fleischhauer. Das würde er nicht ertragen.
»He, du machst ein Gesicht wie einer, der dem alten König die Hand küssen soll. Was denkst du?«
»Dass ich in diesem Tal alt und grau werde.«
Der Priester lächelte warmherzig. »Das mit dem Lügen hast du immer noch nicht gelernt. Behalte deine Gedanken für dich, ich werde nicht weiter in dich dringen.
Komm einmal mit mir.«
Jules brachte ihn zu einem Loch, das er vor Jahren gegraben hatte. Der ganze Hang war übersät von Gruben, und Adrien war sich sicher, wenn er jemals zum Ritter werden sollte, dann wäre er gewiss der Ritter, der am meisten Dreck geschaufelt hatte.
Spaten und Hacke wären ein passendes Wappen für ihn.
»Hier, Junge. Ich habe in der letzten Nacht von dieser Grube geträumt. Du musst dort unten noch ein wenig graben. Nicht mehr weit. Ich bin sicher, es war diese Grube, die ich im Traum gesehen habe. Hier wirst du es finden.«
Jules hatte ihm in all den Jahren nicht gesagt, was er eigentlich finden sollte. Und er war schon unzählige Male mit Traumvisionen gekommen. Adrien sagte gar nichts dazu. Unten in der Grube hatte sich Wasser gesammelt. Die Ränder waren ausgewaschen. Jede Menge Geröll und Schlamm hatten das Loch halb gefüllt. Längst hatte Adrien aufgehört, mit seinem Meister über dessen Träume zu reden. Er würde graben. Sieben Jahre schon hatte er das getan. Fragen stel en half nichts. Er war eben der Maulwurfsritter.
Elodia erhob sich vom Bett. Sehr vorsichtig, um den Priesterfürsten mit ihren Bewegungen nicht im Schlaf zu stören. Das tote Kätzchen rollte aus seiner geöffneten Hand. Zusammengerollt lag es auf dem Seidenlaken. Die weiße Schnauze war rotbraun von verkrustetem Blut. Die anderen beiden Kätzchen kletterten über Laken und Kissen, um ihrer Schwester zu helfen. Sie leckten das Blut von der Schnauze, bis das Fell wieder ganz weiß war. Leise maunzten sie. Stießen ihre tote Schwester immer wieder vorsichtig mit den Pfötchen an, unfähig, zu begreifen, warum sie nicht aus dem vermeintlichen Schlaf erwachte.
Seit sie vor zwei Jahren nach Iskendria gekommen war, nannte sich Elodia Danae. Sie war auf dem Goldenen Markt in einer aufsehenerregenden Versteigerung als aegilische Liebessklavin vorgestellt worden. Wegen ihrer hellen Haut und der fantastischen Geschichten, die der Sklavenhändler bei der Versteigerung über sie erzählte, war sie für eine wahrhaft exorbitante Summe an einen Seidenhändler verkauft worden.
Ihr Sklavenhändler war in Wahrheit ein Mittelsmann Cabezans gewesen, und Elodia würde darauf wetten, dass er kurz nachdem sein König das Geld aus der Versteigerung erhalten hatte, einen plötzlichen Tod gestorben war. Genauso sicher war sie sich, dass es inzwischen reichlich Gerüchte über die Verbindungen des Händlers zu den aegilischen Piratenfürsten gab.
Cabezan war wie eine große Spinne, die mitten in ihrem Netz saß. Er hatte ein Netz aus Lügen um sie gesponnen. Niemand würde mehr herausfinden können, wer Danae in Wahrheit gewesen war. Alle hier in der Stadt kannten nur die Liebessklavin.
Wirklich alle! Seit einigen Wochen nun nahm Promachos sie mit zu den öffentli chen Opferritualen für den Stadtgott Baibar. Eine widerliche Zeremonie, bei der ein gefesseltes Kind im Feuerschlund des Götzenbildes von Baibar verbrannt wurde. Sie war immer noch eine Sklavin, aber mit Sicherheit war sie die mächtigste Sklavin der Stadt. Promachos war ihr verfallen. Ihrer Liebeskunst, mit der sie ihm ein Jahr lang immer neue Genüsse beschert hatte. Ihrer Ruchlosigkeit, mit der sie all seine perversen Wünsche nicht nur erfüllte, sondern ihn durch ihre Vorschläge zu neuen, geheimen Ekstasen führte. Promachos, der mächtigste unter den Priesterfürsten. Promachos, der Flottenbauer, der seiner Stadt neue Visionen schenkte und sie zu nie gekannter Macht führte. Dieser Promachos war ein Sklave seiner Lust. Immer mehr Zeit verbrachte er mit ihr. Heute war er darauf verfallen, Kätzchen mit ins Bett zu nehmen und eines von ihnen langsam zu erwürgen, während sie seine Lust zum Höhepunkt trieb.
Gestern hatte er sie genötigt, in der Mittagshitze mit Eis gekühlten Wein zu trinken, bevor sie ihn mit dem Kuss der Schlange verwöhnte. Bald würde er ihrer überdrüssig werden, da war sich Elodia sicher. Wie lange ließen sich seine Gelüste noch steigern?
Vor zwei Wochen hatte er darauf bestanden, sie tätowieren zu lassen. An einer Stelle, an der es nur ein Liebhaber würde sehen können, loderte nun eine gelbrote Flamme.
Würde er bald auch ihr Gesicht mit einem tief unter die Haut gestochenen Bild schmücken wollen? Oder würde er sie weiterreichen an verdiente Würdenträger, einen der Baumeister der neuen Flotte, oder sie vielleicht einfach töten lassen, so wie ein Kind ein Spielzug zerbricht, dessen es überdrüssig wurde? All diese Schicksale hatte sie bei Frauen erlebt, die ihr vorausgegangen waren. Sie würde nicht so enden!
Promachos stöhnte im Schlaf. Er war ein massiger Mann. Als Priester war jedes Haar von seinem Körper entfernt worden, obgleich ein leichter, blauschwarzer Bartschatten auf seinen Wangen schimmerte. Seine Augenlider waren dunkelblau geschminkt. Kleine Perlchen waren mit Harz in die Augenwinkel geklebt.
Elodia hatten sie stets an gefrorene Tränen erinnert, denn das Herz des Priesters war so kalt, dass seine Tränen gewiss gefrieren würden, wenn es etwas gäbe, das ihn dazu bringen könnte, Tränen zu vergießen.
Sie hatte nie erfahren, wie alt er war. Darüber wurde im ganzen Palast nicht gesprochen. Ganz jung war er sicherlich nicht mehr. Sie schätzte ihn auf fünfundvierzig bis fünfzig Jahre. Näher bei den fünfzig! Er hatte einen stattlichen Bauch, doch war das Fleisch noch fest. Er war erstaunlich stark. Als er das kleine Kätzchen mit der Linken erdrosselt hatte, hatte Elodia gehört, wie auch die dünnen Rippen des Tiers gesplittert hatten. Sie wusste, wenn sie ihren letzten Befehl ausführte, dann hatte sie nur einen einzigen Versuch. Er war ihr körperlich überlegen. Ging sie zögerlich vor, dann wäre das ihr Tod.
Der Seidenhändler, der sie vor zwei Jahren auf dem Goldenen Markt gekauft hatte, war ein freundlicher, junger Mann gewesen. Er würde immer einen Platz in ihrem Herzen behalten. Er hatte das Vermögen seiner Eltern geerbt. Sein Geschäft blühte, bis er sie kaufte. Sie verführte ihn dazu, sie bei öffentlichen Anlässen mitzunehmen und mit ihrer Liebeskunst und den wunderbaren Nächten zu prahlen, die sie miteinander verbrachten. Jedes Mal, wenn sie ihn geliebt hatte, lag am Morgen danach ein Geschenk auf ihrem Kopfkissen oder in einem ihrer zierlichen, mit Perlen bestickten Pantoffeln. Er achtete darauf, dass in ihren Gemächern stets frische Blumen standen, obwohl diese in Iskendria sündhaft teuer waren. Er ging mit ihr Stoffe einkaufen, mit denen sie die Wände ihres Schlafgemachs schmückte.
Gerne scherzte er mit ihr über ihren aegilischen Akzent. Gemeinsam ließen sie sich in einer verhangenen Sänfte über die Märkte tragen, und manches Mal entlockte sie ihm mit ihren Liebkosungen dabei in aller Öffentlichkeit Laute, die nicht für Kinderohren bestimmt waren. Er vergötterte sie. Er vermochte keinen Abend mehr ohne sie zu verbringen. Er hatte ja keine Ahnung, wen er sich in sein Haus geholt hatte! Er glaubte, sie sei die Tochter eines Fischers aus Zeola.
Verschleppt von Piraten und von ihnen in die Sklaverei verkauft.
Tatsächlich war sie im Refugium von Möns Gabino vier Jahre lang in allen Künsten der Liebe unterrichtet worden. Tief in den Bergen verborgen, war dies ein Ort, an den sich kaum einmal ein Wanderer verirrte. Und kam doch ein Besucher, so wurde er nur ins Torhaus eingelassen, wo man ihm sagte, dies sei ein Refugium frommer Schwestern, die gelobt hatten, in ihrem Leben nie wieder einen Mann zu sehen. Diese Lüge war so unglaublich dreist, dass Elodia selbst heute darüber lächeln musste. Sie war in diesen Jahren darin unterwiesen worden, Männern wie Frauen auf jede erdenkliche Art Lust zu bereiten. Sie lernte Konversation. Und als man eine Aufgabe für sie ersann, wurde sie im fünften Jahr im Refugium für ihre Reise nach Iskendria vorbereitet. Sie lernte das Aegilische und ein wenig Valethisch, die Sprache Iskendrias. Sehr großen Wert legten ihre Lehrer auf ihren Akzent im Aegilischen. Jeder, der ihn einmal gehört hatte, vermochte die breite, getragene Art, wie sie die Worte aussprach, sofort der Insel Zeola zuzuordnen. Elodia erfuhr genug über die Fischerei in dem Inselstaat, über das Netzeflicken und Kochen mit Meeresfrüchten, um glaubwürdig eine Fischerstochter spielen zu können. Zugleich schärfte man ihr ein, ihr Wissen um Dichtung und gehobene Konversation, das sie in den ersten Jahren im Refugium erworben hatte, zu verbergen.
Ihr Seidenhändler hatte nie daran gezweifelt, dass sie ein harmloses Fischermädchen war. Manchmal hatte er freundlich über ihre mangelnde Bildung gespottet. Aber er hatte sie nie verletzt. Er hatte sie wirklich geliebt, dachte Elodia bitter, und sie hatte diese Liebe verraten. Es war von Anfang an ihr Ziel gewesen, den Hohen Priester Promachos auf sich aufmerksam zu machen. Er war die treibende Kraft hinter dem Flottenbau in Iskendria. Er hatte Frieden mit den Piratenfürsten der Aegilischen Inseln geschlossen. Zum ersten Mal hatte sie Promachos auf dem großen Fest zu Ehren der Seegöttin Bessa gegenüberge-standen. Er hatte sie mit den Augen verschlungen. Es war offensichtlich gewesen, dass er schon von ihr gehört hatte. Sie hatte erschrocken und schüchtern getan. Das hatte ihn nur noch mehr angestachelt.
Elodia war sich ganz sicher, dass die Einladung auf den Maskenball im Haus der berüchtigten Kaufherrin Sem-la nur auf den Wunsch von Promachos erfolgt war. Sem-las Haus schien wie von Magie durchdrungen zu sein. Ihre Feste waren berühmt und berüchtigt. Oft hatte Elodia von den Ausschweifungen munkeln hören, die jede Feier begleiteten. Und vom Glanz der Feste. Dort raubte Promachos ihr einen ersten Kuss. Er war verschleiert wie die Tearagi, jene räuberischen Wüstennomaden, die dem Karawanenhandel so sehr zusetzten. Nach kurzem, gespielten Zögern hatte sie den Kuss erwidert und mehr ... Das Haus der Sem-la war voller verborgener Winkel und Nischen. Und sie waren nicht das einzige Paar, das sich von den Feierlichkeiten zurückgezogen hatte, um ein eigenes, intimeres Fest zu begehen.
Am nächsten Morgen waren Tempelwachen ins Haus ihres Seidenhändlers gekommen. Sie hatten ihn aufgefordert, die Sklavin Danae aus Zeola an den Tempel des Baibar zu überstellen. Jede Familie in Iskendria fürchtete diese Besuche.
Gewöhnlich kamen die Tempelwachen, um auserwählte Opfer für den Gott zu fordern, meist Kinder. Aber manchmal wurden auch ein schöner Jüngling oder eine junge Frau verbrannt. Dass dieser Besuch einen ganz anderen Grund haben könnte, war ihrem Seidenhändler gar nicht in den Sinn gekommen. Er hatte sich schützend vor sie gestellt, hatte gedroht und gebettelt. Vergebens. Und dann hatte er den einen unverzeihlichen Fehler gemacht. Er hatte den kleinen Schmuckdolch an seinem Gürtel gezogen. Die Tempelwachen waren erfahrene Krieger. Ein Händler mit einem Dolch in der Hand war keine Bedrohung für sie. Aber sie hatten es als eine Beleidigung Baibars aufgefasst. Als sie Elodia vor Promachos geführt hatten, war der Saum ihres Kleides vom Blut des Seidenhändlers benetzt gewesen.
Der Priesterfürst hatte sie noch am selben Morgen in sein Bett geholt. Es dauerte zwei Monde, bis sie nicht nur seine Favoritin war, sondern alle anderen Lustsklavinnen aus dem Palast verschwanden. Sie wollte ihn für sich allein. Er sollte ihr ganz und gar verfallen.
Ihre Lehrer auf dem Möns Gabino hatten große Sorgfalt darauf verwandt, ihr den Hintergrund ihrer Mission zu erläutern. Stunden um Stunden hatte Elodia vor einer Reliefkarte verbracht und die Namen von Inseln und Städten gelernt. Dann die Namen von Priestern, Fürsten und Feldherren. Kleine bunte Schiffchen auf dem Plan zeigten, wie schwach die Flotte Fargons war. Und wie übermächtig die Piratenflotten der Aegilischen Inseln sowie die neue Flotte, die auf Befehl des Priesters Promachos in Iskendria auf Kiel gelegt wurde. Ihre Aufgabe war es, ins Bett von Promachos zu gelangen, um von dort aus Fargon zu dienen.
Wieder blickte Elodia zu dem Schlafenden. Sein Schlummer nach der Liebe dauerte nie sehr lange. Draußen vor der mächtigen Flügeltür standen zwei Tempelwachen, keine zehn Schritt entfernt. Beim geringsten verdächtigen Laut würden sie ins Zimmer stürmen.
Vor sieben Monden schon hatte sie den Dolch versteckt, der das Leben des Priesters beenden würde. Ein Fischermesser von den Aegilischen Inseln. Ihre Lehrer hatten ihr sogar beschrieben, auf welche Weise sie ihn töten sollte und was sie noch zu tun hätte, wenn er schon tot war. Seine Ermordung musste spektakulär sein. Ein Ereignis, das nicht schnell in Vergessenheit geriet. Es sollte nicht nur zum Bruch des Bündnisses mit den Piratenfürsten der Aegilischen Inseln führen.
Cabezan wünschte, dass die beiden mächtigsten Flotten der Welt einander bekämpften. Ihr König fürchtete, dass die Priester und die Piraten sonst ihre Hand nach der neuen Provinz Marcilla ausstrecken würden. Und tatsächlich hatte Promachos ihr im Bett davon erzählt, dass einige der Küstenstädte Fargons besetzt werden sollten. Die Priester wollten feines Leinen, Parfüm und Färbemittel nicht mehr einkaufen, sondern die Städte, in denen die Luxusgüter hergestellt wurden, tributpflichtig machen.
Zehntausend Schwerter würden nicht ausreichen, die Macht der Priester und der verbündeten Piraten aufzuhalten, hatten ihr ihre Lehrerinnen auf dem Möns Gabino immer wieder eingebläut. Doch ein einziger Dolch konnte in dieser Nacht vollbringen, wozu die Ritterheere Fargons nicht in der Lage wären.
Sie tastete über die Fensterbank. Sie hatte die Platte gelockert und unter ihr einen Stein aus dem Mauerwerk gelöst. In dieser Höhlung verborgen ruhte das Schicksal ihrer Heimat. Elodia blickte auf den Hafen hinab. Ein Wald von Masten ragte dort empor.
Aus der ganzen Welt kamen Schiffe hierher. Waren stapelten sich auf den Kaimauern.
In der Mittagshitze war es dort ein wenig ruhiger. Der Himmel war von klarem Blau.
Sie schob die Hände unter die schwere Steinplatte und versuchte sie zu heben. Doch sie bewegte sich nicht.
»Suchst du das Messer, das dort lag?«
Erschrocken fuhr Elodia herum. Promachos hatte sich aufgesetzt. »Vor ein paar Wochen schon habe ich bemerkt, dass der Stein locker geworden war. Der Handwerker fand ein Fischermesser von den Aegilischen Inseln. War das Patriotismus oder Dummheit?«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Herr ...«
»Natürlich. Es war Zufall, dass du dich an dem steinernen Sims zu schaffen gemacht hast. Du stehst nur am Fenster, um den großartigen Blick auf den Hafen und die Bibliothek zu genießen, nicht wahr?«
»Herr, es ist nicht, wie es scheint...«
»Natürlich nicht! Glaubst du wirklich, du seiest so besonders im Bett, dass ich dich allen anderen vorziehe? Hast du das wirklich geglaubt? Ich habe darauf gewartet, wann du zu diesem Sims gehst. Das war die ganze Spannung. Und nun bin ich neugierig, wie lange du deine Geheimnisse für dich behalten kannst. Welcher der Piratenfürsten hat dich geschickt? Du mochtest das Tätowieren nicht ... In einer Stunde werde ich mit glühendem Eisen Muster auf deine Haut malen, Mädchen. Dann wirst du mir ein anderes Lied singen als in diesem Bett. Und ich bin sehr neugierig, es zu hören.«
Zwei Tage schuftete er nun schon wieder in der Grube, in die ihn Jules’ Traum geschickt hatte. Adrien versuchte sich in Gleichmut zu üben. Er war nun mal der Maulwurfsritter. Das Schicksal hatte ihn in die Hände des seltsamen Priesters gespielt, und er konnte nur hoffen, dass Gott ihm gnädig war, denn Jules war es nicht. Seitdem er ihn im Übungskampf so deutlich besiegt hatte, war er in bedrohliches Brüten verfallen. Er hatte nichts mehr gegessen und getrunken. Er reagierte nicht, wenn man ihn ansprach. Er behauptete, er sei nahe bei Gott, wenn er so in Trance versunken in ihrer Hütte saß. Adrien fand ihn dann besonders unheimlich. Manchmal murmelte er in fremden Zungen, ohne wirklich bei sich zu sein.
Klirrend traf die Spitzhacke auf Widerstand. Es war nicht das Geräusch von massivem Fels oder geschmolzenen Metallen. Adrien war nach all den Jahren Experte für die Geräusche, die eine Spitzhacke machte. Er kniete nieder und schob Erde und Geröll zur Seite. Bald traf er auf das unverwechselbare Rot eines beschädigten Ziegelsteins.
Endlich einmal eine Abwechslung. Ziegel waren von den Baumeistern der versunkenen Stadt nur selten verwendet worden, meist für Kanäle. In der Regel waren die Mauern, die er fand, aus behauenem Stein.
Begeistert lockerte er mit der Hacke die Erde rings um den Ziegel. Bald zeigte sich, dass er auf die gewölbte Decke eines Tunnels gestoßen war. Und er war weit größer als die Kanäle der Zisternen, die er bisher freigelegt hatte.
Eine Stunde dauerte es, bis er ganz sicher wusste, dass dieser Fund außergewöhnlich war. Durch diesen Tunnel hätte ein Fuhrwerk fahren können, so weit spannte sich die Decke. Die Steine waren gut vermauert. Der Mörtel hatte die Jahrhunderte überdauert, ohne zu zerkrümeln. Aber wo mochte der Eingang liegen? Er könnte noch Tage graben, ohne etwas zu finden. Es sei denn ... Adrien überlegte, ob er Jules holen sollte.
Doch der Priester würde ihn vermutlich gar nicht hören. Er war längst erwachsen. Er musste nicht für alles um Erlaubnis bitten! Entschlossen hob er die Spitzhacke und begann mit kräftigen Schlägen auf die Ziegel einzuschlagen. Die roten Steine waren hart wie Fels gebrannt. Es dauerte eine Weile, bis die Spitze der Hacke ins Leere stieß.
Er verkeilte das Werkzeug und hebelte weitere Steine aus dem Mauerwerk. Als das Loch groß genug war, dass er hindurchschlüpfen könnte, legte er sich flach auf den Bauch und blickte hinab. Die Sonne stand im Zenit. Er konnte den Boden erkennen. Er lag vielleicht vier Schritt tiefer. Er könnte springen.
Unentschlossen blickte Adrien zum Rand der Grube.
Sollte er nicht doch Jules holen? Nein! Ohne weiter nachzudenken, schob er die Beine durch die Öffnung und ließ sich in den Tunnel fallen. Er landete auf Steinplatten. Das Geräusch seiner genagelten Stiefel hallte von den Wänden wider. Das erste Geräusch seit vielen Jahrhunderten, das diese Mauern vernahmen.
Neugierig sah er sich um. Der Tunnel fiel leicht ab. Er schien in Richtung ihrer Hütte zu verlaufen, nur dass er sich dabei dem Herzen des Berges entgegenneigte. Was erwartete ihn dort, wo der Gang endete? Was hatte ihm Jules all die Jahre lang nicht verraten wollen? Lag dort die Schatzkammer der versunkenen Stadt? Adrien erinnerte sich noch sehr genau an den Spott des Priesters über den ersten Goldfund. Was war kostbarer als Gold, das hier verborgen lag?
Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er entdeckte Bilder auf den Wänden des Tunnels. Leider hatte der Bau die Jahrhunderte nicht ganz so gut überstanden, wie er zunächst angenommen hatte. Der Putz war an vielen Stellen von den Wänden geblättert. Wasserspuren zeichneten die Mauern. Fast überall, wo der Putz noch intakt schien, wucherten zarte Gipsblumen auf den Bildern. Dennoch war zu erkennen, dass Krieger dargestellt waren. Sie scharrten sich um groß gewachsene Männer mit Tierköpfen! Einer dieser Anführer hatte einen Eberkopf mit mächtigen Hauern. Dieses Bild war ganz klar, als habe ein Zauber es vor der Zerstörung bewahrt.
Der Eber hatte himmelblaue Augen. Ihr Blick schlug Adrien in den Bann. Er kannte diese Augen! Ein Schauer überlief ihn. Das war Unsinn ... Wie sollte er ein Paar Augen kennen, das ein Künstler vor unvorstel bar langer Zeit auf diese Gipswand gemalt hatte?
Ein Luftzug drang aus der Tiefe des Tunnels. Der Junge hatte das Gefühl, dass dort etwas lauerte. Er wurde beobachtet!
Ein Krachen und Poltern ließ ihn herumfahren. Einen Augenblick setzte vor Schreck sein Herz aus. Hinter ihm lagen plötzlich mehrere Keulen auf dem Boden.
»Wer ist da?«, brachte er stockend hervor.
»Dein Retter, Ritter Hasenherz!«
Es war die Stimme von Jules. Vor Erleichterung ließ sich Adrien gegen die Wand sacken. Plötzlich schien alle Kraft aus seinen Gliedern gewichen zu sein.
»Ich frage mich ernsthaft, warum ich mich jahrelang als dein Lehrer abgemüht habe, wo du offensichtlich so viel Verstand wie eine taube Nuss hast! Hast du einen Gedanken daran verschwendet, wie du da unten wieder herauskommst?«
Adrien blickte zu der Öffnung in der Decke. Der Tunnel war fast vier Schritt hoch. Es wäre unmöglich, dort ohne Hilfe wieder hinauszugelangen.
»Was würdest du machen, wenn ich noch in der Hütte säße? Einen kleinen Spaziergang unter der Erde, um in völliger Finsternis nach einem anderen Ausgang zu suchen? Tjured hat mich gewarnt! Er hat mir eine Vision geschickt, dass der Nichtsnutz, den ich Dummkopf mir zum Schüler gewählt habe, gerade dabei ist, sich in größte Gefahr zu begeben.« Ein Seil rauschte durch das Loch.
»Mach dich nützlich! Zieh daran und prüfe, ob es das Gewicht eines Muskelprotzes mit Spatzenhirn aushält.«
Zerknirscht packte Adrien das Seil. Jules hatte den Stiel der Spitzhacke quer über die Öffnung gelegt und daran das Seil festgebunden. Adrien zog heftig daran. Anfangs ruckte die Hacke. Dann setzte sie sich zwischen den Ziegelsteinen fest. »Das hält«, sagte er kleinlaut. Zu seinen Füßen lagen Fackeln und keine Keulen, wie er irrtümlich angenommen hatte.
Jules kletterte das Seil hinab. »Und was gibt es hier unten, das es wert ist, kopflos sein Leben zu vergeuden?«
Adrien konnte ihm nicht in die Augen blicken. »Du hattest gesagt, ich solle hier graben. Dass es Tjureds Wille sei...«
Der Priester schüttelte den Kopf. »Ungestüm der Jugend ... Was wird nur aus dir werden, wenn ich dich in die Welt entlasse?« Er kniete nieder und öffnete ein Töpfchen mit Glut vom Herdfeuer ihrer Hütte. Damit entzündete er eine der Fackeln. Er hielt sie hoch über dem Kopf und sah sich um.
»Da vorne gibt es ein Bild, Meister. Das musst du dir ansehen. Es zeigt einen Mann mit Eberkopf. Mit blauen Augen. Diese Augen ... Sie sehen so echt aus! Als wären sie lebendig.«
»Dann war da wohl ein begnadeter Künstler am Werk«, entgegnete Jules wenig begeistert.
»Selbst du wirst erstaunt sein, wenn du es siehst«, beharrte der Junge. »Hier. Leuchte hierhin! Hier ist es. Es ... « Adrien starte fassungslos auf die Wand. Der Putz war abgeblättert. Vom Fresko des Mannes mit dem Eberkopf waren nur die Füße geblieben.
Jules klopfte ihm auf die Schulter. Staub und kleine Putzstückchen rieselten zu Boden.
»Hast du dich vielleicht irgendwo angelehnt?«
»Ich …«
»Tja, da übersteht so ein Bild vier Jahrtausende, und kaum betrittst du den Tunnel, da ist es dahin. Vielleicht habe ich dich zu viel mit der Spitzhacke arbeiten lassen. Dein Umgang mit Kunst lässt zu wünschen übrig.«
»Die Augen. Es sah so echt aus ... «
»Ja, ja. Ist schon gut. Hast du jemals von einem Eber mit blauen Augen gehört? Wie haben sie ausgesehen? Etwa wie meine Augen? Da ist dem Künstler die Vorstellungs-kraft durchgegangen.« Jules schnaubte verächtlich. »Ein Eber mit blauen Augen. Ein Mann mit einem Eberkopf. Also wirklich ... Vielleicht waren das ja ihre Götter. Sie scheinen den Menschen nicht gut zur Seite gestanden zu haben, wenn man sich so ansieht, was aus dieser Stadt geworden ist.« Die letzten Worte sagte er mit eigenartiger Bitternis. So als könne er das Geschick dieses Tals nicht verwinden. Ja, als sei es eine persönliche Angelegenheit.
»Komm, sehen wir, was uns erwartet.«
Als sie tiefer in den Tunnel vordrangen, fanden sie besser erhaltene Bilder. Sie zeigten riesige Städte, Drachen und marschierende Heere. Auf einem Bild entdeckte Adrien große, schwebende Kugeln, von denen dicke Seile herabzuhängen schienen. Die Seile hielten Holzplattformen, auf denen sich Krieger um Katapulte drängten.
»Was ist das?«
Jules hielt die Fackel dicht vor das Bild. »Wolkensammler aus der Zerbrochenen Welt.
Sie ähneln am ehesten Quallen, nur dass sie unermesslich viel größer waren und durch die Luft schwebten. Sie lebten einst in einer Welt, von der nun nur noch Trümmer geblieben sind. Sie halfen den Menschen im Kampf gegen die Drachen. Die Geschütze, die du dort siehst, verschossen Speere, so dick wie der Arm eines starken Mannes.
Diese Speere vermochten die Drachen zu töten, wenn sie ihr Ziel fanden. Anders als die Drachen segelten die Wolkensammler träge mit dem Wind. Es war leicht, sie auszumanövrieren. Sie haben einen hohen Blutzoll dafür entrichtet, sich für die Sache der Menschen entschieden zu haben.«
»Woher weißt du das alles, Jules?«
»Ich habe viel Zeit in Bibliotheken verbracht und in meinem ganzen Leben noch kein einziges nennenswertes Loch gegraben.«
Die Worte verletzten Adrien. »Hältst du mich für dumm?«
»Dann hätte ich dich in jener Nacht in Nantour nicht erwählt. Horche auf die Stimme deines Herzens. Was willst du in deinem Leben sein? Ein Ritter oder ein Gelehrter?«
»Ein Ritter«, bekannte er.
Der Priester lächelte. »Das wusste ich von unserem ersten Tag an. Du hast die besten Seiten deines Vaters geerbt. Du wirst ein großer Ritter werden. Und für einen Ritter ist es in diesen Zeiten schon sehr ungewöhnlich, wenn er lesen und schreiben kann. Unter deinesgleichen wirst du als Gelehrter gelten. Das muss dir genügen. Du bist kein Mann der Bücher. Du bist ein Krieger. Deshalb bist du auch hier heruntergesprungen, ohne darüber nachzudenken, wie du wieder heraufkommen wirst. Ich kenne dich, Michel Sarti. Und ich schätze dich, auch wenn ich zuweilen ein wenig ruppig bin.«
Das Lob machte Adrien verlegen. Er betrachtete erneut das Bild mit dem Wolkensammler. »Wie groß sind sie gewesen?«
»Größer als jedes andere Tier, das es je gab. Sie waren friedliche Geschöpfe. Bis sie in den Krieg hineingezogen wurden.«
»Was ist geschehen?«
»Irgendwann waren sie nicht mehr friedlich.« Er zuckte mit den Schultern. »Und wie du ja sehen kannst, waren sie sehr groß. Und sie waren mehr als nur Tiere. Sie hatten Verstand. Sie konnten sogar zaubern. Ihre Magie speiste sich aus den Kräften des Himmels und der Sterne. Sie in den Krieg hineinzuziehen, war ein Fehler. Es war so, als werfe man im Winter leichtfertig einen Schneeball auf einen steilen Hang. Zwei Meilen tiefer ist aus dem faustgroßen Schneeball eine Lawine geworden, die ein ganzes Dorf hinwegfegt. Und vielleicht sterben dann zweihundert Unschuldige durch einen Schneeballwurf.«
Jules’ Andeutungen machte Adrien nur neugieriger, aber er kannte seinen Lehrmeister lang genug, um zu wissen, dass es keine weiteren Antworten geben würde.
Der Priester ging weiter. Adrien aber konnte seinen Blick nicht von dem Wandbild lösen. Er wünschte sich, er wäre in diesen Zeiten ein Ritter gewesen. Ein Gefährte der sieben Könige, die sich einst hier in Selinunt treffen wollten, um gegen die Drachen Albenmarks zu kämpfen. Wie es wohl war, durch den Himmel zu reiten, an Bord einer dieser großen Plattformen, die von den Wolkensammlern getragen wurden?
»Michel!« Der Priester war so weit vorgegangen, dass das Fresko fast im Dunkel verschwand. Adrien schüttelte den Kopf, um seine Tagträume zu vergessen. Diese Zeiten waren längst vorbei, und vermutlich war es gesünder, niemals einem Drachen zu begegnen. Er lief der Fackel nach. Jules hatte es plötzlich eilig. Mit weiten Schritten strebte er voran. Die Bilder an den Wänden flössen dahin. Bilder von unglaublicher Pracht und von Schlachten, bei denen marschierende Heere den ganzen Horizont ausfüllten.
Immer wieder gab es Überraschendes zu sehen. Reiter auf fliegenden Pferden. Weiß gewandete Krieger mit silbernen Gesichtern, die auf geflügelten Löwen ritten. Löwen, wie er sie vor Jahren beim Aufstieg in dieses einsame Tal als Statuen gesehen hatte.
Gerne hätte Adrien die Bilder an den Wänden näher betrachtet. Allein ihr flüchtiger Anblick ließ sein Herz schneller schlagen. Doch Jules verschloss sich gegen seine Bitten. Und er hielt die Fackel, den einzigen Lichtquell in dieser vier Jahrtausende alten Dunkelheit. Er entschied, wie lange ein Bild sichtbar blieb.
Plötzlich blieb er stehen. Der Tunnel endete in einem weiten Kuppelsaal. Jules entzündete eine zweite Fackel und reichte sie Adrien. »Dies ist der Ort, von dem ich geträumt habe. Hier wird sich dein Schicksal erfüllen. Hier wollten die Götter die sieben Könige beschenken. Doch nie hatte einer von ihnen diesen Saal betreten. Nun ist es an dir, unter diesen Geschenken zu wählen. Tjured hat mir im Traum gezeigt, dass du hierherkommen musst. Doch wenn du die falsche Wahl triffst, dann droht dir Gefahr.«
Ein großer, runder Tisch stand in der Mitte der Halle. Sieben Schwerter lagen darauf, angeordnet wie die Speichen eines Rades. Sieben wuchtige Stühle mit niedrigen Rückenlehnen standen um den Tisch. Und hinter jedem der Stühle verharrte ein Wächter. Völlig reglos.
Adriens Herz schlug rasend. All die Jahre oben im Tal hatte er davon geträumt, ein Ritter wie in einem Märchen zu sein. Und nun schien er tatsächlich in ein Märchen aus uralten Zeiten hineingeraten zu sein. Zögernd trat er in den Saal. Seine Fackel hielt er wie ein Schwert. Was sollte er den Wächtern sagen? Was...
Er hielt inne. Das waren gar keine Krieger, die ihn dort erwarteten!
Promachos zog den Dolch, den sie unter dem steinernen Sims verborgen hatte, zwischen den Kissen hervor. »Wer hat dich geschickt?«
»Glaubst du wirklich, das würde ich dir einfach so verraten?« Elodia ging auf ihn zu.
Sie lächelte. »Vielleicht wollte ich ihn ja fortwerfen?«
Der Priesterfürst lachte. »Natürlich! Und vielleicht geht morgen früh der Mond statt der Sonne auf. Und was diejenigen angeht, die dich geschickt haben, du wirst mir ihre Namen nennen. Ich glaube nicht nur, dass es so kommen wird. Ich weiß es. Hast du je einer Folter beigewohnt, Danae? Sie zerstören alles an dir, was schön ist. Innerlich wie äußerlich. Viele beginnen schon zu reden, wenn man ihnen ein dünnes Messer unter die Fingernägel treibt. Anderen muss man mit einer Zange ein paar Fingerglieder oder Zehen abtrennen. Bei Frauen reicht oft schon die Drohung, dass sie von einigen der Kerkerwächter vergewaltigt werden. Aber wie ich dich einschätze, wird man sich wohl eher deinen Fingern und Zehen widmen müssen, oder vielleicht deine Nase abschneiden. Oder eines deiner Ohren.«
Sie stand jetzt dicht vor dem Bett. Elodia wusste, dass er mit Waffen umzugehen verstand. Sie würde ihm das Messer nicht einfach entwinden können. Er war stärker als sie. Und ganz gleich, was sie tat, es musste ihn überraschen. Er durfte nicht dazu kommen, zu schreien. Es war aussichtslos. All die Mühen waren vergebens gewesen!
»Hast du noch irgendwelche ergreifenden letzten Worte zu sagen, bevor ich dich ins Reich der Schreie schicke?«
»Stimmt es wirklich, dass ich keine gute Liebhaberin war?«
Er lachte auf. »Das ist es, was dich bewegt?«
»Würde es helfen, wenn ich um Gnade bitte? Wohl kaum. Du magst mich für eine Meuchlerin und Hure halten, aber ganz gleich, was du von mir denkst, ich habe meinen Stolz. Ich hatte in den letzten Monden immer das Gefühl, dass ich eine gute Hure für dich war und deine Lust nicht gespielt war.« Sie ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder und legte eine Hand auf seinen Schenkel.
»Versuchst du etwa, mich zu verführen?« Er berührte mit der Dolchspitze ihre Wange, dicht unter dem Auge. Der kalte Stahl glitt hinab zu ihren Lippen, dann auf ihre Kehle.
»Ich gebe zu, dass eine gewisse Spannung darin lag, mit einer Frau ins Bett zu steigen, von der ich wusste, dass sie mich ermorden wollte. Das gab der Sache einen besonderen Reiz.« Er tippte mit der Dolchspitze auf eine Brustwarze. »Aber kein Reiz ist unendlich. Unsere Wege trennen sich nun.« Er hob den Dolch an.
Elodia warf sich in die Waffe. Der Dolch bohrte sich über der Brust in die Schulter. So war die Waffe gebunden, und sie konnte sicher sein, dass Promachos ihr nicht die Kehle aufschlitzte. Im selben Augenblick versetzte sie ihm mit dem Ellenbogen einen heftigen Schlag gegen den Knorpel in seiner Kehle.
Der Priester sackte nach hinten. Er griff mit beiden Händen nach seinem Hals und brachte keinen Laut hervor. Elodia biss die Zähne zusammen und riss den Dolch aus ihrer Schulter. Bisher war alles fast lautlos geschehen.
Aber ein Schrei oder auch nur ein ungewöhnliches Geräusch würde die Wachen vor der Tür alarmieren.
Mit einem Satz war sie neben Promachos auf dem Bett. Ohne zu zögern, rammte sie ihm den Dolch zwischen seinen Fingern hindurch in die Kehle. Blut spritzte ihr ins Gesicht. Sie bewegte die Waffe mit einem Ruck zur Seite, um ganz sicher zu sein, dass der Schnitt weit und tief war. Dann löste sie die Klinge aus dem Fleisch.
So wie ihre Lehrer Wert darauf gelegt hatten, sie gegen Schmerz und Demütigung zu stählen und sich zu wehren, wenn sie in Gefahr geriet, so hatten sie ihr auch ganz genau beschrieben, auf welche Art der Priesterfürst sterben sollte. Wie ein ausgeweideter Fisch sollte der Mann aussehen, der davon geräumt hatte, zum Herrscher der Meere zu werden.
Sie stieß ihm das Messer dicht unter dem Nabel in den Bauch und führte einen langen Schnitt. Als die Hände, die ihn so viele Monde lang liebkost hatten, in die klaffende Wunde griffen, lebte er noch.
Elodia dachte an ihren Bruder Jean. Er würde ein gutes Leben führen. So lange hatte sie ihm nicht mehr geschrieben. Bald wäre sie wieder in Möns Gabino. Dort würden seine Briefe auf sie warten.
Sie führte ihre Befehle aus. Als Letztes, bevor sie zu ihrer Reise nach Iskendria aufgebrochen war, hatte man sie viele große Fische ausweiden lassen. Das hier war anders, aber nicht so verschieden. Ganz fest dachte sie an das Gesicht ihres Bruders.
Sie wollte diese Bilder hier nicht im Kopf behalten. Sie wollte nicht in ihren Träumen sehen, was sie getan hatte.
Promachos war tot, bevor ihre Arbeit vollendet war. Elodia fühlte sich schwach. Sie riss einen Streifen vom Seidenlaken und presste ihn sich auf die Wunde. Ihr eigenes Blut sickerte nun durch ihre Finger. Ihr wurde schwindelig. Immer noch dachte sie fest an ihren Bruder.
Sie hätte zuerst ihre eigene Wunde versorgen sollen!
Überall auf dem Bett und dem Boden war Blut. Sie vermochte nicht einzuschätzen, wie viel davon ihr eigenes war.
Elodia biss die Zähne zusammen. Dann drückte sie mit den Fingern den Seidenstreifen tief in die Wunde. Sie schob nach. Mehr und mehr. Sie glaubte, dass ihre Zähne jeden Augenblick zersplittern müssten, so fest presste sie sie aufeinander.
Das Bild Jeans entglitt ihrer Vorstellung. Der Schmerz war überwältigend. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Noch bevor sie auf den Boden schlug, umfing sie Dunkelheit.
Rings um den runden Tisch standen Rüstungen auf Ständern. Besonders seltsam fand Adrien die Helme. Sie waren wie Menschenköpfe geformt! Sogar die Haare waren nachmodelliert. In Gold, wie es schien!
»Du solltest dir eine der Rüstungen aussuchen«, sagte Jules hinter ihm.
»Aber ich kann doch nicht einfach etwas nehmen, was mir nicht gehört.«
»Und das Gold, das du in deinen Gruben versteckt hast? Dachtest du, ich wüsste nicht davon, Junge? Diese sieben Rüstungen wurden von den alten Göttern für die Könige der Menschenwelt erschaffen. Doch sie kamen niemals hierher, um sie zu holen. Die Könige sind längst zu Staub zerfallen. Von ihren Göttern sind in der Welt der Menschen nicht einmal die Namen geblieben. Was also fürchtest du?«
Zögerlich ging der Junge zu dem nächsten Rüstungsständer. Alle Rüstungen waren, abgesehen von den Helmen, ganz in Weiß gehalten. Eine Brustplatte aus dickem Leder, in das ein Löwenkopf geprägt war, der fast die gesamte Brust füllte. Darunter steckte etwas, ähnlich einem Hemd, nur dass es aus zähem Leder war. Ein Rock, besetzt mit goldgefassten Lederstreifen, und eine Hose aus Leder, die in hohen Lederstiefeln verschwand.
Das Leder hatte in all den Jahrhunderten nicht gelitten. Es war noch makellos weiß und zeigte keinerlei Risse. Über den Rücken hing ein langer weißer Umhang, der von zwei goldenen Löwenköpfen auf den Schulterstücken der Brustplatte gehalten wurde.
Vorsichtig berührte er den Umhang. Er fühlte sich sehr glatt an. Noch nie hatte er einen solchen Stoff gesehen. Seine Hand glitt über das Leder. Es war weich und warm, so als sei das Untergewand eben erst getragen worden.
Leider war die Löwenrüstung ganz offensichtlich zu groß für ihn. Adrien betrachtete die anderen eindringlich. Jede hatte einen anderen Tierkopf in die Brustplatte geprägt.
Einen Raubvogel, den er nicht kannte. Eine Schlange mit merkwürdig breitem Kopf.
Einen Eber. Sein Blick schweifte über die anderen Brustplatten. Diese Tiere konnte er nicht einmal benennen. Abgesehen von den Brustplatten waren alle Rüstungen gleich.
Und alle waren sie zu groß. Er seufzte und stellte sich vor, wie er, so ganz in Weiß gerüstet, wohl ausgesehen hätte.
»Nun, Junge, worauf wartest du?«
»Ich kann sie nicht tragen! Siehst du es denn nicht? Es ist, als wollte ein Kind die Sachen seines Vaters anziehen. Sie sind nicht für mich geschaffen.«
»Ich finde, das solltest du erst einmal versuchen.«
Ärgerlich fuhr Adrien herum. »Ich sollte das Offensichtliche besser akzeptieren! Oder möchtest du, dass ich mich zum Narren mache?«
Der Priester hob beschwichtigend die Hände. »Du soll test nicht allein deinen Augen trauen, Junge. Hast du in all den Jahren denn nicht gelernt, wie trügerisch der erste Eindruck sein kann? Traut man den Sagen, dann wurden die Rüstungen von Göttern erschaffen! Sie sind von Magie durchdrungen, sonst wären sie schon längst zerfallen. Kein Stück Stoff ist dafür gemacht, Jahrtausende zu überdauern. Wähle die Rüstung aus, zu der dein Herz dich führt, und lege sie an.
Es heißt, sie können zwischen einem Würdigen und einem Dieb unterscheiden. Was hast du schon zu verlieren? Ich verspreche dir feierlich, dass ich weder lachen noch jemals ein Sterbenswort darüber verlieren werde, wenn du lächerlich darin aussiehst.«
Adrien fühlte sich unwohl. »Und was geschieht, wenn ein Dieb so eine Rüstung anlegt?«
Jules zuckte mit den Schultern. »Dazu gibt es verschiedene Überlieferungen. Irgendein Unglück.« Er grinste. »In einer Geschichte heißt es sogar, die Rüstungen würden einen Unwürdigen einfach zerquetschen.«
Adrien schluckte. Das war ein Scherz! Oder? So viele Jahre kannte er den Priester nun schon, und doch war ihm dessen Humor immer fragwürdig geblieben. Er wartete, ob Jules noch etwas sagte. Aber er lächelte nur. Manchmal machte es dem Priester Spaß, seinen Mut auf die Probe zu stellen. Was hatte er für Ängste auf der Flussfahrt ausgestanden, als er hierhergekommen war! Heute war er sich sicher, dass der Schiffer kein Toter gewesen war. Man hatte ihn hereingelegt. Bestimmt war der vermeintliche Bettler auch nicht tot gewesen. Das war Jules merkwürdiger Humor. Und zugleich war es die erste Probe gewesen. Der Priester hatte wissen wollen, wie mutig er war.
Adrien betrachtete die Rüstungen. Dass sie die Zeiten so unbeschadet überstanden hatten, war wirklich merkwürdig. Vielleicht stimmte es ja, und sie waren tatsächlich verzaubert. Noch einmal sah er sie der Reihenfolge nach an. Was hatte er schon zu verlieren!
Sein Blick verharrte auf der Brustplatte mit dem Eberkopf. Der Löwe sah sicherlich eindrucksvoller aus, aber einen Eber hatte er wenigstens schon einmal gesehen. Nicht als Statue oder Bild, sondern in Fleisch und Blut.
Er ging zu der Rüstung. »Hast du mich erwählt?«, flüsterte er. »Bin ich der Richtige für dich? Bin ich würdig?«
Natürlich bekam er keine Antwort.
Adrien zog sich aus. Er hatte Angst, die weiße Rüstung zu beschmutzen. Er nahm den Helm vom Ständer und stellte ihn auf den Tisch. Jetzt erst bemerkte er, dass der Knauf des Schwertes wie ein Eberkopf geformt war.
»Wie es scheint, hat der Eber es dir angetan. Warum hast du ihn gewählt?«
»Weil er mir vertraut erscheint.«
Jules lächelte. »Manchmal bist du überraschend tiefgründig. Soll ich dir helfen?«
Adrien nahm gerne an. Er hatte keine Ahnung, wie man eine Rüstung anlegte. Er wusste nicht einmal, wie er in den Brustpanzer hineinsollte. Jules hingegen schien mit den Rüstungen vertraut zu sein. Er klappte die Schulterstücke zurück. Darunter befanden sich Schnallen.
Mit Hilfe des Priesters streifte der Junge zuerst das Lederhemd über. Es war wie erwartet viel zu weit. Auch die Ärmel waren zu lang.
Nie zuvor hatte Adrien solches Leder berührt. Es war wunderbar weich, aber merkwürdig dick. Das Hemd schien aus zwei Schichten zu bestehen, zwischen denen irgendetwas Bewegliches, Gallertartiges eingenäht war.
»Zum Kampf taugt diese Rüstung wohl eher nicht«, sagte Adrien halb zu sich selbst.
»Warum?«
Das war wohl wieder einer der Anflüge von Jules’ Humor. »Wie sollte dieses Hemd wohl einen Schwerthieb aufhalten, so weich wie es ist?«
»Du fühlst dich unsicher?« Der Priester brummte etwas Unverständliches. »Dreh dich mal ein wenig und heb den Arm hoch. Ich glaube, da muss ich noch etwas verschnüren.«
Kaum hatte er Jules den Rücken zugewandt, traf ihn ein heftiger Schlag unter die Achsel. Die Wucht des Treffers ließ ihn zurücktaumeln.
»Bist du wahnsinnig?« Er wich hinter den Stuhl des Eberritters zurück.
Jules hielt einen der Fackelstöcke in der Hand. »Ich wollte dir nur deine Angst nehmen«, erklärte er mit zuvorkommendstem Lächeln. »Eigentlich hätte dir der Hieb ein bis zwei Rippen brechen müssen, wenn du nur ein Lederhemd angehabt hättest.
Streich einmal über das Hemd, dort, wo ich dich getroffen habe.«
Einen Augenblick war Adrien noch wütend. Dann konnte er sich der Wahrheit der Worte nicht länger widersetzen. Er tastete über das Hemd. Es war unter der Achsel, dort wo er den Hieb abbekommen hatte, hart wie Stein geworden. Doch während er noch darüberstrich, veränderte es sich bereits wieder und wurde geschmeidig. »Was ist das?«
»Ich würde sagen, im Gegensatz zu dem, was die übrigen Ritter der Menschheit tragen, eine überaus bequeme Rüstung. Aber werde nicht leichtfertig. Dieser Zauber, der die Rüstung dort hart werden lässt, wo sie getroffen wird, birgt eine Gefahr.
Erhältst du viele Treffer gleichzeitig, wird deine Beweglichkeit stark beeinträchtigt.
Dann bist du in Bedrängnis. Und begehe nicht den Fehler, dich für unverwundbar zu halten. Du bist nur einfach besser geschützt als andere Krieger. Aber ein Treffer bei einer Naht oder aber durch die Augenöffnungen des Maskenhelms ist gefährlich.«
Das Leder unter seiner Achsel war jetzt wieder ganz geschmeidig. »Man kann es nicht durchschneiden?«, fragte Adrien skeptisch.
»Nicht mit den Schwertern, denen du unter Menschen begegnest. Aber sehr wohl mit diesen hier.« Er deutete auf die Waffen auf dem runden Tisch. »Sei also auf der Hut. Wenn du dein Schwert verlierst, dann wird es dein größter Feind werden. Am besten, du vergisst die Eigenschaften der Rüstung wieder. Und sollte es zu einem Kampf kommen, dann tust du das, was ich dich gelehrt habe. Du wehrst dich einfach so gut, dass du erst gar nicht getroffen wirst.« »Und Elfenschwerter...«
»Ach, Junge. Hab doch ein wenig Vertrauen. Diese Rüstungen wurden für Könige geschaffen, die Krieg gegen die Elfen führten. Natürlich schützt die Rüstung dich vor Elfenwaffen. Aber deine Aussichten, jemals einem Elfen oder auch nur einem Albenkind zu begegnen, sind gelinde gesagt gering.«
Adrien versuchte einen der zu langen Ärmel hochzukrempeln, doch sofort wurde das Leder wieder ganz hart. Was habe ich Tjured nur getan?, dachte er bei sich. Da finde ich die kostbarsten Rüstungen und werde sie nicht tragen können.
Er ließ sich einkleiden. Die Stiefel waren etliche Zoll zu groß. Die Schäfte reichten ihm bis über die Knie. Er würde wie eine Ente herumwatscheln, wenn er mit diesem Schuhwerk laufen wollte.
»Fehlt nur noch der Helm«, sagte Jules.
»Lassen wir es doch. Das führt doch zu nichts.«
»Jetzt habe ich dich so weit eingekleidet, jetzt will ich auch alles sehen. Du kannst sie ja wieder ablegen, wenn du dich unwohl fühlst.«
Unwohl fühlte er sich jetzt schon, aber das mochte er Jules nicht sagen. Er hatte keine Lust, sich einen Vortrag über Mut anzuhören.
Das versilberte Gesicht des Helms ließ sich zur Seite klappen. Es zeigte das Antlitz eines schönen, bartlosen Jünglings. Behutsam setzte Jules ihm den Maskenhelm auf. Er war erstaunlich leicht, aber als der Priester ihn zuklappte und das Scharnier am Hals verschloss, überkam Adrien jähe Panik. Er fühlte sich eingesperrt. Hätte der Helm genau gepasst, wäre es wohl nicht so schlimm gewesen. Aber so lag die Maske eben nicht auf seinem Gesicht auf. Die Nasenlöcher schwebten vor ihm im Dunkel. Ebenso die Augenöffnungen. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Mit beiden Händen packte er den Helm. Aber mit den viel zu weiten Handschuhen vermochte er den Verschluss am Hals nicht zu öffnen.
»Hol mich hier heraus«, röchelte er.
Ein Knirschen lief durch das Metall.
»Verdammt, verhalte dich etwas würdevoller«, fluchte Jules. »Du trägst die Rüstung eines Königs! Du musst nun auch wie ein König sein. Bleib ruhig!«
Das Leder schien lebendig geworden zu sein. Deutlich konnte Adrien fühlen, wie es sich auf seiner Haut bewegte. Und dann, als der Helm enger wurde und ihm die Nase eindrückte, erinnerte er sich wieder daran, was der Priester gesagt hatte. In einer Geschichte heißt es sogar, die Rüstungen würden einen Unwürdigen einfach zerquetschen.
Elodia erwachte von einem dumpfen, pochenden Schmerz in ihrer Schulter. Sie war nackt und über und über mit geronnenem Blut bedeckt. Erschrocken sah sie zum Fenster. Der Himmel war von lichtem Blau. Wie lange war sie ohnmächtig gewesen?
Nur ein paar Augenblicke? Eine halbe Stunde? Promachos musste zum Opferritual, das am Nachmittag bei der Götzenstatue des Baibar abgehalten werden sollte. Wie viel Zeit blieb ihr noch?
Sie versuchte sich aufzurichten. Ihr langes Haar klebte im getrockneten Blut auf dem Boden. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr wieder schwarz vor Augen.
Taumelnd schaffte sie es zum Wasserbecken. Sie musste sich waschen. Wenigstens ihre Hände und ihr Gesicht. So konnte sie nicht fliehen.
»Jean«, flüsterte sie, als sie auf das Blut im Wasser blickte. Sie dachte fest an sein Gesicht. Sie musste es schaffen, hier herauszukommen! Nur dann würde Jean in Frieden leben. Sie durfte nicht gefasst werden. Sie war sich sicher, dass Promachos nicht gelogen hatte, was die Künste der Folterknechte anging.
Wieder blickte sie hinaus zum Himmel. Wie viel Zeit blieb ihr noch?
Sie ging zum Bett. Wieder drohte die Ohnmacht sie zu übermannen. Sie musste sich auf das blutige Laken setzen, um nicht zu stürzen. Reiß dich zusammen!, dachte sie wütend. Du kannst es schaffen.
Sie schnitt Streifen aus dem Laken, dort wo es noch blütenweiß war. Dann legte sie die Tücher über den blutigen Seidenwulst, der wie eine exotische Blüte aus ihrer Schulter wucherte. Als sie den Arm hob, um den Verband darunter durchzuziehen, stöhnte sie auf. Wenn sie noch einmal ohnmächtig wurde, dann wäre das ihr Tod. Bald würden sich die Wachen draußen fragen, warum Promachos noch nicht auf dem Weg zum Opferritual war. Sie würden nach ihm rufen, und wenn er nicht antwortete, dann würden sie irgendwann hereinkommen. Die Wachen würden einen Weg finden, sie aus ihrer Ohnmacht zu reißen.
Sie sollte so etwas nicht denken! Denk allein an Jean! Ob er schon zum ersten Mal ein Mädchen geküsst hatte? Sie nahm einen Zipfel des Stoffstreifens zwischen die Zähne und zog den Verband straff. Wieder drohte der Schmerz sie zu überwältigen.
In aller Eile wählte sie ein Kleid aus. Eines, das geknöpft wurde und das sie nicht über den Kopf ziehen musste. Dann warf sie sich einen dünnen, dunklen Kapuzenumhang über. Sie nahm ein wenig Schmuck aus dem Kästchen auf ihrem Schminktisch und den dicken Knotenstock aus goldenem Olivenholz, mit dem Promachos ungeschickte Diener verprügelt hatte. Ohne den Stock würde sie nicht weit kommen.
Sie trat an den großen Wandteppich. Der Priesterfürst hatte gelogen, als er behauptet hatte, sie nie geliebt zu haben. Er hatte ihr die geheimen Gänge im Tempelpalast gezeigt. Auf diesen Wegen war er während der ersten Wochen zu ihr gekommen, die sie im Tempel verbracht hatte. So hatte er sie an Wachen und den allzu neugierigen Augen anderer hoher Würdenträger vorbei in seine Gemächer geholt. Bis zu jenem Tag, an dem er sich ganz offen zu ihr bekannt und alle Heimlichkeit ein Ende gehabt hatte.
Sie hob den schweren Teppich und drückte mit dem Fuß gegen die mit Lilienreliefs verzierte Bodenleiste. Man musste die richtige Blüte treffen. Beim dritten Versuch fand sie sie. Lautlos glitt die Geheimtür auf. Elodia trat in den engen Gang. Sorgsam schloss sie die Türe wieder. Die einfachen Wachen kannten den Geheimgang nicht. So gewann sie Zeit für ihre Flucht.
Schwer auf den Olivenstock gestützt, schleppte sie sich voran. Sie zählte ihre Schritte, um in dem Labyrinth sich kreuzender Gänge nicht die Orientierung zu verlieren.
Selbst durch die dicken Mauern hörte sie den hellen Klang der Zimbeln. Jetzt wurde die Königin dieses Tages zur großen Sänfte geführt. Das war der zynische Name, den sie den Mädchen gaben, die Baibar geopfert wurden. Für einen Tag waren sie Königinnen von Iskendria. Sicher klopften die Wachen jetzt an Promachos’ Tür.
Die stickige Hitze im Labyrinth setzte ihr zu. Immer wieder musste sie kurz innehalten, um neue Kräfte zu schöpfen. Endlich drückte sie sich durch die geheime Tür in der Sänftenkammer. Wie sie erwartet hatte, war hier niemand mehr. Die Sänften waren längst in den Innen hof des Palastes gebracht worden. Sie verließ die Kammer durch eine Seitentür und mischte sich unter die Schaulustigen, die auf die Königin dieses Tages warteten.
Auf den Treppen zum Palast standen die Tempelwachen. Prächtige Krieger mit bronzenen Brustpanzern und Helmen, von denen schwarze Federbüsche wippten. Sie hielten ihre Speere gen Boden gerichtet, ein heuchlerisches Zeichen der Trauer über das Schicksal, das die Königin dieses Tages erwartete. Die großen Rundschilde, auf die sie die bärtige Fratze des Stadtgottes Baibar gemalt hatten, hatten sie auf den Boden gestützt und hielten sie mit der Linken. Breitbeinig standen sie auf der Treppe. Jeder einzelne ein prächtig anzuschauendes Mahnmal für ihren baldigen Tod, wenn sie noch länger verweilte.
Sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht. Sich durch die Reihen der Schaulustigen zu drängen, war eine einzige Folter. So gebeugt, wie sie ging, hielt man sie wahrscheinlich für eine alte Frau. Die meisten behandelten sie rücksichtsvoll, aber es war einfach unmöglich, durch die Heerscharen der Gaffer zu kommen, ohne angerempelt zu werden. Jeder Stoß ließ sie aufstöhnen. Sie hatte Angst, dass die Wunde wieder zu bluten anfangen würde.
Endlich erreichte sie eine der Straßen zum Hafen. Als sie den Kai mit den Handelsschiffen von den Aegilischen Inseln sehen konnte, wurde ihr schwarz vor Augen. Die Beine knickten einfach unter ihr weg. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie schaffte es zwar, gegen die Ohnmacht anzukämpfen, aber sie kam nicht mehr hoch.
Besorgt blickte sie die Straße hinauf. Wann würde der Mob beginnen, die Straßen nach der Mörderin des Priesterfürsten Promachos abzusuchen?
Ein junger Mann blieb vor ihr stehen. Er musterte sie. Unwillkürlich drückte sie die Linke, in der sie den gestohlenen Schmuck hielt, fester gegen die Brust.
»Geht es dir nicht gut?«
»Die Hitze«, murmelte sie. »Mir ist ein wenig übel.« Der Kerl hatte ein breites Kreuz. Vielleicht war er einer der Schauerleute, die halfen, die Schiffe zu entladen. »Wenn du mich zum Kai dort vorne trägst, dann soll es dein Schaden nicht sein.«
Er sah sie an wie ein Weib, das auf dem Fischmarkt die frischen Heringe von denen des Vortags zu unterscheiden suchte. Ihre Kleider waren schlicht, doch aus teurem Stoff.
Endlich nickte er. »Wohin soll es denn gehen?«
»Zu den aegilischen Galeeren. Trag mich an ihnen vorbei. Ich werde dir zeigen, auf welches Schiff ich gehöre.«
Er beugte sich vor, um sie aufzuheben. Dabei sah er ihr Gesicht. Leise pfiff er zwischen den Zähnen. »Das ist das erste Mal, dass mir ein hübsches Mädchen Lohn dafür ver-spricht, dass ich es in den Armen halte.«
»Hoffe nicht auf einen Kuss«, zischte sie und zog die Kapuze noch weiter hinab.
Als er sie auf die Arme nahm, entfuhr ihr ein Schmerzenslaut.
»Soll ich dich nicht lieber zu einem Heiler bringen?« Seine Stimme klang aufrichtig besorgt.
»Man erwartet mich bei den Schiffen. Dort werde ich versorgt werden«, antwortete sie auf Valethisch mit unverkennbar aegilischem Akzent. Sie war sich sicher, dass man ihren Helfer über die Frau befragen würde, die er getragen hatte. Je mehr Spuren zu den Pirateninseln wiesen, desto besser.
Der Schauermann stellte keine weiteren Fragen mehr. Er trug sie an den vertäuten Galeeren vorbei. Elodia hielt Ausschau nach einem der schlanken, schnellen Schiffe, die sich auf den Handel mit Luxusgütern spezialisiert hatten. Pelze und Bernstein aus dem fernen Drusna, feines Fargoner Leinen, Weihrauch, teure Weine und andere, exotische Waren, die an die Tempel und reichsten Kaufherren geliefert wurden.
Endlich, fast am Ende des langen Kais, sah sie ein Schiff, das sich offensichtlich zum Auslaufen bereitmachte.
»Dorthin«, stieß sie hervor. »Setz mich vor der Laufplanke ab. Den Weg hinauf schaffe ich allein.«
»Das glaube ich nicht, Herrin«, entgegnete er entschieden, und noch bevor sie etwas einwenden konnte, brachte er sie an Bord.
Sofort umringten sie einige der Ruderer. Es bedurfte keiner Worte; ihr Träger begriff auch so, dass man sie auf diesem Schiff noch nie gesehen hatte. Er setzte sie auf einer Kiste ab und baute sich schützend vor ihr auf.
»Ich brauche eine Überfahrt nach Zeola«, sagte sie leise und legte einen Smaragdohrring neben sich auf die Kiste.
»Wer bist du?«
»Eine Frau mit Geld und einflussreichen Freunden.« Sie zog ihre Kapuze ein wenig zurück, achtete aber darauf, dass man ihr blutverklebtes Haar nicht sehen konnte. Ihr Anblick verfehlte seine Wirkung nicht. Der Widerstand der Ruderer schmolz dahin, bis ein hochgewachsener Mann mit grauem Lockenhaar zwischen ihnen auftauchte.
»Edelfrauen gehören nicht zu unserer Fracht, edle Dame. Wir können dir keine Unterkunft bieten, die deinem Stand angemessen wäre.«
Sie strich über die Kiste, deren Siegel sie erkannt hatte. Ihre Hand zitterte vor Schwäche. »Ich bin mit Sicherheit weniger zerbrechlich als die feinen Flakons aus blauem Bergkristall, die du übers Meer bringen sollst. Ich kann hier an Deck schlafen.«
Der Grauhaarige nahm den Smaragdohrring und hielt ihn prüfend gegen das helle Sonnenlicht.
»Makellose Steine. Wenn wir in weniger als einer halben Stunde auslaufen, bekommst du den Zwilling zu diesem Ohrring. Und nun sag mir deinen Namen!«
Der Grauhaarige sah sie misstrauisch an.
»Das ist Kapitän Eurestes«, sagte einer der Ruderer voreilig.
Elodia schenkte ihm ein Lächeln. Dann wandte sie sich an den Schauermann, der sie hergebracht hatte. »Wenn in einem Mond ein Schiff mit purpurnen Segeln in den Hafen einläuft, dann sucht mein Geliebter nach mir. Eile zu ihm, sobald es anlegt. Und sag ihm, ich sei mit Eurestes gesegelt.« Mit diesen Worten reichte sie ihm einen kleinen Goldring.
»Du solltest nicht dieses Schiff nehmen«, flüsterte ihr Helfer besorgt.
Elodia konnte im Gesicht des Kapitäns lesen, dass er genau wusste, wem die Schiffe mit den Purpursegeln gehörten. »Mach dir keine Sorgen um mich. Eurestes weiß, wohin ich gehöre. Ich bin auf seiner Galeere so sicher wie die Kristallflakons in dieser Kiste.« Sie bedachte den Kapitän mit einem Lächeln. Eurestes musste befürchten, dass sie die Geliebte eines Piratenfürsten war, und auch wenn er sie ansah, als hätte sie die Pest an Bord gebracht, würde er sich ein Bein ausreißen, um auf der Überfahrt jeden ihrer Wünsche zu erfüllen.
»Ich brauche jetzt den stärksten Branntwein, den du an Bord hast. Dazu Nadel und Faden. Und bitte nicht das Zeug, mit dem ihr die Segel flickt. Außerdem wäre es schön, wenn du mich an einen Platz bringen könntest, an dem mich nicht deine ganze Mannschaft angafft.«
Der Helm drückte Adrien immer schmerzhafter auf die Nase. Bald würde sie brechen!
Er tastete nach dem Verschluss am Hals. Die Handschuhe lagen jetzt straff wie eine zweite Haut über seinen Fingern. Endlich konnte er den Verschlusshaken ertasten.
»Warte noch etwas«, sagte Jules mit ruhiger Stimme und griff nach Adriens Hand.
»Warte.«
Der Helm verrutschte. Der Druck ließ nach. Kalt lag das uralte Metall auf seinem Gesicht auf. Es hatte aufgehört! Die Rüstung, deren Leder eben noch wie etwas Lebendiges über seine Haut gestrichen war, lag still.
»Ich glaube, du bist erwählt«, sagte Jules, und Stolz lag in seiner Stimme. »Viertausend Jahre hat die Rüstung darauf gewartet, dass ein Mensch sie anlegt. Du weißt, sie wurde für einen König erschaffen. Und nun bist du ihr Auserwählter geworden, junger Michel.«
Zögerlich streckte Adrien die Arme aus. Das Leder beengte ihn nicht. Im Gegenteil, es schien sich bei manchen Bewegungen zu weiten. Sie war völlig anders als jede Rüstung, von der er je gehört hatte. Als habe ihn etwas Lebendiges in sich eingeschlossen.
»Darf ich den Helm jetzt abnehmen?« Seine Stimme dröhnte im Helm, obwohl die metallenen Lippen auf seinen eigenen auflagen und er durch einen schmalen Schlitz sprach.
»Natürlich, Junge.« Jules half ihm. Der Priester öffnete den Verschluss und klappte das silberne Gesicht zur Seite.
Adrien atmete tief ein. Er würde einige Zeit brauchen, um sich an die Rüstung zu gewöhnen. Skeptisch blickte er an sich herab. Der lederne Brustpanzer überzeichnete die Muskeln, die er tatsächlich hatte. Trotz der Rüstung hatte er eine schmale Taille.
Der Umhang gefiel ihm ... Er wünschte sich, er würde an einem stillen See stehen, um sein Spiegelbild zu betrachten.
»Sehe ich gut aus?«
»Nein«, sagte Jules schroff.
Adrien sah überrascht auf. »Aber ...«
»Du siehst nicht gut aus, du siehst sehr gut aus, Dummkopf! Was denkst du denn?
Diese Rüstung wurde von Göttern für einen König erschaffen. Natürlich siehst du gut aus!«
Plötzlich kam Adrien ein neuer, beunruhigender Gedanke. »Und Tjured? Ich soll sein erster Ritter sein. Was wird er denken, wenn ich eine Rüstung trage, die von heidnischen Göttern geschaffen wurde?«
Der Priester griff sich mit der Hand an die Stirn. »Du hast Sorgen! Glaubst du, Gott hätte zugelassen, dass du diese Rüstung findest, wenn er es nicht gewollt hätte? Gut, als du sie angelegt hast, da war ein gefährlicher Augenblick ... Es hätte ja eine Prüfung sein können, ob du der Versuchung widerstehst. Dann hätte er wohl dafür gesorgt, dass dich die Rüstung tötet. Aber es ist ja alles gutgegangen. Also muss es Tjureds Wille sein, dass du ihm in dieser Rüstung als sein Ritter dienst.«
»Du hattest solche Gedanken und hast einfach zugesehen, wie ich die Rüstung anlege?«
Der Priester hielt seinem Blick stand. »Ich konnte mir nicht leisten, dass du Angst vor der Rüstung bekommst«, sagte er sehr ruhig. »Ich musste die Gefahr eingehen.«
Adrien ballte die Hände zu Fäusten. Was hieß hier Gefahr eingehen! Er war die Gefahr eingegangen, von der Rüstung getötet zu werden! Jules hatte einfach nur zugesehen.
Der Junge musste an die Gräber denken, die er all die Jahre gepflegt hatte. Die beiden Schüler, die vor ihm gekommen waren und nicht überlebt hatten. Das war Jules’
dunkle Seite. Mit allem, was er tat, verfolgte er ein geheimes Ziel, das Adrien auch nach sieben Jahren als sein Schüler rätselhaft geblieben war.
»Ich glaube, deine Lehrjahre bei mir enden heute«, sagte Jules.
Diese Ankündigung traf Adrien völlig überraschend. Es war ein Gefühl, als werde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Sieben Jahre lang hatte sein Leben aus Laufen, Graben, Kämpfen und Unterricht in Lesen und Schreiben sowie Rhetorik und Kirchengeschichte bestanden. Sein Leben war völlig geordnet. Und jetzt wurde ihm all das mit einem einzigen Satz abgenommen. »Ich ... Ich weiß nicht...«, stammelte er fassungslos.
»Keine Sorge, ich zürne dir nicht. Es ist ganz offensichtlich Tjureds Wille, dass du in die Welt hinausziehst. Er hat dich hierhergeführt und damit entschieden, dass du so weit bist. Ich hätte dich noch nicht gehen lassen. Aber wer bin ich, mich gegen den Schiedsspruch Gottes aufzulehnen. Ich habe noch ein Geschenk für dich. Oben in unserer Hütte ... Du solltest am besten heute noch gehen. Es hinauszuzögern, macht es nicht besser.«
»Aber ich bin noch nicht bereit!«, begehrte Adrien auf. »Es gibt so vieles, was ich noch nicht weiß!«
Jules lächelte. »Das wird immer so sein. Auch wenn du hundert Jahre alt wirst. Von nun an wird das Leben dein Lehrmeister sein. Meine Zeit mit dir ist um.« Er streckte ihm die Hand hin. »Komm mit mir, Priesterritter. Von nun an gibt es keinen Lehrer und keinen Schüler mehr. Geh hinaus in die Welt und mache Tjured Ehre. Du hast das Zeug dazu.«
Adrien ergriff die Hand. Er war stolz. Aber immer noch zutiefst verunsichert. Ein Teil von ihm wünschte sich, er hätte dieses Schatzgewölbe mit den Rüstungen niemals gefunden.
Jules ging zum Tunnel zurück. »Was willst du tun, nun, da dir die ganze Welt offensteht? Mit welcher Heldentat wirst du dein Wirken als Ritter Gottes beginnen?
Mit dieser Rüstung und dem Schwert kannst du fast alles erreichen, wenn du dich klug anstel st. Hast du das Schwert?«
Die Waffe lag noch auf dem Tisch. Es war so viel geschehen, dass er gar nicht daran gedacht hatte, das Schwert mit dem Eberknauf zu nehmen, obwohl er sich die Schwertscheide umgegürtet hatte, als er die Rüstung angelegt hatte. Entschlossen nahm er das Schwert an sich. Es war erstaunlich leicht. Eine doppelte Blutrinne nahm der Waffe einiges an Gewicht. Bei dem Schwert schien es, als sei es von Anfang an für ihn geschmiedet gewesen. Die Größe veränderte sich nicht, und doch lag die Waffe perfekt in seiner Hand und war wunderbar ausgewogen. Er machte ein paar schnelle Schläge. Zischend zerschnitt die Klinge die Luft. In kunstvollen Figuren ließ er das Schwert wirbeln. Es war eine Freude, diese Waffe zu führen! Mit einer letzten eleganten Bewegung schob er es in die Scheide. Kaum war die Klinge im weißen Leder verschwunden, ertönte tief im Tunnel ein Geräusch, als bewegten sich uralte, verrostete Türangeln.
Jules war sichtlich unruhig. »Komm!«, rief er ihm zu und winkte hastig, um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen.
»Was war das?«
»Keine Ahnung. Und ich möchte es auch gar nicht herausfinden!«
Der Priester begann zu laufen. Seine Fackel war fast heruntergebrannt. Adrien hatte seine auf dem Boden neben dem Rüstungsständer liegen lassen. Im zitternden Licht der kleiner werdenden Flamme sahen die Figuren auf den Wänden viel lebendiger aus als auf dem Hinweg.
Vor ihnen im Tunnel ertönten noch immer Geräusche. Sie klangen jetzt anders. Wie Schläge eines großen Hammers mit Eisenkopf, die auf Fels treffen. Sie erklangen ganz regelmäßig. Und sie kamen näher!
Endlich erreichten sie die Stelle, an der das Seil hinabhing. Klares Mittagslicht stach hier in den Tunnel hinab. Die Bilder an den Wänden waren verblasst, als habe das Sonnenlicht ihre Farbe getrunken.
Erleichtert streckte Adrien die Hand nach dem Seil. Da ertönte ein letztes Stampfen.
Eine gewaltige Gestalt aus Gold und Silber trat aus dem Zwielicht des Tunnels. Ein silberner Löwe mit einer Mähne aus Gold, dem weite, goldene Schwingen aus dem Rücken wuchsen. Der Löwe war mehr als drei Schritt hoch.
Seine Augen funkelten in strahlendem Blau. Er sah auf sie herab. Sein metallenes Gesicht wirkte edel. Es war nicht die Fratze eines angriffslustigen Raubtiers. Dennoch legte Adrien die Hand auf den Eberknauf seines Schwertes.
»Wenn du gegen ihn eine Waffe ziehst, bist du binnen eines Herzschlags tot«, sagte Jules leise. Dann trat der Priester unmittelbar vor den Löwen. Er sprach ihn in einer Sprache an, wie Adrien sie noch nie gehört hatte. Jules aber ging sie so glatt von der Zunge, als sei es seine Muttersprache. Seine Worte waren beherzt und selbstbewusst.
Und dann antwortete die Bestie! Das Monstrum aus Metall konnte sprechen! Seine Stimme wurde von einem merkwürdigen Klicken und Surren begleitet. Sie sprach langsam und behäbig.
Adrien dachte, wie viel größer die Macht des Bücherwissens doch war. Mit dem Schwert hätte er dieses metallene Ungeheuer gewiss nicht bezwungen.
»Er wird uns helfen, durch das Loch in der Decke zu steigen«, sagte Jules.
»Was? Er hilft uns? Was ist das für ein Geschöpf?«
»Noch ein Geschenk der alten Götter an die sieben Könige. Er hält dich für einen König, weil du diese Rüstung trägst. Er wollte das Loch vergrößern, um mit dir in den Himmel zu reiten. Ihr Verstand besteht aus Zahnrädern und Magie. Sie sind mit dem Denken manchmal etwas langsam.«
Adrien vermochte sich ein Rad mit Zähnen nicht vorzustellen. Dann dachte er, wie es wohl wäre, ein solches Reittier zu haben ... »Du hättest ihm ruhig sagen können, dass ich ein König bin. So ein Reittier wäre doch wunderbar!«
»Es wäre dein Tod, du Narr. Es würde die Welt der Menschen in Unordnung bringen und sehr bald die Aufmerksamkeit der Elfen erwecken. Sie haben gewiss nicht vergessen, dass die geflügelten Löwen erschaffen wurden, um ihnen den Himmel streitig zu machen und die Wolkensammler zu schützen. Wenn ein solcher Löwe erscheint, dann werden sie nicht ruhen, bis er und sein Reiter vernichtet sind. Von einem glorreichen Ritter, der zum Ruhme
der Tjuredkirche kämpft und unbesiegbar erscheint, werden sie hingegen kaum Notiz nehmen. Bescheidenheit ist mehr als nur eine Tugend, Adrien. In diesem Fall rettet sie dir dein Leben.«
»Wenn du es sagst, Meister«, entgegnete er zerknirscht und malte sich doch in Gedanken aus, wie es sein würde, auf einem fliegenden Löwen zu reiten und damit mitten auf dem Heumarkt von Nantour zu landen.
»Komm!« Jules war halb um den Löwen herumgegangen. Das metallene Ungeheuer war gesattelt. Der Priester setzte seinen Fuß auf die unterste Sprosse einer kleinen Leiter. Um ihn wie ein Pferd nur über einen Steigbügel zu besteigen, war der Löwe entschieden zu groß.
Bewundernd sah sich Adrien die Flügel an. Jede einzelne Feder war für sich allein gearbeitet und in die Flügel eingesetzt. Wie viele Goldschmiede an diesem absonder-lichen Geschöpf wohl gearbeitet hatten? Oder vermochten die alten Götter solch eine Kreatur kraft eines einzigen Gedankens zu erschaffen?
Adrien entdeckte einige Beulen und tiefe Schrammen in der Flanke des Löwen. »War er in der Schlacht? Hat er gegen Elfen und Drachen gekämpft?«
Jules war indessen hoch auf den Sattel gestiegen. Von dort konnte man mit ausgestreckten Armen nach dem Stiel der Spitzhacke greifen und sich nach draußen ziehen. Der Priester blickte zu ihm hinab und lächelte in mildem Tadel. »Natürlich hat er gekämpft. Er und all seine Brüder und Schwestern. Was glaubst du, warum sich die Elfen nach all den Jahrtausenden noch an die geflügelten Löwen erinnern? Sie haben ihnen schwer zugesetzt!«
Während Adrien die kleine Leiter erklomm, versuchte er sich vorzustellen, wie man einen Kampf im Himmel führte.
Jules war schon durch das Loch gestiegen. Er räumte die Hacke zur Seite und streckte ihm die Hand entgegen. Adrien staunte immer wieder, wie stark der Priester war.
Sein Meister zog ihn scheinbar ohne Mühe zu sich herauf.
Der Junge blickte durch das Loch zurück zum Löwen. »Ist er nicht einsam dort unten?«
»Nein. Solche Gefühle kennt er nicht. Und er ist nicht der Einzige.«
»Es gibt noch mehr von ihnen?«
»Ja«, entgegnete der Priester in dem Tonfall, den er jedes Mal anschlug, wenn für ihn ein Gespräch beendet war. »Ihr Tag ist noch nicht gekommen. Sie werden warten, bis die Elfen schwach sind. Dann werden sie das Werk vollenden, das sie zu Zeiten der alten Götter begonnen haben. Zeit hat für sie keine Bedeutung. Ein Jahrhundert ist für sie wie ein Tag. Sie sind für die Ewigkeit geschaffen.«
Adrien winkte dem Löwen zu. »Lebe wohl«, sagte er leise. Was für Schätze das Tal wohl noch verbarg? So viele Jahre hatte er hier gelebt, und er wusste gar nichts.
Jules stieg zwischen den Schutthügeln vergangener Grabungen zu seiner Hütte hinauf.
Er blickte nicht ein einziges Mal zurück.
Der Junge achtete darauf, den Pfützen aus dem Weg zu gehen. Er machte sich Sorgen, seine prächtige weiße Lederrüstung zu beschmutzen. Wie lange sie wohl ihren Glanz behalten würde? Weiße Rüstungen zu tragen, konnten sich wahrlich nur Fürsten und Könige leisten, die über etliche Diener verfügten, die die ganze Nacht arbeiteten, damit ihre Herren am nächsten Tag wieder in strahlendem Weiß in die Schlacht ziehen konnten.
Der Priester war nur kurz in die Hütte getreten. Als er wieder herauskam, trug er einen weißen Schild, auf den in Schwarz ein verdorrter Baum gemalt war. »Du bist der erste Ritter des Ordens vom Aschenbaum, Michel Sarti. Oft haben wir darüber gesprochen, wie ein Ritterorden beschaffen sein müsste, um dem Ruhm der Tjuredkirche zu dienen. Dies sei mein letztes Geschenk an dich, Ritterbruder. Trage den Schild mit Würde und mache mir Ehre. Es ist nun ganz deine Aufgabe, den Orden erstehen zu lassen, von dem wir nur träumten.
Kein alter Mann wird dir mehr hereinreden. Ich vertraue dir. Ich weiß, du wirst deine Sache gut machen.«
Adrien steckte vor Rührung ein Kloß im Hals. Er brachte kein Wort hervor.
»Ich bin nicht gut im Abschiednehmen«, sagte Jules. Seine Mundwinkel zuckten. »Es wird hier einsam werden ohne dich.«
»Ich komme dich besuchen«, brachte Adrien hervor.
»Ich glaube, die Welt wird dich nicht mehr loslassen, wenn du erst einmal dort draußen bist. Aber ich weiß, dass dein Versprechen aufrichtig gemeint war.« Er reichte ihm einen Brotbeutel und eine Wasserflasche. »Erinnerst du dich an die Stel e, an der wir im letzten Sommer das Reh erlegt haben? Dort ganz in der Nähe verläuft ein Wild-pfad, der dich hinab zum Fluss bringen wird. Wenn du diesen Weg wählst, wirst du noch vor Einbruch der Nacht das Wasser erreichen.«
Adrien nickte. »Wie werde ich von dort weiterkommen? Wohin soll ich gehen?«
Jules lächelte, und feine Fältchen erschienen in seinen Augenwinkeln. »Gottvertrauen ist die stärkste Waffe eines Ordensritters. Von nun an wird Tjured dein Gefährte sein.
Glaube einfach an ihn, und du wirst nicht enttäuscht werden. Er wird gut auf dich achten, denn du bist sein einziger Ritter. Nun lebe wohl, Ritterbruder Michel Sarti. Ich werde jetzt in die Hütte gehen. Ich möchte nicht, dass das letzte Bild, das du von mir in deinem Herzen trägst, das eines rührseligen alten Mannes ist.«
Jules nahm ihn in die Arme, drückte ihn fest an sich und klopfte ihm mit der flachen Hand auf den Rücken. »Du wirst dich gut schlagen, mein Junge. Ich weiß das.«
Abrupt löste er sich. Dann trat er in ihre Hütte und schloss die Tür. Adrien hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde. Eine Weile blieb der Junge stehen und starrte verständnislos auf die Tür. Jules würde ihm für immer ein Rätsel bleiben!
Schweren Herzens machte Adrien sich schließlich auf den Weg. Dabei wünschte er sich, er hätte den Einstieg zu der Schatzkammer nicht gefunden und würde nun mit Jules in der Hütte sitzen und über Philosophie streiten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte er sich einsam.
Jules lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und atmete schwer aus. Endlich war er gegangen! Es hatte ihm etwas ausgemacht! Er war zutiefst verblüfft über die Gefühle, die er empfand. Der Junge war ihm in all den Jahren zu nahe gekommen. Sein Sohn ...
Er hatte Dutzende wie ihn gezeugt, dachte er ärgerlich. Aber diesen einen hatte er zu sich geholt. Und er war ein guter Schüler gewesen, für einen Menschen.
Vielleicht lag es auch daran, noch einmal dort unten im Saal der Könige gewesen zu sein. Und die Bilder an der Wand des Tunnels gesehen zu haben. Bilder aus einer Zeit, in der er nicht der einzige seiner Art gewesen war.
Vielleicht war es auch der Augenblick gewesen, in dem der Junge die Rüstung gewählt hatte. Seine Rüstung, die er einst erschaffen hatte! War es Zufall, dass sein Sohn ausgerechnet die Eberrüstung gewählt hatte? Oder hatte er etwas gespürt, was sich nicht in Worte fassen ließ.
Jules schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Jungen, bis dessen Bild in seinem Geiste erstand. Er sah ihn mit gesenktem Kopf zwischen den Schutthügeln bergab gehen. Er war nicht reif für die Welt. Es war vor schnell gewesen, ihn zu der Rüstung zu führen und dann fortzuschicken. Adrien hatte ja keine Ahnung, was ihn außerhalb der Berge erwartete. Als Bettlerjunge hatte er sich gut durchschlagen können. Aber wie lange würde er als Ritter bestehen? Und wie lange würde es dauern, bis Cabezan von ihm hörte? Die Rüstung wäre eine Versuchung für den alten König. Jules wusste genau, dass Cabezan nichts unversucht lassen würde, um sie an sich zu bringen, wenn er erfuhr, wie anders sie war. Dass ihr Träger schier unverwundbar war.
Wäre Adrien dem alten König gewachsen? Jules fluchte leise. Er würde nicht noch einen Sohn an den König verlieren! Natürlich könnte er einfach in Cabezans Palast gehen und den verdammten Alten töten. Aber das war kein gutes Ende. Er wollte nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Dazu hatte er Adrien auserwählt. Der Junge sollte zur Kirchenlegende werden. Aber dazu musste er überleben.
Zögernd öffnete er die Tür der Hütte. Er wollte in der Nähe seines Sohnes bleiben.
Aber Adrien durfte nichts davon merken. Das wäre schlecht für ihn. Er musste auf eigenen Füßen stehen!
Eigentlich hatte Jules daran gedacht, wieder zu wandern wie in den Jahren, bevor er Adrien zu sich genommen hatte. Das Leben als wandernder Tjuredpriester hatte ihm Freude bereitet. Die Arglosigkeit der Menschen. Die Winkelzüge, mit denen er die Tjuredkirche formte.
Diese Freude musste warten. Er kauerte sich nieder. Nur einen Gedanken später hatte er die Gestalt eines Adlers angenommen.
Mit kräftigen Flügelschlägen erhob er sich in den Himmel. Bald sah er den Jungen. Er sollte ihn mit anderen Augen betrachten. Er war längst kein Kind oder Jüngling mehr.
Er war zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen. Die Jahre der Mühen hatten sich bezahlt gemacht. Adrien war gut gewachsen und muskulös. Er würde ein prächtiger Ritter sein. Auch wenn er einem guten Schwertkämpfer aus dem Volk der Elfen wahrscheinlich nicht gewachsen wäre, gab es mit Sicherheit nur wenig Menschen, die mit der Klinge gegen ihn bestehen würden.
Als Adler war er ihm nicht nahe genug. Aber er könnte... Statt eines Lachens entsprang seiner Kehle der helle, herausfordernde Schrei eines Adlers. Adrien blickte zu ihm auf.
Der Junge winkte ihm. Der kleine Narr. Er würde sich von jedem Maulwurf verabschieden, dem er hier begegnet war.
Mit kräftigen Flügelschlägen stieg Jules weiter in den Himmel hinauf. Er musste nicht als Wanderprediger umherziehen, um seinen Spaß zu haben.
Als er den Fluss erreichte, landete er dort, wo Adrien in ein paar Stunden erscheinen würde. Er brauchte eine Weile, um sich auf die Gestalt zu besinnen, die er annehmen wollte. Es war sehr lange her, dass er sie das letzte Mal gewählt hatte.
Schließlich verwandelte er sich in einen Schimmel. In ein prächtiges Schlachtross.
Aufgezäumt für einen Ritter mit einem schweren Kriegssattel.
Jules lief am Ufer auf und ab, um sich an den unvertrauten Körper wieder zu gewöhnen. Schließlich warf er den Kopf in den Nacken und stieß ein wildes, herausforderndes Wiehern aus. Er würde Spaß haben, schwor er sich. Und dennoch würde er seine Pläne vorantreiben. Die Ritter würden die Speerspitze der Tjuredkirche sein. Sie würden helfen, den Tjuredglauben schneller zu verbreiten. Und letztlich würde dieser Speer Albenmark den Todesstoß versetzen!
Er würde nicht lange ein Pferd sein. Wenn der Junge zurechtkam, würde er ihm ein anders Pferd besorgen. In ein paar Wochen wäre er so weit.
Er versteckte sich zwischen den jungen Birken am Ufer und wartete. Es dauerte lange, bis Adrien kam. Man konnte ihm schon von weitem seine Niedergeschlagenheit ansehen. Mit müdem Schritt und hängendem Kopf kam er den Bergpfad hinab. Einen schönen Ritter gab er ab. So würde er nicht zum Helden von Legenden werden!
Als Adrien ihn sah, blieb er verblüfft stehen. Dann streckte er vorsichtig eine Hand vor.
»Nicht fortlaufen, mein Schöner. Ganz stil . Du musst keine Angst vor mir haben.
Ruhig.«
Ich steh hier schon seit Stunden und warte auf dich. Du brauchst dich nicht wie ein Idiot aufzuführen. Ich werde nicht fortlaufen!
Adrien starrte ihn mit schreckensweiten Augen an. Dann wich er zurück. »Geh aus meinem Kopf!«
Das werde ich nicht tun. Wie sol te ich sonst mit dir reden!
»Es gibt keine Pferde, die reden!« Der Junge wich weiter zurück, stolperte über einen morschen Baumstamm und stürzte ins Gras.
Sol ich dir einen Huftritt verpassen, damit du glaubst, dass es mich gibt? Er trottete langsam auf ihn zu, was lediglich dazu führte, dass Adrien rückwärts vor ihm wegkroch, was ziemlich lächerlich aussah.
Der Junge zog sein Schwert. »Weiche von mir, Pferd! Sonst werde ich dich bekämpfen!«
Jules wieherte. Du würdest ein Geschenk Gottes für dich erschlagen? Das einzige sprechende Pferd, das es auf dieser Welt gibt? Du bist ja noch dämlicher, als ich befürchtet hatte.
»Du bist ein Geschenk Tjureds?« Der Junge hatte wirklich ein Talent, unritterlich auszusehen.
Was glaubst du, wer sonst noch sprechende Pferde verschenken könnte?
Adrien stand auf. Er räusperte sich verlegen. Dann legte er den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel hinauf.
Du wirst ihn da nicht sehen.
»Wie ist er?«
Jules schnaubte. Du wil st dich mit einem Pferd über Gott unterhalten?
»Hast du ihn gesehen? Wie sieht er aus?«
Er hat drei Köpfe, ist groß wie ein Berg und hat dreiundzwanzig Arme. Das liegt daran, dass er einen Arm im Kampf verloren hat...
Adrien glotzte ihn auf seine unnachahmliche Weise an.
Natürlich sieht er nicht so aus, du Trottel. Er ist überall, in jeder Gestalt. Er sieht dich gerade.
Und ich weiß nicht, ob er amüsiert oder entsetzt über den Narren ist, der den ersten Ritter seiner Kirche abgibt.
Adrien klopfte sich das Gras vom Umhang und bemühte sich ritterlich auszusehen.
»Darf ich dich besteigen?«
Nein!
»Aber ... «
Du darfst auf mir reiten. Und da endet unsere Freundschaft. Jules schnaubte. Mich besteigen!
Also wirklich ...
»Entschuldige. Ich ... Ich habe nicht viel Erfahrung mit Pferden.«
Da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen. Also los, sitz auf. Wollen wir mal sehen, wie du dich im Sattel hältst. Und lass den Schild und dein Schwert erst mal unten.
Er tat es! Der Junge hörte auf ein Pferd! Wie sollte das erst werden, wenn er in der ersten Stadt an irgendwelchen Abschaum geriet? Sein Versuch, in den Sattel zu steigen, war erbärmlich. Er brauchte eine Ewigkeit.
Ich brauch dich nicht einmal zu sehen, um zu wissen, dass du mit der lässigen Grazie eines Sacks Bohnen dort oben thronst.
»Sind alle Pferde wie du?«
Nein, die meisten keilen aus oder beißen, wenn sie einen wie dich tref en. Einige besonders Üble würden dich auch abwerfen und darauf hof en, dass du dir den Hals brichst. Jetzt nimm die Zügel und fall mir bloß nicht herunter. Ich will schließlich keinen Ärger!
»Wenn ich mir den Hals breche, wirst du wohl keinen Ärger mehr bekommen.«
Ich rede doch nicht von Ärger mit dir. Um mit dir Ärger zu bekommen, müsste ich dich ernst nehmen, und davon sind wir noch weit entfernt. Ich dachte an anderen Ärger. Schon vergessen, wer mich geschickt hat?
Jules trabte langsam los. Er konnte spüren, wie der Junge im Sattel hin und her schwankte. Wenigstens fiel er nicht gleich herunter.
Wir haben noch einige Wochen Arbeit vor uns, bis du dich aus den Bergen herauswagen kannst. Du bist kein Ritter, du bist eine Witzfigur Die Leute würden sich totlachen, wenn sie dich reiten sehen.
»Stimmt, wir brauchen noch einige Zeit, bis wir so weit sind. Mit so einem Pferd könnte ich mich nicht blicken lassen.«
Jules blieb so abrupt stehen, dass Adrien aus dem Sattel gestürzt wäre, hätte er sich nicht im letzten Moment in der Mähne festgehalten. Was soll das denn heißen? Du wirst in ganz Fargon keinen verdammten Gaul finden, der es an Kraft und Ausdauer mit mir aufnehmen könnte. Von meinem Aussehen wol en wir erst gar nicht reden!
»Ein Pferd mit deinem Benehmen passt nicht zu einem heldenhaften Ritter. Wenn das nicht besser wird, werde ich wieder zu Fuß gehen.«
Du willst ein Geschenk Gottes zurückweisen?
»Ich bin mir sicher, wenn Tjured deinen Charakter besser kennen würde, dann hätte er dich nicht geschickt.«
Vielleicht bin ich ja eine Prüfung für dich? Das hatte gesessen. Adrien sagte eine ganze Weile nichts mehr. Sie trotteten am Ufer entlang. Als ein Flusskahn in Sicht kam, wich Jules in den Wald aus. Der Junge sollte besser nicht gesehen werden. Er war einfach noch nicht so weit.
Wie kommst du darauf, dass du ein heldenhafter Ritter bist? Was hast du denn schon geleistet?
Vielleicht habe ich ja schon einmal von dir gehört?
»Das glaube ich eher nicht. Ich ... Ich habe einen fliegenden Löwen getroffen, der ganz aus Gold und Silber gefertigt war. Und eine Rüstung gefunden, die von den alten Göttern für einen König gefertigt wurde. Ahm ... Das war es erst mal. Aber ich weiß, ich werde noch andere Heldentaten begehen.«
Heldentaten begehen? Jules schüttelte sich. Das hört sich ja an, als wolltest du jemanden umbringen. Ich wil dir ja nicht zu nahe treten, aber mir scheint es so, als hättest du noch nichts Besonderes geleistet. Wie heißt du eigentlich?
»Michel Sarti.«
Jules war zufrieden, dass sich der Junge an ihre Abmachung hielt und sogar gegenüber einem Pferd seinen wirklichen Namen verschwieg.
»Wie heißt du denn?«
Weißer Donner.
»Ziehst du mich wieder auf?«
Warum? Ist mit dem Namen etwas nicht in Ordnung?
»Nun ... Er hört sich irgendwie seltsam an.«
Seltsam! Ich bin ein Schimmel, und meine Hufe dröhnen wie Donnerschlag, wenn ich galoppiere. Was also ist an meinem Namen seltsam?
»Ist schon gut, ich wollte dich nicht beleidigen.« Der Junge versank wieder in Schweigen. Jules brachte sie zu ihrem Ausgangspunkt zurück, wo noch der Schild und das Schwert im hohen Gras lagen.
Adrien stieg ab. Er nahm ein Stück altbackenes Brot aus seinem Beutel, ließ sich auf dem umgestürzten Baumstamm nieder und begann zu essen.
Jules war hungrig. Gibst du mir was ab?
Der Junge sah ihn verwundert an. »Hier gibt es doch genug frisches Gras.«
Ich mag kein Gras. Fast hätte er gesagt, das sei etwas für Ziegen und Gäule.
»Aber du bist ein Pferd! Al e Pferde fressen Gras!«
Ich nicht. Mir wird von Gras übel.
Adrien reichte ihm ein Stück Brot. Es war jämmerlich wenig. Er hatte einen Pferdeappetit. »Was frisst du denn sonst? Hafer?« Ich mag gebratene Hühner.
Adrien wäre fast das Brot aus der Hand gefallen. »Du frisst Fleisch? Pferde fressen kein Fleisch!«
Ich schon. Andere Pferde reden ja auch nicht. Ich bin eben anders.
»Wir werden Schwierigkeiten bekommen, wenn wir zusammen reisen.«
Nur wenn du in aller Öffentlichkeit mit mir redest.
»Das werde ich schon nicht tun! Aber was glaubst du, was die Leute von einem Pferd halten, das Hühner frisst? Die werden in dir ein dämonisches Elfenpferd sehen, dich auf den nächsten Scheiterhaufen stellen und verbrennen.«
Keine Sorge. Ich werde schon keine Hühner verputzen, wenn ein Priester neben mir steht. Hast du noch etwas Brot?
Adrien gab ihm tatsächlich noch mehr zu fressen. Viel eicht hoffte er darauf, dass morgen durch ein göttliches Wunder der Brotbeutel wieder voll wäre. Er sollte sich nicht zu sehr an Wunder gewöhnen! Morgen würde er ihn Fische fangen schicken. Was wird denn deine erste Heldentat? Wirst du einen tyrannischen Grafen stürzen? Eine berüchtigte Räuberbande gefangen nehmen oder eine entführte Jungfrau befreien?
»Das mit der Jungfrau trifft es fast. Ich werde ein Mädchen retten. Mein Mädchen!«
Du hast ein Mädchen?
»Naja, nicht so richtig?«
Nicht so richtig? Wie hat man denn ein Mädchen richtig oder falsch? Ich bin nur ein Pferd. Ich kenn mich da nicht aus. Entweder habe ich eine Stute besprungen oder nicht. Nicht so richtig gibt es bei uns nicht.
Adrien wurde rot. »Also ...« Er räusperte sich. »Besprungen habe ich sie nicht...«
Also war da das, was ihr Küssen nennt. »Nein, auch nicht.«
Jules schnaubte. Aber sie ist dein Mädchen? Wie heißt sie denn? Ihm schwante Übles. »Das weiß ich nicht.«
Er schüttelte den Kopf. Also habt ihr nur ein bisschen geredet.
»Nein, auch nicht.« Adrien war jetzt sehr kleinlaut. »Aber ich werde sie retten. Ich habe es meinem Lehrer nie gesagt, aber ich habe es mir schon ganz zu Anfang geschworen. Sobald ich ein Ritter bin, werde ich nach Nan-tour reiten und das Blumenmädchen vom Heumarkt retten.«
Was gibt es bei einem Blumenmädchen denn zu retten? Jules war froh, dass er dieses Ärgernis schon vor Jahren aus der Welt geschafft hatte. Er hatte es von Anfang an geahnt, dass Adrien diese Elodia noch im Kopf herumspukte. Wahrscheinlich war sie schon längst verreckt.
»Also, sie ist...«, druckste der Junge herum und wurde noch röter. »Sie muss sich manchmal verkaufen, weil das Geld, das sie mit dem Blumenverkaufen verdient, nicht zum Leben genügt.«
Ich verstehe das richtig? Du bist ein junger Ritter, der im Namen Tjureds große Heldentaten vollbringen wil . Und das Erste, was du tust, ist, eine Hure zu retten?
»Sie ist keine Hure!«
Aber du sagtest doch, sie verkauft...
»Sie ist keine Hure! Wage es nie wieder, sie so zu nennen. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie in Not ist und keinen anderen Weg sieht. Ich werde sie retten. Ich habe Gold. Es wird ihr nie wieder an etwas fehlen. Ich werde sie finden!«
Wann hast du sie denn zum letzten Mal gesehen?
»Vor sieben Jahren«, sagte er kleinlaut.
Und du glaubst, du findest sie noch auf dem Heumarkt von Nantour. Sieben Jahre ist eine lange Zeit für ein Mädchen, das…
»Ich werde sie finden, ganz gleich, wo sie ist. Ich bin ein Ritter! Ich lasse mich von Schwierigkeiten nicht abschrecken. Ich werde sie finden, du wirst es sehen!«
Cabezan war schlecht gelaunt. Die Lage an der Grenze zu Drusna geriet mehr und mehr aus dem Ruder. Dieses barbarische Königreich, von dem es nicht einmal vernünftige Landkarten gab, war in etliche Fürstentümer zerfallen, und jeder dieser Fürsten tat, was ihm gefiel. Es gab zwar einen König, doch von dem ließen sich die Fürsten nichts sagen.
Fürst Arsi war ins nördliche Fargon eingefallen und hatte zwei kleine Städte und etliche Dörfer ausgeplündert. Sein König hatte ihm das verboten, und Arsi hatte darauf geschissen. Waren die Plünderer erst einmal in Drusna, war es schwer, sie zu verfolgen. In den dichten, weglosen Wäldern waren seine Ritter den Barbaren hoffnungslos unterlegen. Wann würde der nächste Fürst über Fargon herfallen?
Nachdem Arsi so leicht reiche Beute gemacht hatte, stand zu befürchten, dass diese Hinterwäldler sich untereinander vertragen würden und nun alle einen Kriegszug nach Westen unternahmen.
Cabezan betrachtete die Magd, die ängstlich das Blut vom Boden schrubbte. Sie wagte es nicht, in seine Richtung zu blicken. Überall auf den Gazeschleiern vor seinem Bett waren Blutspritzer. Tankret zog mit langen, hingebungsvollen Strichen seinen Wetzstein über sein Schwert. Ein Wink hatte genügt, und der Ritter war enthauptet, der die Nachricht von den Überfällen gebracht hatte. Das war sicherlich ungerecht, aber er war König, dachte Cabezan wütend. Er konnte es sich leisten, auf Gerechtigkeit zu verzichten. Jedenfalls, solange man ihn fürchtete.
Er betrachtete die junge Frau, die auf dem Boden kauerte. Ihr Körper bewegte sich beim Schrubben rhythmisch vor und zurück. Er hatte gehört, die Lungen würden sich wie rote Flügel erheben, wenn man die Rippen entlang der Wirbelsäule durchtrennte und mitsamt dem Fleisch des Rückens zur Seite klappte. Er hatte das immer einmal sehen wollen. Das Mädchen war jung und kräftig. Sie würde bestimmt nicht sofort ohnmächtig werden. Cabezan blickte zu Tankret. Der Krieger hob fragend eine Braue.
Ein Räuspern riss Cabezan aus den Gedanken an blutrote Flügel. Balduin war zwischen den Gazeschleiern hervorgetreten. Missbilligung stand ihm in sein altes, faltiges Gesicht geschrieben.
»Was!«, herrschte der König ihn an. »Steht noch eine Stadt in Flammen?«
Der impertinente Alte erdreiste sich zu lächeln. »Noch nicht, aber bald, mein Gebieter.«
»Wir werden also belagert.«
»Nicht wir. Der Piratenfürst aus Zeola. Die Flotte Iskendrias hat sich vor zwölf Tagen eine gewaltige Seeschlacht mit den Fürsten der Aegilischen Inseln geliefert. Mehr als dreihundert Galeeren sollen gesunken oder verbrannt sein. Und nun blockiert die siegreiche iskendrische Flotte Zeola und hat Truppen an Land gesetzt. Die Nachrichten sind vor nicht einmal einer Stunde eingetroffen.«
»Was für eine überaus erfreuliche Schicksalswende! Wenn ich Zeit habe, werde ich heute Nacht zu den alten Göttern und zu Tjured beten. Und ich werde sie bitten, den verfluchten Drusniern die Pest ins Land zu schicken.«
»Mit Verlaub, Majestät, aber das war weit mehr als nur eine erfreuliche Schicksalswende. Es war der Dolch, den Ihr ins Schlafzimmer des Promachos geschickt habt, der die Piratenflotten und die Schiffe Iskendrias künftig von unserer Küste fernhalten wird. Vor einigen Tagen schon ist das Mädchen Elodia nach Marcilla zurückgekehrt und befindet sich nun auf dem Weg zum Möns Gabino. Ich habe nur einen sehr knappen Bericht von ihr erhalten, aber wie es scheint, hat sie Promachos getötet und den Krieg zwischen Iskendria und den aegilischen Fürsten angestiftet. Ihr solltet sie adeln, Herr. Sie hat uns vor einem Krieg bewahrt, den wir nicht hätten gewinnen können.«
»Wie hieß das Mädchen?«
»Elodia, Herr.«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Sie hatte einen kleinen Bruder. Er war zu Gast in Eurem Bad, Herr.«
Cabezan überlegte kurz. »Da waren so viele ... Ich erinnere mich nicht. Schreib einen Brief ans Refugium. Sprich ihr meinen tief empfundenen Dank aus. Das übliche Blabla.
Du weißt, wie man so etwas macht. Und dann schick sie nach Drusna. Wir brauchen jemanden, der diesem verfluchten Fürsten Arsi die Kehle durchschneidet. Schick auch noch fünf oder sechs andere Mädchen. Viel hilft viel.«
»Bei allem Respekt, Herr!« Während er das sagte, hatte Balduin einen Gesichtsausdruck, der es an jeglichem Respekt mangeln ließ. »Dieses Mädchen war zwei Jahre lang im Feindesland. Es hat mit seiner Tapferkeit ganz allein einen Krieg von unserem Königreich abgewendet und hat es gegen widrigste Umstände geschafft, zu entfliehen und dafür zu sorgen, dass keinerlei Verbindung zwischen ihr und Fargon gezogen werden wird. Unter all den Fürsten unseres Königreiches kenne ich keinen Einzigen, der je etwas Vergleichbares geleistet hätte. Und schon gar nicht unter den Speichelleckern hier bei Hofe!« Balduin konnte es sich nicht verkneifen, bei seinen letzten Worten zu Tankret zu blicken.
Der König lächelte. Sein bester Berater wurde von Jahr zu Jahr tollkühner. Ob das am Alter lag oder daran, dass er keine Nachkommen und keine lebenden Verwandten hatte? Er war schwer zu erpressen. Er hatte es sogar gewagt, dem Mädchen und dem Jungen, die er ihm vor ein paar Wochen zum Bad geschickt hatte, die Freiheit zu schenken. Unter all den Männern und Frauen bei Hof war Balduin der Einzige, der nicht erpressbar war. Cabezan wusste, dass sein Hofmeister ihn zutiefst verachtete.
Wahrscheinlich blieb er allein deshalb, weil er glaubte, von etlichen Unschuldigen Unheil abwenden zu können, so lange er diese bedeutende Stellung bekleidete.
Cabezan hatte schon verschiedentlich davon gehört, dass Balduin Befehle abänderte oder einfach nicht weiterleitete. Wenn der Alte ansonsten nicht so gute Arbeit geleistet hätte, so hätte er ihm schon längst Tankret geschickt.
»Hochverehrter Balduin, ich bin verblüfft, dass sich ein Mann Eures Alters und tadellosen Rufes so vehement für ein kleine Hure einsetzt. Hat sie Euch auch schon den Schwanz gelutscht?« Der Alte wurde erst bleich, dann lief er rot an. Es war so leicht, ihn mit einer einzigen vulgären Bemerkung aus der Reserve zu locken.
»Wie Ihr schon richtig anmerktet, bin ich zu alt, um mich solch fragwürdigen Genüssen hinzugeben. Wir haben sie hier in dieser Kammer zur Hure des Königreichs gemacht. Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Abend. Und das Versprechen, das wir ihr gegeben haben, wurde nach nicht einmal einem Mond gebrochen.«
Cabezan erinnerte sich genau an die kleine Schlampe. Aber er zog es vor, dass Balduin ihn für vergesslich hielt und dachte, er verliere über die Angelegenheiten des Kö-
nigreichs langsam den Überblick. »War sie nicht schon eine Hure, bevor sie in den Dienst des Königreichs trat?
Üblicherweise wählen wir doch Mädchen mit etwas Erfahrung aus. Davon zu sprechen, dass wir sie hier in dieser Kammer zur Hure gemacht hätten, erscheint mir etwas melodramatisch, mein Guter.«
In Balduins Gesicht arbeitete es. Ehrenhafte Männer waren so leicht zu manipulieren!
»Was ich meinte, mein König, war lediglich, dass uns Elodia einen unermesslich großen Dienst erwiesen hat. Sie war so erfolgreich, weil sie sehr gut auf ihre Aufgabe vorbereitet wurde. Warum sollten wir eine solch wertvolle Waffe im Kampf um die Macht leichtfertig zerbrechen? Sie nach Drusna zu schicken, ohne dass sie sich mit der Sprache und den Gebräuchen des Landes vertraut machen kann, ist ganz so, als würden wir sie dem Henker überantworten. Ganz gleich, ob sie eine Hure ist oder nicht. Unser Königreich schuldet ihr Dank und nicht ein Todesurteil!«
»Unser Königreich?« Er machte eine lange Pause, um den Worten Nachdruck zu verleihen. »Teilen wir uns etwa den Thron, mein lieber Balduin?«
»Ich meinte das nicht so!« Seine Worte überschlugen sich fast. »Das war nur so eine Redensart … Ich würde niemals …«
»Du bist der Einzige, dem ich so etwas durchgehen lasse, alter Freund.« Cabezan deutete auf die Blutspritzer auf den Vorhängen. »Der Mann, der vor dir hier war, hat aus einem sehr viel nichtigeren Grund seinen Kopf verloren.« Er sah, wie sich die Züge seines Hofmeisters verhärteten. Er fürchtete den Tod nicht. Begrüßte er ihn vielleicht sogar? Es machte keinen Spaß, jemanden mit etwas zu bedrohen, wovor er keine Angst hatte. Im Übrigen war Balduin unleugbar nützlich. Seine Worte waren nicht weit von der Wirklichkeit entfernt gewesen. Er, Cabezan, siechte in diesem Palast vor sich hin.
Er war der König. Ein gefürchteter Tyrann. Aber Balduin lenkte die Verwaltung. Er entschied über all die tausend bedeutsamen Kleinigkeiten, die zu langweilig waren, um sich der Aufmerksamkeit eines Königs zu erfreuen. Allerdings war Cabezan nicht so dumm, aus den Augen zu verlieren, dass es gerade diese unbestechliche, zuverlässige Arbeit seines Hofmeisters war, die das Königreich erblühen ließ.
»Solltet Ihr wirklich glauben, dass ich nach Eurem Thron strebe, dann werde ich mir hier und jetzt den Dolch in die Brust stoßen.«
Cabezan lachte. »Noch so ein melodramatischer Auftritt. Diese Seite an dir kenne ich noch gar nicht.«
»Und Elodia?«
Langsam ärgerte ihn das Betragen des Alten. »Ehrlich gesagt, schätze ich das Leben eines jedes Leibeigenen in meinem Königreich höher als das einer Hure. Und ich bin mir völlig sicher, dass die überwiegende Mehrheit meiner Untertanen ganz genau derselben Meinung ist. Deinen Einsatz für dieses Mädchen finde ich überaus befremdlich. Würde ich dich nicht so gut kennen, würde ich unterstellen, dass du sie dir in dein eigenes Bett holen möchtest. Weil sie dem Königreich gut gedient hat, soll sie zwei Monde auf dem Möns Gabino verbringen. Und dann schickst du sie nach Drusna.
Hoffe nicht darauf, dass ich das vergessen werde. Du darfst nun gehen und mir morgen einen Plan unterbreiten, wie wir die verdammten drusnischen Räuber in ihren Wäldern ausräuchern können!«
Balduin zog sich zurück, und es entging Cabezan nicht, dass der Alte sich nicht verbeugte, bevor er die Kammer verließ.
Das Mädchen kauerte noch immer am Boden und schrubbte. Es war schwer, das Blut aus den schmalen Fugen des Mosaikbodens zu entfernen. Das Auf und Ab ihres Hinterns hätte ihn früher erregt. Sie war nicht hässlich. Etwas zu dürr und flachbrüstig, aber sie hatte ein hübsches Gesicht.
Cabezan versuchte sich Elodias Antlitz ins Gedächtnis zu rufen. Er war sich natürlich bewusst, dass sie Großes geleistet hatte. Er war kein Narr! Und weil er das nicht war, musste das Mädchen verschwinden. Hätte er sie gerecht behandelt, dann hätte sie eine Heldin sein sollen. Zum Glück würde eine Hure sich kaum in der Öffentlichkeit ihrer Taten in den Betten fremder Tyrannen brüsten. Und sollte sie doch so dumm sein, es zu tun, durfte sie kaum auf großen Zuspruch hoffen. Aber sie war eine Heldin.
Und um Helden mochte sich Widerstand bilden. Ohne es zu ahnen, hatte sie ja bereits seinen Hofmeister auf ihre Seite gebracht. Wer würde als Nächster kommen?
Sie musste nach Drusna! Da würde sie sang- und klanglos in den Wäldern verschwinden. Sie würde eine Mission bekommen, die sie in den Tod führte. Vielleicht könnte er ja dafür sorgen, dass Fürst Arsi wusste, wer sie war? Es wäre nicht schwer, einen Boten an Elodia auf einen Weg zu schicken, der ihn sicher zu einer Begegnung mit drusnischen Strauchdieben führte.
Cabezan drehte sich auf seinem Lager auf die Seite, um das Mädchen besser beobachten zu können. Sie hatte etwas Sinnliches. Und er würde sie nicht besitzen können. Auch Tankret sah sie an.
Der Zustand seiner Männlichkeit war Cabezan ein steter Verdruss. Vor ein paar Tagen erst hatte er es mit Rehblut versucht. Die Barbaren weit im Osten behaupteten, es würde selbst tote Glieder wieder erstarken lassen. Seines nicht!
Wenn er das Mädchen nicht haben konnte, dann sollte es auch kein anderer besitzen!
»Hast du schon einmal einen Adler gesehen, Mädchen. Von nahem?«
Die Kleine stutzte. Sie wagte es nicht aufzublicken. »Nein, mein König«, sagte sie mit vor Angst heiserer Stimme.
»Ich auch noch nicht«, log er. »Würdest du mir helfen, die Schwingen eines Adlers betrachten zu können, wenn du die Macht dazu hättest?«
»Ganz gewiss, Herr. Aber ich weiß nicht, was ich tun könnte ... «
»Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Tankret wird dir helfen, mir diesen kleinen Wunsch zu erfüllen.«
Er hatte keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Nantour hatte sich in den sieben Jahren, die er fort gewesen war, kaum verändert. Allerdings kam ihm die Stadt jetzt kleiner vor. Die großen Lagerhäuser am Fluss ragten für ihn nicht mehr bis in den Himmel. Der neue Tempelturm mit seinen Fenstern aus buntem Glas beeindruckte ihn nicht mehr, nachdem er die Wunder des Steinernen Walds gesehen hatte.
Hoch zu Ross, war er flankiert von einer Schar Kinder, die zwar ein wenig Abstand hielten, aber sich nicht entgehen lassen wollten mitzuerleben, was dieser seltsame Mann mit dem silbernen Gesicht wohl in der Stadt tun würde. Adrien hatte sich inzwischen daran gewöhnt. In seinem Aufzug war es unmöglich, unbemerkt zu reisen.
Und es waren stets die Kinder, die ihm als Erste folgten, wohingegen Erwachsene trotz seiner weißen Rüstung Gefahr wähnten, wenn man allzu aufdringlich wurde. Doch zumindest ihre Blicke folgten ihm, und er ahnte, dass das Gesehene Gesprächsstoff für die nächsten Tage und Wochen liefern würde.
Er zog es vor, auf einsamen Landstraßen zu reiten, wo er ungestört mit seinem wundersamen Pferd reden konnte. Begafft zu werden, empfand er als anstrengend, obwohl ihm klar war, dass es seine Aufgabe als künftiger Ordensgründer war, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen. Aber noch waren ihm die Blicke eine Bürde. Er konnte sie nicht genießen. Würde sich das ändern?
Er war auf dem Heumarkt gewesen, um nach seinem Mädchen ...
Nach deinem Schwärm! Von seinem Mädchen sollte man wenigstens den Namen kennen. Sie ist nur dein Schwärm, du Traumtänzer!
Adrien war froh, dass er eine Maske trug und niemand sehen konnte, wie er die Fassung verlor. Dieser Gaul konnte nicht nur reden, er konnte ihm auch in die Gedanken blicken! Am liebsten hätte er ihm geantwortet. Aber vor all den Kindern konnte er sich schlecht mit seinem Pferd streiten. Es genügte, eine Antwort zu denken. Aber das war nicht annähernd so befriedigend, wie auszusprechen, was er diesem Gaul sagen wollte.
Lass mich in Ruhe, du Besserwisser! Kennst du die Namen aller Stuten, denen du begegnet bist?
Schweigen. Über sich selbst redete sein ach so gesprächiges Pferd eher selten. Adrien zügelte es ein wenig härter, als notwendig gewesen wäre, und saß ab. Er trat in eine Pfütze, die nach Verwesung stank und auf der Schlieren von Blut trieben. Auch das hatte sich nicht geändert. Der Fleischhauer schüttete das wenige, was bei seiner Arbeit an Abfällen anfiel, direkt vor seine Tür.
Ein alter Hund wich ihm mürrisch knurrend aus. Die Kinder blieben in ein paar Schritt Abstand stehen. Er hörte sie flüstern. Ein Witzbold war davon überzeugt, er würde jetzt den Schlachter schlachten.
Der Schmutz perlte von seinen weißen Stiefeln ab. Er stieß die Tür des alten, grauen Steinhauses, ohne zu klopfen, auf. Der Fleischhauer stand hinter einem von tiefen Furchen zernarbten Tisch. Eine grauhaarige Frau schob gerade einige Würste in ihren Korb. Bei seinem Anblick fiel ihr die letzte Wurst aus der Hand.
Adrien hob sie auf und reichte sie ihr mit galanter Geste. »Werte Dame, würdet Ihr mich mit dem Herrn al ein lassen? Ich habe einige private Dinge mit ihm zu besprechen.«
Eine der Würste, für die er zum Dieb geworden war und für die das Blumenmädchen sich verkauft hatte, nach all den Jahren nun wieder in der Hand zu halten, berührte ihn tiefer, als er erwartet hätte.
»Ich danke Euch, hoher Herr.« Die Frau verbeugte sich, was ihr sichtlich Mühe machte.
Er nahm sie bei der Hand. »Ich bin keineswegs von höherem Stand als Ihr, meine Dame.« Sie schenkte ihm ein zahnloses Lächeln und ließ sich ohne Widerstand zur Tür geleiten.
Als er sich umdrehte, lag ein schweres Fleischermesser auf dem Tisch. Er hätte schwören mögen, dass es eben nicht da gewesen war. Aber immerhin hielt der Fleischhauer es nicht in der Hand.
»Womit kann ich Euch dienen, Herr?« Er war angespannt. Sein Gesicht hatte eine ungesunde, käsig weiße Farbe. Tiefe Ringe hatten sich unter seine Augen gegraben.
Offensichtlich rasierte er sich nur unregelmäßig. Seine Wangen waren mit grauen Stoppeln bedeckt. Sein Haar war schütter, und sein Versuch, die ausufernde Glatze zu bekämpfen, indem er Haare über die kahlen Stellen legte, betonte sie nur noch mehr, statt sie zu verstecken. Er hatte eine Lederschürze umgebunden, die sich straff über seinen Spitzbauch spannte. Dunkles, fast schwarzes Blut hatte sich seit Jahren ins Leder gezogen. Die Arme des Fleischhauers waren nackt. Knotige Muskeln verrieten seine Kraft. Hände und Finger waren mit weißen Narben bedeckt, Spuren unachtsamer Augenblicke in einem Geschäft mit scharfen Messern. Der Mann wirkte schmuddelig und verhärmt. »Herr?«
Adrien war ganz in der Betrachtung des Fleischhauers versunken gewesen. Er räusperte sich. »Ich suche ein Mädchen«, klang seine Stimme dumpf durch den Helm.
»Ich habe keine Tochter und kenne keine Mädchen.« »Das Blumenmädchen vom Heumarkt?«
Die Augen des alten Metzgers weiteten sich. »Was ist mit der?« »Wo finde ich sie?«
Der Alte wischte sich die Hände an der Schürze ab, obwohl sie nicht schmutzig waren.
»Ja, die. Die ist früher manchmal gekommen. Ein hübsches Ding.«
Adrien musste an sich halten. »Wo steckt sie?«
»Die Stadtwachen haben sie geholt. Sie war irgendwie auch im Geschäft mit Würsten.«
Er grinste anzüglich. »Hat ihr mehr gebracht als ihre Blümchen, denke ich.«
»Sie war auch bei dir, nicht wahr?«
Der Fleischhauer kniff die Augen zusammen. »Na und? Daran war nichts Verbotenes.
Ich hab immer ordentlich gezahlt. Mit ... «
Adrien gebot ihm mit einer harschen Geste zu schweigen. Wenn er sich das Blumenmädchen und den Alten vorstellte, wurde ihm übel. »Was ist bei der Stadtwache mit ihr geschehen? Wohin hat man sie gebracht?«
»Keine Ahnung. Sie war einfach fort. Von einem Tag auf den anderen. In den Kerker ist sie nicht gegangen. Davon hätte ich gehört. Normalerweise hätte man sie in ein Badehaus gesteckt. Aber auch das ist nicht geschehen. Zumindest ist Elodia nicht in Nantour.«
»Elodia? Ist das ihr Name?«
»Ihr sucht dieses Mädchen und kennt nicht einmal ihren Namen?«
»Elodia«, sagte er noch einmal leise, um den Klang ihres Namens zu kosten. Sollte das alles sein, was von ihr geblieben war?, dachte er verzweifelt. Adrien atmete schwer aus. So viele Stunden hatte er mit der Erinnerung an sie verbracht. Manches Mal hatte er sich schlimme Dinge vorgestellt. Hatte sich ausgemalt, was ihr alles zustoßen könnte. Aber dass sie einfach verschwinden würde ... Er griff nach seiner Geldkatze und holte ein kleines, verbogenes Stück Gold hervor, Beute seiner endlosen Grabungen. Er hatte einige Beutel voll davon mitgenommen. Natürlich hätte er auf Jules hören und allein auf Tjured vertrauen können, aber Adrien hatte das Gefühl, dass Gott lieber Ritter hätte, die in der Lage waren, sich selbst zu helfen, und für so alltägliche Dinge wie einen vollen Bauch nicht auf seine Hilfe angewiesen waren.
Er legte das Goldstück vor dem Alten auf die zerfurchte Tischplatte. Der nahm es auf.
Betrachtete es misstrauisch von allen Seiten und nahm es sogar einmal kurz in den Mund. »Ist das …?«
»Ja, das ist Gold.«
»Ich weiß wirklich nicht, wo sie ist, Herr. Ich habe Euch alles gesagt. Das müsst Ihr mir glauben.«
»Das Gold ist für ihren Namen. Und für einen Jungen, der vor sieben Jahren die Dachschindeln deiner Räucherkammer beiseitegeschoben hat, um zwei Würste zu stehlen. Betrachte es als späte Entschädigung.«
Der Fleischhauer runzelte die Stirn. Es war unübersehbar, dass er befürchtete, einen Verrückten vor sich zu haben. Einen Bewaffneten mit einer Börse voller Gold. Er setzte ein falsches Lächeln auf. »Kennt Ihr den Jungen, Herr?«
»Den Jungen gibt es nicht mehr. Aber die alte Schuld hat fortbestanden. Hiermit ist sie getilgt.«
»Das ist zu viel, Herr, ich will Euch nicht bestehlen. Den Namen hätte ich Euch auch so genannt. Dafür müsst Ihr mir nichts geben.« Er senkte den Blick. »Ich hab sie auch gemocht. Sie war ... Sie war ein gutes Mädchen.«
Das war das Letzte, was er aus dem Mund des alten Hurenbocks hören wollte! Er versuchte nicht daran zu denken, was der Fleischhauer sich unter einem guten Mädchen vorstellte. Mit kühler Höflichkeit sagte er. »Es ist in der Tat viel Gold für zwei Würste. Wenn du vor den Augen Tjureds Buße für deine Sünden tun willst, dann wirst du heute Abend einen großen Korb mit Würsten packen und sie unter den Bettlern der Stadt verschenken. Und sag jedem, dass dies eine Gabe der Ritter des Ordens vom Aschenbaums sei. Des Ritterordens der Tjuredkirche.«
Der Alte sah ihn verwirrt an. »Ihr seid ein Ritter Gottes?«
»Ich diene Tjured und seiner Kirche und verteidige sie, wo sie angegriffen werden.«
Adrien deutete eine knappe Verbeugung an. »Ich hoffe, du wirst dein Versprechen halten und den Bettlern helfen. Ich werde von dir hören.« Mit diesen Worten verließ er den schäbigen Laden.
Würste für Bettler, wahrhaft eine glorreiche erste Tat für den ruhmreichen Orden vom Aschenbaum. Ist dir nichts Besseres eingefal en?
»Ich übe noch«, sagte er leise. Auf der Straße hatten sich außer den Kindern und ein paar erwachsenen Gaffern nun ein halbes Dutzend Stadtwachen eingefunden. Die Krieger hielten respektvollen Abstand. Sie wirkten angespannt.
Ein Mann mit Schwert und Langdolch am Gürtel trat zwischen ihnen hervor. Er trug einen leicht rostigen Schuppenpanzer über einer abgetragenen Tunika. Ein weißer Schal mit Rostflecken war um seinen Hals geschlungen. Lange, graue Locken fielen ihm auf die Schultern. Er war glattrasiert. Das Gesicht war wettergegerbt und müde.
»Einen Mann wie dich habe ich noch nie gesehen. Wer bist du?«
Adrien stellte sich höflich als Michel Sarti vor.
Der Krieger legte den Kopf schief und musterte ihn eindringlich. »Ich kannte einmal einen Michel Sarti. Das ist lange her. Er hat wenig Ähnlichkeit mit dir.«
»Dann könnte er mein Vater gewesen sein.« Durch den Helm klang seine Stimme stets ein wenig bedrohlich. Adrien sah, wie sich der Krieger anspannte. Einige der Stadtwachen senkten ihre Speere. »Wer bist du?«
»Raoul Deleau, Befehlshaber der Stadtwache von Nantour.«
»Dann bist du der Mann, den ich suche. Ich muss etwas über ein Mädchen wissen, das du vor sieben Jahren verschleppt hast.«
»Ich verschleppe keine Mädchen!«, entgegnete Raoul kühl. »Und du nimmst jetzt deinen Helm ab, denn ich möchte sehen, wer es wagt, mich hier auf offener Straße inmitten meiner Stadt zu beleidigen.«
Mit denen wirst du leicht fertig. Ich übernehme ein paar von ihnen.
Adrien war überrascht, sein Schlachtross so streitlustig zu erleben. Ein Kampf mit der Stadtwache wäre schlecht für den Ruf des Ordens vom Aschenbaum. Er musste sich hier mit Autorität und nicht mit der Klinge in der Hand Respekt verschaffen.
Unsinn! Die wollen dich langmachen.
Adrien öffnete den Verschluss am Hals, nahm den Helm ab und klemmte ihn unter den Arm. Er konnte sehen, wie sich der Befehlshaber der Stadtwache ein wenig entspannte. Es war wichtig für dessen Ansehen gewesen, dass er dem Befehl des alten Kriegers nachkam.
»Ich bin erst seit etwas mehr als einem halben Jahr in Nantour, und ich versichere dir, ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Mädchen verschleppt.«
»Dann möchte ich das Archiv der Stadt einsehen. Dort wird es ... «
Der Krieger schüttelte den Kopf. »Stadthalle und Archiv sind beim großen Brand im letzten Sommer vernichtet worden. Es tut mir leid.«
Adrien schloss kurz die Augen. War denn jegliche Spur des Blumenmädchens getilgt?
»Wo finde ich den Mann, der vor dir die Stadtwache befehligt hat?«
»Ich bringe dich gerne zu ihm. Er ist draußen vor den Toren der Stadt.« Er winkte den Stadtgardisten zu. »Geht eurer Wege! Ich brauche keine Eskorte. Michel Sarti ist ein Mann der Kirche. Ein Mann von Ehre!«
Adrien fühlte sich geschmeichelt.
Ja, Esel lieben Ohrenbläser!
Er fragte sich, ob auch andere Ritter mit solchen Pferden geschlagen waren oder ob Tjured allein ihm diese Prüfung vorbehalten hatte.
Raoul machte einen Umweg mit ihm. Er führte ihn durch die Seilergasse zum großen Markt, dessen Westseite von Gerüsten beherrscht wurde. Die Baustelle lag dort, wo früher einmal die Stadthalle gestanden hatte.
»Wir hatten Glück mit dem Feuer. Es war vor meiner Zeit. Aber wie ich gehört habe, war es eine windstille, schwüle Nacht, in der das Feuer ausbrach. Es hat nicht auf die anderen Häuser übergegriffen. Durch den großen Brunnen auf dem Markt war genügend Wasser da, um die Flammen sofort zu bekämpfen. Dennoch war der Schaden so groß, dass eine neue Stadthalle gebaut werden musste.«
»Wie ist es zu dem Feuer gekommen?«
»Das konnte nie geklärt werden. Es ist unter dem Dach im Archiv ausgebrochen.
Wahrscheinlich hat es eine Weile unbemerkt geschwelt. Plötzlich stand dann der ganze Dachstuhl in Flammen.«
»Und der alte Stadtkommandant?«
»Du stellst seltsame Fragen, junger Ritter. Aber die Verkettung deiner Fragen hat etwas Beunruhigendes. Worauf willst du hinaus?«
Adrien entschied, ihm diese Antwort schuldig zu bleiben. »Was ist beunruhigend?«
»Das wirst du sehen, wenn wir beim alten Stadtkommandanten sind.«
Für eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Raoul brachte ihn durch das Gedränge der Schiffergasse zum Hafentor. Adrien empfand die Enge der Stadt als unangenehm. Überall waren Leute, die ihn, den weißen Ritter, angafften. Fuhrwerke stauten sich vor dem engen Tor. Ein Rattenfänger, der ganze Trauben von Ratten von einem langen Spieß hängend über seinem Rücken trug, pries lauthals seine Dienste an.
Marktweiber mit schweren Körben verließen die Stadt. In der Gosse am Wegesrand tummelten sich einige hagere Welpen mit ängstlichen schwarzen Augen. Ihr kurzes Fell starrte vor Dreck.
Adrien kam es so vor, als blickten sie sehnsüchtig den toten Ratten am Spieß hinterher.
Gleich beim Tor stand ein junges Mädchen in einem braunen Kleid, die nicht mehr ganz frische Blumen feilbot. Sie war so dünn, dass Adrien ihr ein Stück Gold zuwarf.
Raoul sah ihn verständnislos an, sagte aber nichts.
Mach nur so weiter, Ritter vom weichen Herzen! Warum gibst du dem Einbeinigen da vorne nichts? Oder dem Kerl da drüben, dem sein Hautausschlag die halbe Nase weggefressen hat.
Bist du nur zu Blumenmädchen mildtätig? Du bist scheinheilig! Der Bettler da hinten ist viel dürrer als sie. Freilich kann der sich nicht einem Fleischhauer zum Liebesspiel verkaufen. Da muss man dann mit seinem Gold geizen.
Adrien zog ruckartig am Zügel, und die Stimme in seinem Kopf verstummte. Ja, er suchte sich aus, zu wem er mildtätig war! Die Welt war zu groß, um allen Gerechtigkeit widerfahren lassen zu können. Obwohl er erst vor zehn Tagen die Berge verlassen hatte, hatte er diese Lektion bereits tief verstanden.
Raoul führte ihn über die weite, steinerne Brücke. Unter den Pfeilern lagerten Kähne wie der, mit dem Adrien einst seine Reise in ein neues Leben begonnen hatte.
Am anderen Ufer stand das Gasthaus Die drei Gehenkten. Hier fand Unterkunft, wer zu später Stunde nach Nantour kam und das Flusstor verschlossen vorfand. Nur einen Steinwurf entfernt, auf einem Hügel, der sich über die Flussniederungen erhob, stand weithin sichtbar das Galgengerüst. Ein Rahmen aus schweren Balken, der von vier dicken, steinernen Pfeilern getragen wurde. Heute hing von keinem der eisernen Haken, die ins Holz eingeschlagen waren, ein Seil. Aber Adrien konnte sich an einen Nachmittag in seiner Kindheit erinnern, an dem dort zwölf Männer und Frauen aufgeknüpft worden waren, weil sie sich gegen den König verschworen hatten. Es war ein strahlend klarer Wintertag gewesen. Hunderte hatten sich um den Hügel eingefunden, und es hatte eine ausgelassenere Stimmung als selbst beim großen Flachsmarkt im Frühjahr oder dem Schifferfest im Herbst geherrscht. Es war einer der wenigen Tage gewesen, an denen er sich mit vollem Bauch schlafen gelegt hatte, denn er hatte es geschafft, einem unachtsamen Gaffer eine große Fleisch-pastete zu stehlen.
»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du nicht mehr nach Nantour zurückkehren würdest, junger Ritter. Männer wie du bringen Unruhe und Ärger.«
»Du hast mich also belogen! Du hattest nie vor, mich zum alten Stadtkommandanten zu bringen.« Adrien sagte das ganz ruhig. Er blickte zur Brücke zurück und erwog, sofort wieder umzukehren. Allerdings würde er dann gegen die Wachen am Flusstor kämpfen müssen. Ein Wink von ihrem Kommandanten würde genügen, damit sie den Weg versperrten.
»Ich bin kein Lügner. Ich werde dich zum Stadtkommandanten bringen, wie ich es versprochen habe, doch ich fürchte, er weiß auch keine Antwort auf deine Fragen.
Komm! Wenn wir fertig sind, lade ich dich ins Gasthaus ein. Ich habe nichts gegen dich, Junge. Ich will dich nur nicht in meiner Stadt haben.«
Adrien wusste nicht, wie er mit dem alten Krieger umgehen sollte. Er fühlte sich völlig überrumpelt, und das auf eine Art, dass er Raoul nicht einmal böse war. Viel eicht würde das ja später noch kommen. Er blickte über die Ebene. Da gab es nur Bauernhäuser. »Dort finde ich den ehemaligen Stadtkommandanten?«
»Komm einfach noch ein kleines Stück Weg mit mir. Dann wirst du verstehen.«
Ratlos, was er sonst hätte tun sollen, ging er mit und versuchte die Flüche seines Pferdes zu überhören, das ihn einen Tölpel und Schlimmeres nannte.
Hinter dem Richtplatz gab es ein kleines, von Pappeln umstandenes Feld. Dort wurden die Gehenkten und andere begraben, die keinen Platz auf dem Totenacker Nantours fanden, weil die Umstände ihres Todes sie für immer von allen anderen unterschieden.
Der Friedhof war von einer niedrigen Steinmauer umgeben. Ein schmales schmiedeisernes Tor war der einzige Zugang. Zwei Heiligenbilder wachten am Eingang, Statuen, die Adrien jetzt als ungelenk und fast kindlich in der Ausführung empfand.
Als er auf den Totenacker trat, schlug er verstohlen das Zeichen des schützenden Horns.
Das fehlt noch! Da haben wir einen heimlichen Heiden, der ein Ritter Tjureds sein will.
Diesmal hatte er für den Spott nur ein Lächeln übrig. Jeder vernünftige Mensch wusste, dass man sich vor den Toten auf einem solchen Friedhof nicht genug in Acht nehmen konnte. Die Gräber der Selbstmörder, Gehenkten und Kindsmörderinnen waren verflucht. Ihre Toten waren dazu verdammt, keinen Frieden zu finden. Und wenn man nicht alle Regeln beachtete, mochte es sein, dass sie sich wieder aus ihren Gräbern erhoben.
»Hier liegt er.« Raoul war vor einem großen, grauen Feldstein stehen geblieben. Wie bei allen Gräbern hier draußen gab es keinen Namen. Namen hatten die Macht, Tote länger in der Welt der Leben zu halten.
»Was hat er getan?«
»Drei Tage nachdem ich mit meinen Männern in die Stadt gekommen bin, um ihn abzulösen, hat er sich die Kehle durchgeschnitten. Ich habe an jenem Abend noch mit ihm gegessen. Er wirkte bedrückt. Aus irgendeinem Grund schien er überzeugt gewesen zu sein, dass er sein Kommando in Nantour bis ans Ende seiner Tage behalten würde. Dabei kannte er die Regeln! Er wusste, dass er schon ungewöhnlich lange mit seinen Männern in der Stadt war. Um Bestechlichkeit und andere, schlimmere Übel zu bekämpfen, lässt König Cabezan die Stadtwachen regelmäßig versetzen. Es ist selten, dass ein Kommandant länger als vier oder fünf Jahre in einer Stadt bleibt. Er hatte einen Marschbefehl an die Grenze nach Drusna bekommen. Kein guter Platz, um seinem König zu dienen. Es gibt ständig Überfälle, und es häufen sich Gerüchte, dass ein Krieg bevorsteht. Die Waldgrenze ist kein Ort, an den man gerne geht. Aber ich hatte das Gefühl, dass er sich mit seinem Schicksal arrangiert hatte, als ich nach dem Abendessen ging. Er hatte Pläne gemacht, einen Trupp Lanzenreiter aus Equitanien anzuwerben. Und er wollte sich einen Schuppenpanzer anfertigen lassen, so wie ich ihn trage. Jemand, der sich umbringen will, macht doch nicht solche Pläne! Er hatte mich auch für den nächsten Morgen eingeladen, um mit mir die Würdenträger der Stadt aufzusuchen und mich vorzustellen.« »Wie ist er gestorben?«
»Er hat sich in den Lehnstuhl seines Amtszimmers gesetzt und sich die Kehle durchgeschnitten.« Raoul schüttelte den Kopf. »Ich habe oft gedacht, dass er hier zu Unrecht liegt. Dass er ermordet worden ist. Aber vor seiner Kammer lag die Wachstube. Niemand konnte unbemerkt zu ihm gelangen! Die Priester haben ihm den Kopf ganz abgeschnitten, wie man es bei Selbstmördern macht. Sie haben den Kopf in einen Sack mit Steinen gesteckt und im Fluss versenkt. Der Rest liegt hier begraben. Du siehst, ich habe Wort gehalten, ich habe dich zu dem Mann gebracht, den du gesucht hast.« Er lächelte linkisch. »Jedenfalls zum größeren Teil von ihm.«
Adrien kniete vor dem Stein nieder und legte seine Hand darauf. Hier lag der Mann, der gewusst hatte, wo das Blumenmädchen war. Elodia. War das alles, was er von ihr finden sollte? Nur ihr Name?
»Deine Fragen, Junge, sind auch mir schon durch den Kopf gegangen. Welches Geheimnis hat diese Stadt? Gibt es einen Zusammenhang zwischen einem Archiv, das einfach so in Flammen aufgeht, und einem Hauptmann der Stadtwache, der sich plötzlich das Leben nimmt? Ich habe aufgegeben, nach der Antwort zu suchen. Die Stadtwachen werden auch deshalb ausgetauscht, damit man von vorne beginnen kann. Ich weiß nichts von den alten Verbrechen, und so soll es bleiben. Ich möchte nicht, dass du die Stadt noch einmal betrittst. Dass du aufweckst, was zusammen mit meinem Vorgänger begraben wurde.
Was immer du hier suchst, Ritter, es ist verschwunden.«
Adrien richtete sich wieder auf. Er war ein ganzes Stück größer als der alte Krieger.
»Weißt du, in welche Stadt nach Drusna die Wachen geschickt wurden?«
»Bei Tjured, du wirst doch nicht etwa versuchen, sie zu finden, Junge! Niemand geht freiwillig dorthin. Ohne einen Hauptmann wird man sie verteilt haben. Gott allein weiß, wo sie überall stecken. Warum suchst du sie überhaupt?«
»Ich will ein Mädchen wiederfinden, das vor sieben Jahren Blumen auf dem Heumarkt verkauft hat. Und einige der Stadtgardisten müssen wissen, was aus ihr geworden ist.«
»Ein Blumenmädchen! Schlag dir das aus dem Kopf! Das ist eine Aufgabe, wie Märchenritter sie sich stellen. Du müsstest ein Narr sein, wenn du freiwillig nach Norden reitest. Ein Krieg zieht dort herauf. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede! Ich komme von dort, und ich bin froh, nun in einer Stadt wie Nantour Dienst zu tun. Alles, was ein junger, romantischer Held wie du an der Grenze nach Drusna finden wird, ist der Tod.«
»Sehe ich aus wie einer der Ritter, die dir zuvor in deinem Leben begegnet sind?«
»Nein, natürlich nicht, das weißt du!«
Adrien lächelte. »Dann muss ich wohl ein Märchenritter sein.«
»Was über Kindheit und Jugend des Heiligen Michel Sarti berichtet wird, sind Volkslegenden!
Seit über hundert Jahren lebt niemand mehr, der den Heiligen kannte. Michel selbst hat über seine Jugend geschwiegen. Und ich wil es ihm gleichtun! Anders als die Schwätzer, die erzählen, der heilige Jules sei sein Vater gewesen und habe ihn in einem verwunschenen Tal großgezogen, oder die sich nicht schämen zu behaupten, der Heilige habe mit seinem Pferd gesprochen, mit dem er durch den Himmel zu reiten vermochte! Einige Ketzer behaupten sogar, der Heilige sei in seiner Jugend ein berüchtigter Söldnerführer gewesen.
Ich bin der Wahrheit verpflichtet. Nichts anderes sol hier stehen! Der erste verbürgte Bericht über Michel Sarti ist ein Brief, der vom Hauptmann Malmon, dem Stadtkommandanten von Ulmenburg, überliefert wurde. Er schreibt an Balduin, den Hofmeister des Königs Cabezan, vom Hungerwinter und vom weißen Ritter, der seinen Männern Halt und Hof nung gab, als die Stadt vom drusnischen Fürsten Arsi belagert wurde. Zugleich beklagt er, dass sieben der tapfersten seiner Männer sich der Kirche unterstellt hätten und ein Ordenshaus gründeten.
Fortan führten sie den Aschenbaum im Schilde und dienten keinem anderen Herrn als Tjured mehr. Diese sieben und der geheimnisvolle weiße Ritter waren es, die während eines Schneesturms ganz al ein gegen das Heerlager der Drusnier ritten. Und Tjured war an ihrer Seite, denn sie verbreiteten solchen Schrecken unter den Feinden, dass diese flohen und viele von ihnen in den eisigen Fluten des Alda ertranken. Die Vorräte des drusnischen Heerlagers aber brachten die Sieben nach Ulmenburg und sie teilten sie gerecht unter den Einwohnern auf, und so ward die Stadt gerettet, als ihr Untergang schon besiegelt schien.
Wie in vielen alten Urkunden zu lesen ist, ist Ulmenburg der Ort, an dem das erste Ordenshaus des Ritterordens vom Aschenbaum gegründet wurde. Und auch wenn Hauptmann Malmon den Namen des weißen Ritters nicht nennt, so kann es keinen Zweifel geben, dass der Unbekannte niemand Geringerer als Michel Sarti war.
Nach der Schlacht an der Alda verließ der Heilige Ulmenburg. Oft ritt er al ein in die Wälder und suchte nach versprengten Kriegern, oder er suchte einsame Waldburgen auf, um den Männern, die in der Wildnis verloren waren, Trost und Beistand zu bringen. Nicht weniger als fünf Ordenshäuser gründete er in dieser Zeit, und es heißt, die Heidenfürsten von Drusna hätten einen Heuwagen vol er Gold als Belohnung für denjenigen geboten, der ihnen den Kopf des weißen Ritters mit dem Aschenbaum im Schilde bringe.
Doch Tjured hatte dem Heiligen ein anderes Schicksal als den Tod im Heidenlande bestimmt.
Nachdem Arsi, der schlimmste der Heidenfürsten, von einer Dirne ermordet worden war und die übrigen Herzöge endlich um Frieden baten, zog Michel Sarti gen Süden. Dort erwarteten ihn nicht Schwert und Speer. Die Waffen seiner Feinde waren hier Verrat und Gift. Waffen, vor denen ihn seine weiße Rüstung, die Tjured selbst ihm zum Geschenk machte, nicht schützen konnte. (...)«