4.

Nachdem er eine ziemliche Strecke zwischen sich und den Wächter gebracht hatte, blieb Harkins neben einem mächtigen Baum stehen und versuchte, die neuen Tatsachen in sich aufzunehmen.

Es ging also um ein Spiel zwischen Mächten, die so ungeheuer waren, daß sie sein Vorstellungsvermögen überstiegen. Aus ihm unbekannten Gründen war er in dieses Spiel hineingezogen worden, und der einzige Ausweg für ihn führte — wenn der Wächter die Wahrheit gesagt hatte — durch die Tunnelstadt.

Er hatte keine Ahnung, wo diese Stadt war, noch wußte er, was er dort finden sollte. Du kannst nach Hause zurück, wenn es dir gelingt, die Roboter unter deine Kontrolle zu bringen, hatte der Wächter gesagt. Und dann hatte der seltsame Mutant angedeutet, daß die Tunnelstadt das Kontrollzentrum der Roboter war. Aber gleichzeitig hatte er auch gesagt, daß niemand den Robotern etwas befehlen könnte.

Harkins lächelte. Es mußte einen Weg für ihn geben, dort hinzukommen. Jetzt war die Zeit für ihn gekommen, seinerseits etwas Aktivität zu entwickeln. Er war lange genug eine Marionette gewesen, von jetzt an würde er selbst an den Fäden ziehen.

Er blickte auf. Die Schatten des späten Nachmittags begannen zu fallen, und der Himmel hatte sich verdunkelt. Er würde sich beeilen müssen, wenn er noch vor Einbruch der Nacht hinkommen wollte. Er begann seine eigenen Spuren zurückzuverfolgen und wieder den ausgetretenen Pfad zu Jörns Dorf zurückzugehen.

Er kam ziemlich schnell von der Stelle und legte seinen Weg teilweise laufend zurück. Hin und wieder sah er den kahlen Schädel eines Sternriesen zwischen den Baumwipfeln aufragen, aber die Fremden achteten nicht auf ihn. Einmal hörte er das Stampfen eines Roboters im Unterholz.

Seltsame Mächte waren hier am Spiel. Die Sternriesen — wer waren sie? Was wollten sie auf der Erde — und welche Rolle spielten sie in dem Drama, das sich jetzt entfaltete? Sie schienen losgelöst von allem menschlichen Streben, ebensowenig am Gang der irdischen Dinge interessiert wie die Roboter, die sich sinnlos durch den Wald bewegten. Und doch wußte Harkins, daß das nicht stimmte.

Die Roboter interessierten ihn vom rein philosophischen Standpunkt aus. Sie repräsentierten Kraft — unaufhaltsame, unkontrollierbare Kraft, gebunden an ein schon lange vergessenes, vor Generationen aufgestelltes Programm.

Warum aber hatte der Roboter ihn vor der Bestie gerettet? fragte sich Harkins.

Und dann tauchte das Dorf vor ihm auf — ein dunkler, an den Boden geduckter Klumpen von Hütten, die man durch das dichte Blattwerk der Bäume kaum erkennen könnte. Harkins verlangsamte seine Schritte, als er näher trat.

Es war noch ziemlich früh am Abend, und die Dorfbewohner hatten ihr gemeinsames Mahl noch nicht zu sich genommen. Harkins blieb am Waldrand stehen und überlegte, wie er sich wohl dem Dorf am besten unbemerkt nähern konnte.

Plötzlich knackte ein Zweig hinter ihm. Er wandte sich um.

„Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du dürftest nie mehr nach hier zurückkehren, Harkins? Was willst du hier?“

„Ich bin zurückgekehrt, um mit dir zu sprechen, Jörn.“

Der Häuptling trug nur ein Lendentuch, und sein sehniger, von der Sonne gebräunter Körper sah aus, als warte er förmlich auf den Kampf. Ein Muskel zuckte an Jörns Wange.

„Worüber willst du sprechen?“

„Die Tunnelstadt“, erklärte Harkins.

„Davon will ich nichts hören“, knurrte Jörn. „Ich habe gesagt, daß ich dich töten würde, wenn du zurückkommst, und das war mein voller Ernst. Ich will nicht, daß du dich mit Katha einläßt.“

„Das habe ich nicht getan. Sie hat sich mir an den Hals geworfen.“

„Das ist dasselbe“, sagte Jörn. „In den Augen des Stammes bin ich betrogen worden, und das darf nicht sein, Harkins.“ Die dröhnende Stimme des Häuptlings klang beinahe verzweifelt.

„Würdest du Katha wirklich brauchen“, fragte Harkins, „wenn ich dich zum Herrn der ganzen Welt machte?“

„Was meinst du damit?“ fragte Jörn argwöhnisch, konnte jedoch sein einmal erwachtes Interesse nicht verbergen.

„Ich habe mit dem Wächter gesprochen“, sagte Harkins. Der bloße Name rief eine sofortige Reaktion hervor. Jörn wurde bleich, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, und seine Augen huschten unstet herum.

„Du — hast mit dem Wächter gesprochen?“

Harkins nickte. „Er hat mir gesagt, wie ich die Tunnelstadt erobern kann. Du kannst die Welt besiegen, Jörn, wenn du mich anhörst.“

„Das mußt du mir erklären.“ Das war ein Befehl.

„Du weißt, was unter der Tunnelstadt ist?“

Wieder wurde Jorn bleich. „Ja“, sagte er heiser. „Wir gehen nicht dorthin. Das ist schlecht.“

„Ich kann hingehen. Ich fürchte mich nicht davor.“ Harkins grinste triumphierend. „Jörn, ich kann hingehen und die Roboter zwingen, für mich zu arbeiten. Und wenn sie auf unserer Seite stehen, können wir die Welt gewinnen. Wir …“

Und im gleichen Augenblick wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Das eine Wort war es gewesen — wir. Er sah, wie Jörn zusammengezuckt war, und wie seine Muskeln sich verräterisch spannten.

„Wir werden nichts dergleichen tun“, erklärte Jörn kühl.

Harkins versuchte, den Fehler ungeschehen zu machen. „Ich meine — ich werde die Roboter zum Arbeiten bringen, und du kannst sie lenken. Du wirst der Anführer sein, und ich …“

„Das glaube ich nicht, Harkins. Du wirst versuchen, mir die Macht wegzunehmen, sobald du die Roboter hast. Leugne es nicht ab.“

„Ich leugne es nicht. Verdammt. Möchtest du denn nicht lieber die halbe Welt regieren als dieses ganze Dreckdorf hier?“

Das war wieder ein Fehler — ein größerer noch als der erste. Das traf Jörn an seiner empfindlichsten Stelle.

„Ich bringe dich um!“ schrie Jörn und griff an.

Harkins trat einen Schritt zurück und bereitete sich auf den Ansturm des Hünen vor. Jörns Faust traf ihn an der Kinnspitze, ließ ihn taumeln, und da war der andere schon über ihm.

Harkins spürte, wie eine kraftvolle Hand nach seiner Kehle tastete. Verzweifelt griff er nach Jörns Handgelenken und schob sie von sich. Der Hüne bewegte sich mit der Grazie einer großen Raubkatze und wälzte sich mit Harkins am Boden, während die Vögel in den Bäumen wie wild kreischten.

Harkins fühlte, wie ein wahrer Schlaghagel auf ihn herunterprasselte. Jörn saß jetzt rittlings auf ihm. Seine Kehle konnte er nicht erreichen, aber er war sichtlich bestrebt, trotzdem so viel wie möglich Schaden anzurichten. Schon halbbetäubt, brachte Harkins es fertig, sich unter Jörn herauszuwinden und keuchend aufzustehen. Ein dünner Blutfaden rann ihm aus dem Mundwinkel.

Jörn trat zurück. Die beiden Gegner standen einander gegenüber. Harkins fühlte, wie ihn plötzlich eisige Ruhe überkam. Das würde ein Kampf bis zur Entscheidung sein, und er hatte das sichere Gefühl, daß sich dieses Mal weder die Roboter noch die Sternriesen einmischen würden.

Er hatte sich ziemlich dumm benommen. Er brauchte Jörn, um den Weg zur Stadt zu finden — aber indem er eine Teilung der Macht auch nur angedeutet hatte, hatte er sich den Häuptling zum Feind gemacht.

„Komm doch“, sagte Jörn und drohte mit seiner mächtigen Faust. „Komm näher, damit ich dich erreichen kann.“

Harkins überlegte, ob er fliehen sollte, ließ dann den Gedanken aber wieder fallen. Es begann schon zu dunkeln, und außerdem würde Jörn vermutlich ohnehin der bessere Läufer sein.

Nein, er würde den Kampf durchstehen müssen.

Jörn trat vor, die Hände einladend ausgebreitet. Als er sich vorstürzte, trat Harkins zur Seite und schlug ihn mit der Handkante in den Nacken. Der Hüne taumelte unter dem mörderischen Schlag, stürzte jedoch nicht. Harkins nutzte seine augenblickliche Überlegenheit aus, um noch zwei, drei Schwinger anzubringen, dann hatte der andere sich erholt.

Er packte Harkins am Arm und drückte ihn an sich. Tut mir leid, dachte Harkins, ohne es wirklich zu meinen und stieß ihm das Knie in den Unterleib. Jorn ließ los und fuhr sich mit der Hand an den Leib.

Er taumelte zurück — und fiel auf einen Dornbaum, der Harkins zuerst schon aufgefallen war. Anstelle von Blättern hatte dieser Baum scharfe Spitzen von vielleicht einem viertel Meter Länge.

Jörn schrie auf — nur einmal — als der lange Dorn zwischen seinen Rippen hindurchdrang. Ein paar Augenblicke versuchte er verzweifelt loszukommen, dann sah er Harkins verblüfft an. Seine Augen schlossen sich. Ein paar Blutstropfen quollen über den dichten Haarpelz auf seiner Brust. Die Spitze des Dorns war kaum sichtbar, sie ragte nur ein paar Millimeter über Jörns linke Brustwarze heraus.

Sie hatte offensichtlich sein Herz durchstoßen.

Harkins sah den aufgespießten Mann verständnislos an. Es war ihm noch gar nicht ganz zu Bewußtsein gekommen, daß der Kampf vorüber war und daß er gesiegt hatte. Er hatte sicher damit gerechnet, zu unterliegen — und jetzt lag Jörn tot da.

Ein Schatten fiel über die Szene. Harkins blickte auf. Ein Sternriese stand vielleicht dreißig Meter von ihm entfernt. Der Wald reichte ihm bis zu den Hüften, und er blickte in die Ferne. Harkins fragte sich, ob der riesige Fremde den Kampf wohl beobachtet hatte.

Langsam begann er sich zu beruhigen und seine augenblickliche Lage zu überdenken. Jetzt, da Jörn tot war, mußte sein nächster Schritt sein, die Führung des Stammes zu übernehmen. Und das —

„Jörn!“ rief eine Frauenstimme. „Jörn, wo bist du? Wir warten mit dem Essen.“

Harkins drehte sich herum. „Hallo, Katha.“

Sie blickte starr an ihm vorbei. „Wo ist Jörn?“ fragte sie. „Was tust du dort hinten?“

„Dort drüben ist Jörn“, sagte Harkins und trat zur Seite, damit sie es sehen konnte.

Ihr Gesichtsausdruck war furchterregend. Sie wandte sich von Jörns Leiche zu Harkins und fragte: „Hast du das getan?“

„Er hat mich angegriffen. Er war nicht bei Sinnen.“

„Du hast ihn getötet“, sagte sie schwer. „Du hast Jorn getötet.“

„Ja“, sagte Harkins.

Die Gesichtszüge des Mädchens verhärteten sich. Sie spuckte verächtlich aus. Und dann sprang sie.

Es war wie der Sprung einer Tigerin. Harkins, der von seinem Kampf mit Jörn noch erschöpft war, war nicht auf die Wucht ihres Aufpralls gefaßt und hatte beide Hände voll zu tun, um ihre mit langen Nägeln bewehrten Finger von seinen Augen abzuwehren. Sie warf ihn auf den Boden, schlug, biß und kratzte.

Harkins brauchte eine volle Minute um freizukommen. Dann umklammerte er ihre Handgelenke mit seiner rechten Hand und preßte sie an sich. Sie schlug mit den Füßen nach ihm und hörte erst damit auf, als sie bemerkte, daß sie so keinen Schaden anrichtete.

„Jetzt hast du mich, Lloyd Harkins — bis du losläßt.“

„Das werde ich nicht tun — ich halte dich fest, bis du aufhörst zu schlagen.“

„Dann mußt du mich ewig festhalten.“

„Also gut“, grinste Harkins. Er beugte sich dicht an ihr Ohr. „Wenn du so wütend bist, gefällst du mir besonders.“

„Als ich zu dir kam, hast du mich abgewiesen, du Feigling. Willst du mich jetzt vor Jörns Leiche beleidigen?“

„Jörn hat sein Schicksal verdient“, erklärte Harkins. „Ich habe ihm ein Reich angeboten — und er hat es ausgeschlagen. Er konnte einfach den Gedanken nicht ertragen, seine Macht mit jemand anderem teilen zu müssen.“

Das Mädchen schwieg eine Weile. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme völlig verändert. „Ja — so war Jörn.“

„Ich hatte nur die Wahl, ihn zu töten oder selbst getötet zu werden“, fuhr Harkins fort. „Jörn war wahnsinnig. Ich mußte …“

„Sprich nicht davon!“ herrschte sie ihn an. Und dann: „Was ist das mit diesem Reich?“ Habgier und Neugierde schienen ihre Wut zu verdrängen.

„Etwas, was der Wächter mir gesagt hat.“

Katha reagierte ähnlich wie Jörn. Sie wurde bleich und wandte das Gesicht ab, um Harkins Blick auszuweichen. „Der Wächter hat mir gezeigt, wo das Geheimnis der Macht zu finden ist“, sagte er. „Ich habe Jörn …“

„Wo?“

„In der Tunnelstadt“, sagte er. „Wenn ich an der Spitze einer Armee dorthin gehen könnte, wäre es mir möglich, die Kontrolle über die Roboter zu übernehmen. Und wenn sie auf unserer Seite stünden, können wir die Welt erobern.“ Wenn der Wächter die Wahrheit gesagt hatte, fügte er in Gedanken hinzu. Und wenn er, Harkins, Mittel und Wege fand, die Roboter unter seine Kontrolle zu bekommen.

„Das würden die Sternriesen nie zulassen“, sagte Katha.

„Das verstehe ich nicht.“ Er lockerte seinen Griff versuchsweise, und sofort spannten sich die Muskeln des Mädchens. Sie war wie eine Sprungfeder, dachte er.

„Die Sternriesen halten uns in kleinen Gruppen“, sagte sie. „Immer wenn Gefahr besteht, daß wir eine Armee oder eine Stadt bilden könnten, sprengen sie uns auseinander. Irgendwie erfahren sie das immer. Sie würden also nie zulassen, daß du die Welt eroberst.“

„Das ist also ihr Laboratorium?“ meinte er, als ihm einiges klarer wurde.

„Was?“

„Ich meine — die Sternriesen beobachten und studieren euch. Sie halten die einzelnen Gemeinwesen klein — vielleicht siebzig oder achtzig höchstens. Sie betreiben also psychologische Experimente.“

Plötzlich drängte sich ihm ein Bild auf — eine Welt in einem Reagenzglas, das ein Sternriese mit einem weisen Gesicht in der Hand hielt und beobachtete. Der Riese konnte sich einfach nicht vorstellen, daß so etwas Kleines wie ein Mensch ein intelligentes Wesen sein sollte. Für die Sternriesen waren die Menschen nichts anderes als Insekten — und die Fremden hinderten ohne eine böse Absicht die ganze menschliche Zivilisation an einem neuen Aufstieg.

„Das verstehe ich nicht“, sagte sie. „Sie beobachten uns nur, weil ihnen das Spaß macht?“

Wie soll man einem Wilden den Begriff Laboratorium erklären, fragte er sich. „Ja“, meinte er schließlich. „Sie beobachten euch.“

Sie runzelte die Stirn. „Aber du kannst die Roboter lenken? Harkins, vielleicht können selbst die Sternriesen die Roboter nicht aufhalten. Vielleicht …“

Mehr brauchte er nicht. „Du hast recht! Wenn ich die Macht über die Roboter erringen kann, dann kann ich die Sternriesen vernichten — oder sie dorthin zurücktreiben, woher sie gekommen sind.“

Stimmte das? Er wußte es nicht — aber es war immerhin den Versuch wert. In seiner Erregung ließ er das Mädchen los.

Sie hatte ihre Rache nicht vergessen. Im nächsten Augenblick war sie über ihm und stieß ihn zu Boden. Im gleichen Augenblick strich ein riesiger Schatten über sie hinweg.

„Da“, sagte Harkins leise.

Sie blickten in die Höhe. Ein Sternriese stand über ihnen, und sein maskenhaftes Gesicht musterte sie besorgt.

„Er beobachtet uns“, sagte sie.

„Verstehst du jetzt? Er beobachtet — versucht herauszubekommen, was das für seltsame Wesen auf dem Boden sind.“ Einen Augenblick fragte er sich, ob diese ganze Dreiecksszene — Harkins gegen Jörn und dann Harkins gegen Katha — nicht nur für dieses monströse Wesen arrangiert worden war. Er kam sich vor wie unter dem Objektiv eines riesigen Mikroskops.

Katha wandte sich zu Harkins um. „Ich hasse sie“, sagte sie. „Wir werden sie gemeinsam töten.“ Mit der Sprunghaftigkeit der Wilden hatte sie ihren ganzen Groll vergessen.

„Frieden?“

Sie grinste und zeigte dabei ihre blitzendweißen Zähne. Dann ließ sie ihn los. „Waffenstillstand“, sagte sie.

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