3.

Das Glück schien ihm im Augenblick alles andere als wohlgesinnt zu sein, dachte Harkins, als er am Waldrand stand. Es war wirklich eine Ironie des Schicksals, ihn zuerst mit einer Art von Zivilisation in Verbindung zu bringen und ihn dann wieder in die Unsicherheit des Waldes hinauszustoßen.

Es begann zu dämmern. Er hatte den Großteil der Nacht damit verbracht, auf der Lichtung auf- und abzugehen, um den gefürchteten Augenblick so weit wie möglich hinauszuschieben, wo er wieder in den Wald eindringen mußte. Er hatte nicht die geringste Lust, das zu tun, solange es noch dunkel war, wenn er auch wußte, daß es mindestens ebenso gefährlich war, nach Tagesanbruch in der Nähe des Dorfes gefunden zu werden.

Er zog sich an den Rand der Lichtung zurück und wartete.

Eine Zeitlang hatte man Schläge gehört, die von Jörns Hütte herüberhallten, dann war es ruhig geworden.

Jörn hatte richtig gehandelt, indem er ihn ausstieß, gab Harkins zu. In einer Stammesordnung von dieser Art mußte die Autorität des Häuptlings unter allen Umständen gewahrt werden, und jedermann, der auch nur im entferntesten Anstalten machte, ihm eben diese Autorität streitig zu machen, selbst gegen seinen Willen, so wie Harkins, mußte ausgestoßen werden.

Nur — es würde nicht gerade ein Vergnügen sein, allein mit dieser wilden Welt fertig zu werden …

Als die ersten schwachen Strahlen der Sonne den Horizont zu erhellen begannen, ging Harkins in den Wald. Beinahe im gleichen Augenblick veränderte sich die Luft, es wurde kühler und feuchter. Der dichte Vegetationsvorhang, der wie ein Dach über dem Wald lag, ließ kaum das Sonnenlicht eindringen. Harkins schritt vorsichtig aus und folgte dem niedergetretenen Pfad, den der Sternriese hinterlassen hatte.

Irgendwo in der Nähe mußte die Tunnelstadt sein. Das stand fest, denn in einer nicht-technisierten Gesellschaft wie dieser hier war es unmöglich, über eine größere Entfernung hinweg Krieg zu führen. Und die Tunnelstadt, was auch immer das sein mochte, war bewohnt. Er hoffte nur, daß er sie fand, ehe er im Dschungel auf irgendwelcheGefahren stieß. Als Ausgestoßener aus Jörns Gruppe würde er vermutlich dort Zuflucht finden.

Plötzlich war vor ihm das Geräusch von zerbrechendem Holz zu hören. Er preßte sich an einen moosbedeckten Felsen und spähte in die Ferne.

Über den Bäumen war der rotbraune Kopf eines Sternriesen zu sehen, der durch den Wald schritt. Harkins spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, auf den Riesen zuzugehen, überlegte es sich dann aber anders und schlug einen Bogen. Der Sternriese hatte ihn einmal leben lassen, aber er wußte nicht, wie es beim nächsten Zusammentreffen sein würde.

Außerdem hatte er in dieser Beziehung ohnehin keine Wahl, denn der Riese entfernte sich schnell von ihm, wobei er mit jedem Schritt wenigstens zwölf Meter zurücklegte.

Harkins sah dem riesigen Wesen nach, bis es ihm aus den Augen entschwand und folgte dann seiner Spur. Vielleicht führte sie sogar zu der Tunnelstadt, dachte er — vielleicht aber auch nicht. Im Augenblick hatte er nur wenig zu verlieren, ganz egal, welchen Weg er einschlug.

Aber er hatte sich geirrt — der andere Weg wäre vielleicht gefahrlos gewesen, dieser hier wurde ihm von einem fleischgewordenen Alptraum versperrt.

Plötzlich tauchte ,es’ vor ihm auf. Seine sechs Beine waren gegen zwei dünne Bäume gespreizt. Das Wesen besaß ein Paar zähnefletschender Mäuler. Rasiermesserscharfe Zähne glitzerten im grünlichen Zwielicht des Waldes.

Harkins erstarrte förmlich in seiner Bewegung. Er war unfähig, sich umzudrehen und davonzulaufen, brachte es aber auch nicht fertig, einfach die Offensive zu ergreifen. Das Heulen des Scheusals wurde immer schriller …

Und dann begann es sich vorwärtszubewegen. Harkins spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Das Tier hatte einen weißen Pelz und glich in etwa einem Wolf — und es war sichtlich hungrig. Harkins zog sich schrittweise zurück, während die Bestie sich zum Sprung anschickte.

Ohne bewußt zu denken, tastete Harkins nach einem abgestorbenen Baum hinter sich und riß an einem der Äste. Er brach ab und überschüttete ihn mit morscher Borke. Als das Monstrum sprang, wirbelte er die provisorische Keule nach Art eines Baseballschlägers um sich.

Sie krachte in das weitaufgerissene Maul des einen Kopfes der Bestie, und die Zähne splitterten an dem trockenen Holz. Harkins sprang mit einem Satz vor und zwängte den Ast zwischen die Kinnladen des zweiten Kopfes, so daß sie sich nicht mehr bewegen konnten. Das Tier versuchte Harkins mit seinen Krallen zu erreichen, aber dazu waren die Vorderbeine zu kurz.

Die Partie war unentschieden. Harkins hielt das Tier auf Armeslänge von sich. Es knurrte und zischte, war jedoch nicht imstande, ihn zu erreichen. Er wagte nicht, die Keule loszulassen, aber er wußte natürlich, daß seine Kräfte nicht ewig ausreichen würden.

Langsam drängte das Tier ihn nach rückwärts. Harkins spürte, wie seine Oberarmmuskeln von der ungewohnten Anstrengung zu erlahmen drohten. Er schob nach vorne, und die Bestie heulte vor Schmerz auf. Die Zähne des zweiten Kopfes schnappten wütend.

Über sich hörte Harkins fremdartige Vogelschreie, und als er aufblickte, sah er ein paar große Vögel mit bunten Schnäbeln geduldig auf einem Ast warten. Er hatte noch nie solche Vögel gesehen, wußte aber sehr wohl, welche Funktion sie in diesem Wald erfüllten. Es waren Geier, die nur darauf warteten, daß der Kampf sich entschied.

Und das würde bald der Fall sein. Harkins würde die wütende Bestie nicht mehr lange zurückhalten können. Seine Finger zitterten schon, und bald würde ihm der Ast entfallen. Und dann …

Eine blitzende metallische Hand griff plötzlich von irgendwo über ihm herunter, und im gleichen Augenblick ließ der Druck nach. Zu seiner grenzenlosen Verblüffung sah Harkins zu, wie die Hand das Tier in die Höhe zog.

Er folgte ihm mit den Augen. Über ihnen stand ein Roboter und betrachtete die wilde Bestie, die er in der Hand hielt. Harkins blinzelte. Er war so mit dem Tier beschäftigt gewesen, daß er das Kommen des Roboters gar nicht wahrgenommen hatte.

Der Roboter packte das Tier an seinen beiden Hälsen und drückte. Dann warf er den noch zuckenden Kadaver in das Gebüsch, wo er noch ein paar Augenblicke um sich schlug, ehe er erschlaffte — und dann setzte der Roboter seinen Weg durch den Wald fort, während die „Geier“ von ihrem Ast herunterschwebten und sich ihrer Beute annahmen.

Harkins sank auf einen bemoosten Baumstumpf und atmete ein paarmal tief ein und aus. Sein überbeanspruchter Arm zitterte so stark, daß er nicht imstande war, ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Es war gerade, als wäre der Roboter mit dem Auftrag ausgeschickt worden, das Raubtier zu töten — und dann nach getaner Arbeit wieder zu seinem Stützpunkt zurückgekehrt, ohne sich weiter für Harkins zu interessieren.

Ich bin nur eine Schachfigur, dachte er plötzlich. Der Gedanke traf ihn wie ein körperlicher Schlag. Das war es: eine Schachfigur!

Er wurde hin- und hergeschoben wie eine Figur auf dem Brett. Man hatte ihn aus seiner eigenen Zeitepoche herausgerissen, ihn in Jörns Dorf geworfen, ausgestoßen und ihn von einer tödlichen Gefahr in die andere geschoben.

Es war ein beunruhigender Gedanke, der ihn für ein paar Minuten seiner ganzen Kraft beraubte. Er war sich seiner eigenen Schwächen sehr wohl bewußt, hatte sich aber bisher doch immer als den Herrn seines eigenen Geschickes betrachtet. Aber das war er nicht.

Also gutund wie geht es von hier aus weiter? dachte er.

Keine Antwort bot sich ihm an. Schließlich kam er zu dem Schluß, daß sein Spieler — also das Wesen, das die ,Figur’ auf dem ,Brett’ bewegte, im Augenblick wohl anderweitig beschäftigt war. Er stand auf und begann tiefer in den Wald einzudringen.

Diesmal schritt er sehr vorsichtig aus und achtete bei jedem Schritt darauf, ob nicht hinter dem nächsten Baum wieder eine verhängnisvolle Überraschung seiner harrte. Diesmal war möglicherweise kein helfender Roboter zur Stelle, dachte er.

Jetzt schien der Wald wieder ganz ruhig. Harkins war schon eine ziemliche Strecke von Jörns Dorf entfernt und drang doch noch bei jedem Schritt tiefer in den Wald ein. Es begann schon Nachmittag zu werden, und er fing an zu ermüden.

Er kam an eine sprudelnde Quelle und ließ sich erleichtert daneben nieder. Das Wasser sah frisch und klar aus, und er tauchte die Hand hinein. Allein die erfrischende Kühle der Quelle war eine Labsal.

Dann schöpfte er mit beiden Händen Wasser und führte es zögernd an die Lippen.

„Trink nur“, sagte eine trockene Stimme plötzlich. „Das Wasser ist gut.“

Harkins sprang wie von einer Feder geschnellt in die Höhe. „Wer hat da geredet?“

„Ich.“

Er sah sich um. „Ich sehe niemand. Wo bist du?“

„Hier oben auf dem Felsen“, sagte die Stimme. „Hierher mußt du sehen.“

Harkins drehte sich in Richtung zu der Stimme — und sah den Mann, der gesprochen hatte. „Wer — was bist du?“

„Die Menschen nennen mich den Wächter“, kam die ruhige Antwort.

Der Wächter saß auf dem mächtigen Felsen, durch dessen Spalte das kleine Flüßchen plätscherte. Harkins sah einen Mann, oder etwas einem Manne Ähnliches mit graugrüner, großporiger Haut, blassen glasigen Augen und winzigen Armen. Sein Mund war groß und zog sich jetzt zu einer Grimasse zusammen, die vermutlich als freundliches Lächeln gedacht war.

Harkins trat einen Schritt zurück. Sein Erstaunen war ihm deutlich anzumerken.

„Ich bin nicht hübsch“, sagte der Wächter. „Aber du brauchst nicht davonzulaufen. Ich tue dir nichts zuleide. Nur zu — trink, und dann können wir uns unterhalten.“

„Nein“, sagte Harkins etwas besorgt. „Wer bist du denn überhaupt? Was tust du hier?“

Die dicken Lippen des anderen verzogen sich zu einem geringschätzigen Lächeln. „Was ich hier tue? Ich bin jetzt schon seit zweitausend Jahren hier. Ich könnte dich fragen, was du hier tust,“

„Ich — ich weiß nicht“, sagte Harkins.

„Ich weiß, daß du das nicht weißt“, spottete der Wächter. Er kicherte, und sein gelblicher Bauch schlotterte dabei. „Natürlich weißt du das nicht — wie solltest du auch?“

„Ich mag Rätsel nicht“, sagte Harkins. Er ärgerte sich und empfand die eigenartige Unwirklichkeit der Unterhaltung. „Was bist du?“

„Ich war einmal ein Mann.“ Plötzlich klang die Stimme nicht mehr spottend. „Meine Eltern waren Menschen. Ich — bin das nicht.“

„Eltern?“

„Vor Tausenden von Jahren. In den Tagen vor dem Krieg. Ehe die Sternriesen kamen.“ Der breite Mund des anderen verzog sich. „In der Welt, die einmal war — der Welt, aus der man dich herausgeholt hat, du Ärmster.“

„Was weißt du von mir?“ wollte Harkins wissen.

„Viel zuviel“, sagte der Wächter müde. „Trink zuerst, dann will ich es dir erklären.“

Harkins Kehle fühlte sich an, als hätte man sie mit Sandpapier abgerieben. Er kniete nieder und trank. Schließlich stand er wieder auf. Der Wächter hatte sich nicht von der Stelle bewegt, er saß immer noch auf dem Felsen, die winzigen nutzlosen Arme gefaltet, als wollte er damit die menschliche Haltung parodieren.

„Setz dich“, sagte der Wächter. „Ich muß dir eine Geschichte erzählen, die zweitausend Jahre umfaßt.“

Harkins nahm auf einem Stein Platz und lehnte sich gegen einen Baumstumpf. Der Wächter fing zu reden an.

Die Geschichte begann in Harkins’ eigener Zeit, oder kurz nachher. Der Wächter schilderte die Geschichte der Zivilisation, die sich in den ersten Jahrhunderten des dritten Jahrtausends entwickelt hatte, berichtete vom Wachsen der unterirdischen Städte und dem Volk, das die Roboter gebaut hatte, die noch heute durch die Wälder streiften.

Es hatte Krieg gegeben, der diese Gesellschaft völlig vernichtet hatte, abgesehen von einigen wenigen Gruppen von Überlebenden.

Auch einige Städte hatten den Krieg überstanden, aber die Menschen, die die Robotgehirne gelenkt hatten, waren nicht mehr, und die Roboter fuhren fort, die Pflichten zu erfüllen, die ihnen zuletzt übertragen worden waren. Die unterirdischen Städte waren von nun an tabu, wenn auch wilde Gruppen von Menschen über ihnen lebten, die jedoch nie in die ‚Unterwelt’ einzudringen wagten.

Tief unten in den Gängen und Tunnels der Toten lebten die mutierten Abkommen der Städtebauer. Die ,anderen’, jene, von denen auch Jörn gesprochen hatte. Die meisten von ihnen lebten in den Städten, einige wenige auch in den Wäldern.

„Ich bin einer von diesen“, sagte der Wächter. „Ich habe mich seit dem Jahr, in dem die Sternriesen kamen, nicht von dieser Stelle bewegt.“

„Die Sternriesen“, sagte Harkins. „Wer ist das?“

Die schmalen Schultern des anderen zuckten. „Sie kamen von den Sternen, lange nachdem wir uns selbst vernichtet hatten. Sie leben hier und beobachten die Überlebenden mit großer Wißbegierde. Sie spielen mit den Stämmen, bringen sie in Konflikt miteinander und studieren die Ergebnisse mit großem Interesse. Aus irgendeinem Grunde belästigen sie mich nicht. Sie scheinen nie hier vorbeizukommen.“

„Und die Roboter?“

„Die werden bis ans Ende aller Zeiten so bleiben, wie sie jetzt sind. Nichts kann sie zerstören, nichts kann sie von ihrer einmal übernommenen Aufgabe abbringen — und nichts kann ihnen befehlen.“

Harkins lehnte sich vor. Der Wächter hatte ihm all seine unausgesprochenen Fragen beantwortet — mit einer Ausnahme.

„Weshalb bin ich hier?“ fragte er.

„Du?“ Der Mutant lachte. „Du bist der Zufallsfaktor. Es würde das ganze Spiel zerstören, dir zu viel zu sagen — aber eines will ich dir noch sagen: Du kannst nach Hause zurück, wenn es dir gelingt, die Roboter unter deine Kontrolle zu bringen.“

„Was? Wie?“

„Das mußt du selbst herausbekommen“, sagte der Wächter. „Ich werde, blind wie ich bin, nach dir sehen — aber ich werde dir nicht mehr helfen, als ich schon getan habe.“

Harkins lächelte und sagte: „Und was ist, wenn ich dich zwinge, es mir zu sagen?“

„Wie würdest du das anstellen?“ Wieder zogen sich die weißen Lippen zusammen. „Wie könntest du mich zwingen, etwas zu tun, was ich nicht will?“

„So zum Beispiel“, sagte Harkins in plötzlich erwachender Wut.

Er zerrte den Stein, auf dem er saß, aus dem Boden und stemmte ihn in die Höhe.

Nein.

Es war ein stummer Befehl. Der Stein fiel aus Harkins plötzlich kraftlosen Händen und plumpste auf den Boden. Harkins sah auf seine Finger.

„Kannst du mich also zwingen?“ wiederholte der Wächter ruhig.

„N-nein“, antwortete Harkins zögernd.

„Gut. Erkenntnis der eigenen Schwäche ist der erste Schritt zur Stärke. Du sollst wissen, daß ich dich absichtlich hierhergebracht habe, daß du während dieser ganzen Unterhaltung nicht aus freiem Willen gehandelt hast und daß ich durchaus imstande bin, deine zukünftigen Handlungen zu bestimmen, wenn ich das für nötig befinde. Aber ich habe eigentlich keine besondere Lust, mich einzumischen.“

„Dann bist du der Schachspieler!“ sagte Harkins mit anklagender Stimme.

„Nur einer von ihnen“, meinte der Mutant. „Und der unwichtigste von allen.“ Er entfaltete seine jämmerlichen Arme. „Ich habe dich aus keinem anderen Grunde zu mir geholt als um der Abwechslung willen — und jetzt langweilst du mich. Es ist Zeit für dich zu gehen.“

„Wohin?“

„Das Nervenzentrum der ganzen Situation ist in Tunnelstadt“, sagte der Wächter. „Du mußt auf deinem Weg nach Hause dort durchkommen. Laß mich jetzt allein.“

Ohne auf einen zweiten Befehl zu warten, erhob sich Harkins und ging weg. Nach vielleicht zehn Schritten blieb er stehen und sah sich um. Der Wächter hielt seine Arme wieder über der Brust verschränkt.

„Geh’ nur weiter“, sagte der Mutant. „Du hast deinen Zweck erfüllt.“

Harkins nickte und ging weiter. Ich bin immer noch eine Schachfigur, dachte er bitter. Aber wessen Figur?

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